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{"created":"2022-01-31T13:11:58.655276+00:00","id":"lit655","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 1: 90-147","fulltext":[{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\nVon\nW. Wundt.\n1. Analytische und synthetische Methoden in der Mathematik.\nMathematiker und Philosophen sind dar\u00fcber einig, dass die Mathematik wegen der Sicherheit ihrer Principien und der bindenden Kraft ihrer Beweisf\u00fchrungen als das vollkommenste Beispiel einer deductiven Wissenschaft anzusehen sei. In der syllogistischen Demonstrationsmethode Euklid\u2019s, welche den logischen Zusammenhang von Voraussetzungen und Schlussfolgerungen ausf\u00fchrlich darlegt, hat man darum bekanntlich Jahrhunderte lang die spe-cifisch mathematische Methode gesehen. Wo immer der Inhalt eines Gebietes in eine Anzahl von Lehrs\u00e4tzen zerlegt war, die aus vorangestellten Definitionen, Axiomen und Postulaten in streng syllogistischer Weise abgeleitet wurden, da glaubte man der Vortheile der mathematischen Deduction sicher zu sein. Zuweilen wurde freilich diese Form der Darstellung eines wissenschaftlichen Systems mit dem bei der Gewinnung desselben eingeschlagenen Verfahren verwechselt, oder man meinte wenigstens, die urspr\u00fcnglich vielleicht auf anderem Wege gefundenen S\u00e4tze bed\u00fcrften einer solchen Beweismethode zu ihrer Sicherstellung.\nEine wichtige Umw\u00e4lzung des Denkens findet nun in dieser Beziehung in Descartes\u2019 Methodenlehre und deren mathematischen Anwendungen ihren Ausdruck. Einem Manne, der selbst einer der gr\u00f6\u00dften Erfinder im Gebiete der Mathematik war, konnte jener Irrthum, auf welchem die Uebersch\u00e4tzung der Euklidischen Demonstration beruhte, nicht verborgen bleiben. Indem er eine analy-","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber die mathematische Induction.\n91\ntische und synthetische Methode unterscheidet, schliesst er sich zwar mit diesen Bezeichnungen an Euklid an, aber er gibt den Begriffen zum Theil einen anderen Inhalt. Bei Euklid sind Analysis und Synthesis Unterformen der syllogistischen Beweismethode. Bei der Analysis nimmt man das zu beweisende als zugestanden an und zeigt, dass die daraus gezogenen Folgerungen mit allgemein als wahr anerkannten S\u00e4tzen \u00fcbereinstimmen. Bei der Synthesis geht man von als wahr anerkannten S\u00e4tzen aus und zeigt, dass die Folgerungen den zu beweisenden Satz enthalten.1) Beide Methoden, deren Unterscheidung in der hier hervorgehobenen Bedeutung \u00fcbrigens auf Plato zur\u00fcckgeht, f\u00fcgen sich bei Euklid in das n\u00e4mliche vielgliederige Schema von Definitionen, Axiomen, Theoremen und Problemen, und es ist klar, dass in beiden F\u00e4llen der zu beweisende Satz existiren muss, ehe der Beweis angetreten wird. Zugleich hat die synthetische Methode einen unverkennbaren Vorzug dadurch, dass sie stets zu einem bindenden Beweis f\u00fchrt, w\u00e4hrend das analytische Verfahren nur dann unbedingt richtige Folgerungen gestattet, wenn der Beweis ein indirecter oder apagogischer \u2019ist. Der directe analytische Beweisgang dagegen wird nur in dem Falle zwingend, wenn das Verh\u00e4ltniss von Grund und Folge, das zwischen den einzelnen Gliedern des Beweises besteht, zugleich ein Verh\u00e4ltniss der Wechselbestimmung ist, so dass die Folge als Grund den Grund als Folge hervorbringen w\u00fcrde. Gerade deshalb aber kann der directe analytische Beweis stets durch einen synthetischen ersetzt werden, wie dies Euklid selbst im Eingang seines 13. Buches an einem Beispiel erl\u00e4utert. Man wird darum hier im allgemeinen den synthetischen Beweis vorziehen. Die Pr\u00fcfung der Frage, ob die gegebenen Verh\u00e4ltnisse von Grund und Folge zugleich solche der Wechselbestimmung seien, f\u00e4llt bei ihm von vornherein hinweg. So bleibt denn auch bei Euklid dem analytischen Verfahren haupts\u00e4chlich das Gebiet der apagogischen Beweisf\u00fchrungen Vorbehalten, Beweisf\u00fchrungen, die sich zumeist auf S\u00e4tze beziehen, die an unmittelbarer Evidenz den Axiomen so nahe stehen, dass man zweifeln kann, ob si\u00e8 nicht ebenso unmittelbar gewiss sind wie die Axiome selbst, die zu ihrer Demonstration gebraucht werden.\n1) Euklid\u2019s Elemente, XIII, 1.","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nVV. Wundt.\nEine wesentlich andere Bedeutung gewinnt nun die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Methode hei Descartes. Analysis nennt er dasjenige Verfahren, durch welches das Wesen eines Gegenstandes unmittelbar erforscht werde, und welches daher auch heim Unterricht der Mathematik zu bevorzugen sei, weil es den Sch\u00fcler selbst auf den Weg der Erfindung f\u00fchre. In seiner Geometrie hat er ein musterg\u00fcltiges Beispiel dieser Methode aufgestellt, und aus diesem Beispiel erhellt deutlicher als aus seinen unbestimmter gehaltenen methodologischen Ausf\u00fchrungen der Sinn der Bezeichnung. Ueberall besteht hei ihm die Analyse in einer zweckm\u00e4\u00dfigen Zerlegung des Ganzen, dessen Untersuchung in Frage steht, in Elemente und eventuell in der constructiven Hinzuf\u00fcgung anderer Elemente, welche zusammen mit den gegebenen eine vollst\u00e4ndige Bestimmung der Eigenschaften des untersuchten Gebildes m\u00f6glich machen. Zugleich aber h\u00e4lt es Descartes Unwesentlich, dass diese analytische Untersuchung in der allgemeinsten Form gef\u00fchrt werde, damit die Beschaffenheit der Verstandesoperationen und die allgemeine Bedeutung der Resultate deutlich hervortrete. In diesem Sinne macht er der Analysis der Alten den--Vorwurf, dass sie den Geist an die Betrachtung der Figuren gebunden und darum die Einbildungskraft erm\u00fcdet, aber die Uebung des Verstandes verabs\u00e4umt habe ; und seine eigene Methode bezeichnet er als ein Verfahren, welches, die Analysis der Alten mit der Algebra der Neueren und der syllogistischen Kunst verbindend, die Vortheile dieser aller wahrnehme und ihre Fehler vermeide.1) So \u00e4u\u00dferlich diese Definition auch erscheinen mag, so deutet sie doch vollkommen treffend den Charakter der modernen Analysis an, zu welcher Descartes\u2019 Geometrie den Grund gelegt hat. Gerade das Princip deranalytischenMethodePlato\u2019s und Euklids, dass das Gesuchte als bereits gegeben vorausgesetzt werde, ist eines der m\u00e4chtigsten Werkzeuge auch der modernen Analysis. Eine der fruchtbarsten Anwendungen dieses Princips ist namentlich die von Descartes erfundene Methode der unbestimmten Coefficenten. Aber die eigentliche Quelle dieser Anwendungen liegt hier wie in andern F\u00e4llen schon in der Einf\u00fchrung der algebraischen Symbolik. Indem das Buchstaben-\n2' Discours de la m\u00e9thode. Oeuvr. publ. par Cousin, I, p. 140.","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n93\nsymbol jede beliebige unbekannte oder ver\u00e4nderliche Gr\u00f6\u00dfe bezeichnen kann, ist es an und f\u00fcr sich ein \u00fcberall brauchbares H\u00fclfs-mittel, um das Gesuchte in der Rechnung so zu verwenden, als wenn es bereits gefunden w\u00e4re. Wie auf diesen Umstand historisch die Entwicklung der algebraischen Symbolik zur\u00fcckgeht, so ist auch er es weit mehr als die von Descartes hervorgehobene ab-stracte Allgemeinheit der Zeichen, auf welchem die Bedeutung der letzteren f\u00fcr die Analysis beruht. Allerdings aber h\u00e4ngt mit dieser Allgemeinheit jene Eigenschaft innig zusammen. Denn das algebraische Symbol eignet sich eben nur darum zur Bezeichnung aufzusuchender Gr\u00f6\u00dfen und Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen, weil es an und f\u00fcr sich vieldeutiger Natur ist. Dadurch dr\u00e4ngt der Gebrauch der algebraischen Symbolik von selbst zur analytischen, Methode, War daher diese in der Geometrie der Alten ein nur gelegentlich benutztes und an Bedeutung hinter der synthetischen Demonstration zur\u00fcckstehendes H\u00fclfsmittel gewesen, so hatte sich dieselbe schon vor Descartes in der Algebra praktische Geltung verschafft. Die algebraischen Methoden zur L\u00f6sung der Gleichungen sind im wesentlichen nichts anderes als Anwendungen der allgemeinen analytischen Methode. Nur bewegen sich diese Anwendungen ausschlie\u00dflich auf arithmetischem Gebiete, und es bleibt Descartes das gro\u00dfe Verdienst, dass er zuerst mit durchschlagendem Erfolg die allgemeinere Anwendbarkeit der algebraischen Symbolik kennen lehrte, ein Unternehmen, welches nothwendig sofort von einer neuen Ausdehnung der analytischen Methode begleitet sein musste.