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{"created":"2022-01-31T14:41:42.082920+00:00","id":"lit4969","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Schubert, Johannes","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 6: 552-604","fulltext":[{"file":"p0552.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\nVon\nJohannes Schubert.\nVerschiedene Gr\u00fcnde sind es, welche den Versuch einer eingehenderen historisch-kritischen W\u00fcrdigung von Adam Smith\u2019s Moralphilosophie als gerechtfertigt und w\u00fcnschenswerth erscheinen lassen. Der blo\u00dfe Hinweis auf einen gewissen Mangel in [der philosophischen Litteraturgeschichte d\u00fcrfte wohl noch zu den schw\u00e4chsten derselben gerechnet werden; einen bei weitem st\u00e4rkeren liefert schon die Erw\u00e4gung, dass den erfolgreichen modernen Bestrebungen, eine den s\u00e4mmtlichen Geisteswissenschaften, also auch der Ethik zu Gute kommende Basis in einer exacten empirischen Psychologie zu gewinnen, die eingehende Beachtung solcher Denker vergangener Jahrhunderte zur Seite gehen muss, w\u00e8lche auf dem Gebiete empirisch-psychologischer Analyse, behufs Grundlegung einer wissenschaftlichen Ethik, Hervorragendes und Bleibendes geleistet haben.\nW\u00e4hrend nun von den hierbei vorzugsweise in Betracht kommenden englischen Gef\u00fchlsmoralisten \u2014 man gestatte einen solchen Sammelnamen \u2014 sich vor allem Shaftesbury, dann aber auch Hume und Hutcheson von jeher einer regeren Theilnahme erfreuen, leidet Smith, der als Moralphilosoph allerdings kein bahnbrechender Denker, wohl aber der umfassende, weiterentwickelnde und zum Abschluss bringende Ausl\u00e4ufer einer durch organische Gedankenfortbildung h\u00f6chst charakteristischen philosophischen Entwicklungsreihe ist, unter einer entschiedenen Vernachl\u00e4ssigung.\nWohl fehlt es in neuerer Zeit nicht an Versuchen, ihn der-","page":552},{"file":"p0553.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n553\nselben zu entziehen1); Jo dl r\u00e4umt ihm in seiner werthvollen \u00bbGe-schichte der Ethik\u00ab einen nicht unbetr\u00e4chtlichen Raum ein; doch ist die Darstellung nicht ersch\u00f6pfend, auch legt sie nicht das vollst\u00e4ndige logische Gerippe der Theorie hlos, sondern begn\u00fcgt sich damit, die besonders hervorragenden Punkte in geistvoller Beleuchtung vorzufdhren.\nBuckle\u2019s begeisterte Bewunderung ist bekannt; aber seine 1 Ausf\u00fchrungen in der \u00bbGeschichte der Civilisation\u00ab geben mehr An- j regung als Aufkl\u00e4rung; auch sind manche seiner Behauptungen mit Vorsicht aufzunehmen, wie er denn \u00fcberhaupt von Missverst\u00e4ndnissen Smith\u2019s nicht frei zu sein scheint, was in der Abhandlung noch des N\u00e4heren er\u00f6rtert werden wird.\nOncken endlich erweist unserem Philosophen keinen guten ' Dienst, wenn er in seinem Buche \u00bbAdam Smith und Immanuel Kant\u00ab beweisen will, dass beide Denker, \u00bbwiewohl von entgegengesetzten Standpunkten ausgehend, doch zu einer Uebereinstimmung ihrer Systeme gelangt sind, wie sie wohl einzig in der Geschichte des menschlichen Denkens dasteht\u00ab1).\nInsofern diese Behauptung sich auf Politik und Oekonomik erstreckt, sind wir nicht zur Kritik derselben berechtigt; was dagegen die Ethik anbetrifft, so muss sie auf das Entschiedenste abgelehnt werden. Das, was Oncken als die gemeinsamen Resultate beider Denker hinstellt, ist weiter nichts, als die \u00fcbereinstimmende Beantwortung der allgemeinsten praktischen Fragen, wie sie eben jedes ernste und reife sittliche Bewusstsein in ziemlich gleicher Weise liefern muss; ein himmelweiter, nicht zu \u00fcberbr\u00fcckender Gegensatz thut sich indessen zwischen beiden Denkern auf, wenn\n1) Kurz vor Abschluss dieser Arbeit ist auch eine Monographie, \u00bbAdam Smith als Moralphilosoph\u00ab, von Wilhelm Paszkowski, in Halle erschienen; dieselbe w\u00fcrde indessen wegen der Verschiedenheit der Auffassung und der ganzen Behandlung von keinem Einfl\u00fcsse auf die vorliegende Arbeit gewesen sein, auch wenn sie fr\u00fcher erschienen w\u00e4re; eine n\u00e4here Auseinandersetzung mit dem Verfasser derselben h\u00e4tte ebenfalls keinen Zweck gehabt, denn eine solche ist bekanntlich nur da m\u00f6glich, wo in gewissen Grundvoraussetzungen Uebereinstimmung herrscht. Wer au\u00dferdem Hume\u2019s Ethik als Egoismusmofal bezeichnet oder Shaftesbury einen Rationalisten nennt (S. 10, 11), der verf\u00fcgt \u00fcber eine so exclusiv-eigenartige Terminologie, dass eine Verst\u00e4ndigung von vornherein ausgeschlossen erscheint.\n1) Oncken, Vorwort, S. IX.","page":553},{"file":"p0554.txt","language":"de","ocr_de":"554\nJohannes Schubert.\nwir sie vom Standpunkte ihrer Methoden und Principien, also doch von dem allein wissenschaftlichen, ins Auge fassen.\nDieser Gegensatz, welcher der von zwei fundamentalen Prin-cipienfragen der Ethik \u00fcberhaupt ist, darf nicht vertuscht, sondern muss gerade in seiner vollsten Sch\u00e4rfe hervorgehoben werden; es ist eben die Frage nach dem \u00bbWarum?\u00ab des Sittlichen, um die es sich dabei handelt; eine Frage, die von derjenigen nach dem Wie? noch ganz verschieden ist; hat doch schon J. C. F. Meister vor 80 Jahren hinl\u00e4nglich die alte Beobachtung erkl\u00e4rt, dass die Philosophen \u00bbin den ersten Grunds\u00e4tzen der Moral so sehr ahweichen, aber in den Folgerungen und den Pflichten, die sie aus ihren Grunds\u00e4tzen ableiten, \u00fcbereinstimmen\u00ab.\nDiese Grunds\u00e4tze, diese \u00bbFundamente der Moral\u00ab sind es nun gerade, auf die es f\u00fcr die Wissenschaft ankommt; sie sind die eigentlichen \u00bbResultate\u00ab der Untersuchung, und wenn Smith das sei-nige an die Spitze der ganzen Theorie stellt, so ist das eben durch den systematischen Gang der Darstellung gerechtfertigt und geboten.\nErgibt sich somit f\u00fcr die folgende Abhandlung die Nebenaufgabe, an einzelnen besonders hervorragenden Punkten den Gegensatz der Smith\u2019schen und Kant\u2019sehen Ethik m\u00f6glichst scharf hervorzuheben, so macht andererseits die vorher gegebene Charak-terisirung von Smith\u2019s Moralphilosophie als einer umfassenden, eine l\u00e4ngere Entwicklungsreihe zum Abschluss bringenden Theorie die kurze Skizzirung der hervorragendsten Glieder dieser Reihe nothwendig, wobei nat\u00fcrlich weder alle, noch auch nur alle hervorragenden, sondern nur die f\u00fcr unseren besonderen Zweck geeigneten Gedanken zur Darstellung kommen werden.\nEs handelt sich dabei vor allen Dingen darum, den engen Zusammenhang Smith\u2019s mit seinen Vorg\u00e4ngern \u2014 derOncken von seinem Standpunkte aus naturgem\u00e4\u00df als ein m\u00f6glichst loser erscheinen musste \u2014 klarzulegen und die allerdings nicht unbetr\u00e4chtlichen Unterschiede, welche sich zwischen ihm und seinem f\u00fcr jenen Zusammenhang besonders in Betracht kommenden unmittelbaren Vorg\u00e4nger Hume befinden, aus einem nothwendigen, in inneren Entwicklungsbedingungen begr\u00fcndet liegenden Hinausgehen des sp\u00e4teren Denkers \u00fcber den fr\u00fcheren zu erkl\u00e4ren.\nUnd schlie\u00dflich sei noch erw\u00e4hnt, dass von den schon an sich nicht\n4","page":554},{"file":"p0555.txt","language":"de","ocr_de":"555\nsehr zahlreichen Aeu\u00dferungen, welche Oncken zum Beweise seiner Ansicht einerUebereinstimmung Smith\u2019s und Kant\u2019S hat heihringen k\u00f6nnen, sich im Laufe der Darstellung einige als Inconsequenzen Smith\u2019s heraussteilen werden, welche mit H\u00fclfe der von ihm selber aufgestellten Principien mit leichter M\u00fche beseitigt werden k\u00f6nnen.\nI. Die Entwickelung der Moralphilosophie von Shaftesbury\nbis Hume.\nDen beiden gro\u00dfen Gegens\u00e4tzen des ethischen Nominalismus und Intuitionismus, deren Kampf die erste Epoche der englischen Ethik ausf\u00fcllt, tritt die Philosophie Shaftesbury\u2019s mit neuen, fruchtbaren Gesichtspunkten gegen\u00fcber.\nWaren die Nominalisten, Hohbes und Locke an der Spitze, fu\u00dfend auf dem baconischen Programm der Unabh\u00e4ngigkeit der ethischen Untersuchung von Metaphysik und Religion, zu dem Resultate gelangt, dass das Sittliche keineswegs etwas Urspr\u00fcngliches, Nat\u00fcrliches, dem Menschen Angeborenes, sondern dass es nur ein nomen, etwas Gemachtes und Conventionelles, durch die Noth des Lebens Bedingtes und im Kampfe der einzig urspr\u00fcnglichen Triebe, n\u00e4mlich der selbsts\u00fcchtigen, Gewordenes sei; hatten dagegen die in platonischen Anschauungen wurzelnden Intuitionisten unter F\u00fchrung eines Cud worth und Clarke die in dem Wesen des Weltplanes begr\u00fcndete objective Realit\u00e4t der sittlichen Ideen betont, dieselben als Emanationen der Gottheit aufgefasst und damit die Ethik wieder von metaphysischen Deductionen abh\u00e4ngig gemacht, so verficht jetzt Shaftesbury den Nominalisten gegen\u00fcber die Urspr\u00fcnglichkeit, die in der menschlichen Natur begr\u00fcndete Wesenhaftigkeit des Sittlichen, w\u00e4hrend er im Gegensatz zu den in transcendente Speculationen sich verlierenden Intuitionisten auf den immanenten Gef\u00fchlscharakter desselben, sowie auf die Nothwendigkeit einer das Ganze des menschlichen Bewusstseinsinhaltes m\u00f6glichst in Rechnung ziehenden empirisch-psychologischen Analyse hinweist.\nMit dieser Betonung des vorwiegenden Gef\u00fchlscharakters des Sittlichen r\u00fcckt der Schwerpunkt der ethischen Betrachtung von der intellectuellen nach der \u2014 im weitesten Sinne \u2014 \u00e4sthetischen Seite her\u00fcber; die im Gegensatz zu den mit sch\u00e4rferer Logik be-","page":555},{"file":"p0556.txt","language":"de","ocr_de":"556,\nJohannes Schubert.\ngabten Nominalisten mehr phantasie- und gem\u00fcthvolle Natur Shaftesbury's verhalf diesem zu der Entdeckung einer urspr\u00fcnglichen, aus eigener Kraft und Macht sittliche Werthurtheile abgehenden Grundf\u00e4higkeit der Seele, des von ihm zum ersten Male so genannten \u00bbmoralischen Sinnes\u00ab, den er sich, seiner ganzen poetischen Anlage gem\u00e4\u00df, analog unserem \u00e4sthetischen Geschmacks- und Ur-theilsverm\u00f6gen denkt: \u00bbDer Geist, der ein Zuschauer und Zuh\u00f6rer anderer Geister ist, muss sein Auge und Ohr haben, um die Verh\u00e4ltnisse wahrzunehmen, die T\u00f6ne zu unterscheiden und alle vorkommenden Empfindungen oder Gedanken zu beurtheilen\u00ab1).\nAber schleudert uns diese Berufung auf den moralischen Sinn des Subjects als den letzten, obersten Gerichtshof nicht wieder ganz in jene Unsicherheit des subjectiven Gef\u00fchls zur\u00fcck, welcher Hobbes durch die Macht einer absoluten Staatsgewalt, die lntuitionisten durch die Behauptung einer transcendenten Realit\u00e4t der sittlichen Ideen zu entgehen glaubten?\nShaftesbury ist sich wohl bewusst, dass, ebenso wie in den K\u00fcnsten Barbarei und Ungeschmack herrschen k\u00f6nne, so auch der sittliche Geschmack einem solchen Schicksal leicht verfalle. Hier muss eben noch ein vern\u00fcnftiger Wille hinzukommen; ich muss durch Nachdenken lernen, \u00bbeine Neigung zu haben, zu bewundern, so wie es die Dinge selbst verdienen, und mich rechtfertigen zu k\u00f6nnen\u00ab2). Die Erreichung eines solchen echten sittlichen Geschmacks, der, \u00e4hnlich wie der musikalische, Harmonie und Disharmonie empfindet, stellt sich Shaftesbury durchaus nicht leicht vor. Die besten M\u00e4chte des Verstandes und der Urtheilskraft m\u00fcssen aufgeboten, der Kampf gegen die \u00bbm\u00e4chtigen Verf\u00fchrerinnen\u00ab Mode und Gewohnheit mit aller Kraft aufgenommen werden, bis die nat\u00fcrlichen Grundneigungen, welche zur Auffassung der sittlichen Harmonie bef\u00e4higt sind, entdeckt und von allen Schlacken gereinigt seien3). Von diesen Grundneigungen glaubt er, dass sie \u00fcberall vorhanden sein m\u00fcssen ; \u00bbso verkehrt und verderbt auch ein Herz an sich sein m\u00f6ge, so findet es doch in allen F\u00e4llen, in die es nicht selbst verwickelt ist, einen Unterschied zwischen\n1)\tShaftesbury, s\u00e4mmtl. Werke, \u00fcbers. Leipzig 1777. II 34.\n2)\tSelbstgespr\u00e4ch I 437.\n3)\tibid. 459.","page":556},{"file":"p0557.txt","language":"de","ocr_de":"557\nzwei Handlungen, Neigungen etc., von denen es die eine als anst\u00e4ndig billigt, die andere als unanst\u00e4ndig verwirft\u00ab1). Es liegt in dieser Stelle ein beachtenswertber Hinweis auf den \u00bbunparteiischen Zuschauer\u00ab, wie er von Adam Smith sp\u00e4ter benutzt und zu einem wesentlichen Bestandteil seiner Theorie gemacht worden ist.\nIndem Shaftesbury dann als oberste, von dem richtigen Geschmack gefundene Norm das (aristotelische) Gleichgewicht der Leidenschaften, sowie in Bezug auf die Gesellschaft die F\u00e4higkeit bezeichnet, das Allgemeinbeste zum Gegenstand seiner Neigung zu machen, glaubt er zugleich eine unmittelbare \u00c7oincidenz dieser \u00bbtugendhaften\u00ab Neigungen mit dem Privatesten behaupten zu d\u00fcrfen, ein Optimismus, der sogar so weit geht, dass er erkl\u00e4rt, es gebe an und f\u00fcr sich nichts, das schlecht und b\u00f6se sei; der notwendige Begriff der Harmonie des Weltalls widerstreite dieser Annahme und m\u00fcsse zu dem Glauben bringen, dass nur die Unvollkommenheit und Begrenztheit unserer Natur uns hindere, in jedem einzelnen Falle diese Harmonie als solche zu erkennen. An diesem Versuche nun, das B\u00f6se nur als relativ, das Gute dagegen als etwas Absolutes hinzustellen, scheitert notwendig dieser pantheistisch gef\u00e4rbte Optimismus. An der Erkenntniss dieses Widerspruchs, sowie an der Ueberwindung desselben durch den Gedanken, dass das Gute ebenfalls nicht etwas Absolutes, dass es in gleicher Weise wie sein Gegenteil nur eine Modification des absoluten Weltgrundes sei, dass die Werthunterschiede zwischen beiden einzig und allein im Subject liegen \u2014 an dieser f\u00fcr den Pantheismus allein consequenten Auffassung hinderte Shaftesbury sowohl seine Abneigung gegen metaphysische Speculationen, die \u00fcber ein rhapsodisches Pathos hinausgegangen w\u00e4ren, als auch vielleicht die unbewusste Furcht, in den Nominalismus des verhassten Hobbes zu fallen. Und wie schwer es allerdings ist, bei einer solchen Auffassung noch eine gewisse real-objective G\u00fcltigkeit des Sittlichen zu retten, zeigt das Beispiel Spinoza\u2019s, der sich zur Annahme einer doppelten Cau-salit\u00e4t, n\u00e4mlich derjenigen der natura naturans und der natura naturata, gedr\u00e4ngt sah, um dann vom Standpunkte der letzteren aus eine objective und reale Bedeutung des Sittlichen mit einigem Rechte behaupten zu k\u00f6nnen.\n1) cf. II 65.\nWundt, Philos. Studien. YI.\n37","page":557},{"file":"p0558.txt","language":"de","ocr_de":"558\nJohannes Schubert.\nSehen wir indessen von diesen metaphysischen Inconsequenzen ah und betrachten Shaftesbury\u2019s Philosophie auf ihre Bedeutung f\u00fcr die Fortentwicklung der Ethik hin, so m\u00fcssen wir ihre anregende Kraft sehr hoch anschlagen. Die Neuheit des Gedankengehaltes, gest\u00fctzt und gehoben durch eine ebenso ungew\u00f6hnliche, gegen die trockene Weitschweifigkeit der Intuitionisten vortheilhaft abstechende und eine vollendet vornehme Pers\u00f6nlichkeit wiederspiegelnde \u00e4u\u00dfere Darstellung, musste einen gro\u00dfen, anregenden Einfluss aus\u00fcben ; andererseits macht die umfassende, zahlreiche forthildungsf\u00e4hige Keime ausstreuende Universalit\u00e4t des Mannes eine nach verschiedenen Richtungen hin erfolgende Fortsetzung seiner Philosophie erkl\u00e4rlich.\nSo finden wir den ersten seiner bedeutenderen Sch\u00fcler, den ernsten, religi\u00f6sen, von einer der menschlichen Natur wenig zutrauenden pessimistischen Grundstimmung beherrschten Butler in manchen Punkten auf v\u00f6llig entgegengesetztem Standpunkt stehend; als Fortsetzer Shaftesbury\u2019s muss er indessen aus zwei Gr\u00fcnden angesehen werden. Er hat erstens den Begriff des \u00bbmoralischen Sinns\u00ab durch den des Gewissens, der Verpflichtung bereichert. Bei Shaftesbury handelte es sich vor allen Dingen um die Frage: Welch ein Seelenverm\u00f6gen l\u00e4sst uns zwischen gut und b\u00f6se unterscheiden? Es war ihm in seinem Optimismus selbstverst\u00e4ndlich, dass man das als gut empfundene auch ausf\u00fchrt; alle schlechten Handlungen in der Welt entsprangen ihm wesentlich aus einer fehlerhaften Organisation jenes Unterscheidungsverm\u00f6gens \u2014 etwa so, wie jemand, der mit einem schlechten musikalischen Geh\u00f6r begabt ist, auch nothwendig schlechte Musik macht. Aber dem vertrauensseligen liberalen Weltmanne tritt der einsame geistliche Denker erg\u00e4nzend gegen\u00fcber, indem er auf das nachdr\u00fccklichste den Begriff einer activen Verpflichtung betont \u2014 freilich, ohne demselben eine bessere Begr\u00fcndung geben zu k\u00f6nnen, als durch den Hinweis auf die Coincidenz von Pflichterf\u00fcllung und Privatinteresse, Wir werden sp\u00e4ter sehen, wie Adam Smith jenen wichtigen Begriff in seine Theorie aufnimmt und ihn, ohne das gleiche \u00bbungl\u00fcckliche Zugest\u00e4ndniss an den allgemeinen Zeitgeist\u00ab1)\n1) So nennt Stephen in seiner \u00bbGeschichte des englischen Denkens\u00ab jene Beweisf\u00fchrung des von ihm sonst sehr hochgestellten Denkers.","page":558},{"file":"p0559.txt","language":"de","ocr_de":"559\nAdam Smith\u2019s Moralphilosophie.\nzu machen wie Butler, geschickt und consequent mit seinen Grundprincipien in Einklang zu bringen wei\u00df.\nZweitens ist Butler ein Fortsetzer Shaftesbury\u2019s durch das Bestreben, die Selbst\u00e4ndigkeit und Urspr\u00fcnglichkeit altruistischer Triebe neben den egoistischen nachzuweisen, sowie durch die Betonung der Unm\u00f6glichkeit, die ersteren auf die letzteren zur\u00fcck-zuf\u00fchren.\nBei weitem enger jedoch als Butler schlie\u00dft sich Hut che Sohr an den Lehrer an. Er ist eigentlich der erste, welcher der Forderung einer psychologischen Analyse in ausgedehnterem Ma\u00dfe nachkommt ; seine Untersuchungen erstrecken sich auch auf speciell \u00e4sthetische Fragen, und seine Begabung gerade f\u00fcr diese war vielleicht um so gr\u00f6\u00dfer, je einsamer er auf diesem Gebiet in seiner Zeit dastand. Seine moralphilosophischen Untersuchungen f\u00fchren ihn zu der Annahme zweier urspr\u00fcnglichsten, im Bewusstsein aufzufindenden Elemente : erstlich eines passiven, die Handlungen und Gesinnungen anderer mit unmittelbarer und unwillk\u00fcrlicher Billigung oder Missbilligung begleitenden moralischen Sinns \u2014 der bei Shaftes-bury nur gelegentlich vor kommende Ausdruck wird erst hier zum terminus technicus \u2014 zweitens aber eines activen, auf das allgemeine Beste gehenden, ebenso unmittelbaren und vor allem unin-teressirten Wohlwollens, das er als einen \u00bbgewissen Instinct\u00ab bezeichnet, der eher war als alle Gr\u00fcnde des Eigennutzes1). Diesen Grundtrieb des Wohlwollens vergleicht er mit der Schwerkraft der kosmischen K\u00f6rper, die Selbstliebe dagegen mit der \u00bb Attraction, welche die Coh\u00e4sion der Theile verursacht\u00ab (S. 300); ein Vergleich, der auch darin zu trifft, dass beide entgegengesetzte Kr\u00e4fte von gleicher Wichtigkeit f\u00fcr das Ganze sind, und dass nur durch ihr Zusammenwirken die realen Erscheinungen dort in der physikalischen, hier in der moralischen Welt zu Stande\n1) vgl. \u00bbUntersuchung unserer Begriffe von Sch\u00f6nheit und Tugend\u00ab, \u00fcbers, von Merk 1762. S. 166. Diese Abhandlung ist reich an klaren Definitionen jener beiden elementaren Principien; so S. 241: Die Menschen haben von Natur ein moralisches Gef\u00fchl von der G\u00fcte einer Handlung, und sind eines uneigenn\u00fctzigen Wohlwollens f\u00e4hig. S. 158: In der menschlichen Natur liegt eine uneigenn\u00fctzige letzte Begierde nach dem Wohle anderer, und der moralische Sinn bewegt uns, die aus dieser Begierde flie\u00dfenden Handlungen zu billigen.\n37*","page":559},{"file":"p0560.txt","language":"de","ocr_de":"560\nJohannes Schubert.\nkommen. Seine psychologische Analyse l\u00e4sst Hutcheson dann noch eine gro\u00dfe Anzahl anderer \u00bbinnerer Sinne\u00ab, neben dem moralischen, entdecken: so den socialen, den religi\u00f6sen, den sympathetischen Sinn etc.; und in dieses scheinbar so verwickelte und verworrene Getriebe (\u00bbcomplexed and confund fabric\u00ab) kommt Ordnung und Zweck durch das Zusammenarbeiten aller Sinne f\u00fcr die menschliche Gl\u00fcckseligkeit, unter Leitung des moralischen.\nIn der Metaphysik vertrat also Hutcheson, wie hieraus hervorgeht , wieder st\u00e4rker teleologische Anschauungen, ebenso tritt auch das religi\u00f6se Element lebhaft hervor ; die ganze Natur ist ihm \u00bbh\u00f6chst wahrscheinlich\u00ab von einer auf die allgemeinste und unparteiischste Art wohlwollenden Gottheit zum Zweck allgemeiner Gl\u00fcckseligkeit geschaffen, und die Uebel der Welt scheinen ihm nothwendige Begleiter eines Mechanismus zu sein, der ein gr\u00f6\u00dferes Gut zur Absicht hat1).\nBeachtenswerth ist schlie\u00dflich sein durch die ganze Untersuchung sich hindurchziehendes Bestreben, die Uninteressirtheit des activen Princips, des Wohlwollens, zu beweisen; ein Unternehmen, in welchem er sp\u00e4ter in Hume einen an Eifer ebenb\u00fcrtigen, an philosophischer Kraft \u00fcberlegenen Bundesgenossen findet. Und wenn nicht nur uns heute, sondern selbst schon dem jenen M\u00e4nnern so nahe stehenden Adam Smith dieses als eine ziemlich \u00fcberfl\u00fcssige Arbeit erscheint, so d\u00fcrfen wir nicht vergessen, dass damals die gro\u00dfen Anstrengungen, welche die Nominalisten von Hobbes bis hinab zu Mandeville machten, um jede, auch die\n1) S. 39. Interessant ist seine Furcht, dass sein \u00e4sthetischer Subjectivismus dem Zweckbegriff entgegen sei! Wenn es wahr ist, dass \u00bballe Sch\u00f6nheit relativ ist und sich auf das Empfindungsverm\u00f6gen eines Geistes bezieht, dem sie gef\u00e4llt\u00ab (S. 12), wenn es keine Gestalt in der Natur gibt, \u00bbvon der wir insbesondere sagen k\u00f6nnen, dass sie keine Sch\u00f6nheit h\u00e4tte, weil es noch eine empfindende Kraft geben kann, der sie gef\u00e4llt\u00ab (S. 20), dann haben wir allerdings noch keinen Grund, von der Wahrnehmung der Wirkung des Sch\u00f6nen \u00bbauf eine Absicht in der Ursache zu schlie\u00dfen\u00ab (S. 50k Wie sich H. diesem Dilemma entzieht, geh\u00f6rt nieht hierher; die Stellen sind nur interessant als erste zaghafte Schritte zu dem vollendeten Subjectivismus, wie ihn Hume proclamirt. Charakteristisch ist auch Hutcheson\u2019s Versuch, sich der anthropocentrischen Befangenheit seiner Zeit zu entziehen : \u00bb Viele Theile des Weltgeb\u00e4udes scheinen nicht g\u00e4nzlich (!) zum Nutzen des Menschen bestellt zu sein\u00ab (S. 43).","page":560},{"file":"p0561.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n561\nscheinbar selbstloseste Regung in Eigennutz aufzul\u00f6sen, eine ebenso energische Zur\u00fcckweisung erforderten.\nMit David Hume endlich, dem unmittelbaren Vorg\u00e4nger Smith\u2019s, vollzieht sich jener Schritt zum vollendeten ethischen Subjectivismus, wie ihn eine von allen metaphysischen und religi\u00f6sen Voraussetzungen befreite, auf rein empirisch-psychologische Analyse gegr\u00fcndete Gef\u00fchlsmoral schlie\u00dflich thun musste.\nIn Shaftesbury\u2019s optimistischem Pantheismus klang doch noch etwas von nicht v\u00f6llig \u00fcberwundenem Intuitionismus, von einer den Dingen an und f\u00fcr sich anhaftenden Sch\u00f6nheit oder G\u00fcte nach, welche dann von dem \u00e4sthetischen oder moralischen Gef\u00fchl einfach als solche empfunden wurde; bei Hume liegt die Thatsache \u00bbgut\u00ab oder \u00bbschlecht\u00ab nicht im Object, sondern einzig und allein, in uns1); bei ihm dreht sich die Welt der sittlichen Erscheinungen um das moralische Gef\u00fchl des Einzelnen, etwa wie bei Kant die Welt der sinnlichen Erscheinungen um den formgebenden Intellect; aber w\u00e4hrend Hume die v\u00f6llige Isolirtheit in sittlich praktischer Beziehung, in welche er seinen Menschen setzt, nicht die geringste Sorge macht, l\u00e4sst sich Kant, welchen der Genius seines theoretischen Denkens diese Isolirung in weit radi-calerer Weise durchf\u00fchren lie\u00df, zu der \u2014 freilich durch die grandiosen Anstrengungen, sie zu verdecken, immer noch bewunderns-erthen \u2014 Inconsequenz hinrei\u00dfen, diese Isolirung in sittlichpraktischer Beziehung wieder aufzugeben und durch eine mystische Verbindung des Menschen mit dem Urgr\u00fcnde der Welt die unbedingt verpflichtende Kraft des Sittlichen wiederherzustellen, welche ihm durch jene empirisch - naturalistischen Ableitungen v\u00f6llig gelockert zu sein schien.\nEs ist hochinteressant, bei dieser Gelegenheit zu verfolgen, wie diese beiden auf v\u00f6llig entgegengesetzten ethischen Standpunkten\n1) Treatise of human nature. Ausg. Green and Grose, London 1874. Book III S. 244: \u00bbIch kann einen Mord nach allen Seiten hin zergliedern und finde Leidenschaften, Gedanken, Willensimpulse, nur kein Laster\u00ab. Ferner ibid. 302: \u00bbDer Unterschied von gut und b\u00f6se gr\u00fcndet sich auf die Empfindung von Lust und Unlust, welche von der Betrachtung einer gewissen Gesinnung und eines gewissen Charakters entstehen\u00ab; daraus folgt dann, \u00bbdass in jedem Charakter gerade so viel von Tugend und Laster ist, als ein Jeder hineinlegt, und dass man sich in diesem einzelnen Fall unm\u00f6glich irren kann\u00ab.","page":561},{"file":"p0562.txt","language":"de","ocr_de":"562\nJohannes Schubert.\nstehenden Denker die gegnerische Ansicht als aus blo\u00dfen Missverst\u00e4ndnissen hervorgegangen zu kennzeichnen suchen.\nW\u00e4hrend Kant1) sich zu zeigen bem\u00fcht, dass die ganze Gef\u00fchlsmoral auf einer T\u00e4uschung des \u00bbinneren Sinnes\u00ab beruhe, welche dadurch hervorgerufen werde, dass die emotionale Begleiterscheinung der in Wahrheit durch Vernunft hervorgerufenen Willensbestimmung f\u00e4lschlich f\u00fcr die Ursache der WillensheStimmung angesehen werde, zeigt Hume (der einen dem kan tischen sehr \u00e4hnlichen, nur der eigenartigen erkenntnisstheoretischen Grundlage nat\u00fcrlich entbehrenden Standpunkt im Intuitionismus vor Augen hatte), dass die ganze Vernunftmoral sich nur auf eine Ungenauigkeit des sprachlichen Ausdrucks gr\u00fcnde, in Folge deren das Wort \u00bbVernunft\u00ab zur Bezeichnung zweier ganz verschiedener Begriffe verwendet wird. Vernunft im eigentlichen Sinne ist nichts als das Verm\u00f6gen, Schl\u00fcsse zu ziehen, sie ist ein v\u00f6llig inactives Princip2), das niemals der Beweggrund irgend einer Willenshandlung sein oder mit einem Affect in Widerspruch stehen kann3); was von den Intuitionisten oder auch im gew\u00f6hnlichen Lehen als \u00bbVernunft\u00ab in sittlichen Handlungen bezeichnet wird, das sind die ruhigen, wegen ihrer Stetigkeit von keiner merkbaren Empfindung begleiteten Triebe und Neigungen, welche mit den pl\u00f6tzlich auftauchenden heftigen Leidenschaften des Moments um die Herrschaft streiten. Der ganze sogenannte Kampf zwischen Vernunft und Affect ist nichts als der Streit jener ruhigen Grundneigungen mit den heftigen momentanen Leidenschaften der Seele.\nEs handelt sich indessen bei Hume\u2019s theoretischen Untersuchungen weniger um den Grund unserer activen Handlungen, als um die Gr\u00fcnde, welche den passiven Zuschauer zur Billigung oder Missbilligung von Gesinnungen und Handlungen an treibe.\nf) Kritik d. prakt. Vernunft (v. Kirchmann) S. 140.\n2)\tVgl. Treatise III 236. Vernunft k\u00f6nne nur insofern Ursache eines Aifects sein, als sie durch ihr Urtheil eine richtige oder falsche Vorstellung zu erwecken im Stande sei, die dann erst den Affect hervorrufe; aher die auf diese Weise entstehenden Irrth\u00fcmer seien nie unmoralisch, sondern nur errores facti, die keine Strafe nach sich z\u00f6gen.\n3)\tTreatise II 195, of the passions. \u00bbEs ist der Vernunft nicht zuwider, die Zerst\u00f6rung der ganzen Welt lieber zu wollen, als sich in den Finger zu ritzen.\u00ab","page":562},{"file":"p0563.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n563\nDie Handlungen selber entstehen eben aus Trieben und Neigungen, die, f\u00fcr sich genommen, \u00bburspr\u00fcngliche Thatsachen und Realit\u00e4ten sind\u00ab und \u00bbihre Vollst\u00e4ndigkeit in sich selber haben\u00ab1); gut oder schlecht werden sie ohne Zweifel erst dadurch, dass gewisse Handlungen und Gesinnungen bei dem Zuschauer ein Lust-, andere ein Unlustgef\u00fchl hervorrufen; diese moralischen Gef\u00fchle haben eine ganz bestimmte Qualit\u00e4t und unterscheiden sich genau von anderen, z. B. \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen. Es fragt sich nun ferner: Ist dieses Lust- resp. Unlustgef\u00fchl ein unmittelbares, durch den blo\u00dfen Anblick der Handlung hervorgerufenes, oder entsteht dasselbe durch den Hinblick auf den Zweck, welcher durch diese Handlung erreicht werden soll? Hume erkl\u00e4rt sich f\u00fcr das letztere: der unparteiische Zuschauer sympathisirt mit demjenigen, welchem aus einer Handlung ein Nutzen erw\u00e4chst2 3) ; so f\u00fchrt also die v\u00f6llig uninteressirte, durch keine selbsts\u00fcchtigen R\u00fccksichten getr\u00fcbte Sympathie, welche der unparteiische Zuschauer mit dem Nutzen der Gesellschaft empfindet, zu Lust- oder Unlustgef\u00fchlen, welche in ihrer von anderen emotionalen Regungen genau unterschiedenen Qualit\u00e4t durch die Worte \u00bbgut\u00ab und \u00bbschlecht\u00ab bezeichnet werden.\nMan beachte nur den Unterschied, wie er zwischen einer solchen im empirisch-praktischen2), und einer im metaphysischen Sinne teleologischen Auffassung der Ethik besteht, wie sie etwa Hutcheson hatte.\nWer in der ganzen Welt nur eine planm\u00e4\u00dfige Anlage zur Verwirklichung des Guten sieht, der kann sehr wohl die Behauptung wagen, dass unser moralisches Gef\u00fchl zu einer unmittelbaren und instinctiven Auffassung von gut und schlecht pr\u00e4disponirt ist ; etwa ebenso, wie das \u00e4sthetische zur Auffassung von sch\u00f6n und h\u00e4sslich; es liegt dann eben in der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit des Ganzen begr\u00fcndet, dass das als moralisch sch\u00f6n Empfundene auch in seiner Tendenz das allgemeine Beste zum Ziel hat; wer indessen, wie Hume,\n1)\tTreatise III 236.\n2)\tTreatise III 371 \u00bbAlle Tugenden haben ihr Verdienst von unserer Sympathie mit denen, welche Nutzen davon ziehen.\u00ab\n3)\tIn neuester Zeit hat F. Paulsen diesen empirisch-praktischen Begriff einer teleologischen Ethik wieder stark betont.","page":563},{"file":"p0564.txt","language":"de","ocr_de":"564\nJohannes Schubert.\ndie causae finales als unphilosophiseh verwirft, der verlegt ganz consequent den Zweckbegriff in das beurtheilende Subject und l\u00e4sst ihn dort zum Hauptgr\u00fcnde des billigenden oder missbilligenden Urtheils werden. Damit verliert dann das sittliche Urtheil seinen vorwiegend \u00e4sthetischen Charakter, den es bei Shaftesbury und Hutcheson gehabt hat; und es ist psychologisch sehr erkl\u00e4rlich, wenn Hume nun auch das im speciellen Sinne Aesthetische nach dem Zweckm\u00e4\u00dfigen her\u00fcber zu ziehen sucht und wenigstens einen hervorragenden Bestandtheil des Sch\u00f6nen aus der zweckm\u00e4\u00dfigen N\u00fctzlichkeit desselben abzuleiten sich bem\u00fcht.\nEs darf \u00fcbrigens nicht unerw\u00e4hnt bleiben, dass Hume seinem oben skizzirten Standpunkte nicht immer mit jener Strenge treu geblieben ist, wie es zur klaren Auffassung der Begriffe gerade in diesen unsicheren Fragen nothwendig gewesen w\u00e4re; und Jo dl1) macht mit Recht auf eine Stelle in der sp\u00e4teren Bearbeitung der Ethik2) aufmerksam, wo Hume selber zugesteht, dass oft gerade da machtvolle moralische Affectionen eintr\u00e4ten, wo gar kein Gedanke an die Folgen der Handlung auftauche.\nZu einem vollen nominalistischen Utilitarismus bekennt sich Hume in seiner bekannten Auffassung von der Gerechtigkeit. W\u00e4hrend alle anderen sittlichen Handlungen aus Beweggr\u00fcnden entstehen, die in der menschlichen Natur als urspr\u00fcngliche, nat\u00fcrliche Triebe vorhanden3) und zun\u00e4chst von der \u00bbEmpfindung der Moralit\u00e4t der Handlung ganz unterschieden sind\u00ab4) \u2014 denn diese liegt ja im Gef\u00fchl des Zuschauers \u2014, sucht Hume vergeblich nach einem Trieb, aus dessen Wirksamkeit die vom Zuschauer als \u00bbgerecht\u00ab gebilligten Handlungen entstehen5). So kommt er zu dem\n1)\tGeschichte der Ethik I 236.\n2)\tWie sie im 3. Bande der \u00bbEssays\u00ab vorliegt.\n3)\tVgl. Treatise III 286. Keine Handlung k\u00f6nne von uns als eine Schuldigkeit gefordert werden, wenn nicht ein wirkender Affect oder Beweggrund in die menschliche Seele gepflanzt sei, der im Stande sei, die Handlung hervorzubringen. Freilich k\u00f6nne ein Mensch, der einen allgemein verbreiteten, als sittlich geltenden Trieb in sich vermisse (etwa die Liehe zu den Eltern), nun den Willen haben, aus Pflicht zu thun, was ihm aus nat\u00fcrlicher Neigung versagt sei.