\nIm Gefolge dieser allm\u00e4ligen Erweiterung ihrer Anwendungen erweiterte sich aber zugleich der Begriff der analytischen Methode selbst. Der Gesichtspunkt der Alten, welcher von den Formen der geometrischen,Beweisf\u00fchrung ausgegangen war, trat zur\u00fcck, und die unmittelbar mit dem Gebrauch der algebraischen Symbolik zusammenh\u00e4ngende Maxime, die gesuchten Gr\u00f6\u00dfen ebenso wie die bereits gegebenen in die Rechnung einzuf\u00fchren, wurde als ein selbstverst\u00e4ndliches, aber nebens\u00e4chliches Element angesehen. Indem sich die Demonstrations- in eine Untersuchungsmethode umwandelte, konnte nicht mehr die Stellung des Beweisobjectes, sondern nur noch das wechselseitige logische Verh\u00e4ltniss der auf einander folgenden S\u00e4tze entscheiden. Hier aber erwies sich \u00fcberall der Fortschritt vom Zusammengesetzten zum","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nW. Wundt.\nEinfachen, vom Besonderen zum Allgemeinen als das charakteristische Merkmal der Analyse, der umgekehrte Weg als derjenige der Synthese. Die Ausdr\u00fccke Analysis und Synthesis nahmen auf diese Weise eine dem Sinne dieser Worte vollkommen entsprechende, aber im Vergleich mit der urspr\u00fcnglichenallgemeinere Bedeutung an. So erkl\u00e4rt Newton im dritten Buch der Optik, die Analyse sei diejenige Forschungsmethode , welche in der Mathematik wie in der Physik der Synthese vorausgehe. \u00bbDie Analyse\u00ab, sagt er, \u00bbst\u00fctzt sich auf Experiment und Beobachtung und geht durch Schlussfolgerung vom Zusammengesetzten auf das Einfache zur\u00fcck ; sie schlie\u00dft von den Bewegungen auf die Kr\u00e4fte , von den Wirkungen auf die Ursachen, endlich von den besonderen Ursachen auf die allgemeineren. Die-Synthese dagegen nimmt die gefundenen Ursachen als die Principien an, erkl\u00e4rt die aus ihnen hervorgehenden Erscheinungen und f\u00fchrt den Beweis f\u00fcr ihre Erkl\u00e4rungen.\u00ab1) Diese Ausf\u00fchrung hat zun\u00e4chst die Physik im Auge, aber ihrem allgemeinen Inhalte nach bezieht sie sich auf die Mathematik in gleicher Weise. Uebereinstimmend nennt L.eihn iz ganz allgemein Analyse die Zerlegung eines Problems in seine Be-standtheile, Synthese den Fortschritt von den einfacheren zu den schwereren Problemen. Er f\u00fcgt aber die bereits \u00fcber den Euklidischen Begriff der synthetischen Methode hinausweisende Bemerkung bei, dass sich mit der Analyse fast immer zugleich ein synthetisches Verfahren verbinde. 2)\nIn jener Erkl\u00e4rung Newton\u2019s , die man wohl als eine Art exem-plificirender Definition der zu seiner Zeit g\u00fcltigen Begriffe von Analysis und Synthesis ansehen darf, ist nun derjenige Punkt, auf welchen in der Auffassung der Alten das Hauptgewicht gelegt und der noch bei Descartes deutlich zu bemerken war, ganz zur\u00fcckgetreten. Nichts desto weniger ist gerade in der physikalischen Anwendung, die Newton gibt, noch in Einer Beziehung die Verwandtschaft bemerkbar. Der Schluss \u00bbvon den Bewegungen auf die Kr\u00e4fte, von den Wirkungen auf die Ursachen\u00ab ist keineswegs von zwingender Gewissheit, sondern, wie jeder Schluss von der Folge auf den Grund, im allgemeinen von vieldeutiger Art, so dass auf diese Weise nur hypothetische\n1)\tNewton, Optice. Lib. Ill, quaestio XXXI. Edit. Lausanne. 1740, p. 329.\n2)\tMath. Werke, Ausg. von Gerhardt, VII, S. 206.","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die mathematische Induction.\n95\nBegriffe und Grunds\u00e4tze zu Stande kommen. Dem gegen\u00fcber erfreut sich auch hier die synthetische Methode des Vortheils, dass sie, da der Schluss vom Grund auf die Folge stets zwingend ist , mit v\u00f6lliger Sicherheit aus den einmal angenommenen Principien das Einzelne ableitet. F\u00fcr das Wissen als solches ist damit freilich nichts gewonnen, da, wie Newton ausdr\u00fccklich hervorhebt, das analytische Verfahren immer dem synthetischen vorausgehen muss, also nach seiner Meinung offenbar die Principien selbst nur auf dem analytischen Wege zu gewinnen sind.\nGleichwohl kommt diese physikalische Unvollkommenheit der analytischen Methode f\u00fcr die Mathematik \u2022 nicht mehr in Betracht : hier ist ein analytisch gewonnener Satz, falls nur seine Voraussetzungen richtig sind, von ebenso zwingender Gewissheit wie das Resultat einer synthetischen Demonstration. Auch diesen Vorzug verdankt die moderne Analysis der Anwendung der algebraischen Symbolik. Die Analysis der Alten hatte sich in geometrischen Con-structionen bewegt, deren Ergebnisse in einer Reihe von Bedingungs-urtheilen niedergelegt waren. Sollte hier ein directer Beweis in bindender Weise gef\u00fchrt werden, so war zu pr\u00fcfen, ob jedes Bediijgungs-urtheil zugleich ein Verh\u00e4ltniss der Wechselbestimmung enthalte, also umkehrbar sei. Diese Pr\u00fcfung wurde hinf\u00e4llig, sobald f\u00fcr jede Art mathematischer Untersuchungen der abstracte arithmetische Ausdruck in Anwendung kam, denn nun trat an die Stelle des Be-dingungsurtheils die algebraische Gleichung, welche, da sie stets umkehrbar sein muss, bei ihrer Aufstellung bereits jene Pr\u00fcfung bestanden hat. Hierin liegt der zweite entscheidende Fortschritt, den die Analysis durch Descartes\u2019 Bem\u00fchungen errang. War sie aber erst in Bezug auf Strenge der Beweise der synthetischen Methode ebenb\u00fcrtig geworden, so konnte es nicht fehlen, dass sie bei ihren sonstigen Vorz\u00fcgen bald den Vorrang behauptete. Nur als Beweisverfahren hat die synthetische Methode Euklid\u2019s noch lange Zeit die Herrschaft behalten , und nicht selten mussten, wie das Beispiel Newton\u2019s zeigt, Untersuchungen, die auf analytischem Wege gef\u00fchrt waren, sich die m\u00fchselige Umpr\u00e4gung in Euklidische Demonstrationen gefallen lassen. Besonders aber glaubte man die Strenge und Vollst\u00e4ndigkeit dieses Verfahrens in solchen F\u00e4llen nicht entbehren zu k\u00f6nnen, wo die Gefahr des Irrthums gr\u00f6\u00dfer zu sein schien. Darum empfahl der","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nW. Wundt.\nErfinder der modernen Analysis selbst f\u00fcr das Gebiet der Metaphysik die synthetische Methode ; denn er meinte, hier seien die einfachen Principien an und f\u00fcr sich klar, und die Schwierigkeit bestehe nur in der Erkl\u00e4rung der zusammengesetzten Erscheinungen. Doch gerade das Beispiel Descartes\u2019 zeigt, wie sehr der Schein der Strenge und Vollst\u00e4ndigkeit, welchen diese Methode verbreitet, eher den Irrthum zu verh\u00fcllen als zu verh\u00fcten geeignet ist.\nWenn in der Regel die fertigen Begriffe mannigfache Spuren ihrer Vergangenheit an sich tragen, so gilt dies vielleicht von wenig Begriffen in so hohem Ma\u00dfe, wie von dem der \u00bbAnalysis\u00ab in der modernen Mathematik. Die ganze Geschichte desselben scheint sich in seiner heutigen Bedeutung verdichtet zu haben. Gerade darum aber wird es so schwer, denselben ersch\u00f6pfend zu definiren oder auch nur sein Verh\u00e4ltniss zu der allgemeineren logischen Bedeutung des Begriffs anzugeben. Eine weitere Erschwerung ist noch durch den Umstand eingetreten, dass der n\u00e4mliche Ausdruck, der urspr\u00fcnglich nur auf eine Methode bezogen wurde, nunmehr zur Bezeichnung der ganzen Disciplin dient, in welcher jene Methode vorzugsweise zur Anwendung kommt, in welcher aber selbstverst\u00e4ndlich auch solche Verfahrungsweisen, die ihrem logischen Charakter nach synthetische genannt werden m\u00fcssen, keineswegs ausgeschlossen sind. Bleiben wir hier bei der methodologischen Bedeutung des Begriffes stehen, so werden sich nach dem Obigen haupts\u00e4chlich drei Kriterien der analytischen Methode unterscheiden lassen. Das erste besteht in der von Newton hervorgehobenen, allgemein logischen Eigenschaft, dass sie den Weg von dem Zusammengesetzten zu dem Einfachen einschl\u00e4gt. Gerade dieses Merkmal gilt aber ausschlie\u00dflich von der methodischen Behandlung der einzelnen Probleme, und es trifft daher f\u00fcr die \u00bbAnalysis\u00ab als mathematische Disciplin nicht zu, welche letztere vielmehr naturgem\u00e4ss umgekehrt von den einfacheren zu den zusammengesetzteren Problemen \u00fcberf\u00fchrt und insofern im Ganzen den synthetischen Gang w\u00e4hlt. Das zweite Kriterium besteht in dem Euklidischen Princip, dass das Gesuchte gefunden wird, indem man es als gegeben voraussetzt; das dritte in der Wahl einer gleichf\u00f6rmigen, f\u00fcr die formale Ausf\u00fchrung der arithmetischen Operationen geeigneten Symbolik. Diese drei Kennzeichen der analytischen Methode stehen aber in einem innigen Zusammenhang, und insbeson-","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n97\ndere das dritte und scheinbar \u00e4u\u00dferlichste derselben ist f\u00fcr die Vollendung der Methode unerl\u00e4sslich.