\n4)\tTreatise III 253.\n5)\tDer Begriff \u00bbGerechtigkeit\u00ab ist von Hume stets in dem engeren juristischen Sinn gefasst.","page":564},{"file":"p0565.txt","language":"de","ocr_de":"565\nSchluss, dass die Gerechtigkeit keine \u00bbnat\u00fcrliche\u00ab, sondern eine k\u00fcnstliche, eine \u00bb conventioneile \u00ab Tugend sei; nur die Reflexion \u00fcber den Nutzen k\u00f6nne als die alleinige Quelle der den Besitz des Einzelnen sichernden und somit das Bestehen der Gesellschaft erst m\u00f6glich machenden Gerechtigkeit angesehen werden.\nAuf eine n\u00e4here Darstellung dieser scharfsinnigen Untersuchung k\u00f6nnen wir hier nicht eingehen ; wir werden sp\u00e4ter sehen, wie diese Theorie, die bei Hume zu einer doppelten Grundlegung der Moral gef\u00fchrt hat, durch Adam Smith \u00fcberwunden und beseitigt wird.\nII. Adam Smith\u2019s Moralphilosopliie.\nAdam Smith1), geboren am 5. Juni 1723 zu Kircaldy in Schottland, gestorben 1790 zu Edinburg, ist in weiten Kreisen heute vor allem durch sein grundlegendes Werk der liberalen Yolkswirthschaftslehre bekannt und ber\u00fchmt; und in der That kann sich, was die praktischen Folgen sowohl als die fruchtbare Anregung zu theoretischen Studien anbelangt, die 1759 erschienene, also um 17 Jahre \u00e4ltere \u00bbTheorie der sittlichen Gef\u00fchle\u00ab mit dem Erzeugniss seiner reifsten Mannesjahre nicht messen; aber es w\u00e4re durchaus ungerechtfertigt, wollte man durch die Contrastwirkung, unter welcher das Jugendwerk neben dem Hauptwerke sichtbar zu leiden gehabt hat, sich t\u00e4uschend beeinflussen lassen. Sowohl f\u00fcr sich betrachtet, als im Hinblick auf die innere Fortbildung, welche die Reihe der emotionalistischen Systeme durch seine \u00bbTheorie\u00ab erhalten hat, ist dieselbe ein vortreffliches Werk, ausgezeichnet durch Reichthum und Feinheit der Beobachtung, sichere Beherrschung der Methode sowie durch eine im ganzen cons\u00e9quente und dabei erstaunlich zwanglose Durchf\u00fchrung des Grundgedankens.\nDer Vernachl\u00e4ssigung gegen\u00fcber, unter welcher Sm it h\u2019s Jugendwerk zu leiden gehabt, hat nun Thomas Buckle, ein moderner Verehrer des Denkers, die extreme Behauptung aufgestellt, dass zwischen diesem und dem volkswirthschaftlichen Hauptwerk ein tiefer innerer Zusammenhang vorhanden sei, ja, dass das eine nur\n1) Sein Leben hat Dugald Stewart geschrieben. Ausg. von Stewart\u2019s Werken, Edinburg 1877.","page":565},{"file":"p0566.txt","language":"de","ocr_de":"566\nJohannes Schubert.\nmit R\u00fccksicht auf das andere studirt und verstanden werden k\u00f6nne1). Er ist der Ansicht, dass die in der Moralphilosophie und National\u00f6konomie aufgestellten Principien der Sympathie und des Egoismus Resultate einer bewussten wissenschaftlichen Abstraction seien, deren jedes f\u00fcr sich betrachtet zwar nur den halben Menschen umspanne, deren Zusammenwirken im concreten Falle jedoch die Ph\u00e4nomene des menschlichen Handelns in ausgezeichneterWeise zu erkl\u00e4ren verm\u00f6ge. Die Moralphilosophie zeige den Menschen aus rein sittlichen, die National\u00f6konomie aus rein eigenn\u00fctzigen Motiven handelnd; das Zusammenwirken beider ergebe das reale Leben als eine Resultante, die durch die wissenschaftliche Analyse in ihre Compo-nenten zerlegt werden m\u00fcsse.\nNun geht allerdings aus dem von Dugald Stewart mitgeteilten Lehrplan, dem Smith als Professor in Glasgow folgte, hervor, dass seine akademischen Vorlesungen \u00fcber Moralphilosophie ein weit gr\u00f6\u00dferes Gebiet umfassen, als die von ihm herausgegebene \u00bbTheorie der sittlichen Gef\u00fchle\u00ab. Jene Vorlesungen zerfielen in die vier Abtheilungen:\n1)\tder nat\u00fcrlichen Theologie;\n2)\tder eigentlichen Moralphilosophie *\n3)\tder Rechtsphilosophie;\n4)\tder National\u00f6konomie; y\ner hat also die letztere schon von Anfang an gleichzeitig mit der Ethik in den Bereich seiner Studien gezogen, und die beiden der Oeffentlichkeit \u00fcbergebenen Werke sind nur die erweiterte und systematische Ausf\u00fchrung zweier Nummern seines umfassenderen akademischen Programms. F\u00fcr das Verst\u00e4ndniss von Smith\u2019s philosophischer Gesammtanschauung m\u00fcssen also selbstverst\u00e4ndlich beide Werke zu Rathe gezogen werden, ja, f\u00fcr diesen Zweck hat vielleicht die Moralphilosophie noch den Vorzug vor der Volkswirtschaftslehre; die Behauptung indessen, als ob jedes Werk f\u00fcr sich ohne das andere gar nicht richtig verstanden werden k\u00f6nne, ist als weit \u00fcbertrieben zur\u00fcckzuweisen. Es sind beides in sich abgeschlossene Werke, die zwar so manches innere geistige Band\n1) Geschichte der Civilisation, \u00fcbers, von R\u00fcge, II 422.","page":566},{"file":"p0567.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n567\nallgemeiner Welt- und Lebensanschauung verkn\u00fcpft, die aber durchaus nicht dadurch der Gefahr des Missverstandenwerdens ausgesetzt sind, dass man auf dieses Band keine eingehendere R\u00fccksicht nimmt.\nUnd wenn diese Gefahr, wie es Oncken so lebhaft hervorhebt, f\u00fcr die National\u00f6konomie wirklich eingetreten ist \u2014 eine Ansicht, die zu untersuchen nicht unseres Amtes \u2014 so kann dieselbe sicher nicht dadurch beseitigt werden, dass man den Moralphilosophen gegen den National\u00f6konomen ausspielt; eine solche \u00bbRettung\u00ab des einen durch den anderen kann wohl unter Umst\u00e4nden eine Anzahl werthvoller argumenta ad hominem liefern, niemals aber ein System aufrecht erhalten, das einen ganz anderen Kreis von Lebenserscheinungen zum Gegenst\u00e4nde seiner Erkl\u00e4rung macht; ein solches muss eben seine Rettung in sich selber haben.\nAndrerseits darf behauptet werden, dass f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss von Smith\u2019s \u00bbTheorie der sittlichen Gef\u00fchle\u00ab die Kenntniss seiner vorhin skizzirten Vorg\u00e4nger bei weitem wichtiger ist, als die seines \u00bbWealth of Nations\u00ab, denn erst dadurch gewinnt man ein Urtheil \u00fcber die ganze Art der Problemstellung, sowie \u00fcber das, was Smith jenen Vorg\u00e4ngern verdankt, und was er selbst\u00e4ndig f\u00fcr die Fortentwicklung der ethischen Probleme gethan hat.\nZudem hat Buckle, wie schon Oncken mit Recht bemerkt, Smith\u2019s Moralphilosophie durchaus nicht richtig aufgefasst, wenn er dieselbe schlechtweg als eine Ethik des \u00bbMitgef\u00fchls\u00ab bezeichnet ; es spielt hier wieder eine jener Zweideutigkeiten und Ungenauigkeiten der Sprache mit, welche schon so viele Verwirrungen in der Philosophie auf dem Gewissen haben ; was es mit dem Begriff der Sympathie bei Smith auf sich hat, werden wir alsbald des genaueren zu untersuchen haben.\nWerfen wir jetzt, bevor wir zur eigentlichen \u00bbTheorie\u00ab \u00fcbergehen, noch einen Blick auf die \u00e4u\u00dfere Form derselben. Smith stellt, wie es die systematische Darstellung verlangt, das Grund-princip, durch welches er die Ph\u00e4nomene des sittlichen F\u00fchlens und Handelns erkl\u00e4ren will, an die Spitze der ganzen Untersuchung und zeigt, wie sich aus demselben die einzelnen Erscheinungen ableiten lassen. Dabei sind die einzelnen Punkte von einer solchen F\u00fclle durch psychologische Analyse gewonnenen Materials gest\u00fctzt","page":567},{"file":"p0568.txt","language":"de","ocr_de":"568\nJohannes Schubert.\nund erl\u00e4utert, dass man den systematischen Fortschritt des Ganzen nirgends als einen trockenen oder gezwungenen empfindet.\nDer erste Theil, \u00bbvom Schicklichen im Handeln\u00ab (\u00bbof the propriety of action\u00ab) betitelt, unternimmt es zu zeigen, wie aus einem urspr\u00fcnglichen, nicht weiter ableitbaren Princip unserer Organisation sich die Entstehung der sittlichen Werthurtheile, welche wjjc \u00fcber Andere f\u00e4llen, erkl\u00e4ren l\u00e4sst; der zweite Theil, \u00bbvom Verdienst und Missverdienst\u00ab (\u00bbof merit and demerit\u00ab), sucht aus demselben Princip diejenigen Urtheile abzuleiten, welche auf Lohn oder Strafe abzielen; er enth\u00e4lt also haupts\u00e4chlich die Rechtsphilosophie in ihren allgemeinsten Grunds\u00e4tzen ; der dritte Theil endlich \u2014 of duty \u2014 gibt die Ableitung der verpflichtenden Kraft des Sittlichen f\u00fcr uns selber; er ist der H\u00f6hepunkt der ganzen Theorie und folglich auch derjenige Theil, in welchem dieselbe am weitesten von entgegengesetzten Ableitungen abweicht. Der vierte und f\u00fcnfte Theil, welche vom Einfluss der N\u00fctzlichkeitserw\u00e4gungen, sowie von Mode und Gewohnheit auf die Werthurtheile handeln, sind als Bereicherungen und Modificationen der in den ersten drei Theilen festgestellten Grundlage von Werth; der sechste Theil endlich gibt eine Uebersicht und Classification hervorragender fremder Systeme, sowie eine Untersuchung derselben mit R\u00fccksicht auf ihre Ueber-einstimmung oder Nicht\u00fcbereinstimmung mit der Smith\u2019schen Theorie.\nEinunddrei\u00dfig Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage, also im Jahre 1790, f\u00fcgte Smith noch einen zweiten Theil hinzu, in welchem neben einigen Zus\u00e4tzen zu den schon vorhandenen ein ganz neuer Abschnitt \u00bbUeber den Charakter der Tugend\u00ab enthalten ist, und in dem er treffliche Beschreibungen einzelner sittlicher Erscheinungen gibt, ohne dass indessen seine principiellen Ansichten irgendwelche Ab\u00e4nderung oder Erweiterung erhalten.\n1.\nWelches ist nun der wahre Ursprung unserer sittlichen Werthurtheile, jenes Elementarste, auf dessen Wirksamkeit wir alle unsere Begriffe von gut und schlecht zur\u00fcckf\u00fchren k\u00f6nnen?\nErinnern wir uns zun\u00e4chst einmal eines Gedankens, der schon von Shaftesbury ab in der Reihe der Gef\u00fchlsmoralisten \u00f6fters","page":568},{"file":"p0569.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n569\namklingt, der indessen erst bei Hume seine scharfe Fassung erhalten hat, des Gedankens: Ein jeder Affect ist eine urspr\u00fcngliche Thatsache, der seine Realit\u00e4t in sich selber hat, der also, an und f\u00fcr sich betrachtet, weder gut noch schlecht sein kann.\nWas bewegt uns nun, diese Unterschiede dennoch zu machen\u201c? Nicht die Vernunft \u2014 in dieser Ablehnung des Intuitionismus stimmen sie alle \u00fcberein ; \u00bblob- und tadelnsw\u00fcrdig ist mit vern\u00fcnftig und unvern\u00fcnftig nicht einerlei\u00ab1) ; das Gef\u00fchl ist es, aus dem sie allein entspringen k\u00f6nnen.\nAber wie ist dieses Gef\u00fchl beschaffen, und wie ist es n\u00e4her zu charakterisiren?\nShaftesbury und Hutcheson, noch v\u00f6llig in der Anschauung befangen, als ob die verschiedenen psychischen Vorg\u00e4nge sich durch die Annahme von Seelenverm\u00f6gen hinreichend erkl\u00e4ren lie\u00dfen, nannten es den \u00bbmoralischen Sinn\u00ab und suchten diesen durch Vergleichung mit unserem \u00e4sthetischen Gef\u00fchl der Vorstellung n\u00e4her zu bringen; Hume gab diesem unbestimmten^...........hypo-\nthetischen Begriff eine deutlichere Gestalt^ indem er ihn als eine Sympathie mit dem Nutzen der Gesellschaft definirte, durch diese utilitaristische F\u00e4rbung aber die Urspr\u00fcnglichkeit und Unmittelbarkeit des Gef\u00fchls tr\u00fcbte ; au\u00dferdem fiel er bei Ableitung der Gerechtigkeit in einen vollen Nominalismus zur\u00fcck; Smith endlich, durch die zahlreichen treffenden Definitionen, welche Hume von der Sympathie gegeben hatte, entschieden bestimmt und angeregt,\nerhebt dieselbe zum alleinigen Princip der sittlichen Werthunter-\n.\u2014....\u2014........\"\u00abijai r\u00abn;\t, .\t\u201cTTC\"\u201c'\nScheidungen, und zwar die Sympathie schlechthin, wie sie, zun\u00e4chst durch N\u00fctzlichkeitserw\u00e4gungen unbeeinflusst, sich in jedem Menschen unmittelbar \u00e4u\u00dfert. So reinigt er den von Hume entdeckten Begriff von seiner utilitaristischen Tr\u00fcbung2), combinirt ihn mit der elementaren Urspr\u00fcnglichkeit von Shaftesbury\u2019s mora-\n1)\tHume. Treatise IH 236.\n2)\tMan erblicke in diesem Ausdruck keine Verunglimpfung des Utilitarismus. Derselbe ist in seiner von Bentham und Mill ausgepr\u00e4gten Gestalt ebensowohl discutirbar, wie die hier vorgetragene Ansicht; aber bei der wichtigen Frage nach dem prim\u00e4ren Princip muss eine Vermischung beider Ansichten als eine Tr\u00fcbung der einen durch die andere bezeichnet werden. Wir werden \u00fcbrigens sp\u00e4ter sehen, wie Smith den N\u00fctzlichkeitserw\u00e4gungen einen betr\u00e4chtlichen, wenn auch secund\u00e4ren Platz einr\u00e4umt.","page":569},{"file":"p0570.txt","language":"de","ocr_de":"570\nJohannes Schubert.\nlischem Sinn und erreicht dadurch eine von feinem psychologischen Takt zeugende Aufl\u00f6sung jenes unbestimmten Seelenverm\u00f6gens in die einzelnen uns allen so bekannten sympathetischen Triebvor-\\ g\u00e4nge.\nDen so gewonnenen Begriff der Sympathie stellt also Smith an die Spitze seiner Theorie; in ihm erblickt er den alleinigen Ma\u00dfstab, von welchem aus die zahllosen in der Menschenbrust aufsteigenden Affecte sowie die daraus sich ergebenden Handlungen ihr Werthurtheil empfangen. Vergegenw\u00e4rtigen wir uns zur n\u00e4heren Verdeutlichung dieses Vorgangs die begrifflichen Definitionen sowie die bildlichen Vorstellungen, welche der Philosoph selber zur Erkl\u00e4rung heranzieht.\nGleich der erste Satz, mit welchem die \u00bbTheorie\u00ab beginnt, enth\u00e4lt eine derartige Definition: \u00bbSo eigens\u00fcchtig wir uns den .Menschen auch denken m\u00f6gen, so m\u00fcssen wir doch zugeben, dass eine gewisse nat\u00fcrliche Stimmung des Herzens ihn n\u00f6thigt, an dem Schicksal seiner Br\u00fcder Theil zu nehmen und ihr Gl\u00fcck als ein unumg\u00e4ngliches Erforderniss zu seinem eigenen Gl\u00fcck zu betrachten, sollte er auch nichts anderes davon haben, als das Vergn\u00fcgen, es mit anzusehen\u00ab.\nAber so treffend und einwandsfrei diese Begriffsbestimmung auf den ersten Blick erscheinen d\u00fcrfte, so enth\u00e4lt sie doch schon bei n\u00e4herer Betrachtung wie im Keime den ganzen Grundfehler der Smith\u2019schen Theorie: die Vermischung eines passiven und eines activen Sympathiebegriffs. Nun ist es aber klar, dass ein Urtheil \u2014 und darum handelt es sich doch \u2014 nur durch einen passiven Zuschauer abgegeben werden kann, dass in dem Augenblicke, wo ich selber activ eingreife \u2014 etwa um das Gl\u00fcck eines Anderen bef\u00f6rdern zu helfen \u2014 schon ein Gef\u00fchlscomplex vorliegt, der durch psychologische Analyse noch in Elemente zerlegt werden kannl).\n1) Oncken hat richtig erkannt, dass nur\u2019 ein solches passives Princip Urtheile abzugeben im Stande ist, er begeht aber einen Fehler, wenn er daraus schlie\u00dft, dass Smith selber dieses klar erkannt h\u00e4tte. Dieser gebraucht die Ausdr\u00fccke \u00bbactiv\u00ab oder \u00bbpassiv\u00ab nirgends; um so hewundernswerther ist sein wissenschaftlicher Instinct, der ihn vor einer allzu groben Vermischung beider Begriffe bewahrt hat. Dem kritischen Darsteller aber erw\u00e4chst aus seinem","page":570},{"file":"p0571.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n571\nDiese vorl\u00e4ufigen Bemerkungen werden hoffentlich durch die sp\u00e4teren Betrachtungen zu gr\u00f6\u00dferer Klarheit gelangen; jetzt wollen wir das Bild betrachten, durch welches Smith den Vorgang der sympathetischen Erregung auch unserer sinnlichen Vorstellung n\u00e4her zu bringen sucht. Er erkl\u00e4rt dieselbe aus einer eingebildeten Vertauschung unserer Person mit der vom Affect beherrschten ; wir sollen gewisserma\u00dfen dasselbe nur in schw\u00e4cherem Grade mitf\u00fchlen, was unser N\u00e4chster in Wirklichkeit f\u00fchlt und erlebt. Als ein Beispiel, wo dies ganz klar sein soll, f\u00fchrt er die elementarsten sympathetischen Triebe, n\u00e4mlich diejenigen, welche durch den Anblick \u00e4u\u00dferer k\u00f6rperlicher Leiden erregt werden, an; die allt\u00e4gliche Beobachtung, dass ein gesunder Mensch heim Anblick von Verletzungen, Operationen etc. eine Art Schmerzgef\u00fchl in dem mit dem leidenden correspondirenden Theile des eigenen K\u00f6rpers empfindet, glaubt er nur durch jene sich in der Einbildung vollziehende Vertauschung der eigenen Pers\u00f6nlichkeit mit der des Leidenden erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen.\nDoch kann ein solches Bild, so gut es auch auf einzelne F\u00e4lle passt, im allgemeinen leicht zu Missverst\u00e4ndnissen verleiten. Zun\u00e4chst kann jene eingebildete Vertauschung niemals die Quelle der Sympathie sein, als welche sie Smith an verschiedenen Stellen bezeichnet* 1), da sie das Vorhandensein des Sympathieaffectes doch schon voraussetzt; ferner erkl\u00e4rt ^dieses Bild auch nicht die unzweifelhafte \u00e4ualifatiyp Verschiedenheit des sympathetischen Affects vom Originalaffect, wie sie schon Hume bemerkt hat, wenn er in seiner Abhandlung of the Passions (Treatise II 165) erkl\u00e4rt: \u00bbWenn unsere Phantasie die Empfindungen Anderer geradezu betrachtet und tief in dieselben eindringt, so l\u00e4sst sie uns alle diejenigen Leidenschaften f\u00fchlen, welche sie sich vorstellt, aber in einer eigenth\u00fcmlichen Art von Kummer oder Sorge\u00ab2). Auch war\ndas Ganze \u00fcberschauenden Standpunkte die Aufgabe, nun so manche grundlegenden Begriffe zu einer gr\u00f6\u00dferen Klarheit zu erheben, als es dem vom Strome der eigenen sch\u00f6pferischen Intuitionen fortgerissenen Denker selber m\u00f6glich war.\n1)\tTheory of moral sentiments. Ausg. von 1813, S. 3, 35.\n2)\tAuch ein moderner Ethiker (Wundt, Ethik 390) betont nachdr\u00fccklich diese Verschiedenheit des Sympathieaffects vom Originalaffect, und zwar aus dem Grunde, weil nur so die thatkr\u00e4ftige sittliche H\u00fclfe zu erkl\u00e4ren sei, zu welcher der Anblick Leidender veranlasst. Aber hier ist wieder zu beachten, dass dieser","page":571},{"file":"p0572.txt","language":"de","ocr_de":"572\nJohannes Schubert.\nSmith selber ein zu feiner Beobachter, um solche qualitative Verschiedenheit ganz zu \u00fcbersehen; auf S. 37 gibt er eine Modification des sympathetischen Affects der Art nach zu, und zwar sucht er dieselbe durch das Hinzutreten des geheimen Bewusstseins zu erkl\u00e4ren, dass jene Verwechslung der Situation ja doch nur eine eingebildete sei. Aber auch hier haben wir dann schon einen Ge-f\u00fchlscomplex, welcher dem Sympathieaffect seinen elementaren Charakter zu rauhen droht.\nEin \u00e4u\u00dferst treffendes Bild zur Veranschaulichung des sympathetischen Vorgangs hat nun aber Hume (Treatise III 335) gegeben, wenn er denselben mit den Schwingungen vergleicht, in welche gleichgespannte Saiten verschiedenster Instrumente gerathen, wenn die eine von ihnen ersch\u00fcttert werde.\nSowohl die Passivit\u00e4t als die qualitative Verschiedenheit des Sympathiegef\u00fchls werden hierdurch in gleicher Weise veranschaulicht. Aber welches Bild wir auch gebrauchen m\u00f6gen, um uns diesen Vorgang der sinnlichen Vorstellung n\u00e4her zu bringen, soviel steht fest, dass das Mitf\u00fchlen fremder Affecte ein psychologisches Gesetz ist gleich dem F\u00fchlen der eigenen; es tritt mit Nothwendigkeit sowohl beim Anblick fremder Lust, als fremder Unlust auf, es erstreckt sich durchaus nicht nur auf den Feinf\u00fchligen und Humanen; \u00bbauch der verstockteste B\u00f6sewicht, auch der verruchteste Uebertreter der gesellschaftlichen Gesetze ist ihrer durchaus nicht unempf\u00e4nglich\u00ab. Aber es ist in gleicher Weise eine Thatsache, dass dieses Mitf\u00fchlen fremder Affecte zugleich mit einer Beurtheilung derselben verbunden ist, die eine Richtschnur, eine Norm als Regulativ der Affecte \u00fcberhaupt abzugeben im Stande sein muss. Wie entsteht nun diese Beurtheilung, und welches ist das Kriterium, nach dem ein solches Urtheil gef\u00e4llt wird?\nSmith bringt hier zur gr\u00f6\u00dferen Deutlichkeit die rein intellec-tuellen Affecte (\u00e4sthetische, theoretische) in Gegensatz zu den durch praktisch interessirende Gegenst\u00e4nde hervorgerufenen. Die ersteren nennt er die uninteressirten, weil alle mit gleicher Empf\u00e4nglichkeit Begabten den Gegenst\u00e4nden von einem gleichen Standpunkte aus\nSympathiebegriff schon ein complicirterer ist, der sich mehr mit dem activen Princip des Wohlwollens oder der Humanit\u00e4t, als mit jenem rein leidenden der sympathetischen Erregung deckt.","page":572},{"file":"p0573.txt","language":"de","ocr_de":"573\ngegen\u00fcberstehen; im letzteren Falle dagegen ist der Standpunkt des vom Affect unmittelbar Betroffenen ein anderer, als derjenige des nur durch Sympathie in Miterregung versetzten. Die letzteren F\u00e4lle sind es nun, auf welche die sittlichen Urtheile ihre Anwen-dung finden.\nIn Folge jener Verschiedenheit des Standpunktes muss zwischen dem Original- und dem Sympathieaffect eine Verschiedenheit auch der St\u00e4rke nach stattfinden; es entsteht eine Differenz zwischen beiden, welche bei dem Zuschauer entweder mit einem Lust- oder Unlustgef\u00fchl verbunden ist. Je kleiner die Differenz ist, je mehr also der Affect des Zuschauers mit dem wirklichen Affect zu sym-pathisiren im Stande ist, um so gr\u00f6\u00dfer wird das durch Gef\u00fchls- . consonanz hervorgerufene Billigungsgef\u00fchl bei diesem Zuschauer sein m\u00fcssen; je gr\u00f6\u00dfer diese Differenz, je weniger also der Zuschauer den Affect des Anderen mitzuf\u00fchlen im Stande ist, um so gr\u00f6\u00dfer wird das durch Gef\u00fchlsdissonanz hervorgerufene Mi ssbilligungsurtheil sein m\u00fcssen.\nSo werden also sittlicher Beifall und Tadel, noch bei Hutcheson \u00bbIdeen, die nicht weiter erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen\u00ab1), bei Hume einfache qualitativ bestimmte Lust- und Unlustgef\u00fchle, von Smith aus Consonanz und Dissonanz von Original- und Sympathieaffect hergeleitet. Dieser letztere ist das einzige Ma\u00df, nach welcheiq ich den fremden Affect zu beurtheilen im Stande bin ; \u00bbich habe keine andere Richtschnur meines Urtheilens und kann keine andere haben\u00ab. (S. 28.)\nUm indessen ein vollg\u00fcltiges Urtheil f\u00fcr den unparteiischen Zuschauer zu Stande kommen \u00abzu lassen, muss noch ein anderer wichtiger Factor hinzukommen : die Kenntniss sowohl der Ursache, welche den Affect erregt, als auch der Wirkung'^ zu welcher er tendirt. Wohl k\u00f6nnen sich gewisse Affecte, so besonders Freude und Trauer durch den einfachen Anblick mittheilen; eine Gesellschaft Fr\u00f6hlicher stimmt unmittelbar fr\u00f6hlich, auch wenn man nicht den Grund ihrer Freude kennt, und umgekehrt; indessen der wirkliche Werth oder Unwerth eines solchen Affectes l\u00e4sst sich erst bestimmen, wenn jene beiden Gesichtspunkte hinzutreten. Zwei\n1) Untersuchung \u00fcber unsere Begriffe etc. S. 111.\nWundt, Philos. Studien. VI.\n38","page":573},{"file":"p0574.txt","language":"de","ocr_de":"574\nJohannes Schubert.\nverschiedene Arten des Urtheils sind es demgem\u00e4\u00df, welche sich aus dieser doppelten Betrachtungsweise f\u00fcr den Zuschauer ergehen : Auf das \u2014 nach seinem Gef\u00fchl \u2014 richtige oder falsche, angemessene oder unangemessene Verh\u00e4ltniss des Affects zur erregenden Ursache gr\u00fcndet sich sein Urtheil \u00fcber die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit desselben, w\u00e4hrend das Urtheil \u00fcber Verdienst und Missverdienst von der wohlth\u00e4tigen oder sch\u00e4dlichen Wirkung, die der Affect hervorbringt oder hervorzubringen sucht, abh\u00e4ngt. Von den Philosophen ist, wie Smith richtig bemerkt, jenes Verh\u00e4ltniss zur Ursache oft \u00fcbersehen und der Hauptnachdruck auf die Tendenz der Affecte gelegt, w\u00e4hrend das gew\u00f6hnliche Lehen darin richtiger zu verfahren pflegt.\nDer Begriff der Schicklichkeit (propriety) ist es also, dem Smith den ersten Theil seiner Theorie widmet. Und hier f\u00fchrt ihn nun seine Untersuchung zu den ersten beiden Normen, wie sie sich f\u00fcr beide Theile unmittelbar aus der Natur des Urtheils ergehen: f\u00fcr den Zuschauer das Gebot einer m\u00f6glichst eingehenden Concentration des Mitgef\u00fchls auf die Lage des Anderen, ein Hinaufschrauben des Sympathieaffects ann\u00e4hernd zur H\u00f6he des urspr\u00fcnglichen; f\u00fcr den im Affect stehenden das Gebot, nun seinerseits die St\u00e4rke desselben m\u00f6glichst auf gleiche H\u00f6he mit dem Sympathie-affect zu bringen. Da freilich eine Uebereinstimmung beider Affecte in den meisten F\u00e4llen nicht m\u00f6glich ist, so muss man auf einen Einklang verzichten und wenigstens einen Zusammenklang herbeizuf\u00fchren suchen \u2014 \u00bbdas ist alles, was wir brauchen und verlangen\u00ab.\nDie imperativischen Normen, \u00bbwelche Smith somit rein empirisch ableitet, k\u00f6nnten demnach in jener durch Kant\u2019s kategorischen Imperativ nahegelegten Weise etwa so formulirt werden: \u00bbHandle und f\u00fchle so, dass der unparteiische Zuschauer mit dir zu sympathisiren im Stande ist\u00ab, und: \u00bbSympathisire so mit deinem N\u00e4chsten, dass dadurch die Gerechtigkeit deines Urtheils gew\u00e4hrleistet wird\u00ab. Dabei muss aber wohl beachtet werden, dass jene erste Norm zun\u00e4chst nur eine von dem unparteiischen Zuschauer geforderte ist ; ihre verpflichtende Kraft f\u00fcr den im Affect stehenden ist bis jetzt noch durchaus nicht ohne weiteres klar; es muss, wie wir bei Gelegenheit des dritten Theiles sehen werden, noch ein","page":574},{"file":"p0575.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith's Moralphilosophie.\n575\nanderes Gef\u00fchl von seiten des Beurtheilten selber hinzukommen, um die Entstehung jener Kraft zu erkl\u00e4ren. F\u00fcr die Pflicht der Concentration des Sympathieaffects hat allerdings Smith \u00fcberhaupt keine Ableitung gegeben, aber hier ist es ohne weiteres klar, dass ein Recht zu urtheilen nur dann vorhanden sein kann, wenn ihm die Pflicht zur Seite geht, alles das vorher zu erf\u00fcllen, was allein ein gerechtes Urtheil herbeizuf\u00fchren vermag.\nEs wird indessen Niemand entgangen sein, dass Smith in dem Augenblicke, wo er f\u00fcr den unparteiischen Zuschauer selber eine Norm aufstellt, wo er, wie wir sogleich sehen werden, auf jenes Hinaufstimmen des Sympathieaffects sogar eine besondere Klasse sittlicher Erscheinungen gr\u00fcndet, den Boden des rein passiven Sympathiebegriffs aufgibt und ihn mit einem anderen Princip vermischt, m\u00f6gen wir dieses nun mit Hutcheson Wohlwollen oder mit Kant]) Humanit\u00e4t nennen. In dem Kapitel \u00bbof the amiable and respectable virtues\u00ab (S. 41) macht sich jene Begriffsvermengung ganz besonders bemerklich. Der sympathisirende Zuschauer schl\u00e4gt hier pl\u00f6tzlich selber in einen sittlich Handelnden um, und es ist \u00e4u\u00dferst charakteristisch, wie in diesem Augenblicke er sofort nun seinerseits der Gegenstand einer Beurtheilung wird: \u00bbWie liebensw\u00fcrdig ist uns derjenige, in dessen sympathetischem Herzen alle Empfindungen deijenigen wiederzuhallen scheinen, mit denen er verkehrt\u00ab; (S. 41) \u00bbwie widerw\u00e4rtig ist uns dagegen der Unempfindliche\u00ab etc. Es geht hieraus zur Gen\u00fcge hervor, wie nothwendig zum Yerst\u00e4ndniss der Theorie die oben geforderte Auseinanderhaltung beider Begriffe ist.\nDie beiden Klassen von Tugenden, welche Smith aus jenem Heraufstimmen des sympathetischen und dem Herabstimmen des urspr\u00fcnglichen Affects ableitet, sind nun die liebensw\u00fcrdigen (amiable) und die erhabenen (respectable) Tugenden. Die ersteren\n1) Kant unterscheidet (wie auch Oncken bemerkt hat) sehr genau die blos passive sympathia moralis von der humanitas, wenn er in der Met. d. Sitten (Hartenstein 1838. Y 294) erkl\u00e4rt: Mitleid und Mitfreude sind zwar sinnliche Gef\u00fchle einer (darum \u00e4sthetisch zu nennenden) Lust oder Unlust an dem Zustande des Vergn\u00fcgens sowohl, als Schmerzens anderer .... aber diese als Mittel zur Bef\u00f6rderung des th\u00e4tigen und vern\u00fcnftigen Wohlwollens zu gebrauchen, ist noch eine besondere .... Pflicht, unter dem Namen der Menschlichkeit (humanitas).\n38*","page":575},{"file":"p0576.txt","language":"de","ocr_de":"576\nJohannes Schubert.\nberuhen auf jener Art sittlicher Anstrengung, welche erforderlich ist, um den Sympathieaffect dem St\u00e4rkegrade des eigentlichen Affects nahe zu bringen, die letzteren auf jener anderen Anstrengung, den urspr\u00fcnglichen Affect der Stimmung des Zuschauers nahe zu bringen.\nHierbei ist nun freilich nicht recht ersichtlich, weshalb Smith trotz des soeben ausgesprochenen Grundsatzes, dass der Grad der Sympathie des Zuschauers die Norm f\u00fcr die Schicklichkeit von Affect oder Handlung abgebe, bei dieser Gelegenheit erkl\u00e4rt, dass viele Affecte und Handlungen auch dann als schicklich und sogar als in hohem Grade tugendhaft bezeichnet werden m\u00fcssten, wenn sie jene Linie nicht zu erreichen verm\u00f6chten, und zwar dies in dem Falle, wo ein so hoher Grad von Selbstbeherrschung n\u00f6thig ist, dass eine auch nur geringe Ann\u00e4herung an jene Schicklichkeitslinie schon das gr\u00f6\u00dfte menschliche Kraftma\u00df erfordere und dadurch zur Bewunderung und zum Lobe hinrei\u00dfe. Aber in solchen au\u00dferordentlichen F\u00e4llen schnellt auch sicherlich der Sympathieaffect m\u00e4chtig in die H\u00f6he, so dass der proportionale Charakter des Urtheilsgrundes auf der ganzen Affectenleiter von der einfachen Schicklichkeit bis hinauf zur h\u00f6chsten Tugendhaftigkeit gewahrt werden kann.\nNachdem das Princip gefunden, welches als Werthmesser der Affecte angesehen werden muss, handelt es sich zun\u00e4chst um eine Analyse und Classification dieser Affecte selber, wie sie sich durch Anlegen jenes Ma\u00dfstabes ergibt. Hierbei unterscheidet Smith zun\u00e4chst als zwei ganz verschiedene Klassen die Affecte des K\u00f6rpers und diejenigen der Einbildungskraft. Die Sympathie mit ersteren ist gering; von k\u00f6rperlichen Begierden verlangt der Zuschauer M\u00e4\u00dfigkeit, von k\u00f6rperlichen Schmerzen Standhaftigkeit, und die starke Sympathie, welche in uns z. B. ein Philoctet, ein Hercules erregen, r\u00fchrt zum allergr\u00f6\u00dften Theile von den begleitenden Phan-tasieaffecten her, wie sie bei jenem durch die f\u00fcrchterliche Einsamkeit, bei diesem durch die Voraussicht des nahen Todes entfacht werden. Die geringe Sympathie mit k\u00f6rperlichem Schmerz erkl\u00e4rt Smith aus der Unf\u00e4higkeit, sich denselben vorzustellen, falls nicht gerade ein \u00e4u\u00dferer Anblick von Verwundungen etc. hinzukommt; indessen f\u00fchrt auch hier die Gewohnheit bald eine v\u00f6llige Ab-","page":576},{"file":"p0577.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n577\nstumpfang dagegen herbei. So haben wir es vornehmlich mit den Affecten der Einbildungskraft zu thun. Hier werden deren drei unterschieden: ungesellige, gesellige und eigenn\u00fctzige. Von allen diesen glaubt jedoch Smith den Affect der Geschlechtsliehe v\u00f6llig absondem zu m\u00fcssen; mit der Verliebtheit eines Anderen k\u00f6nnten wir niemals so sympathisiren, wie etwa mit seiner Dankbarkeit oder seinem Unwillen.\nAber selbst dieses zugegeben, so rechtfertigt es noch keine Isolirung jenes Affects; derselbe ist ja, wie Smith auch selber ausf\u00fchrt, eine starke Mischung von vielen anderen, in die Klasse der geselligen Affecte geh\u00f6rigen Trieben ; sondern wir nun den rein physischen Grundtrieb als k\u00f6rperlichen Affect ab, so haben wir die Geschlechtsliebe in jene beiden Klassen aufgel\u00f6st und eine Sonderstellung vermieden.\nZu den ungeselligen Affecten rechnet Smith Hass und Zorn; mit ihnen k\u00f6nnen wir unmittelbar nur wenig sympathisiren ; unsere Sympathie ist zwischen dem Zornigen und dem Bedrohten getheilt ; aber wir m\u00fcssen die Nothwendigkeit derselben f\u00fcr die Gesellschaft anerkennen, weil sie zur Abwehr von Uebergriffen und Ungerechtigkeiten dienen. Wir werden sp\u00e4ter sehen, wie Smith sich des Zornaffectes bei der Ableitung der Gerechtigkeit bedient.\nW\u00e4hrend die ungeselligen Affecte irl den meisten F\u00e4llen weit... \u00fcber die vom unparteiischen Zuschauer gezogene Schicklichkeitslinie hinausschie\u00dfen, bleiben die geselligen Affecte, diejenigen, welche die Sympathie des Zuschauers zur vollsten Entfaltung zu bringen berufen sind, nur zu oft hinter jener Linie zur\u00fcck, w\u00e4hrend ein Ueberschreiten derselben nur selten stattfindet. An die Stelle der getheilten Sympathie tritt bei den geselligen Affecten (der Freundschaft, Achtung, Menschlichkeit etc.) eine verdoppelte: diejenige mit dem Spender des Affects, und diejenige mit dem Empf\u00e4nger desselben.