\nIm Verh\u00e4ltniss zu der Ausbildung der Analysis ist nun die \u00bbSynthesis\u00ab, als mathematische Methode betrachtet, verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig lange zur\u00fcckgeblieben. Augenscheinlich war es hier der Einfluss Euklid\u2019s, welcher einer freieren Auffassung im Wege stand. W\u00e4hrend man l\u00e4ngst in dem analytischen Verfahren eine Forschungsmethode erkannt hatte, welche sich nur gelegentlich zugleich in eine Darstellungsmethode verwandeln k\u00f6nne, hatte man hei dem synthetischen Verfahren immer nur die geometrische Demonstration im Auge. Newton\u2019s oben angef\u00fchrte Definition l\u00e4sst dies deutlich durchblicken, indem in derselben der Analyse unbedingt der zeitliche Vorrang einger\u00e4umt wird. Kann die Synthese erst nachfolgen, so wird es sich bei ihr auch im wesentlichen nur um die wissenschaftliche Umformung eines bereits gegebenen Inhaltes handeln, sie wird Demonstrations-, aber nicht Forschungsmethode sein k\u00f6nnen.\nNichts desto weniger findet diese Auffassung Descartes\u2019 und Newton\u2019s im Grunde schon in den einfachsten arithmetischen Operationen ihre Widerlegung. Die Addition, Multiplication und Potenzirung sind synthetische Verfahrungsweisen, und sie sind zweifellos fr\u00fcher als die zu ihnen inversen Operationen der Subtraction, Division und Radicirung, welche als analytische bezeichnet werden k\u00f6nnen. Aber alle diese einfachen Operationen setzt man in der Regel von vornherein als gegeben voraus, man betrachtet sie als H\u00fclfsmittel, deren sich jede Methode bedienen m\u00fcsse, die aber nicht selbst den Rang von Methoden beanspruchen k\u00f6nnen. Obgleich daher in Wahrheit in Arithmetik und Zahlentheorie synthetische Verfahrungsweisen eine nicht geringe Rolle spielen, so ist doch auch hier die Geometrie es gewesen, in welcher die Erkenntniss reifte, dass die Synthesis ebenfalls den Werth einer Forschungsmethode besitzen k\u00f6nne. Und nicht nur ist es auf diese Weise das n\u00e4mliche Gebiet, welches ebensowohl der modernen Analysis wie einer tieferen Erfassung der synthetischen Methode den Ursprung gegeben, sondern es ist sogar der Zeitgenosse und Rivale Descartes\u2019, Roberval, auf welchen die ersten, freilich noch auf lange hin unentwickelt gebliebenen Anf\u00e4nge der neueren synthetischen Geometrie zur\u00fcckweisen.\nFasst man bei Euklid nicht die \u00e4u\u00dfere Form der Demonstration,\nWandt, Philos. Studien. I.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nW. Wundt.\nsondern die Untersuchungsmethoden seihst ins Auge, wie dieselben vor allem in den gew\u00e4hlten Constructionsmethoden zu Tage treten, so kann kein Zweifel bleiben, dass hier das herrschende Verfahren das analytische ist, sofern wir nur bei dem Ausdruck \u00bbAnalysis\u00ab uns an die Definition Newton\u2019s zur\u00fcckerinnern. Die Geometrie Euklid\u2019s betrachtet, wie die Geometrie der Alten \u00fcberhaupt, die mit Lineal und Zirkel gezeichneten Figuren als fertige Objecte, die sie f\u00fcr sich und in ihrem gegenseitigen Verh\u00e4ltnisse der Untersuchung unterwirft. Dadurch wird eine Constructionsmethode zur vorherrschenden, die durchaus den analytischen Charakter an sich tr\u00e4gt : die Methode der Theilung der Figuren. Eine gegebene Figur wird in angemessener Weise durch H\u00fclfslinien zerlegt und so die Anwendung einfacherer, bereits bekannter S\u00e4tze oder Grunds\u00e4tze auf dieselbe m\u00f6glich gemacht. Man denke z. B. an die au\u00dferordentlich sinnreiche Zerlegung, welche dem allgemeinen Beweis des pythagor\u00e4ischen Lehrsatzes zu Grunde liegt. ') Nur ganz ausnahmsweise bedient sich Euklid einer zweiten Methode, welche als Methode der erg\u00e4nzenden H \u00fclfsconstructionen bezeichnet werden kann, insofern es sich bei ihr um Constructionen handelt, die au\u00dferhalb der untersuchten Figuren angebracht sind, aber dieTheile derselben in neue Delationen bringen, durch welche die Zur\u00fcckf\u00fchrung auf bestimmte Axiome oder einfachere Lehrs\u00e4tze vermittelt wird. 1 2) Diese Methode steht in der Mitte zwischen dem analytischen und synthetischen Verfahren r sie ist analytisch , da sie ebenfalls die Zur\u00fcckf\u00fchrung auf einfachere S\u00e4tze beabsichtigt, synthetisch aber, da dieses Ziel erst durch die Construction einer zusammengesetzteren Figur erreicht wird, in welche die vorhandene als Bestandtheil eingeht. V\u00f6llig zur\u00fcck in dem. Euklidischen Lehrsystem tritt dagegen die genetische Constructionsmethode. Indem die Geometrie der Alten im allgemeinen die geometrischen Figuren als fertige Objecte betrachtet, unterwirft sie dieselben isolirt der Untersuchung ; nur gelegentlich, und wo die unmittelbare Anschauung darauf hinweist, ber\u00fccksichtigt sie die Beziehungen zwischen verschiedenen Baumgebilden. Die Euklidische Lehrmethode mit ihrer Zerf\u00e4llung des Stoffs in eine Anzahl\n1)\tEuklid, I, 47.\n2)\tVgl. z. B. VI, 4. Ausserdem geh\u00f6ren hierher zahlreiche Problemata.","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n99\nvon Lehrs\u00e4tzen und Aufgaben ist, wie sie aus einer solchen isoliren-den Untersuchung ihren Ursprung genommen hat, ihrerseits geeignet, dieselbe zu f\u00f6rdern; sie wird naturwidrig, sobald die Probleme in ihrem innem Zusammenhang zur Entwicklung gelangen. Indem bei jener Behandlung die Construction der Figuren \u00fcberall nur den Zweck hat, das Material f\u00fcr die nachfolgende Untersuchung zu gewinnen, nicht dieser selbst als vornehmstes H\u00fclfsmittel zu dienen, erscheint die Art, wie die verschiedenen Figuren erzeugt werden, ver-h\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig gleichg\u00fcltig. Der gleichzeitige Gebrauch von Zirkel und Lineal lie\u00df \u00fcberdies von vornherein die einfachsten regelm\u00e4\u00dfigen Figuren bevorzugen, eine Neigung, die ebenso sehr durch die Leichtigkeit der Aufgaben wie durch die einseitig metrische Richtung der antiken Geometrie beg\u00fcnstigt wurde. So begreiflich aber auch diese Bevorzugung war, so hinderte doch gerade sie eine allgemeinere Behandlung der Probleme, welche zugleich zu einer planm\u00e4\u00dfigeren und \u00fcbereinstimmenderen Anwendung genetischer Constructionsmethoden h\u00e4tte f\u00fchren k\u00f6nnen. Es ist charakteristisch f\u00fcr dieses Zur\u00fccktreten des genetischen Gesichtspunktes, dass Euklid die Definitionen der Raumgebilde m\u00f6glichst unabh\u00e4ngig macht von ihrer Erzeugungsweise, und daher erst bei den K\u00f6rpern mit krummen Oberfl\u00e4chen, Kugel, Cylinder, Kegel, wo offenbar eine blo\u00dfe Beschreibung allzu weitl\u00e4ufig w\u00fcrde, die descriptive durch eine genetische Definition ersetzt. *) Obgleich aber die in diesen F\u00e4llen naheliegende Entstehungsweise der Raumgebilde durch Bewegung einer ebenen Figur (Halbkreis, Parallelogramm, Dreieck) um ihre Axe darauf hinweisen musste, dass die Bewegung eine \u00fcberall anwendbare genetische Constructionsweise sei, so wurde diese doch bei den Kegelschnittslinien aus blo\u00df zuf\u00e4lligen Anl\u00e4ssen wieder verlassen, um das Princip der Erzeugung von Figuren mittels der gegenseitigen Durchschneidung anderer, die bereits gegeben sind, zu benutzen. Nur bei gewissen verwickelteren Curven, wie bei der Quadratrix, der Conchoide des Nikomedes, der Archimedischen Spirale u. s. w., kehrteman, veranlasst durch die in der Natur zu beobachtende Entstehung solcher Curven, abermals zu der Bewegung zur\u00fcck. Auf diese Weise pflegt die antike Geometrie \u00fcberall von derjenigen Entstehungsweise der Figuren auszugehen, durch\n1) Euklid\u2019s Elemente, XI.\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nW. Wundt.\nwelche dieselben zuf\u00e4llig gerade gefunden wurden, ohne sich darum zu k\u00fcmmern, ob im einen Fall k\u00f6rperliche Gebilde zur Erzeugung von Curven in der Ebene, oder in einem andern umgekehrt ebene Figuren zur Erzeugung von K\u00f6rpern und krummen Oberfl\u00e4chen verwendet werden.