\nDen selbsts\u00fcchtigen Affecten, unter welchen Smith, wie sich aus dem Verlaufe der Schilderung ergibt, die Freude oder Traurigkeit an selbsterlebtem Gl\u00fcck oder Ungl\u00fcck . versteht, weist er eine Mittelstellung zwischen den geselligen und ungeselligen Affecten in Bezug auf seine F\u00e4higkeit, Sympathie zu erregen, an. Die richtige Beobachtung, dass ein hoher Grad von Trauer eher geeignet ist,","page":577},{"file":"p0578.txt","language":"de","ocr_de":"578\nJohannes Schubert.\nSympathie zu erregen, als ein hoher Grad von Freude,, dass die letztere leicht einen Zusatz von Neid hervorruft, der den sympathetischen Affect zerst\u00f6rt, dass andrerseits aber kleine Verdrie\u00dflichkeiten eben so leicht eine maliti\u00f6se Stimmung erwecken, die uns mit diesen unbedeutenderen Unf\u00e4llen unseren Spott treiben l\u00e4sst \u2014 all dieses ist mit einer erw\u00e4rmenden und geschmackvollen, dazu nicht selten von feinem Humor gew\u00fcrzten Beredtsamkeit vorgetragen und mit einer solchen Menge von treffenden Beobachtungen illustrirt, dass diese Kapitel \u00fcber die Affecte mit zu den vortrefflichsten, von der psychologischen Kunst des Verfassers das beste Zeugniss ablegenden Theilen der ganzen Darstellung gerechnet werden m\u00fcssen. Einige M\u00fche verursacht es Smith, die Erscheinungen des Ehrgeizes mit seiner Theorie in Einklang zu bringen.\nEr hatte soeben unsere st\u00e4rkere Sympathie mit gr\u00f6\u00dferer Trauer als mit gro\u00dfer Freude constatirt; damit war aber die Thatsache in Einklang zu bringen, dass sich trotzdem der Elende bem\u00fcht, sein Ungl\u00fcck zu verbergen, dass er es nur z\u00f6gernd und h\u00f6chstens theilweise dem anderen mittheilt, w\u00e4hrend der Gl\u00fcckliche seinem Frohlocken viel geringere Schranken auferlegt. Wie ist der Widerspruch dieser beiden Beobachtungen zu l\u00f6sen?\nWeshalb sch\u00e4men wir uns, zu weinen, wo wir doch des Mitleids sicher sein k\u00f6nnen ; weshalb sch\u00e4men wir uns nicht, zu lachen, obwohl wir die Mitfreude als den schw\u00e4cheren Affect kennen? Hier streift nun Smith \u2014 wohl ohne es zu wissen \u2014 spinozistische Gedankenreihen (vgl. Ethik III prop. 21, 22, 27 etc.), wenn er erkl\u00e4rt: die Sympathie mit fremdem Elend verursacht Traurigkeit, und deshalb ist sie uns l\u00e4stig; die Sympathie mit fremdem Gl\u00fcck verursacht Freude, und wir suchen sie zu erhalten. Das Mitleid m\u00f6chten wir oft gerne, los sein; die M\u00fchsal des Armen gew\u00e4hrt den Menschen keine Freude, \u00bbund wenn sein \u00e4u\u00dferstes Elend ihren Blick auf ihn hinlenkt, so geschieht es nur, um sich einen so unangenehmen Gegenstand aus dem Gesichte zu schaffen\u00ab (S. 115); die Mitfreude ist zwar oft schwach und mit Neid gemischt, aber wir sch\u00e4men uns des letzteren und suchen den Sympathieaffect zu st\u00e4rken, jenes unlauteren Gef\u00fchles aber Herr zu werden. So entsteht auf der einen Seite leicht Verachtung des Armen, auf der anderen Bewunderung des Gro\u00dfen, Reichen, Vornehmen. Hierin","page":578},{"file":"p0579.txt","language":"de","ocr_de":"579\nAdam Smith\u2019s Moralphilosophie.\nsieht Smith nun die haupts\u00e4chlichste Quelle jenes nach Auszeichnung, Reichthum, Beifall (der Menge strebenden Ehrgeizes; hierin andrerseits jene Furcht vor Armuth, unbedeutender Stellung, Dunkelheit der Existenz. Der Unterschied der St\u00e4nde gr\u00fcndet sich (innerlich wenigstens) auf diese instinctive sympathetische Achtung des Vornehmen und Reichen ein Gef\u00fchl, das von Erw\u00e4gungen des Nutzens ganz unabh\u00e4ngig ist. Oft m\u00fcssen sogar erst kr\u00e4ftige Reflexionen oder auch die w\u00fcthendsten Leidenschaften der Rachgier und des Hasses hinzukommen, um in den breiten Schichten des Volkes jene Achtung zu ersticken und sie zur Bestrafung schuldiger Vornehmer anzutreiben.\nIn den 1790 zugef\u00fcgten Erweiterungen seiner \u00bbTheorie\u00ab spricht sich Smith ziemlich herbe \u00fcber diesen Hang, den M\u00e4chtigen zu bewundern, aus, wie denn \u00fcberhaupt der optimistische Grundzug des Ganzen in diesem zweiten Theile durch eine etwas wehm\u00fcthige Altersstimmung ged\u00e4mpft ist. Wohl h\u00e4lt er noch immer jenen Hang f\u00fcr nothwendig zur Aufrechterhaltung des St\u00e4ndeunterschieds, aber er betont scharf die gro\u00dfe Gefahr, welche in demselben f\u00fcr die Echtheit der sittlichen Gef\u00fchle verborgen liegt. \u00bbDer gro\u00dfe Haufe r\u00e4uchert und opfert nur dem G\u00f6tzen des Reichthums und der Hoheit, und was am au\u00dferordentlichsten scheinen m\u00f6chte, dies sein R\u00e4uchern und Kniebeugen ist gemeinhin ganz uneigenn\u00fctzig\u00ab1). (I 139.) Smith constatirt eine ganz richtige Thatsache, die indessen nur nicht so etwas au\u00dferordentliches genannt zu werden verdient. Jene psychische Spannkraft, deren Entladung sich als Bewunderung oder Begeisterung \u00e4u\u00dfert, will doch auf irgend eine Weise ausgel\u00f6st werden, und es ist nichts (nat\u00fcrlicher, als dass diese Ausl\u00f6sung im rohen Bewusstsein durch die blendendste und nicht eben durch die werthvollste Erscheinung bewirkt wird ; ziehen doch auch uncivilisirte V\u00f6lker bunten Tand den edelsten Metallen vor. Es liegt wenigstens noch der Trost in dieser Beobachtung, dass eine Begeisterung, auch wenn sie sich an nichtigen Gegen-\nt) In der mir vorliegenden engl. Ausgabe von 1813 sind diese Erweiterungen schon in das Ganze verwoben. In der Uebersetzung von Kose gart en aus dem Jahre 1791 sind sie indessen in einem besonderen Bande enthalten. Die w\u00f6rtlichen Citate lehnen sich meistens an diese t\u00fcchtige Uebersetzung an.","page":579},{"file":"p0580.txt","language":"de","ocr_de":"580\nJohannes Schubert.\nst\u00e4nden verschwendet, deshalb an sich noch keine unehrliche zu sein braucht.\nDas praktische Facit, welches Smith aus diesen Betrachtungen zieht, ist naturgem\u00e4\u00df von den Ansichten anderer Moralisten nicht sehr verschieden ; es trifft besonders mit den Grunds\u00e4tzen der Stoiker, zu welchen er \u00fcberhaupt gro\u00dfe Zuneigung zeigt, zusammen; wie diese empfiehlt er gleiche Sch\u00e4tzung aller St\u00e4nde, weil in allen der ann\u00e4hernd gleiche Grad von Billigung zu erreichen sei, wenn auch in gl\u00fccklicher Lebenslage leichter als in ungl\u00fccklicher. \u2014 Wir k\u00f6nnen indessen die Darstellung dieses ersten Theiles der Theorie nicht ahschlie\u00dfen, ohne noch einen wichtigen Punkt in K\u00fcrze klar gestellt zu haben. Man wird dem der ganzen Untersuchung zu Grunde liegenden Satze, dass das billigende oder missbilligende Urtheil aus Gef\u00fchlsconsonanz oder -dissonanz von Original- und Sympathieaffect bestehe, die Thatsache entgegenhaiten k\u00f6nnen, dass im gew\u00f6hnlichen Leben so viele billigende Urtheile gef\u00e4llt werden, ohne dass darum der Sympathieaffect zur H\u00f6he des urspr\u00fcnglichen emporschnellt und umgekehrt.\nAlso ist es doch wohl nicht das Gef\u00fchl, welches als elementares Urtheilsprincip angesehen werden muss, sondern so etwas wie Reflexion oder Vernunft?\nSmith hat diesen Punkt sehr wohl in Erw\u00e4gung gezogen, wenn er auf Seite 23/24 (I. Band) ausfuhrt: \u00bbEs gibt freilich einige F\u00e4lle, in welchen wir ohne irgend eine Sympathie oder Aehnlichkeit der Empfindung zu billigen scheinen, und in welchen demgem\u00e4\u00df das Gef\u00fchl der Billigung von der Wahrnehmung jener Uebereinstim-mung verschieden sein m\u00f6chte. Ein wenig Aufmerksamkeit wird uns indessen \u00fcberzeugen, dass auch in diesen F\u00e4llen unser Beifall sich urspr\u00fcnglich auf eine derartige Sympathie oder Gef\u00fchls-\u00dcbereinstimmung gr\u00fcndet\u00ab. Smith f\u00fchrt dann ein paar Beispiele dieser Art an: Wir billigen vollkommen den Kummer eines Menschen, dem sein Vater gestorben ist, obgleich es uns im Augenblicke unm\u00f6glich ist, die Heftigkeit des Schmerzes zu theilen oder auch nur eine gr\u00f6\u00dfere Aufwallung von Mitleid zu versp\u00fcren etc. Er gibt dieser Sympathie den Namen \u00bbbedingte (conditional) Sympathie\u00ab; man k\u00f6nnte sie vielleicht noch besser reflectirte Sympathie nennen, weil sie nur ein schwacher Reflex desjenigen Gef\u00fchls ist,","page":580},{"file":"p0581.txt","language":"de","ocr_de":"581\nwelches man vielleicht einmal als Kind heim ersten Anblick eines solchen Trauernden, oder auch in solchen F\u00e4llen empfunden hat, welche zur Erregung desselben besonders g\u00fcnstige Bedingungen mitbrachten. Von dieser bedingten oder reflectirten Sympathie muss nun behauptet werden, dass sie weit h\u00e4ufiger vorkommt, als Smith es anzunehmen scheint. Er behandelt sie als Ausnahme, sie ist aber vielleicht \u2014 und je complicirter die Lehensverh\u00e4ltnisse, um so noth wendiger \u2014 die Kegel; es tritt durch sie eine \u00e4u\u00dferst wohl-th\u00e4tige Entlastung unseres sensiblen Nervensystems ein, welches bei der unendlichen Mannigfaltigkeit unserer Ber\u00fchrung mit anderen Menschen ganz unm\u00f6glich auf jeden ihrer Affecte und Handlungen mit einer urspr\u00fcnglichen sympathetischen Gef\u00fchlserregung reagiren kann; dieses geschieht vielmehr nur bei neuen, ungew\u00f6hnlichen und seltenen Ereignissen, weshalb auch die sympathetische Erregungsf\u00e4higkeit eines Kindes gr\u00f6\u00dfer ist, als die eines Erwachsenen; je \u00f6fter sich dieselben F\u00e4lle wiederholen, um so mehr verschwindet der emotionale Charakter des Urtheils, um so automatischer wird dieses ausgel\u00f6st, um so st\u00e4rker tritt jene Entlastung des sensiblen Nervenapparats ein. Durch diese Thatsache verliert indessen der Smith\u2019sche Grundsatz noch durchaus nicht seine Wahrheit. Der Psychologe kann, ebenso wie der Physiker und Physiologe, seine grundlegenden Behauptungen nur an die besonders reinen und charakteristischen Naturerscheinungen ankn\u00fcpfen, obwohl dieselben nicht immer die Regel, sondern oft die Ausnahme zu bilden pflegen.\n2.\nNachdem wir in dem ersten Theil das Urtheil \u00fcber Schicklichkeit oder Unschicklichkeit als das von dem unparteiischen Zuschauer zu bestimmende angemessene oder unangemessene Verh\u00e4lt-niss von Affect und erregender Ursache kennen gelernt haben, treten wir jetzt in jenen verwickelteren psychischen Vorgang ein, welcher entsteht durch die Ber\u00fccksichtigung der wohl- oder \u00fcbel-th\u00e4tigen Tendenz der Affecte.\nZwei Affecte sind es, welche hierbei vornehmlich in Betracht kommen, n\u00e4mlich Dankbarkeit und Zorn. Die erstere ist der Trieb zur Vergeltung einer wohlth\u00e4tigen oder verdienstlichen, der letztere der Trieb zur Vergeltung einer \u00fcbelth\u00e4tigen oder missver-","page":581},{"file":"p0582.txt","language":"de","ocr_de":"582\nJohannes Schubert.\ndienstlichen Handlung. Die Tendenz der Dankbarkeit ist also Belohnung, die des Zornes \u2014 die Strafe.\nF\u00fcr den unparteiischen Zuschauer erw\u00e4chst hier aber eine doppelte Aufgabe: Es gen\u00fcgt nicht allein, dass er jene beiden Affecte der Dankbarkeit und des Zornes auf ihr Verh\u00e4ltniss zur erregenden Ursache hin pr\u00fcft; er muss auch die Handlung desjenigen, gegen den der Affect gerichtet ist, auf ihre Schicklichkeit oder Unschicklichkeit hin beurtheilen. Nur dann kann zweifellos die Sympathie mit der Dankbarkeit eine v\u00f6llige sein, wenn das Betragen des urspr\u00fcnglichen Wohlth\u00e4ters, welcher jetzt zum Gegenst\u00e4nde jenes Affectes gemacht wird, gebilligt, also als wahrhaft verdienstlich anerkannt zu werden vermag ; nur dann kann andererseits die Sympathie mit einem Zomaffect eine v\u00f6llige sein, wenn das Betragen des Uehelth\u00e4ters, gegen den der Affect gerichtet ist, auch vom unparteiischen Zuschauer gemissbilligt wird. (S. 163.) So ist also das Gef\u00fchl von Verdienst oder Missverdienst heim Zuschauer ein zusammengesetztes; es entsteht aus einer \u2014 wie Smith sie nennt \u2014 directen Sympathie mit den Triebfedern und Affecten des Handelnden, und einer indirecten Sympathie mit den Vergel-tungsaffecten dessen, der durch die Handlung afficirt wird. Es ist dies eine sehr treffende, in den psychologischen Process tief eindringende Beobachtung, welche durch die breit angelegte Ausf\u00fchrung Smith\u2019s noch besonderen Nachdruck erh\u00e4lt.\nWas uns hier aber von besonderer Wichtigkeit ist, das ist die Ableitung der Gerechtigkeit, dieses Schmerzenskindes der emotionalen Ethik, aus denselben Grundlagen, welche auch f\u00fcr die anderen sittlichen Erscheinungen gelten. Erinnern wir uns, wie Hume vergeblich nach einem Affect gesucht hatte, aus dessen Wirksamkeit sich diejenigen Erscheinungen erkl\u00e4ren lie\u00dfen, welche der unparteiische Zuschauer als \u00bbgerechte\u00ab billigt. Nach seiner Ansicht hat zur \u00bbErfindung\u00ab dieser Tugend nichts als die Beobachtung gef\u00fchrt, dass nur durch Festsetzung von Rechtsnormen die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft m\u00f6glich ist \u2014 eine Erfindung, mit der sich freilich im Laufe der Zeit durch Staatskunst und Erziehung das Gef\u00fchl der Moralit\u00e4t allm\u00e4hlich verbunden hat. (Treatise III 298 f.) So ist also Eigennutz die Quelle der Gerechtigkeit, aber \u00bbeine gewisse Sympathie mit dem Nutzen der Gesammtheit","page":582},{"file":"p0583.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\t583\ndie Quelle der moralischen Billigung, welche diese Tugend begleitet\u00ab. (III 271.)\nBeide Erkl\u00e4rungen werden nun von Smith zu Gunsten der Einheitlichkeit der Theorie abgelehnt.\nEs gibt einen Affectj welcher .unter-Sympathie, aller unparteiischen Zuschauer eine von einejn Menschen mit Absicht zugef\u00fcgte Unbill wieder zu vergelten trachtet, das ist der Zorn (resentment). Smith erkl\u00e4rt es durchaus f\u00fcr keine Herabw\u00fcrdigung der Sympathie, mit diesem gew\u00f6hnlich \u00bbals eine so verhasste Leidenschaft betrachteten\u00ab Affecte zu sympathisiren (I 177); er setzt den Yergeltungstrieb im weitesten Sinne wieder in die Rolle ein, welche er in der Ethik des alten Testamentes gespielt, wenn er erkl\u00e4rt: \u00bbMit dem Ma\u00dfe, mit dem Jemand misst, soll ihm wieder gemessen werden, das scheint das gro\u00dfe Gesetz zu sein, das die Natur uns zugefl\u00fcstert hat\u00ab. (I 191.) Ist somit also eine emotionale Grundlage der Gerechtigkeit im Zomaffect zu suchen, so kann andererseits die Quelle der sittlichen Billigung dieses Affects nicht in der Sympathie mit dem Nutzen der Gesellschaft liegen, denn erstens: Es kann gar keine Sympathie mit dem Nutzen der Gesellschaft geben, weil eine Gesellschaft als Organismus, als Gesammtpers\u00f6n-lichkeit, mit der man Mitgef\u00fchl haben k\u00f6nnte \u2014 gar nicht existirt. Es gibt nur Einzelwesen, mit deren jedem mich ein allgemeines Menschengef\u00fchl, ein \u00bbgeneral fellow-feeling\u00ab verbindet, welches gen\u00fcgt, um das durch erlittene Unbill entfachte Zorngef\u00fchl eines Anderen zu billigen und die Wiedervergeltung unter Umst\u00e4nden mit erzwingen zu helfen. Wir bemerken hier \u00fcbrigens, wie die atomistische Auffassung der Gesellschaft, die in Smith\u2019s Volkswirtschaftslehre eine so gro\u00dfe Rolle spielt, auch hier schon zu einem zwar vereinzelt dastehenden, aber energischen Ausdruck kommt. . Zweitens kann die Quelle jener Billigung nicht die Sympathie mit dem Nutzen der Gesellschaft sein, weil eine unmittelbare, auf einem instinctiven Gef\u00fchl beruhende Sympathie mit der Bestrafung eines Uebelth\u00e4ters vorhanden sein muss, die sich erst sp\u00e4ter durch hinzutretende Erw\u00e4gungen und Erfahrungen auch als n\u00fctzlich erweist und dadurch allerdings eine gro\u00dfe Kr\u00e4ftigung, eine Sicherung gegen Gef\u00fchlsschwankungen erh\u00e4lt, wie sie sich bei weicher organisirten Gem\u00fcthern leicht nach Erkalten der ersten","page":583},{"file":"p0584.txt","language":"de","ocr_de":"584\nJohannes Schubert.\nZomesaufwallungen einstellen. \u00bbHier haben sie (jene Mitleidigen) nun Gelegenheit, die Erw\u00e4gungen des allgemeinen Nutzens der Gesellschaft zu H\u00fclfe zu rufen. Sie m\u00fcssen dem Andrange jener weichlichen und parteiischen Menschlichkeit die Gebote einer edleren und umfassenderen Menschlichkeit entgegensetzen.\u00ab (I 209.) \u00bbAber so wenig Scharfsinn auch dazu geh\u00f6rt, die zerst\u00f6renden Wirkungen wahrzunehmen, welche der gesellschaftlichen Wohlfahrt aus frevelhaften Handlungen drohen\u00ab: urspr\u00fcnglich hervorgerufen wird jene Billigung der Wiedervergeltung dadurch in den allerseltensten F\u00e4llen; existirt sie doch bei den allerth\u00f6richtsten und gedankenlosesten Menschen, in deren Kopf niemals der Schimmer einer re-flectirenden Regung f\u00e4llt. Ganz besonders klar ist dies bei schweren Verbrechen, so beim Morde: \u00bbIn Ansehung dieses furchtbarsten aller Verbrechen hat die Natur eine allem Nachdenken \u00fcber die N\u00fctzlichkeit der Strafe vorhergehende, unmittelbare und instinctive Billigung des heilig\u00e9n und nothwendigen Gesetzes der Wiedervergeltung mit starken und unausl\u00f6schlichen Z\u00fcgen in unser Herz gegraben\u00ab. (I 162.)