\nIm Gegens\u00e4tze hierzu ist nun die neuere Geometrie, in dem Ma\u00dfe als sie die genetische Construction zur herrschenden Methode erhob, zugleich bestrebt gewesen, die einzelnen Constructionen in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, welcher durch die gleichf\u00f6rmigen Bedingungen der Erzeugung und die regelm\u00e4\u00dfige Ableitung neuer Constructionen aus den bereits gegebenen bedingt wird. Indem dieser Zusammenhang die Forderung mit sich bringt, dass alle Raumgebilde auf die einfachsten Elemente zur\u00fcckzuf\u00fchren sind, aus denen sie erzeugt werden k\u00f6nnen, werden die \u00e4u\u00dferen Ii\u00fclfsmittel, deren sich die Construction bedient, nicht vermehrt, sondern vereinfacht. Das einzige unerl\u00e4\u00dfliche Werkzeug bleibt das Lineal. Nicht der Kreis und die Gerade, sondern der Punkt und die Gerade sind die einfachsten Gebilde, welche die Geometrie verwendet ; sie dienen zun\u00e4chst zur Erzeugung der Ebene, worauf dann mittels dieser drei Elemente alle andern Raumgebilde entstehen k\u00f6nnen. Hatte die alte Geometrie, durch zuf\u00e4llige Anl\u00e4sse bestimmt, bald die Bewegung der Elemente , bald die Durchschneidung gegebener Figuren zur Erzeugung ben\u00fctzt, ohne dass zwischen beiden Methoden eine innere Beziehung ersichtlich geworden w\u00e4re, so ist jetzt die wechselseitige Durchdringung beider Methoden zur Herrschaft gelangt. Indem alle Raumgebilde auf gesetzm\u00e4\u00dfig erfolgende Bewegungen von Punkten und Geraden zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, pflegt n\u00e4mlich eine solche Bewegung die Entstehung von Durchschnittsfiguren als eine weitere Folge mit sich zu f\u00fchren. Der Vorgang, welcher diese Durchdringung beider Constructionen unmittelbar verwirklicht, ist die Projection. Hiernach scheiden sich die genetischen Constructionsmethoden im Ganzen in drei Classen: in die Erzeugung von Raumgebilden durch Bewegung, in die Bildung von Durchschnittsfiguren und in die aus der Vereinigung beider hervorgehende projectivische Construction.\nMit Recht hat die hier angedeutete Richtung der Geometrie sich seihst den Namen der synthetischen Geometrie gegeben. Wie die Definition Newton\u2019s es verlangt, so folgt hier auf das Einfache das","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n10f,\nZusammengesetzte, mit der besonderen Bedingung, dass dies^|j|i|:: jenem unmittelbar in der Anschauung erzeugt werde, daher h&ftjmeh die synthetische Geometrie dgrjibstracten Begriffssymbolik/ d,@fen die Analysis bedarf, entrathen kann, oder doch erst am EndlpP Untersuchung zum Behuf allgemeiner Fixirung gewisser /Ergebnisse zu ihr greift. Die synthetische Methode \u00fcberhaupt aber ist hier zur Forschungsmethode geworden, und als Darstellungsmethode empfiehlt sie sich nur unter dem n\u00e4mlichen Gesichtspunkte, unter welchem Descartes auch die analytische empfohlen hat, und unter welchem die Demonstrationsmethode Euklid\u2019s bestreitbar ist, insofern n\u00e4mlich, als im allgemeinen das zweckm\u00e4\u00dfigste Verfahren zur Nachweisung der Wahrheit in der Reproduction ihrer Auffindung besteht.\nUnzweifelhaft ist die synthetische Methode in diesem neuen Sinne nicht auf die Geometrie beschr\u00e4nkt, sondern sie erstreckt sich \u00fcber alle Gebiete der Mathematik. Zu einer^consequenten Anwendung des synthetischen Verfahrens scheint aber allerdings eine anschauliche Beschaffenheit der Untersuchungsobjecte erforderlich zu sein ; daf\u00fcr spricht schon der Umstand, dass dasselbe beiden complicir-teren Aufgaben der h\u00f6heren Geometrie wachsenden Schwierigkeiten begegnet, so dass es hier hinter der analytischen Behandlung zur\u00fcckstehen muss. Diese Bedingung der Anschaulichkeit resultirt aus dem der synthetischen Methode eigenth\u00fcmlichen Constructionsver-fahren, welches stets voraussetzt, dass irgend ein zusammengesetztes Ganze in leicht zu \u00fcbersehender Weise aus jder Synthese seiner Elemente gewonnen werde. Neben der Geometrie ist es daher die Mechanik, deren elementare Probleme eine synthetische Behandlung gestatten , wie denn auch in die nach ihrem vorherrschenden Charakter so genannte analytische Mechanik und nicht minder in die analytische Geometrie Constructionen von synthetischem Charakter eingehen. Von den aus der Arithmetik hervorgegangen Gebieten ist es haupts\u00e4chlich die Zahlentheorie, die bei ihrer Besch\u00e4ftigung mit den ein-zelajufcdilbegriffen und Zahlgesetzen synthetischen Untersuchungen auf s*e arigewiesen ist.\nBlickenwuTnun aber nochmals auf die Definition Newton\u2019s zur\u00fcck, so ist es deutlich, dass dieselbe vergleicht, was streng genommen nicht unmittelbar vergleichbar ist : einer Untersuchungsmethode stellt sie eine Demonstrationsmethode gegen\u00fcber, wobei sich noch dazu","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nW. Wundt.\nhinter der letzteren selbst gro\u00dfenteils analytische y /\u2019erfahrungsweisen verbergen. Um jedoch das wirkliche Verh\u00e4ltniss be:e^er ^et 0<^e]1 zu bestimmen, werden wir dieselben unter gleichen jyLicrlirLgiangeri1 _rer Anwendung betrachten m\u00fcssen. Hier kann nun voon elner zelt 1C en Priorit\u00e4t der Analysis imNewton\u2019schen Sinne nicht mae^lr \u2018^u^\u00fc e seln\u2018 Vielmehr zeigen sich zahlreiche Probleme eben 'sowohl d thetischen wie der analytischen Behandlung zug\u00e4]ln^ic^- ^ur ^el den fundamentalsten Aufgaben gewinnt die syntlhetlsc e e* \u00b0 6 einen Vorrang und wird schlie\u00dflich, bei der Ableitur*11^ c^el ein a<^ Stel| arithmetischen und geometrischen S\u00e4tze, allein veiVveru^)al \u2019 wa umgekehrt bei der Untersuchung sehr zusammenges setzter ^Je<^te le Analysis die n\u00e4her liegende und manchmal sogar, freilich me 1 aus praktischen als rein theoretischen Gr\u00fcnden, die &a^ein anwen are Methode ist.\nMit diesem Verh\u00e4ltniss, welches nahezu eint6 111 e runS e* fr\u00fcheren Auffassung in sich schlie\u00dft, h\u00e4ngt ein we:^terer Untersc \u00eee der modernen Begriffe von den \u00e4lteren nahe zusarr\u00eflmen' *Sac 1 1 eu letzteren stehen Analysis und Synthesis beide im Di0118!6 \u20181er Ee duction. Jede dieser Methoden setzt die PrincPPlel1 \u2019 aus enen Folges\u00e4tze abgeleitet oder Beweise gef\u00fchrt werden ss0^ell_\u2019 a^S S\u00c78e^,en voraus. Nicht nur die Definitionen und Axiome d^el Arithmetik und Geometrie, sondern auch alle m\u00f6glichen einzelner111 Zahlformeln und mit Lineal und Zirkel im Baume ausf\u00fchrbaren \u00c70:mstructlons'veisell> die letzteren von Euklid zum Theil als Postulate bezech11\u00ae*-! Se len a 8 ein urspr\u00fcngliches Inventar, \u00fcber welches die mathematische Deduc tion beliebig verf\u00fcgen k\u00f6nne. Wesentlich anders3 gestaltet sich die Sache, wenn man, wie es in der neueren MathemaPtlk geschieht, auf beiden Gebieten den genetischen Standpunkt zur Geltung.bnngl. Es erhebt sich dann nothwendig die Frage, wie jenes\u2019 urspr\u00fcngliche In ventar selber entstanden sei, und wie seine einz<hnen Uestandthei e mit einander Zusammenh\u00e4ngen oder auseinander hiervorSeEen' iel ist es nun gerade auf der einen Seite die Zahlcentkeorie\u2019 au^ ^el andern die synthetische Geometrie, welche in ihfren grundlegenden Theilen jene Frage zu beantworten suchen. Dadutrck gchingt hei den das logische Verfahren der Induction zu uffi^assel^er Geltung. Auch die inductiven Operationen der Mathematik siln<* aker tkei^s syu\" thetischer, theils analytischer Art, wie dies oben *s\u00b0hon *n Bezug auf","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische induction.\n103\ndie einfachen arithmetischen Operationen bemerkt wurde. Die Methoden der Analysis und Synthesis erstrecken sich also \u00fcber die beiden Gebiete der Induction und Deduction. Dies ist vollkommen begreiflich , da sich die zwei erstgenannten Begriffe auf das bei der Untersuchung oder Beweisf\u00fchrung eingeschlagene Verfahren, die zwei letzten auf das Verh\u00e4ltniss der Voraussetzungen der Untersuchung zu deren Resultaten beziehen.\nSo lange nun Analysis und Synthesis auf dem Gebiete der Induction sich bewegen, sind die synthetischen Verfahrungsweisen regelm\u00e4\u00dfig und nothwendig die fr\u00fcheren. Eine freie Wahl zwischen beiden tritt immer erst dann ein, wenn es sich um deductive Untersuchungen handelt. Dieser Umstand kann daher auch als ein Kriterium f\u00fcr die Unterscheidung mathematischer Induction und Deduction benutzt werden, eine Unterscheidung, die nicht immer leicht ist, weil namentlich der \u00e4lteren Mathematik das Bewusstsein der Induction v\u00f6llig abgeht. Bei Euklid z. B. treten zahlreiche Demonstrationen von induc-tivem Charakter in dem t\u00e4uschenden Gew\u00e4nde der Deduction auf. Ist nun auch innerhalb der neueren Mathematik die Induction zu gr\u00f6\u00dferer Anerkennung gelangt, so ist doch die allgemeine Sch\u00e4tzung der mathematischen Methode immer noch von der Euklidischen Demon-strationsweise beherrscht. Ein gesicherter Schatz a priori feststehender Voraussetzungen soll die ganze Wissenschaft im Keim schon enthalten , so dass die Aufgabe derselben in folgerichtigen Deductionen sich erledige und zwischen Untersuchung und Beweisf\u00fchrung ein Unterschied nicht existire. Auf diese Weise bestimmt hier eine l\u00e4ngst \u00fcberlebte Form der systematischen Darstellung , manchmal selbst bei den Mathematikern, die sich praktisch von jenem System l\u00e4ngst eman-cipirt haben, die Anschauungen \u00fcber den logischen Charakter der Wissenschaft. .Es gilt als ausgemacht, dass die Mathematik auch in Bezug auf die Methode eine Ausnahmestellung einnehme, da sie eine ausschlie\u00dflich deductive Wissenschaft sei, die nur in einigen seltenen F\u00e4llen zu dem Verfahren der vollst\u00e4ndigen Induction greife. H\u00f6chstens f\u00fcr die Principien, von welchen die Deduction ausgeht, ist man zuweilen geneigt, eine inductive Entstehung anzuerkennen ; doch besteht selbst \u00fcber diesen Punkt ein Streit der Meinungen, den wir uns zun\u00e4chst vergegenw\u00e4rtigen wollen.","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nW. Wundt.\n2. Die Frage nach dem Ursprung der mathematischen Principien.\nSo sehr man zu jeder Zeit \u00fcber die Vorz\u00fcge der mathematischen Methode einig war, so weit entfernen sich von einander die Anschauungen \u00fcber die Natur der Voraussetzungen, von denen, wie man annimmt, alle mathematische Deduction ausgehen muss, Bald gilt die Mathematik vor allem deshalb als das Ideal einer Wissenschaft, weil ihre Fundamentals\u00e4tze durch ihre Evidenz und Allgemeiug\u00fcltig-keit auf eine dem Zufall wechselnder Erfahrungen entr\u00fcckte Quelle der Erkenntniss in dem menschlichen Geiste seihst hinzuweisen scheinen. Bald behandelt man die Principien der mathematischen Deduction als willk\u00fcrliche und eben deshalb von den empirischen Objecten sich mehr oder minder entfernende Voraussetzungen. Damit ist die metaphysische Verwerthung der Mathematik beseitigt, und gleichwohl beh\u00e4lt diese den Erfahrungswissenschaften gegen\u00fcber jene Ausnahmestellung, wie sie f\u00fcr die apodiktische Geltung ihrer S\u00e4tze unerl\u00e4sslich scheint. Beide Eichtungen sind demnach in ihrer Ansicht \u00fcber die mathematische Methode vollkommen einig : diese gilt ihnen als das vollkommenste Beispiel deductiver Methode \u00fcberhaupt, dem man \u00fcberall nachzustreben habe. In der Auffassung der Principien dagegen, der durch Definitionen festzustellenden Grundbegriffe und der keinem Beweis zug\u00e4nglichen Axiome trennt man sich : entweder gelten diese Principien als reine, aller Erfahrung vorausgehende, darum angeborene oder doch nur gelegentlich durch die sinnliche Wahrnehmung erweckte Ideen; oder man betrachtet sie als willk\u00fcrliche Sch\u00f6pfungen des Denkens , welche aus Anlass der Einwirkung \u00e4u\u00dferer Objecte gebildet w\u00fcrden, aber insofern nicht mit denselben identisch seien, als den empirischen Gegenst\u00e4nden die Constanz der mathematischen Begriffsgebilde durchg\u00e4ngig fehle. Hierin findet man zugleich den Grund f\u00fcr die bindende Kraft der mathematischen Demonstrationsmethode. Die letztere ist zwingend, weil in der Beweisf\u00fchrung die Begriffe die constante Bedeutung bewahren, die wir ihnen willk\u00fcrlich angewiesen haben. Beide Auffassungen begegnen sich daher in der Ueberzeugung, dass die Gewissheit der Mathematik auf der Unver\u00e4nderlichkeit ihrer Voraussetzungen beruhe. Nur gilt diese Unver\u00e4nderlichkeit im einen Fall als eine absolute, im andern als eine blo\u00df relative. Dort erscheinen die mathematischen Axiome als einge-","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Deber die mathematische Induction.\n105\nborene Gesetze des Geistes, welche dieser vielleicht aus einem \u00fcberempirischen Dasein mitbringe, und in denen man darum begreiflicher Weise geneigt ist, gleichzeitig urspr\u00fcngliche Weltgesetze zu erblicken. Hier verdanken die n\u00e4mlichen Voraussetzungen ihre allgemeinere Geltung der \u00dcbereinkunft der Menschen und h\u00f6chstens noch der praktischen Anwendbarkeit auf empirische Objecte ; aber an sich w\u00fcrde ein System ebenso strenger Folgerungen auf ganz anderer Grundlage m\u00f6glich sein. Darum besitzt hier das mathematische Wissen trotz seiner exacten Form einen subjectiven und hypothetischen Charakter, oder vielmehr : gerade weil es subjectiv und hypothetisch ist, darum ist es zugleich exact ; denn nur unsere subjective Willk\u00fcr kann den Begriffen jene Constanz sichern, die zu einer exacten Beweisf\u00fchrung erfordert wird. F\u00fcr beide Anschauungen erscheinen in diesen ihren Anwendungen auf das Gebiet der mathematischen Vorstellungen eigentlich noch heute die alten Bezeichnungen des Realismus und Nominalismus als die passendsten. Denn nach der einen Ansicht beruht die Bedeutung der mathematischen Ideen wesentlich auf ihrer realen Existenz im Geiste ; die andere leugnet diese reale Existenz, jene Ideen gelten ihr als willk\u00fcrliche Sch\u00f6pfungen, welche durch die f\u00fcr sie eingef\u00fchrten Namen oder sonstigen Symbole die erforderliche Constanz erst empfangen. Dieser mathematische Realismus und Nominalismus sind aber beide nicht unver\u00e4ndert geblieben, sondern sie haben Wandlungen erfahren, durch die sie unverkennbar im Laufe der Zeit einander n\u00e4her getreten sind.\nDer Realismus Descartes\u2019 tr\u00e4gt in mancher Beziehung noch die Z\u00fcge der Platonischen Ideenlehre. Die sinnlichen Objecte k\u00f6nnen nur darum mathematische Ideen in uns hervorrufen, weil diese vorher in unserm Geiste gelegen waren. Die Art, wie dieselben durch \u00e4u\u00dfere Eindr\u00fccke erweckt werden, schildert er deutlich als eine Art von Wiedererinnerung. Das gezeichnete Dreieck soll in \u00e4hnlicher Weise die Idee des Dreiecks erwecken, wie die Zeichnung eines Menschen die Vorstellung des wirklichen Menschen.1) Die B\u00fcrgschaft dieses Verhaltens liegt f\u00fcr Descartes eben darin, dass kein sinnliches Object den mathematischen Ideen vollkommen ad\u00e4quat sei. Ueber das Ver-h\u00e4ltniss der angeborenen Ideen zu den sinnlichen Bildern, die ihnen\n1) R\u00e9p. aux cinq. obj. (Dese. \u00e0. Gassendi). Oeuvr. publ. p. Cousin, II p. 290.","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nW. Wundt.\nentsprechen, spricht er sich nirgends in unzweideutigerWeise aus. Im allgemeinen scheint er sich jene ebenfalls in der Form von Anschauungen gedacht zu haben. Zuweilen aber weisen seine \u00c4u\u00dferungen mehr auf eine blo\u00df begriffliche Existenz der urspr\u00fcnglichen Ideen hin. Von dem Tausendeck z. B. sollen wir eine vollkommen klare Idee besitzen, obgleich es nicht m\u00f6glich sei, dasselbe mit der Einbildungskraft vorzustellen. \u00c4hnlich unbestimmt bleibt \u00fcberhaupt, was er eine \u00bbklare Idee\u00ab nennt. So sehr er es betont, dass die Klarheit der mathematischen Vorstellungen ihren auszeichnenden Charakter bilde, der zugleich auf ihren \u00fcherempirischen Ursprung hin-weise , so wenig hat er sich bem\u00fcht, diesen Begriff der Klarheit sicher zu definiren. Nur dies kann als eine bemerkenswerthe Bestimmung angesehen werden, dass die klare Idee f\u00fcr uns immer die n\u00e4mliche \u00fcberzeugende Kraft besitze, so oft wir auch ihr uns zuwenden. Offenbar ist also die Unver\u00e4nderlichkeit ein sie auszeichnendes Merkmal.\nEntschiedener nun als Descartes betont es Leibniz, dass die mathematischen Ideen, um in unserem Geiste lebendig zu werden, der sie ausl\u00f6senden Einwirkung der Erfahrungsobjecte bed\u00fcrfen. Deutlicher aber zugleich scheidet er die urspr\u00fcngliche Natur jener Ideen von den sinnlichen Bildern, in denen sie sich in der Erfahrung verwirklichen. Die urspr\u00fcngliche Existenz der Ideen ist ihm eine rein begriffliche. Hierf\u00fcr liegt ihm der unumst\u00f6\u00dfliche Beleg darin, dass Bild und Begriff vollkommen von einander verschieden sind. ') Der Begriff des Dreiecks f\u00e4llt ebenso wenig mit dem einzelnen gezeichneten Dreieck zusammen, wie die Zahl mit den gez\u00e4hlten Objecten. Demnach denkt sich Leibniz die Entwicklung der mathematischen Ideen keineswegs mehr in der Form einer Wiedererinnerung, hei welcher eine Gleichheit zwischen dem Eindruck und der zur\u00fcck-gerufenen Idee vorauszusetzen w\u00e4re ; sondern die sinnlichen Bilder sind ihm vielmehr Gelegenhcitsursachen, bei denen wir uns urspr\u00fcnglich in uns liegender Begriffe bewusst werden. Darum ist die mathematische Untersuchung um so vollkommener, je abstracter sie gef\u00fchrt wird, und je mehr sie sich von sinnlichen Veranschau-\n1) Nouv. ess. I, 1. IV, 17. Vergl. ausserdem namentlich die unter den Titeln \u00bbInitia mathematiea\u00ab und \u00bbMathesis universalis\u00ab mitgetheilten Schriften. Math. Werke. Ausg. von Gerhardt, VII p. 17 ff.