\nFreilich, jener \u00bbmerkw\u00fcrdige Unterschied\u00ab zwischen der GeT rechtigkeit und den \u00fcbrigen sittlichen Erscheinungen, welcher Hume wahrscheinlich zu seinen Betrachtungen veranlasst hat, gibt auch Smith zu denken und verlangt eine Erkl\u00e4rung. Er liefert sie dadurch, dass er jenen Unterschied auf die Thatsache gr\u00fcndet, dass der Unbill-Leidende mit aller Schicklichkeit Gewalt brauchen k\u00f6nne, um sich zu r\u00e4chen, w\u00e4hrend in keinem anderen Falle sittliches Verhalten (wenn auch nur \u00e4u\u00dferlich) durch Gewalt erzwungen werden k\u00f6nne. Dieser Unterschied erhalte freilich eine Compensation insofern, als ein Befolgen der gesetzm\u00e4\u00dfigen Gerechtigkeit nirgends Anspruch auf Lohn oder Bewunderung machen d\u00fcrfe, wie es doch bei den \u00fcbrigen Tugenden der Fall sei. (I 186.)\nMan darf es \u00fcbrigens Smith nicht zum Vorwurf machen, wenn er bei diesen elementarsten Er\u00f6rterungen stehen geblieben ist und sich auf eine Untersuchung, wie sich hieraus die staatliche, von jenen primitivsten Gerechtigkeits\u00e4u\u00dferungen so unendlich weit entfernte Rechtsordnung entwickeln musste, nicht weiter eingelassen hat. In seinem Plane lag eben nur die Auffindung der emotionalen Grundlagen der sittlichen Erscheinungen ; dass seine Ansichten","page":584},{"file":"p0585.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n585\n\u00fcber diesen Gegenstand nicht durch jene Betrachtungen ersch\u00f6pft gewesen sind, beweist sein akademisches Programm, in welchem die specielle Rechtsphilosophie, neben der Ethik eine besondere Nummer einnimmt.\nSmith begn\u00fcgt sich indessen nicht damit, jene nominalistische Hypothese Hume\u2019s einfach zur\u00fcckzu weisen und durch eine andere zu ersetzen; er sucht auch in die Ursachen, aus welchen ein solcher Irrthum entstehen konnte, einzudringen und sie so nicht nur logisch, sondern auch psychologisch aus den Angeln zu heben. Es ist die alte Verwechslung von Motiv und Zweck, die hier von ihm aufgedeckt wird.\nWeil wir sehen, dass die Gerechtigkeit zu einem zweckm\u00e4\u00dfigen Ende, n\u00e4mlich der Erhaltung der Gesellschaft, f\u00fchrt, darum soll dieser Zweck auch zugleich der Grund sein, welcher die Gerechtigkeit in die Erscheinung gerufen hat. Aber ebenso, wie wir in der physischen Welt die Beobachtung machen, dass die Natur ihre Hauptzwecke, wie Erhaltung der Einzelwesen und Fortpflanzung der Gattung, durch Mittel zu erreichen,strebt, welche von den organischen Wesen um ihrer selbst yriJlen,. ganz ohne R\u00fccksicht auf jenen Naturzweck, erstrebt werden (wie z. B. Geschlechtsliebe, Todesfurcht und Liebe zum Leben), so m\u00fcssen wir auch in der psychischen Welt solche instinctiven Grundtriebe annehmen, die wir von Natur zu befriedigen suchen, ohne uns zun\u00e4chst ihrer Zweckm\u00e4\u00dfigkeit bewusst zu werden. Solch ein instinctiver Grund-\u00cf trieb ist nun der Zorn; und so rein logisch auch die einzelnen Rechtssysteme aufgebaut sind, so sehr man auch daraus auf ihren rein intellectuellen Ursprung schlie\u00dfen m\u00f6chte, so ruhen sie doch alle auf jener elementaren Gef\u00fchlsgrundlage. (I 177 f.)\nEs ist dies eine von den Stellen, wo der Gegensatz zwischen naturalistischer Gef\u00fchlsmoral und einer intuitiven Vernunftmoral, wie sie in Kant ihren gr\u00f6\u00dften Vertreter gefunden hat, recht deutlich in die Augen springt. F\u00fcr beide ist die Zweckm\u00e4\u00dfigkeit der Natur Grundsatz ; aber w\u00e4hrend Smith unbedenklich die menschliche Gl\u00fcckseligkeit als einen solchen Hauptzweck annimmt, kommt Kant von einem alles Empirische a priori ausschlie\u00dfenden Princip zu der Behauptung, dass es die Natur mit dem Menschen \u00fcberhaupt nicht auf Gl\u00fcckseligkeit abgesehen haben k\u00f6nne, weil sie","page":585},{"file":"p0586.txt","language":"de","ocr_de":"586\nJohannes Schubert.\nihm sonst zur Erreichung dieses Zwecks ein zuverl\u00e4ssigeres Organ mitgegehen als die Vernunft, etwa einen Instinct, wie ihn die Thiere haben. Wir haben gesehen, dass Smith als vorurteilsfreier Empiriker einen solchen Instinct ohne weiteres annimmt, w\u00e4hrend Kant daran durch jenen Vemunftstolz gehindert wird, der die h\u00f6chste specifisch menschliche Erscheinung auch der Wirkung keines anderen Organs zuzuschreiben vermag, als desjenigen, durch welches der Mensch sein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal von den Thieren erh\u00e4lt \u2014 der Vernunft. Nun haben wir aus Hume\u2019s treffenden Bemerkungen gesehen, was es mit dem Begriff der Vernunft in der Moral eigentlich auf sich hat ; es kann uns also heute nicht weiter schwer fallen, eine Hypothese abzulehnen, die ein wenn auch noch so erhabenes subjectiv-psycholo-gisches Postulat im Widerspruch mit der Erfahrung zu befriedigen sucht, und daf\u00fcr einer solchen unsere Anerkennung zu Theil werden zu lassen, welche wie die Smith\u2019sehe danach strebt, alle That-sachen des speciellen Erfahrungsgebietes in einen m\u00f6glichst widerspruchslosen Zusammenhang zu bringen. Noch einen Vorzug hat eine solche Theorie vor derjenigen Kant\u2019s: sie verhindert die Versuche, das Sittliche als etwas hinzustellen, das eventuell \u00fcberwunden werden m\u00fcsse \u2014 Versuche, welche ganz erkl\u00e4rlich und recht wohl durchf\u00fchrbar sind, wenn man die Kant\u2019sehe Definition als die einzig richtige und m\u00f6gliche gelten l\u00e4sst.\nKehren wir indessen von unserem Vergleich, der ein Thema f\u00fcr sich bilden w\u00fcrde, und der jedenfalls anders als derjenige Oncken\u2019s ausfallen m\u00fcsste, zur Smith\u2019schen Theorie zur\u00fcck.\nEs ist begreiflich, dass bei der Untersuchung der Tendenz der Affecte einem Beobachter wie Smith ein Umstand nicht entgehen konnte, der vielen Moralphilosophen Schwierigkeiten gemacht hat, n\u00e4mlich die Thatsache, dass, obwohl theoretisch sicherlich nur der Gesinnung, d. h. der guten oder schlechten Absicht Loh und Tadel geb\u00fchrt, dennoch im praktischen Leben die wirklichen Folgen einer Handlung das Hauptma\u00df der Beurtheilung abgeben.\nUnd allerdings decken sich Absicht einer Handlung und that-s\u00e4chliche Folgen derselben im wirklichen Lehen noch viel weniger, als es Smith selber zugesteht. Sowohl nach Seiten des Verdienstes als des Missverdienstes schie\u00dfen die Handlungen unendlich oft \u00fcber","page":586},{"file":"p0587.txt","language":"de","ocr_de":"587\nihre eigentliche Tendenz hinaus, und die kleinste muthwillige That kann das gr\u00f6\u00dfte Unheil, die geringste wohlth\u00e4tige Handlung das gr\u00f6\u00dfte Gl\u00fcck zur Folge haben ; andererseits kann eine verbrecherische Absicht ihr Ziel in gleicher Weise verfehlen, wie der genialste Plan zur Erreichung gro\u00dfer G\u00fcter \u2014 ganz zu schweigen von jenen abnormen F\u00e4llen, wo die Wirkung das gerade Gegentheil der Absicht wird.\nDass wir uns nun durch solche thats\u00e4cUichen Folgen trotz ihres Missverh\u00e4ltnisses zur Absicht, der sie ihren Ursprung verdanken, so stark in unserem Urtheil beeinflussen lassen, erkl\u00e4rt Smith zwar f\u00fcr logisch regelwidrig, aber wieder durch die Zwecke der Natur geboten. Denn jetzt, wo nur durch wirkliche Erfolge v\u00f6llige Billigung erreicht werden kann, muss ein jeder danach streben, sie wirklich zu erringen und es nicht blos bei seinem guten Willen bewenden zu lassen ; andererseits wird speciell im Strafrecht ein unertr\u00e4glicher inquisitorischer Charakter der Justizpflege vermieden, wie er nothwendig eintreten m\u00fcsste, wenn man in gleicher Weise Gesinnungen wie Handlungen verfolgen wollte.\nWir wollen am Schl\u00fcsse dieser Darstellung von Smith\u2019s Eechtstheorie noch ein kleines Beispiel anf\u00fchren zum Beweise daf\u00fcr, wie sehr unser Philosoph den Schein eines zu Gunsten seines Prin-cips durchgef\u00fchrten Zwanges zu vermeiden sucht. So legt er in seine mit erfreulicher Consequenz vollzogene emotionale Ableitung der Gerechtigkeit noch selber eine kleine Bresche, wenn er einzelne Ausnahmen constatirt, wie z. B. diejenige der so sehr schweren Bestrafung einer Schildwache, welche in Kriegszeiten schlafend angetroffen wird; diese l\u00e4sst sich nach seiner Ansicht nur aus der vernunftm\u00e4\u00dfigen Erw\u00e4gung des unendlichen Schadens erkl\u00e4ren, den eine solche an sich geringe Fahrl\u00e4ssigkeit herheizuf\u00fchren im Stande ist. Aber ob nicht auch hier ein heim Anblick des Unheils auflodern-des starkes Zomgef\u00fchl der prim\u00e4re Grund jener schweren Strafe ist, welche dann durch Tradition, sowie durch die Einsicht in ihre Nothwendigkeit in ihrer Strenge aufrecht erhalten worden ist?\n3.\nIn den bisherigen Untersuchungen hatte Smith zu zeigen unternommen, aus welchem nat\u00fcrlichen Gef\u00fchle sich die Werth-","page":587},{"file":"p0588.txt","language":"de","ocr_de":"588\nJohannes Schubert.\nurtheile \u00fcber Schicklichkeit und Unschicklichkeit einerseits, \u00fcber Verdienst und Missverdienst andererseits, erkl\u00e4ren lassen. Er hatte dadurch die Annahme eines besonderen seelischen Verm\u00f6gens, eines specifisch \u00bbmoralischen Sinnes\u00ab, welcher Sch\u00f6nheit und H\u00e4sslichkeit der Affecte unmittelbar wahrzunehmen verm\u00f6chte, als \u00fcberfl\u00fcssig zur\u00fcckgewiesen und dadurch eine Vereinfachung der Hypothese vollzogen, welche in jener von der Annahme einer Seelensubstanz durchdrungenen Zeit gro\u00dfe Beachtung verdient.\nAber das Schwierigste blieb doch noch zu thun \u00fcbrig. Zugegeben, dass diese Werthurtheile wirklich in der Welt existiren, dass dasjenige, was mich verm\u00f6ge meiner sympathetischen Erregungsf\u00e4higkeit an Anderen emp\u00f6rt, schlecht, was mich dagegen sympathisch ber\u00fchrt, gut ist, woher stammt die verpflichtende Kraft f\u00fcr mich, nun auch selber dieses Gute zu thun und mich des als schlecht empfundenen zu enthalten?\nUnd wenn es a priori keine festen und unver\u00e4nderlichen Regeln gibt, welche mir durch Intuition zu theil werden, auf welche Weise entstehen dann sonst diese allgemeinen Regeln, diese sittlichen Grunds\u00e4tze, und welches ist die B\u00fcrgschaft f\u00fcr ihre Wahrheit?\nWas den ersten Punkt, die Ableitung des Gef\u00fchls der Verpflichtung anbetrifft, so geht Smith dabei von dem Begriff des Menschen als eines in Gemeinschaft mit anderen lebenden Wesens aus. Der Mensch, den er uns bis jetzt vorgef\u00fchrt hat, ist vor allen Dingen ein passiver Zuschauer gewesen, welcher die Affecte und Handlungen Anderer auf sein sympathetisches Organ hat wirken lassen. Aber in dieser passiven Rolle besteht nicht die einzige Th\u00e4tigkeit, welche uns in der realen Welt des Sittlichen zugewiesen ist. Es ist nur wieder die analytische Kunst des Denkers, welcher das R\u00e4derwerk des complicirtesten aller Mechanismen, das im Zustande der Th\u00e4tigkeit neben- und durcheinander schnurrt und arbeitet und eine genaue Erkenntniss der Einzelheiten unm\u00f6glich macht, in seine Bestandtheile zerlegt und diese uns nacheinander vor die Augen f\u00fchrt. Freilich, die Methode, in welcher Reihenfolge diese einzelnen Bestandtheile aufgef\u00fchrt werden, ist dabei durchaus keine ganz willk\u00fcrliche; f\u00fcr den geistvollen Moralphilosophen wird die Beobachtung der psychologischen Enwicklung den Ausschlag geben f\u00fcr die Wahl der Anordnung des Stoffes, und aus","page":588},{"file":"p0589.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\t589\ndem mechanischen Nebeneinander wird so ein organisches Nacheinander.\nSehen wir zu, wie Smith uns diese Entwicklung vorfuhrt. Zur gr\u00f6\u00dferen Verdeutlichung des Vorganges greift er zu der Fiction eines in g\u00e4nzlicher Einsamkeit lebenden Menschen \u2014 eine Fiction, die sich \u00fcbrigens von Shaftesbury an durch die ganze Reihe der Gef\u00fchlsmoralisten hindurchzieht und die wohl dem Kampf gegen die Nominalisten ihren Ursprung verdankt. Solch ein in v\u00f6lliger Einsamkeit lebender Mensch kann nun. naturgem\u00e4\u00df keine anderen Gegenst\u00e4nde des Interesses haben, als die \u00e4u\u00dferen Objecte, welche sein Gem\u00fcth in irgend einer Weise afficiren. Die Affecte selber dagegen m\u00fcssen ihm v\u00f6llig gleichg\u00fcltig sein; es w\u00fcrde ihm niemals auch nur im entferntesten in den Sinn kommen, dieselben nun an und 'f\u00fcr sich zum Gegenst\u00e4nde seines Interesses, seiner Beobachtung zu machen. Dies wird in dem Augenblicke anders, wo ein solches Wesen in die Gesellschaft tritt. Hier bekommt er pl\u00f6tzlich einen ganz neuen Interessenkreis in seinen eigenen Affecten und Affect\u00e4u\u00dferungen und zwar aus keinem anderen Grunde, als weil er bemerkt, dass dieselben der Gegenstand des Interesses und der Beurtheilung Anderer werden. Dieser Mensch nimmt jetzt wahr, dass jene Affecte und Handlungen theils Gefallen, theils Missfallen erregen, und mit dieser Beobachtung erwacht jetzt zugleich das ihm bis dahin unbekannte Bed\u00fcrfniss, geachtet und geliebt zu werden, in Folge dessen ein jeder Beifall, den man ihm spendet, zum Quell der Freude, jedes Missfallen, das er erregt, zum Quell des Verdrusses wird. Sein Bestreben geht jetzt dahin, m\u00f6glichst viel Beifall zu gewinnen; aber da er bald erf\u00e4hrt, dass es unm\u00f6glich ist, Allen zu gefallen, dass mit dem Beifall des Einen oft der Tadel des Anderen Hand in Hand geht, dass seine besten Absichten oft verkannt oder falsch gedeutet werden, dass schlie\u00dflich sein eigenes Wohlbefinden oft mit dem Interesse Anderer collidirt, so veranlassen ihn diese Erfahrungen bald, zwischen seinen Mitmenschen und sich einen Schiedsrichter einzusetzen, dessen Ur-theil in allen Conflicten die letzte Instanz zu bilden die Aufgabe hat.\nDurch diesen psychologischen Process glaubt also Smith die Entstehung des Gewissens erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen. Es ist eine Ein-\nWundt, Philos. Studien. YI.\t39","page":589},{"file":"p0590.txt","language":"de","ocr_de":"590\nJohannes Schubert.\nkehr jenes unparteiischen Zuschauers, der bis dahin mit verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig leichter M\u00fche die sittlichen Urtheile \u00fcber Andere gef\u00e4llt hat, in unsere eigene Brust. Hier \u00fcbernimmt er das unvergleichlich schwerere Amt, zwischen dem eigenen und dem fremden Interesse mit gleicher Unparteilichkeit zu entscheiden, mit der ein dritter v\u00f6llig uninteressirter Zuschauer entscheiden w\u00fcrde.\nDieser \u00bbInsasse der Brust\u00ab (\u00bbman within the breast\u00ab) ist es, welcher dem gereiften sittlichen Bewusstsein das Urtheil der Welt vertreten muss, aus dem es doch eigentlich entstanden ist. Ohne jenes Urtheil der Menschen und ohne das nat\u00fcrliche Bed\u00fcrfniss, von ihnen gut beurtheilt zu werden, w\u00fcrden wir niemals in den Besitz dieses inneren Schiedsrichters gekommen sein, und so ist es denn schlie\u00dflich das Urtheil der Welt, auf welches die Entstehung dieses obersten Tribunals, des Gewissens, zur\u00fcckgef\u00fchrt werden muss. Dies hindert freilich nicht, dass jetzt, nachdem sich in dem reifen Geiste die nothwendige Emancipation von jenem Urtheil vollzogen hat, die Entscheidungen beider oft sehr verschieden aus-fallen ; aber dies ist kein Beweis gegen jene Entstehung. Der innere Richter vertritt eben eine ideale Welt, die nach richtigeren, aus einem reineren Gef\u00fchl entsprungenen Grunds\u00e4tzen zu urtheilen f\u00e4hig ist, als die wirkliche, und deren Beifall im Stande sein muss, ihm \u00fcber die Verkennung von Seiten dieser wirklichen Welt hinwegzuhelfen.\nUnter Grundsatz- und Charakterlosigkeit ist hiernach die Unf\u00e4higkeit zu verstehen, jenen inneren Richter einzusetzen; der Hang, in jedem Falle das g\u00fcnstige Urtheil seiner n\u00e4heren oder weiteren Umgebung zu erhaschen, f\u00fchrt mit Nothwendigkeit zu den Erscheinungen der W\u00fcrdelosigkeit.