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n107\nHebungen zu emancipiren weiss ; denn in gleichem Ma\u00dfe n\u00e4hert sie sich einer ad\u00e4quaten Darstellung der in uns liegenden Begriffe. In diesem Sinne stellt Leibniz gelegentlich der wissenschaftlichen eine empirische Geometrie gegen\u00fcber, welche nicht wie jene durch den logischen Beweis, sondern durch die unmittelbare Anschauung zu \u00fcberzeugen sucht. 1) Aus dem gleichen Grunde sch\u00e4tzt er die Euklidische Demonstrationsmethode ; nur scheint es ihm, dass einzelne der Euklidischen Axiome eine Deduction aus abstracteren Axiomen und Definitionen gestatten, und er macht in dieser Beziehung verschiedene Versuche, das Euklidische System zu verbessern.2) Die Thatsache, dass schliesslich auch die Euklidischen Demonstrationen auf die Ueberzeugung durch unmittelbare Anschauung zur\u00fcckf\u00fchren, gesteht er ebensowenig zu, wie den' inductiven Ursprung der einfachsten arithmetischen und geometrischen S\u00e4tze. Solche S\u00e4tze sind nach ihm intuitiv gewiss ; man muss sie anerkennen, sobald man nur die Aufmerksamkeit auf sie wendet.\nDurch die entschiedene Hervorkehrung der begrifflichen Natur der mathematischen Ideen scheidet sich Leibniz wesentlich von Descartes. Freilich hatte auch dieser schon die algebraische Behandlung der Geometrie in der Absicht eingef\u00fchrt, dadurch die geometrischen Gesetze auf eine abstracte und rein begriffliche Form zu bringen; aber er tadelt ebenso die Unf\u00e4higkeit der fr\u00fcheren Algebristen, ihren Formeln eine anschauliche Anwendung zu geben, und seine Geometrie verfolgt daher den doppelten Zweck einer analytischen Untersuchung geometrischer Objecte und einer geometrischen Darstellung algebraischer Gleichungen. Bei Leibniz gilt die analytische Behandlung in jeder Beziehung als die vorz\u00fcglichere. Aus diesem Grunde zieht er schon die Arithmetik als die abstractere Disciplin der Geometrie vor, und unter den Euklidischen Axiomen bevorzugt er diejenigen, die den Charakter abstracter Gr\u00f6\u00dfenaxiome besitzen. So er\u00f6ffnet Leibniz in der Entwicklung der neueren Mathematik jene Periode unbedingter Herrschaft der Analysis, welche sp\u00e4ter in Euler und Lagrange culmi-nirte, und in welcher man es sich zu besonderem Ruhme anrechnete,\n1)\tOpera philos. ed. Erdmann, p. 382.\n2)\tOpera philos. ed. Erdmann, p. 81 Nota. Math. Werke, Ausg. von Gerhardt, VII S. 260 ff. Specimen Geometriae luciferae.","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nVV. Wundt.\nin der Mechanik und wom\u00f6glich sogar in der Geometrie der Figuren entrathen zu k\u00f6nnen. Diese ganze Richtung hat in jener Ansicht von der begrifflichen Natur der mathematischen Principien ihre urspr\u00fcngliche Quelle.\nGerade die Schroffheit, mit welcher Leibniz die nach ihm an sich der Anschaulichkeit v\u00f6llig entbehrenden Grundbegriffe von ihren anschaulichen Anwendungen scheidet, verwickelt nun aber den Realismus in neue Schwierigkeiten. Sind die urspr\u00fcnglichen Ideen selbst anschaulicher Natur, so liefert der psychologische Mechanismus der Reproduction ein immerhin verst\u00e4ndliches Schema f\u00fcr die R\u00fcckbeziehung des unmittelbar Angeschauten auf eine idealere Form. Der abstracte Begriff, mit realer Existenz gedacht, ist aber gegen\u00fcber dem sinnlichen Object ein v\u00f6llig Incommensurables. Diese Anschauung ist mystisch, denn sie setzt hinter die Welt der Vorstellungen noch einmal eine Welt v\u00f6llig unvorstellbarer Ideen, und es bleibt unbegreiflich, wie das vorgestellte Object die unvorstellbare Idee im Bewusstsein soll erwecken k\u00f6nnen. So erschien es denn dringend geboten, die Incongruenz zwischen Idee und Bild wieder zu beseitigen, der Idee ihre anschauliche Natur wiederzugeben, um ihre Beziehung zu den sinnlichen Objecten begreiflich zu machen. Diesen letzten Schritt in der Entwicklung des mathematischen Realismus hat Kant gethan mit seiner Lehre von der reinen Anschauung und den Anschauungsformen.\nEs ist ohne Zweifel einer der gl\u00fccklichsten Griffe Kant\u2019s gewesen, dass er von der vielgestaltigen Menge der einzelnen mathematischen Ideen zur\u00fcckging auf die Grundlagen, auf die sie sich alle beziehen m\u00fcssen, auf die Raum- und Zeitanschauung. Schon die Zahl, die der Mathematiker in den Vordergrund zu stellen pflegt, gibt durch die Zusammenfassung der auf einander folgenden Zeitpunkte dem Begriff der Quantit\u00e4t eine anschauliche Form, und sie ist daher nach Kant ein secund\u00e4res Erzeugniss jenes Begriffsschematismus, welcher \u00fcberall erst die allgemeinen Begriffe durch ihre Darstellung in Formen des Zeitverlaufs anwendbar machen soll auf die sinnliche Erfahrung. Die Bewegung vollends setzt nicht nur Zeit und Raum, sondern auch die Wahrnehmung eines beweglichen Etwas voraus, und er behauptet daher, dass sie im Unterschied von Zeit und Raum, die aller Erfahrung vorausgehen, ein empirischer Begriff sei. 1) Endlich die einzelnen\n1) Kritik der reinen Vern., 2. Auf!., S. 58.","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n109\narithmetischen Operationen, die einzelnen geometrischen Gebilde sind nach Kantischer Auffassung durchaus nur Constructionen innerhalb der reinen Zeit- und Raumanschauung, zu denen wir durch den Eindruck empirischer Objecte veranlasst werden , und bei deren Ausf\u00fchrung wir uns daher ebensolcher Objecte bedienen m\u00fcssen. \u00bbDer Begriff von Zw\u00f6lf\u00ab, sagt Kant, \u00bbist keineswegs dadurch schon gedacht, dass ich mir blo\u00df die Vereinigung von Sieben und F\u00fcnf denke, und ich mag meinen Begriff von einer solchen m\u00f6glichen Summe noch so lange zergliedern, so werde ich doch darin die Zw\u00f6lf nicht antreffen. Man muss \u00fcber diese Begriffe hinausgehen, indem man die Anschauung zu H\u00fclfe nimmt, die einem von beiden correspondirt, etwa seine f\u00fcnf Finger oder (wie Segner in seiner Arithmetik) f\u00fcnf Punkte, und so nach und nach die Einheiten der in der Anschauung gegebenen F\u00fcnf zu dem Begriff der Sieben hinzuthut.\u00ab1)\nDie unendliche Menge mathematischer Ideen, welche der vorangegangene Realismus als ein angeborenes Besitzthum des Geistes angesehen hatte, beschr\u00e4nkt sich also bei Kant auf die reine Raum- und Zeitanschauung. Diese allein sind a priori gegeben, und die Zeitanschauung vermittelt \u00fcberdies noch durch ihre Verbindung mit der Kategorie der Quantit\u00e4t den reinen Begriff der Zahl. Alles Weitere dagegen besteht in Vorstellungen, die durch \u00bbEinschr\u00e4nkungen\u00ab jener allgemeinen Anschauungen entstehen, zu welchen Einschr\u00e4nkungen wir offenbar nach Kant\u2019s Ansicht durch einzelne sinnliche Wahrnehmungen veranlasst werden. Aber wir f\u00fchren nun das sinnliche Object auf dasjenige zur\u00fcck, was von ihm der reinen Anschauung angeh\u00f6rt , und so entsteht eben der Gegenstand des mathematischen Begriffs , der in dem \u00e4u\u00dfern Object nur seine Gelegenheitsursache hat, selbst aber ganz und gar der reinen Anschauung angeh\u00f6rt. Auf diese Weise wird z. B. das sinnliche Dreieck Anlass zur Bildung derldee des geometrischen Dreiecks. Die mathematischen Definitionen und Axiome sind S\u00e4tze, die sich auf die Verbindung der Bestandtheile der reinen Anschauung beziehen, und sie sind daher nach Kant\u2019s pr\u00e4gnantem Ausdruck \u00bbsynthetische Urtheile a priori\u00ab.\nDiese fundamentale Reform der realistischen Lehre unterscheidet sich von der vorangegangenen Gestaltung derselben bei Leibniz haupt-\n1) Prolegomena zu jeder k\u00fcnftigen Metaphysik. Ausg. v. Rosenkranz, S. 19.","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nW. Wundt.