\nDass nun in der That das Urtheil der Welt auf uns von so gewaltigem Einfl\u00fcsse ist, daf\u00fcr f\u00fchrt Smith noch besondere Beispiele an. Ein gro\u00dfer Theil unseres Gl\u00fcckes und Elends entsteht dadurch, dass wir unser gegenw\u00e4rtiges oder vergangenes Leben mit den Augen der Mitwelt betrachten ; alle Thaten des Ehrgeizes werden, wie schon an anderer Stelle entwickelt, durch die Sucht nach dem sympathetischen Beifall der Welt hervorgerufen, und selbst derjenige, der sich f\u00fcr ein gro\u00dfes Unternehmen in den Tod st\u00fcrzt, macht davon keine Ausnahme, denn er anticipirt den Bei-","page":590},{"file":"p0591.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n591\nfall der Menge, den er in Wirklichkeit nicht mehr in Empfang zu nehmen vermag, in seiner Einbildungskraft. Andererseits ist das b\u00f6se Gewissen nach Smith ein Grausen vor dem Urtheil der Welt, welches der Uebelth\u00e4ter auch dann empfindet, wenn eine Entdeckung der That ausgeschlossen ist; in diesem Falle tritt dann eben jener Insasse der Brust an die Stelle der Welt und spricht das Verdam-mungsurtheil.\nIn der sich an diese principiellen Er\u00f6rterungen anschlie\u00dfenden praktischen Frage, auf welchem Wege sich wohl am besten die Forderungen dieses inneren Menschen, dessen schwierigstes Gesch\u00e4ft die B\u00e4ndigung der Selbstsucht ist, erf\u00fcllen lassen, schlie\u00dft sich Smith wiederum den Stoikern an, welche eine Herabminderung unserer eigenen Interessen und eine Gleichstellung derselben mit gleichwerthigen Interessen Anderer verlangen. So schwer erf\u00fcllbar auch diese Forderung ist, so h\u00e4lt sie Smith doch durchaus nicht f\u00fcr ungereimt; werden doch auch in Wirklichkeit Abweichungen von dieser Norm jedermann zu gute gehalten. Man sieht also : Rigorismus ist Smith\u2019s Sache eben nicht, ebensowenig wie Pessimismus; deshalb verwirft er auch die Lehre jener \u00bbmilzs\u00fcchtigen Philosophen\u00ab, welche durch ein Hinaufstimmen des Mitgef\u00fchls mit dem Leiden der Welt jenes Postulat unseres inneren Menschen glauben erf\u00fcllen zu m\u00fcssen. Nach seiner Ansicht kommt auf 20 in leidlichem Wohlsein lebende Menschen etwa ein wirklich Elender; diesem wird aber mit jenem universellen Mitleid auch nicht geholfen, und so dient dasselbe h\u00f6chstens dazu, seinen Besitzer unn\u00fctz schwerm\u00fcthig zu machen.\nEs bleibt jetzt noch die Frage nach der Bildung allgemeiner Regeln \u00fcbrig. Jener innere Richter muss Grunds\u00e4tze haben, nach welchen er sein Urtheil f\u00e4llt, sonst l\u00e4uft er Gefahr, vor der Handlung durch den Affect, nach derselben aber durch die T\u00e4uschung der Selbstliebe, welche stets das Urtheil zu Gunsten des Subjects zu f\u00e4rben sucht, \u00fcberwunden zu werden. Wie entstehen nun diese Regeln? Offenbar nicht anders als dadurch, dass ich mir das, was ich in einzelnen F\u00e4llen der Erfahrung als \u00bbschicklich\u00ab oder gut gebilligt habe, zum Grunds\u00e4tze des Handelns mache;. wird mein Billigungsgef\u00fchl dabei durch das gleiche Billigungsgef\u00fchl der Welt unterst\u00fctzt, so erh\u00e4lt es nat\u00fcrlich die denkbar st\u00e4rkste Kr\u00e4ftigung\n39*","page":591},{"file":"p0592.txt","language":"de","ocr_de":"592\nJohannes Schubert.\nund Sicherung \u2014 wo nicht, so kommt es auf die Kraft und Elasti-cit\u00e4t meines subjectiven Gef\u00fchls an, oh es in dem Conflict mit dem der gro\u00dfen Menge siegt oder nicht.\nAuf jeden Fall aber ist die einzelne Erfahrung das Urspr\u00fcngliche. \u00bbWir billigen oder missbilligen einzelne Handlungen nicht darum, weil sie sich bei n\u00e4herer Zergliederung mit gewissen Regeln einstimmig oder unertr\u00e4glich zeigen. Die allgemeineRggel,.ist vielmehr das Product der einzelnen Erfahrungen, dass alle Handlungen von gewisser Art oder in gewissen Umst\u00e4nden gebilligt oder ge-missbilligt werden.\u00ab (I 357.) Freilich, sind diese Regeln einmal entstanden, dann m\u00fcssen sie dem dunkeln, triebartigen Gef\u00fchlsleben entr\u00fcckt und unter Aufsicht der \u00bbVernunft\u00ab gestellt werden; nur diese ist im Stande, uns die \u00bbschwerste aller moralischen Lec-tionen\u00ab, n\u00e4mlich die Unparteilichkeit zwischen uns und unserem N\u00e4chsten, zu ertheilen. Sehen wir uns, durch Hume\u2019s scharfe Begriffsunterscheidung vorsichtig gemacht, danach um, was man hier wohl unter \u00bbVernunft\u00ab zu verstehen hat \u2014 eine Aufkl\u00e4rung, die Smith zu geben vers\u00e4umt \u2014 so werden wir zu dem Resultate kommen, dass es nichts anderes sein kann als das logische Gef\u00fchl der Consequenz, welches uns zur Durchf\u00fchrung jener Regeln zwingt. Auf keinen Fall aber darf man sich, wie Oncken, durch den blo\u00dfen Gleichklang der Worte dazu verleiten lassen, hierin nun eine Uebereinstimmung mit Kant zu erblicken. Es ist ein kleiner Unterschied, sollte man meinen, ob Jemand diese obersten Begriffe \u2014 man mag sie nun Vernunft oder Grundsatz oder Gewissen oder Pflichtgef\u00fchl nennen \u2014 rein empirisch aus uns allen bekannten Trieben und Gef\u00fchlen ableitet, oder ob er, wie Kant, auf eine solche Ableitung \u00fcberhaupt verzichtet und sie als \u00fcbersinnliche Noumena in diese sinnliche Welt als Regulativ derselben hineinragen l\u00e4sst.\nUnd nicht allein theoretisch besteht hier ein gewaltiger Gegensatz, sondern auch in manchen praktischen Fragen zeigt sich bei Smith eine von Kant abweichende Auffassung, so vor allem in der Ansicht vom Werthe des Pflichtgef\u00fchls. Smith unterscheidet v\u00f6llig eine selbst\u00e4ndige kr\u00e4ftige Neigung, die allerdings nicht viele besitzen, von jenem Pflichtgef\u00fchl der gro\u00dfen Masse, bei dessen Bildung die \u00e4u\u00dfere Erziehung der Familie und die h\u00e4rtere Schule","page":592},{"file":"p0593.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith's Moralphilosophie.\n593\nder Welt die wirksamsten Factoren bilden. Er ist weit entfernt, einem solchen aus anerzogenem Pflichtgef\u00fchl handelnden Menschen, dem es an selbst\u00e4ndigem Temperament fehlt, den ersten Preis zuzuerkennen; nach seiner Ansicht ist er \u00bbvielleicht\u00ab des zweiten w\u00fcrdig \u2014 man kann eben nicht verlangen, dass die gro\u00dfe Masse der Menschheit sich zu jener Feinf\u00fchligkeit hindurcharbeite, die den Aristokraten der Sittlichkeit auszeichnet, und welche nicht denkbar ist ohne selbst\u00e4ndiges Temperament, ohne Neigung zum Object der Handlung.\nWie ganz anders Kant!\nGerade dieser Zusatz von temperamentvoller Neigung, welche in Smith\u2019s Augen dem Bilde des sittlichen Menschen erst jenes reichere, farbensattere Colorit zu verleihen im Stande ist, das ihn von dem einf\u00f6rmigen Grau in Grau der allt\u00e4glichen Pflichtmenschen unterscheidet, gerade der ist es, den Kant als eine Herabw\u00fcrdigung, als eine Verunreinigung des erhabenen Pflichtbegriffs verabscheut, und den er daraus unter allen Umst\u00e4nden verbannt wissen will. Jene Gesetzesachtung, bei Smith ein Princip, mit dem noch so manches andere concurriren darf, wird bei Kant zur alleinigen Triebfeder der Sittlichkeit, die er auf eine intelligible Ursache zur\u00fcckf\u00fchrt, der alle Menschen in gleicher Weise theilhaftig werden.\nH\u00e4tte Smith von der Lehre Kant\u2019s geh\u00f6rt, so w\u00fcrde er vielleicht bei seiner Methode, die Ansichten des Gegners nicht nur zu bek\u00e4mpfen, sondern [sie auch aus psychologischen Motiven zu erkl\u00e4ren, jene Reinigung des Sittlichen von Gef\u00fchlselementen auf eine radical-demokratische Grundstimmung zur\u00fcckgef\u00fchrt haben, die sich dagegen emp\u00f6rt, die Vollkommenheit in der wichtigsten und erhabensten aller Lebenserscheinungen von einer nur Wenigen zu Theil werdenden Disposition des Organismus, von einer aristokratischen Bevorzugung Einzelner durch die Natur abh\u00e4ngig zu sehen.\nDas eine freilich steht auch bei Smith fest: Ein Mann von festen Grunds\u00e4tzen, auch wenn er nicht jenen vollendeten Grad der Schicklichkeit besitzt, ist einem launenhaften und grundsatzlosen, und w\u00e4re er in guten Stunden von der zartesten Feinf\u00fchligkeit, an sittlichem Werth \u00fcberlegen; jenes Pflichtgef\u00fchl, wie es","page":593},{"file":"p0594.txt","language":"de","ocr_de":"594\nJohannes Schubert.\nsich in der Befolgung von Grunds\u00e4tzen auspr\u00e4gt, ist eben die conditio sine qua non der Sittlichkeit, ihr t\u00e4gliches Brot, ohne welches alle feineren Gerichte ihren Werth verlieren.\nZwei Motive also sind es, die nach Smith einer sittlichen Handlung erst ihren vollen Werth sichern: erstens eine allgemeine Hegel, zweitens aber nat\u00fcrliche Stimmungen und Neigungen des Herzens, welche uns erst zu jenen feinsten N\u00fcancirungen bef\u00e4higen, welche das blo\u00dfe Befolgen der Regel nie hervorrufen kann.\nEs spielt hier auch die Scheidung der Gerechtigkeit von den anderen sittlichen Erscheinungen etwas mit hinein. Die Gerechtigkeit \u2014 nicht in jenem weitesten platonischen, sondern im juristischen Sinne..\u2014 ist diejenige Tugend, deren Regeln die klarsten, unzweideutigsten sind; es bedarf hier keines freien Taktes, keines pr\u00fcfenden Geschmacks, um das Richtige zu treffen; vielmehr ist gerade hier die strengste Pedanterie am angebrachtesten.\nF\u00fcr die \u00fcbrigen sittlichen Erscheinungen ist es dagegen unm\u00f6glich, feste Regeln aufzustellen; sie m\u00fcssen dem sittlichen Geschmack \u00fcberlassen werden, ebenso wie die stilistischen Feinheiten dem rednerischen oder schriftstellerischen Geschmack; die Regeln der Gerechtigkeit dagegen sind denen der Grammatik vergleichbar, wo auch ein jeder Fehler mit Bestimmtheit als solcher nachgewiesen werden kann.\nHier ist nun auch der Punkt, wo Smith seine religionsphilosophischen und metaphysischen Ansichten in kurzen Z\u00fcgen entwirft. Schon bei Gelegenheit des zweiten Abschnitts hatten wir gesehen, wie er die Natur teleologisch auffasst ; hier stellt er die Ansicht auf, dass einer der Hauptzwecke der Natur die Gl\u00fcckseligkeit des Menschen sei, welche eben durch sittliches Verhalten zu erreichen sei; die sittlichen Gebote m\u00fcssten dann als Gebote der Gottheit angesehen werden, die mit denselben die menschliche Gl\u00fcckseligkeit bezwecke. W\u00e4hrend er indessen mit jener teleologischen Weltauffassung einen sowohl mit seinem System \u00fcbereinstimmenden als auch in der ganzen Zeitstr\u00f6mung begr\u00fcndeten und durch sie erkl\u00e4rlichen Schritt nach seinem Vorg\u00e4nger Hutcheson hin thut, f\u00e4llt er mit seiner Auffassung der sittlichen Gebote als Regeln der Gottheit in einen Intuitionismus zur\u00fcck, der mit seiner ganzen Theorie in Widerspruch steht. Wenn diese Regeln Gesetze der","page":594},{"file":"p0595.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n595\nGottheit sind, wozu dann die M\u00fche, ihre allm\u00e4hliche Entstehung aus den sinnlichen Gef\u00fchlen nachzuweisen, wozu dann vor allem die Annahme eines so weltlichen Principe, als es der Beifall der Welt ist, zur Erkl\u00e4rung des Gewissens?\nSmith hat es hier vers\u00e4umt, zwei Betrachtungen, deren jede f\u00fcr sich er richtig angestellt hat, in causale Beziehung zu bringen. Er hat einerseits das Sittliche rein empirisch aus Principien der menschlichen Organisation abgeleitet; er ist auch ferner von der psychologischen Entstehung der Religionsvorstellungen \u00fcberzeugt; er wei\u00df, dass die Gottesvorstellung heim Einzelwesen und beim einzelnen Volke je nach dem Standpunkt ihrer Reife verschieden ist, dass die Menschen von Natur einen Hang haben, \u00bbjenen ge-heimnissvollen Wesen, die in allen L\u00e4ndern die Gegenst\u00e4nde gottesdienstlicher Verehrung sind, alle ihre Empfindungen und Leidenschaften beizulegen\u00ab1); also: \u00bbwie einer ist, so ist sein Gott\u00ab \u2014 diese Wahrheit hat auch Smith schon erkannt.\nAber anstatt diesen Parallelismus zwischen der Entstehung der sittlichen und derjenigen der religi\u00f6sen Vorstellungen deutlich hervorzuheben, anstatt vielleicht noch einen Schritt weiter zu gehen und die letzteren speciell sich aus den sittlichen Gef\u00fchlen der Ehrfurcht und Piet\u00e4t entwickelnd zu denken, anstatt dessen bleibt er an der popul\u00e4ren, dem wirklichen Verlauf der Thatsachen entgegengesetzten Vorstellungsweise haften und erkl\u00e4rt Sittlichkeit f\u00fcr einen Befehl der Gottheit, trotzdem er von der Entstehung sowohl der ersteren als der letzteren eine empirisch-psychologische Ableitung gegeben hat.\nDiese Inconsequenz ber\u00fchrt indessen den wissenschaftlichen Kernpunkt der Theorie nicht. Wer aber, wie Oncken, auf solche Inconsequenzen, anstatt sie psychologisch zu deuten, den Hauptnachdruck legt, der verfehlt nat\u00fcrlich jenen Kernpunkt zu Gunsten einer \u00bbRettung\u00ab, die, mag sie auch noch so sehr nach dem Herzen des speciellen Schriftstellers sein, doch von einem anderen Standpunkte aus nicht allein als ein unn\u00f6thiges, sondern auch als ein die wissenschaftliche Bedeutung und Originalit\u00e4t des Denkers sch\u00e4digendes Unternehmen angesehen werden muss.\n1} I S. 369.","page":595},{"file":"p0596.txt","language":"de","ocr_de":"596\nJohannes Schubert.\nSch\u00f6n und treffend ist, was Smith \u00fcber den praktischen Werth der Religion sagt. Obwohl er, gleich Shaftesbury, den fanatisirenden Einfluss unreiner Religionsvorstellungen beklagt, so ist er doch weit entfernt, nun den Werth der Religion deshalb an und f\u00fcr sich zu bezweifeln, wie dies Hume thut. Nur das eine Postulat stellt er als unbedingt nothwendig auf : gr\u00f6\u00dfte gegenseitige Duldung der verschiedenen Religionsgemeinschaften, welche ja in dem Glauben, was ihnen Gott eigentlich gebiete, so weit von einander abwichen.\nEs ist wieder der optimistische Grundzug seines Wesens, der ihn zu einer Forderung bestimmt, die mit derjenigen des pessimistischen Hobbes im schroffsten Gegensatz steht. Hobbes glaubte nicht an die Lebensf\u00e4higkeit einer solchen liberalen Gemeinschaft, und so ersann er als ein Radicalmittel, welches alle con-fessionellen Reibungen unm\u00f6glich machen sollte, eine einheitliche Staatsreligion \u2014 welchen Charakters, war ihm ziemlich gleichg\u00fcltig \u2014 die weder in Wort noch in That eine Auflehnung gegen sich duldete. So erstickt man allerdings unter Umst\u00e4nden den Fanatismus, aber auch zugleich lebensf\u00e4hige Keime der edelsten Art, welche in entwickeltem Zustande jenem wilden Instincte mit leichter M\u00fche die Wage zu halten verm\u00f6gen.\n4.\nNachdem Smith in den ersten drei Theilen die Grundsteine seiner Theorie befestigt, konnte er daran gehen, noch als Erg\u00e4nzung einige Ausf\u00fchrungen hinzuzuthun, wie sie ihm besonders durch Hume\u2019s Anschauungen nahe gelegt wurden. Die Sympathie mit der blo\u00dfen ^N\u00fctzlichkeit einer Handlung als urspr\u00fcnglichsten Billigungsgrund hatte er im Verlauf seiner ganzen bisherigen Darstellung abgelehnt; jetzt konnte er den bedeutenden Einfluss, welchen die k\u00fchle Reflexion nachtr\u00e4glich auf die Modification des Urtheils aus\u00fcbt, ruhig zugeben. Es muss hier nach seiner Ansicht eben ein \u2014 in metaphysischen Bedingungen wurzelnder \u2014 gl\u00fccklicher Parallelismus constatirt werden, der sich darin \u00e4u\u00dfert, dass eine das unmittelbarste Gef\u00fchl sympathisch ber\u00fchrende Handlung sich auch in der Reflexion und Erfahrung als gut und werthvoll herausstellt. Und deshalb ist es empfehlenswerth und auch all-","page":596},{"file":"p0597.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n597\ngemein \u00fcblich, den sittlichen Forderungen im praktischen Lehen durch den Hinweis auf ihre Ersprie\u00dflichkeit einen Nachdruck zu verleihen, den die Berufung auf das Gef\u00fchl nicht in gleichem Ma\u00dfe auszu\u00fchen vermag. Aber die theoretische Untersuchung darf sich nicht dadurch bestimmen lassen, nun auch die thats\u00e4ch-liche Entstehung und Entwicklung des Sittlichen sich auf diesem Wege vollziehend zu denken.\nVon einem f\u00fcr jene Zeit sehr bemerkenswerthen historischen Sinn zeugt es, dass Smith den Einfl\u00fcssen von Mode und Gewohnheit auf die sittlichen Urtheile eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig eingehende Beachtung schenkt. Er zieht zum Vergleich die \u00e4sthetischen Urtheile herbei und zeigt, wie sehr dieselben je nach Zeit und Volk dem Wechsel unterworfen sind; dabei ist er aber geneigt,, den \u00e4sthetischen Geschmack f\u00fcr viel wandelbarer zu halten als den moralischen, eine Erscheinung, die er auf die Feinheit und Zartheit der Organisation des Sch\u00f6nheitssinnes zur\u00fcckf\u00fchrt, von dem sich die Billigungs- oder Missbilligungsgef\u00fchle durch ihre st\u00e4rkere Fundirung unterscheiden.