\ns\u00e4chlich dadurch, dass der urspr\u00fcngliche Besitzstand des Geistes an mathematischen Ideen nicht mehr als ein begrifflicher, sondern als ein anschaulicher angesehen wird. Kant\u2019s Bem\u00fchen ist daher \u00fcberall darauf gerichtet, die anschauliche Natur der mathematischen Operationen und Demonstrationen darzuthun, und er weist im sichtlichen Gegens\u00e4tze zu Leibniz darauf hin, wie gerade auch bei Euklid der Beweis schlie\u00dflich an die unmittelbare Anschauung appellirt. *) Alle weiteren Unterschiede haben hierin ihre Quelle. Besteht der urspr\u00fcngliche Besitz des Geistes, aus welchem die Mathematik sch\u00f6pft, in Anschauungen und nicht in Begriffen, so erscheint es als eine \u00fcberfl\u00fcssige Belastung, wenn man auch nur jede einzelne fundamentale Idee als eine urspr\u00fcngliche anseh en will; es gen\u00fcgt dann, die allgemeinen Anschauungsformen als angeborene zu betrachten, aus denen sich die einzelnen mathematischen Vorstellungen entwickeln k\u00f6nnen. Damit wird auch der Einfluss der Erfahrungsobjecte ein anderer ; diese w\u00fcrken nicht mehr nach Analogie der psychologischen Reproduction, sondern sie erwecken jene Th\u00e4tigkeit der reinen Einbildungskraft, welche die \u00e4u\u00dferen Objecte gewisserma\u00dfen in die reine Anschauung \u00fcbertr\u00e4gt, indem sie lediglich dasjenige nacherzeugt, was an ihnen der Raumund Zeitform angeh\u00f6rt. Ist auf diese Weise die Th\u00e4tigkeit, welche mathematische Gebilde schafft, von constructiver Natur, so besitzen aber auch noth wendig die mathematischen Fundamentals\u00e4tze den Charakter synthetischer Urtheile. Jene einschr\u00e4nkende Th\u00e4tigkeit, welche die Einbildungskraft an den Anschauungsformen aus\u00fcbt, um die einzelnenOhjecteder mathematischen Betrachtung hervorzubringen, muss zugleich ein Zusammenf\u00fcgen der einzelnen Elemente sein, aus denen die Objecte bestehen. So entsteht jede einzelne Zahl aus der Verbindung ihrer Einheiten, jede geometrische Figur aus der Verbindung der einfacheren Raumgebilde, die zu ihrer Construction verwendet werden. In dieser starken Betonung der synthetischen Grundlagen der Mathematik k\u00fcndet sich in der Lehre Kant\u2019s schon das Ende jener Alleinherrschaft der Analysis an, welche mit Leibniz begonnen hatte.\nVon so unbestreitbarer Wahrheit nunaher auch die Behauptung der synthetischen Natur der mathematischen Fundamen tals\u00e4tze ist, so ist doch die Grundlage, auf welcher das ganze Geb\u00e4ude von Kant\u2019s Philo-\n1) Kritik der rein. Vern. 2. Aufl. S. 39.","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Lieber die mathematische Induction.\nIll\nsophie der Mathematik ruht, die Apriorit\u00e4t der Anschauungsformell, von ihm nicht bewiesen worden. Seine beiden Argumente, dass die Vorstellungen r\u00e4umlicher und zeitlicher Objecte die allgemeinen Vorstellungen von Raum und Zeit als Bedingungen voraussetzen, und dass alle mathematischen S\u00e4tze einen apodiktischen, also \u00fcber die Zuf\u00e4lligkeit der Erfahrung hinausweisenden Charakter besitzen, sind hinf\u00e4llig. Denn allerdings kann das Einzelne in Raum und Zeit nicht vorgestellt werden, ohne dass die Raum- und Zeitanschauung vorhanden w\u00e4ren ; aber dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass sich diese an und mit den einzelnen Vorstellungen gleichzeitig entwickeln, und insofern es keine Anschauungsformen gibt ohne einen Empfindungsinhalt, ist diese letztere Annahme die zun\u00e4chst gebotene. Apodiktisch aber ist das ausnahmslos G\u00fcltige ; der apodiktische Charakter mathematischer S\u00e4tze wird daher vollkommen zureichend durch die That-sache erkl\u00e4rt, dass sie sich auf die constanten Bestandtheile aller Erfahrung beziehen. Hat also auch Kant den anschaulichen und darum synthetischen Charakter der mathematischen Fundamentals\u00e4tze vollkommen richtig erkannt, so hat er doch keineswegs den Beweis geliefert, dass sie synthetischeUrtheile a priori sind. Nun bildet aber letzteres gerade den auszeichnenden Bestandtheil der Kantischen Lehre. Nimmt man die Apriorit\u00e4t der mathematischen Principien hinweg, so m\u00fcndet Kant\u2019s transscendentale Aesthetik in den Strom jener empiristischen Anschauungen, welche sich aus der entgegengesetzten Richtung, der des mathematischen Nominalismus entwickelt haben. Hierin findet die obige Bemerkung, dass diese Richtungen durch dieAusbildung, die sie erfuhren, einander n\u00e4her treten, zun\u00e4chst in Bezug auf den Realismus ihre Best\u00e4tigung.\nWenn nun auch dem entsprechend der Nominalismus sich in entgegengesetzter Weise ver\u00e4ndert hat, so muss doch hervorgehoben werden, dass hier diese Wandlungen mehr an der Oberfl\u00e4che geblieben sind, indem sie mehr den Ausdruck als die Sache selbst treffen. Ein weiter Raum trennt die Anschauungen von Descartes und Kant, und die Lehre des letzteren hat sich fast in allen St\u00fccken im directen Gegensatz zu der seines Vorg\u00e4ngers Leibniz entwickelt. Zwischen Thomas Hohhes und John Stuart Mill dagegen besteht fast nur der Unterschied ungleicher Betonung der verschiedenen Bestandtheile einer im Ganzen \u00fcbereinstimmenden Ansicht.","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nW. Wundt.\nIn seiner Ueberzeugung von dem Werth der mathematischen Methode l\u00e4sst sich Hobbes nur mit Leibniz vergleichen.1) Diese Hochsch\u00e4tzung tritt bei ihm um so augenf\u00e4lliger hervor, je mehr sie gegen seine Auffassung der Grundbegriffe contrastirt. Die Definitionen der Mathematik verdanken ihre Unver\u00e4nderlichkeit allein der Constanz der Namen, mit denen wir die willk\u00fcrlich gebildeten Begriffe festhalten , und die Axiome sind aus den Definitionen abgeleitet, sie besitzen daher weder den Werth von Denkgesetzen noch von objec-tiven Naturgesetzen, sondern sie sind willk\u00fcrliche Festsetzungen, wie die ihnen entsprechenden Definitionen selbst. Der Zweck dieser willk\u00fcrlichen Festsetzungen pflegt aber stets in der isolirten Inbetracht-nahme gewisser Bestandtheile der sinnlichen Objecte zu bestehen. Darum verbessert Hobbes die geometrischen Definitionen Euklid\u2019s: Punkt ist nicht dasjenige, was keine Theile hat, sondern wovon beim Beweis keine Theile in Betracht zu ziehen sind ; eine Linie ist nicht selbst ohne Breite, sondern sie soll beim Beweis so betrachtet werden. Auf diese Weise erscheinen die mathematischen Begriffe durchg\u00e4ngig bei Hobbes als Erzeugnisse einer Abstraction, diese aber ist ihm nicht eine nothwendige Th\u00e4tigkeit des Geistes , sondern sie beruht auf willk\u00fcrlicher Uebereinkunft. Nur hierdurch wird es begreiflich, dass f\u00fcr Hobbes der auszeichnende Charakter der Mathematik nicht in ihrem begrifflichen Inhalt, sondern nur in ihrer Methode besteht. Wie er daher einerseits z. B. der Politik die F\u00e4higkeit zuschreibt, sich zum Rang einer mathematischen Disciplin zu erheben , so sieht er anderseits in jedem streng logischen Denken eine Folge mathematischer Operationen.\nSehen wir so in Hobbes den nominalistischen Gesichtspunkt, die Annahme der willk\u00fcrlichen Feststellung der Begriffe, durchaus vorwalten und die Anerkennung der empirischen Motive derselben ver-h\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig zur\u00fccktreten, so gewinnen dagegen bei Locke diese letzteren das Uebergewicht. Das Element der Willk\u00fcr hat sich bei ihm zu der Anerkennung erm\u00e4\u00dfigt, dass die mathematischen Ideen den Objecten der Wahrnehmung nicht unmittelbar gleich seien, sondern\n1 ) Ich folge in diesen Ausf\u00fchrungen \u00fcber Hobbes im wesentlichen der Darstellung von J. J. Baumann, Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren Philosophie. Berlin 1868, Bd. I, S. 237\u2014357.","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Deber die mathematische Induction.\n113\ndurch freie Variation der durch die \u00e4u\u00dferen Eindr\u00fccke entstandenen allgemeinen Ideen des Baumes, der Zahl u. s. w. gebildet w\u00fcrden. *) Trotz dieses von ihm zugestandenen idealen Charakters der mathematischen Ideen weist aber Locke denselben zugleich eine reale Bedeutung an, da er hervorhebt, die mathematischen S\u00e4tze bes\u00e4\u00dfen eben insofern objective Wahrheit, als die Dinge mit ihren mathematischen Vorbildern in unserm Geiste immer in einem gewissen Grade \u00fcbereinstimmten. 1 2) Sicherlich ist Locke zu diesem Zugest\u00e4ndniss wesentlich durch seine empiristische Neigung gef\u00fchrt worden, welche der Annahme von Principien widerstrebte, deren Anwendbarkeit auf die Erfahrung irgendwie bezweifelt werden konnte. Dennoch kommt gerade dadurch in seine Auffassung der Mathematik ein realistisches Element, welches das nominalistische fast ganz unterdr\u00fcckt. In der That erinnert die Annahme von Archetypen im Geiste, abgesehen von der Behauptung ihrer empirischen Entstehung, stark an Cartesianische Vorstellungen. Fast noch n\u00e4her aber streift Locke durch die entschiedene Betonung der durchaus anschaulichen Natur der mathematischen Ideen und der schlie\u00dflichen R\u00fcckbeziehung aller mathematischen Beweise auf die Anschauung an Kant an. Denn was ist die allgemeine Idee des Baumes hei Locke anderes als eine reine Anschauung, nur dass sie a posteriori entstanden gedacht ist? Vollends aber die Einschr\u00e4nkungen und Variationen dieser Idee sind ein Construiren innerhalb der reinen Anschauung, welches sogar in die logische Form synthetischer Urtheile a priori gebracht werden k\u00f6nnte. In Folge dessen leidet nun die Lehre Locke\u2019s an einem unheilbaren Widerspruch zwischen der empiristischen Grundanschauung und den zum Theil v\u00f6llig rationalistischen Ausf\u00fchrungen im Einzehren. Wenn die Erfahrung die einzige Quelle des Wissens ist, so hleiht es unbegreiflich, wie Ideen entstehen k\u00f6nnen, denen kein ad\u00e4quates Object in der Erfahrung entspricht. Im Grunde hat freilich dieser Widerspruch seine Quelle schon in dem urspr\u00fcnglichen Nominalismus. Hatte dieser noch hei Hobbes als Ursache der Incongruenz zwischen mathematischer Idee und sinnlicher Vorstellung die Willk\u00fcr angenommen, so hatte er\n1)\tEssays, B. II, ch. 13.