\nAllerdings muss bemerkt werden, dass Smith in demjenigen, was er als \u00bbMode\u00ab bezeichnet, weiter geht, als es der Sprachgebrauch gestattet. Wenn der Prinz von Wales einen neuen Hut erfindet, so ist das eine Mode; wenn aber ein genialer K\u00fcnstler eine tiefgehende Umw\u00e4lzung in der bestehenden Kunstanschauung hervorruft, so kann die Nachahmung derselben freilich auch zur Mode werden; die Bedingungen jener Umw\u00e4lzung selber m\u00fcssen indessen tief in geistigen Str\u00f6mungen und Bed\u00fcrfnissen der ganzen Zeit begr\u00fcndet liegen. Ebenso kann in sittlicher Beziehung durch das Vorbild einer tonangebenden Pers\u00f6nlichkeit Ungebundenheit und ausschweifendes Leben in gewissen Kreisen eines Volkes Mode werden, kann f\u00fcr nobel, gro\u00df, ritterlich gelten; aber die verschiedenen sittlichen Anschauungen ganzer V\u00f6lker und Zeiten wurzeln in tieferen Bedingungen, als dass sie durch den Ausdruck \u00bbMode\u00ab bezeichnet werden k\u00f6nnten.\nImmerhin weisen die Smith\u2019sehen Untersuchungen auch in dieser unentwickelten Form auf ein fruchtbares Gebiet ethischer Forschung hin; sie enthalten im Keime wichtige Specialgebiete einer Wissenschaft, welche erst heute sich zu vollerer Bl\u00fcthe zu entwickeln beginnt \u2014 der V\u00f6lkerpsychologie.","page":597},{"file":"p0598.txt","language":"de","ocr_de":"598\nJohannes Schubert.\nVon. gro\u00dfer Feinheit ist es, was er \u00fcber den Unterschied zwischen den sittlichen Werthanschauungen civilisirter und barbarischer V\u00f6lker sagt: Bei ersteren gelten mehr die verfeinerten, weicheren Regungen der Humanit\u00e4t, des Wohlwollens, bei letzteren mehr die heroischen der Selbstbeherrschung und Standhaftigkeit, welche sie zum Ertragen von Gefahren, M\u00fchsalen und Martern bef\u00e4higen, bei deren Erz\u00e4hlung schon dem verweichlichten Europ\u00e4er die Haut schaudert.\nDen gleichen Gedanken hat \u00fcbrigens John Stuart Mill in seinem interessanten Aufsatz \u00bbUeber die Civilisation\u00ab genauer ausgef\u00fchrt und zu beachtenswerthen modern-ethischen Betrachtungen und Forderungen verwerthet; es ist nicht unm\u00f6glich, dass er den kurz skizzirten Betrachtungen Smith\u2019s die Anregung dazu verdankt.\n5.\nIn dem letzten Theile seines Werkes gibt Smith eine Classification und Kritik hervorragender fremder Moralsysteme. Er theilt dieselben nach der Behandlung zweier Hauptgebiete ethischer Untersuchung ein: in solche, die den Charaktgr\u201e.des Sittlichen zu bestimmen suchen, und in solche, die dasjenige Princip unserer Organisation aufzufinden bem\u00fcht sind, welches uns zur sittlichen Billigung veranlasst.\nMit der ersten Frage haben sich vor allen Dingen die Alten besch\u00e4ftigt; wir haben gesehen, wie Smith in einzelnen praktischen Fragen sich mit Vorliebe an die Stoiker anschloss.\nDie Definitionen einiger neuerer Philosophen (wie Cud worth, More, Hutcheson), welche die Sittlichkeit mit dem Wohlwollen identificiren, findet er zu eng; sie umspannen nur die humanen, nicht die heroischen Regungen.\nEine eingehendere Betrachtung widmet er dem System Man-deville\u2019s. Die Ausf\u00fchrungen dieses cynischen Skeptikers, welcher jede \u00bbsogenannte\u00ab sittliche Erscheinung in eine conventionelle L\u00fcge, in Eitelkeit oder noch kleinlichere Motive aufzul\u00f6sen sucht, scheinen ihn lebhaft interessirt zu haben. Er glaubt, dass ein System, welches so viel Staub aufwirbeln, so viele Menschen habe t\u00e4uschen k\u00f6nnen, einen Kern von Wahrheit in sich haben m\u00fcsse. Aber der","page":598},{"file":"p0599.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n599\nTrugschluss, dem Mandeville verfallen sei, liege darin, dass er alles, was nur in seiner Ausartung lasterhaft werden kann, \u00fcberhaupt als lasterhaft hinstelle. Dann sei es freilich ein Leichtes, allen Geschmack und Verfeinerung, Kunst, Luxus etc. als etwas Lasterhaftes zu brandmarken. \u2014\nDie Systeme, welche das Billigungsprincip untersuchen, geh\u00f6ren alle erst der neueren Zeit an. Sie lassen sich eintheilen in Vernunft-, Egoismus- und Gef\u00fchlsprincipe.\nDenVertretern des Egoismusstandpunktes, namentlich Hohbes, wirft er vor, dass sie trotz ihrer gegentheiligen Behauptungen auf das Princip der Sympathie schon dunkel hingedeutet h\u00e4tten; diese aber k\u00f6nne nie als selbstisches Princip aufgefasst werden. Der Vernunftstandpunkt setzt das Moralische entweder, wie Hobbes, in die Uebereinstimmung mit einem Gesetz, oder, wie die Intui-tionisten, mit einer intuitiven Vernunftwahrheit. Smith gibt, wie wir bei Gelegenheit des dritten Theiles gesehen, die Betheiligung der Vernunft ohne weiteres zu; er leugnet nur, dass die ersten unmittelbaren Wahrnehmungen von der Vernunft gemacht werden k\u00f6nnten.\nZu den Gef\u00fchlsmoralisten rechnet er vor allem Hutcheson, Hume und sich selber. Die Ablehnung eines specifisch \u00bbmoralischen Sinnes\u00ab, wie ihn Hutcheson angenommen hatte, gr\u00fcndet er besonders auf die Thatsache der qualitativen Verschiedenheit der einzelnen Billigungsgef\u00fchle untereinander, welche nicht m\u00f6glich w\u00e4re, wenn ein bestimmter moralischer Sinn auf die verschiedenen Affecte und Handlungen mit Billigung \u2014 resp. Missbilligung \u2014 reagirte. Nimmt man dagegen die Sympathie als Princip und die Differenz zwischen Original- und Sympathieaffect als Urtheilsma\u00df, so stimmt das vortrefflich mit jener Thatsache des verschiedenen Charakters der einzelnen Billigungs- und Missbilligungsgef\u00fchle zusammen.\nMan wird bemerken, dass hier noch zum Schluss eine Begriffsbestimmung von der Sympathie gegeben wird, wie sie bis jetzt noch nicht in der Theorie vorgekommen ist. Die qualitative Verschiedenheit, von der oben unter Nr. 1 die Rede war, bezog sich auf den Unterschied von Original- und Sympathieaffect; hier wird aber die qualitative Verschiedenheit der einzelnen sympathetischen Vorg\u00e4nge von einander hervorgehoben. Hieraus lassen sich nun","page":599},{"file":"p0600.txt","language":"de","ocr_de":"600\nJohannes Schubert.\naber zweierlei Schl\u00fcsse ziehen: Entweder die Sympathie (im Smith\u2019sehen Sinnei) ist \u00fcberhaupt gar kein selbst\u00e4ndiger Trieb, der etwa, physiologisch gesprochen, auf ein eigenes Nervencentrum Anspruch machen darf; sie ist weiter nichts als eine im Gehirn des Zuschauers sich vollziehende Modification desjenigen Affects, der sich mit urspr\u00fcnglicher Kraft in der Seele des unmittelbar Betroffenen abspielt, ihre Curve w\u00fcrde, graphisch dargestellt, eine etwas andere sein, als diejenige des Originalaffects und in der Gleichung dieser Curve w\u00fcrden einige Factoren aus der Gleichung der Originalcurve fehlen; oder sie ist ein v\u00f6llig selbst\u00e4ndiger Trieb, der sich in jedem einzelnen Falle mit jenem modificirten Affect verbindet; dann ist aber ein Gef\u00fchlscomplex vorhanden, bei dem es sich fragt, welcher von beiden Theilen als der prim\u00e4re, die Ausl\u00f6sung des anderen bewirkende Factor angesehen werden muss.\nIndessen darf man sich nicht allzuweit in diese Fragen einlassen; es soll dadurch nur gezeigt werden, wie ein Begriff, der Jedermann durch Selbsterfahrung unmittelbar klar zu sein scheint, nun seiner scharfen Definition die gr\u00f6\u00dften Schwierigkeiten entgegenstellt. Nur der v\u00f6llige Verzicht auf die letztere macht es erkl\u00e4rlich, dass eine sogenannte \u00bbVernunftmoral\u00ab so erstaunlich lange Geltung behalten konnte. Und allerdings kann man mit dem Begriff der Vernunft alles m\u00f6gliche anfangen, wenn man ihn als eine gegebene Gr\u00f6\u00dfe ansiel}t. Da sind doch den Intuitionisten und Kant gegen\u00fcber die Theorien von Hobbes und seiner Schule von gr\u00f6\u00dferem wissenschaftlichen Werthe; ihre Systeme geh\u00f6ren ja auch zur Vernunftmoral, aber ihnen entsteht Sittlichkeit aus einem mehr oder weniger complicirten logischen Schlussverfahren mit dem endg\u00fcltigen Ziel der Befriedigung selbsts\u00fcchtiger Zwecke; darunter kann ich mir immerhin etwas vorstellen, auch wenn ich mich nicht zu dieser Ansicht bekenne; unter Kant\u2019s \u00bbpraktischer Vernunft\u00ab aber nicht das mindeste.\nZu Adam Smith\u2019s Theorie zur\u00fcckkehrend, bleibt uns noch die Erw\u00e4hnung des im Jahre 1790 hinzugef\u00fcgten Abschnittes \u00bbUeber den Charakter der Tugend\u00ab \u00fcbrig. Darin gibt er als Erg\u00e4nzung zu dem vor allem die Frage nach dem Billigungsprincip behandelnden Hauptwerke eine Beschreibung und W\u00fcrdigung der einzelnen sittlichen Erscheinungen selber. In diesen der letzten","page":600},{"file":"p0601.txt","language":"de","ocr_de":"601\nZeit seines Lebens entstammenden Schilderungen, welche theilweise einen zwar durch das Alter etwas wehm\u00fcthig gef\u00e4rbten, im ganzen aber den Geist des Erstlingswerkes treu reflectirenden Charakter tragen, combinirt er Plato\u2019s Gerechtigkeit, Epikur\u2019s Klugheit und Hutcheson\u2019s Wohlwollen zu einem ansprechenden System praktischer Tugendlehre, aus dem indessen f\u00fcr den theoretischwissenschaftlichen Kernpunkt seiner Lehre nichts Neues zu entnehmen ist.\nIII. Schlussbetrachtung.\nPr\u00fcfen wir zum Schluss noch einmal Smith\u2019s Theorie auf ihren Grundcharakter hin, so erweist sie sich als eine Gef\u00fchlsmoral consequentester und doch zwanglosester Art. Die im Verlaufe der Darstellung nachgewiesenen Inconsequenzen \u00e4ndern an diesem Urtheil nichts, da sie nirgends den inneren Gang der logischen Entwickelung st\u00f6ren und als \u00e4u\u00dfere Anh\u00e4ngsel leicht entfernt werden k\u00f6nnen.\nVergegenw\u00e4rtigen wir uns diesen Entwicklungsgang noch einmal in aller K\u00fcrze:\nEine jede sittliche Billigung oder Missbilligung wird zur\u00fcckgef\u00fchrt auf die Gr\u00f6\u00dfe der Differenz, welche sich zwischen einem Affect und seiner Aeusserung einerseits und dem sympathetischen Affect des unparteiischen Zuschauers andrerseits befindet.\nDie Gerechtigkeit macht davon keine Ausnahme; der Affect, der hier zur allgemeinen Billigung gelangt, ist der Zorn.\nDie Enstehung sittlicher Normen wird aus einzelnen, auf jene Weise zur Billigung gelangten Thatsachen rein empirisch abgeleitet und die verpflichtende Kraft auf die urspr\u00fcngliche Begierde nach Billigung zur\u00fcckgef\u00fchrt, einen Trieb, den Smith vielleicht f\u00fcr den st\u00e4rksten von allen (psychischen) Strebungen erkl\u00e4rt, der indessen im reifen Bewusstsein zu einer solchen L\u00e4uterung gediehen sein muss, dass er unter Umst\u00e4nden auf den Beifall der wirklichen Welt zu verzichten und nur aus R\u00fccksicht auf das Urtheil einer idealen, durch den inneren Zuschauer repr\u00e4sentirten Welt zu handeln f\u00e4hig ist.\nDen N\u00fctzlichkeitserw\u00e4gungen sowie den Einfl\u00fcssen von Mode und Gewohnheit wird ihre hervorragende Bedeutung gesichert, ihre","page":601},{"file":"p0602.txt","language":"de","ocr_de":"602\nJohannes Schubert.\nEinwirkung auf die Urspr\u00fcnglichkeit der Gef\u00fchlserregung jedoch abgelehnt.\nPr\u00fcfen wir ferner das Verh\u00e4ltniss Smith\u2019s zu seinen im ersten Theil dieser Abhandlung skizzirten Vorg\u00e4ngern, so finden wir, dass er ihre reifsten Resultate mit klarem Verst\u00e4ndniss benutzt, dass er die vorhandenen L\u00fccken in jenen Systemen geschlossen und so ein Lehrgeb\u00e4ude geschaffen hat, welches zwar an Originalit\u00e4t der Entdeckungen denjenigen seiner Vorg\u00e4nger nachsteht, das sie aber \u00fcbertrifft an systematischem Aufbau, an innerer Geschlossenheit sowie an Reichthum des verarbeiteten Materials.\nMit Shaftesbury gemeinsam hat er den optimistischen Grundzug des Ganzen, welcher ihn \u00fcberall, auch selbst in scheinbaren Fehlern und Unregelm\u00e4\u00dfigkeiten der Natur, Zweck und Ordnung sehen l\u00e4sst; er hat ferner mit ihm gemein die Anmuth und den Fluss der Darstellung, und wo er ihm an poetischem Schw\u00fcnge nachsteht, da \u00fcbertrifft er ihn an eindringender Beredt-samkeit.\nMit Hutcheson theilt er die scharfe Ablehnung der Egoismusmoral, sowie die Ansicht, dass das Billigungsprincip uns von der Natur gegeben sei, um das gr\u00f6\u00dftm\u00f6gliche Gl\u00fcck auf Erden m\u00f6glich zu machen; in der Frage jedoch nach dem speciellen Charakter dieses Billigungsprincips lehnt er Hutcheson\u2019s \u00bbmoralischen Sinn\u00ab ab und erkl\u00e4rt sich f\u00fcr den von Hume entdeckten Begriff der Sympathie.\nDiesen reinigt er indessen von seiner utilitaristischen F\u00e4rbung, die er bei Hume angenommen hatte, und bringt ihn dadurch in cons\u00e9quente Ueb er ein Stimmung mit seiner teleologischen Weltauffassung; durch Ableitung der Gerechtigkeit aus dem Wiedervergeltungstrieb vervollst\u00e4ndigt er au\u00dferdem die Entwicklung der sittlichen Erscheinungen aus Gef\u00fchlselementen und \u00fcberwindet so Hume\u2019s Conventionalismus.\nAls ein Mangel der Theorie muss indessen das Fehlen jeglicher das Willensproblem betreffenden Aeu\u00dferungen bezeichnet werden. Die wenigen Stellen, wo das Wort \u00bbWille\u00ab oder \u00bbfreier Wille\u00ab \u00fcberhaupt vorkommt, tragen einen so zuf\u00e4lligen, das specielle Problem so wenig ber\u00fchrenden Charakter an sich, dass man daraus auf S mith\u2019s Ansicht keine Schl\u00fcsse zu ziehen berechtigt ist. Im Geiste","page":602},{"file":"p0603.txt","language":"de","ocr_de":"Adam Smith\u2019s Moralphilosophie.\n603\nder Theorie liegt nat\u00fcrlich ein psychologischer Determinismus} auch h\u00e4tten wohl die streng deterministischen Ansichten Hume\u2019s Smith zum mindesten zu einer Polemik gegen dieselben veranlasst, falls er sie nicht gebilligt h\u00e4tte. Dies sind indessen nur Vermuthungen, welche noch kein entscheidendes Urtheil gestatten.\nWerfen wir jetzt zum Schluss die Frage auf: Welch einen Eindruck macht Smith\u2019s Theorie, wenn wir sie aus der objectiv-historischen Beleuchtung in das Licht unserer modernen wissenschaftlichen Anschauungen r\u00fccken, so ist derselbe ein unvergleichlich besserer, als er vielleicht noch vor wenigen Jahrzehnten gewesen w\u00e4re, wo die Ethik, nach einem Schopenhauer\u2019sehen Ausdruck, noch ganz auf dem Ruhepolster schlummerte, welches ihr durch Kant untergelegt war.\nDie psychologische Methode der Untersuchung, von Smith mit hervorragender Kunst ge\u00fcbt, ist wieder in ihr Recht als \u00abVorhalle zur Ethik zu dienen\u00ab, eingesetzt; erg\u00e4nzt und erweitert wird sie durch anthropologische, v\u00f6lkerpsychologische und historische Forschungen \u2014 H\u00fclfswissenschaften, von denen wir bei Smith nur die allerersten Keime erblicken.\nAndererseits forderte der extreme, die Gesellschaft atomisirende Individualismus, mit welchem Smith der Stimmung seines Jahrhunderts einen energischen Ausdruck gegeben hat, eine durch den Geist unserer Zeit gebotene Ueberwindung; und es ist wahrlich kein Zufall, dass diese Ueberwindung, wie sie durch den Begriff eines Gesammtwillens geleistet worden ist1), gerade von derjenigen modernen Richtung ausgegangen ist, welche bei aller Verschiedenheit der Problemstellung, der Hilfsmittel und der einzelnen Methoden doch in den allgemeinsten principiellen Grundvoraussetzungen eine unleugbare innere Verwandtschaft mit der alten englischen Psychologie aufweist.\nErkl\u00e4rt jener Individualismus das Mannigfaltige, das Schwankende und Flie\u00dfende der sittlichen Begriffe und Urtheile \u2014 Erscheinungen, welche nach einer treffenden Bemerkung Jodl\u2019s sich auch in charakteristischer Weise in der ganzen Darstellungs-\n1) Vgl. hier\u00fcber Wundt, \u00bbEthik\u00ab S. 384 ff. und \u00bbSystem der Philosophie\u00ab S. 591 ff.","page":603},{"file":"p0604.txt","language":"de","ocr_de":"604\nJohannes Schubert. Adam Smith's Moralphilosophie.\nart Smith\u2019s wiederspiegeln \u2014 so repr\u00e4sentirt dagegen jener Begriff des Gesammtwillens die Einheit in der Mannigfaltigkeit der individuellen Willensstr\u00f6mungen, eine Thatsache, deren Erkl\u00e4rung Hume und Hutcheson zwar auch schon versucht, aber in Folge der Befangenheit ihres Standpunktes nur in unbefriedigender Weise hatten leisten k\u00f6nnen.","page":604}],"identifier":"lit4969","issued":"1891","language":"de","pages":"552-604","startpages":"552","title":"Adam Smith\u2018s Moralphilosophie","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:41:42.082925+00:00"}