\n2)\tEbend. B. IV, ch. 4.\nWundt, Philos. Studien.\n8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nW. Wundt.\nes vers\u00e4umt anzugeben, durch welche Motive jene willk\u00fcrlichen Satzungen zu Stande k\u00e4men.\nUm den Widerspruch zu vermeiden, in welchen sich Locke verwickelt, schien nun die Behauptung der Identit\u00e4t der mathematischen Ideen und der sinnlichen Einzelvorstellungen eine naheliegende Auskunft zu sein. Diesen Weg schlug Berkeley ein. Wie er die abstrac-ten Begriffe leugnet, so selbstverst\u00e4ndlich auch die Existenz einer reinen Kaum- und Zeitanschauung. Die vollkommen zu Kecht bestehende psychologische Unm\u00f6glichkeit, das Abstracte als solches im Bewusstsein fcstzuhalten, veranlasst ihn, dem Abstracten auch die logische und erkenntnisstheoretische Berechtigung abzusprechen, und er gelangt dadurch in einen scharfen Gegensatz vor allem zu den Postulaten der mathematischen Wissenschaft. Das Dreieck im Geiste und das wirkliche Dreieck sind ihm eins und dasselbe. Alle zuf\u00e4lligen Eigenschaften des letzteren finden sich in jenem wieder. Auch die geometrische Demonstration hat daher nur dieses sinnliche Dreieck im Auge, und die von demselben bewiesenen S\u00e4tze haben f\u00fcr andere Dreiecke nur insofern G\u00fcltigkeit, als sie ihm gleichen. Die bindende Kraft der mathematischen Folgerungen hat darum nach Berkeley schlie\u00dflich ihren Grund in der Constanz der geometrischen Figuren und der sonstigen Objecte, auf welche sich die Demonstration bezieht.1) Die Schw\u00e4che dieser Begr\u00fcndung liegt offen zu Tage. Als sinnliche Einzelvorstellungen entbehren die mathematischen Objecte durchaus der Unver\u00e4nderlichkeit, die ihnen Berkeley zuschreibt. Sie gewinnen dieselbe gerade erst durch jene Denkacte, durch die unter ihnen abstracte Begriffe gedacht werden, welche Berkeley leugnet.\nAuf dem Boden der Erfahrungsphilosophie gibt es nur Einen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten : die R\u00fcckkehr zu der nominalistischen Anschauung von Hobbes. Sie beginnt mit Hume. Freilich glaubt auch Hume die mathematischen Ideen nicht als blo\u00dfe Erzeugnisse der Abstraction ansehen zu k\u00f6nnen, sondern er gibt ihnen mit Berkeley ein sinnliches Substrat. Aber er h\u00e4lt es nicht f\u00fcr erforderlich, dass jede einzelne Zahl, jede beliebige geometrische Figur aus der Anschauung eines sinnlichen Objects entspringe, sondern er meint, nur die Elemente , mit denen wir unsere Constructionen ausf\u00fchren , m\u00fcssten\n1) Treatise on the principles of hum. knowledge. Introd. und CXI ff.","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n115\nals reale Objecte der Erfahrung gegeben sein.J) So gewinnen wir eine gegebene Zahl durch die wiederholte Setzung eines Punktes, so eine geometrische Curve durch die Aneinanderreihung von Punkten u. s. w. Auf diese Weise ist es der in der Wahrnehmung untheilbare Punkt, auf welchen alle arithmetischen und geometrischen Constructionen als letztes gegebenes Element zur\u00fcckfiihren. Aus diesem Element erzeugen wir aber nach Willk\u00fcr alle mathematischen Vorstellungen, und auf dieser unserer willk\u00fcrlichen Erzeugung beruht schlie\u00dflich die Evidenz der mathematischen Folgerungen.\nSo spielt bei Hume der sicht- und f\u00fchlbare Punkt, die r\u00e4umlich untheilbare, aber stets mit irgend welchen qualitativen Eigenschaften ausgestattete Empfindung, die Rolle eines psychischen Atoms. Dieses Atom entsteht ihm nicht aus einer geistigen Nothwendigkeit, sondern es ist ihm eine Thatsache der sinnlichen Erfahrung. Aber durch Wiederholung und Aneinanderf\u00fcgung dieses Elementes sollen wir in freier Construction alle m\u00f6glichen mathematischen Vorstellungen hervorbringen k\u00f6nnen, wobei wir freilich auch hier durch die Beispiele geleitet werden, die uns in der \u00e4u\u00dferen Erfahrung gegeben sind. Doch die Schwierigkeiten, denen Berkeley\u2019s Anschauung begegnet war, sind durch diese Beschr\u00e4nkung der sinnlichen Objecte der Mathematik auf ein letztes Element derselben keineswegs beseitigt. Denn wie sollen wir voraussetzen, dass dieses Element in allen mathematischen Vorstellungen derselben Art ein constantes bleibe, als welches es doch im mathematischen Denken vorausgesetzt wird, w\u00e4hrend die Sch\u00e4rfe und die sonstigen Eigenschaften unserer Empfindung fortw\u00e4hrend wechseln? Wie vertr\u00e4gt sich ferner die Annahme, dass der mathematische Punkt reale Ausdehnung und sonstige qualitative Eigenschaften, wie Farbe und Festigkeit, habe, mit der \u00fcberall in dem mathematischen Denken festgehaltenen Voraussetzung, dass ihm alles dies nicht zukomme? Wenn die sinnliche Wahrnehmung die einzige Quelle unserer Ideen ist, so d\u00fcrfen wir auch erwarten, alle Bestandtheile der ersteren in diesen wiederum anzutreffen.\nHier gibt es keine andere Rettung, als den R\u00fcckgang auf Hobbes ganz zu vollziehen, einzugestehen, dass die Voraussetzungen der Mathematik abweichen von den sinnlichen Vorstellungen, durch welche sie\n1) Treat, on hum. nat. B. I, 2.\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nW. Wundt.\nangeregt werden, eben darum nun aber auch dem ganzen Aufbau dieser Wissenschaft nur einen hypothetischen Werth beizulegen. Es ist haupts\u00e4chlich das Verdienst John Stuart Mill\u2019s, die Nothwendigkeit dieser Consequenz erkannt zu haben. Seine Anschauungen fallen in allen wesentlichen Punkten mit denjenigen von Thomas Hobbes zusammen, aber die erkenntnisstheoretische Arbeit eines Locke, Berkeley und Hume ist f\u00fcr ihn nicht umsonst gethan. Das sinnliche Dreieck und das Dreieck in unserm Geiste , erkl\u00e4rt auch Mill, sind eins und dasselbe ; einen Punkt ohne Ausdehnung und eine Linie von absolut gerader Richtung gibt es nicht in unserer Vorstellung. *) Gerade darum aber beziehen sich die Definitionen und Axiome der Geometrie weder auf die sinnlichen Objecte noch auf unsere Vorstellungen von denselben, sondern auf rein hypothetische Gebilde, denen sich die sinnlichen Objecte immer nur mehr oder weniger ann\u00e4hern k\u00f6nnen. Jene Definitionen und Axiome haben daher eben insoweit reale G\u00fcltigkeit, als sich die Objecte ihnen wirklich ann\u00e4hem. Nur in Einem Punkte entfernt sich Mill von Hobbes : die Voraussetzungen der Mathematik sind ihm nicht willk\u00fcrliche Fictionen, sondern Hypothesen^ zu denen wir durch die Erfahrung gen\u00f6thigt werden. Doch ist auch dieser Unterschied mein ein scheinbarer als ein wirklicher; denn weder hat Hobbes den Einfluss der Erfahrung geleugnet, noch kann Mill der Anerkennung sich widersetzen, dass die Aufstellung mathemat ischer Hypothesen eine Handlung unseres Willens sei, so gut begr\u00fcndet diese Handlung immerhin sein m\u00f6ge.\nEs ist bemerkenswerth, dass moderne Mathematiker nicht selten aus eigenem Antrieb zu der n\u00e4mlichen Auffassung gedr\u00e4ngt, dabei aber meistens durch Motive bestimmt worden sind, die von dem Empirismus Mill s weit abliegen. Da zahlreiche Objecte mathematischer Speculation ganz und gar imagin\u00e4rer Art sind, also auf Voraussetzungen beruhen, die nicht unmittelbar aus der Erfahrung entspringen k\u00f6nnen, so betrachtet man alle diese Voraussetzungen als Hypothesen oder sogar als willk\u00fcrliche Hypothesen , in unmittelbarer Uebereinstimmung mit Hobbes, an den auch die hiermit zusammenh\u00e4ngende Ansicht Grassmann\u2019s zur\u00fcckerinnert, dass die Mathematik nur Definitionen,\n1) Mill, System der deductiven und induotiven Logik. Uebers. von Schiel. 2. Aufl. I. S. 270ff.","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die mathematische Induction.\n117\nkeine Axiome besitze.l) Da \u00fcbrigens von. den Vertretern der specula-tiven Mathematik zugestanden wird, dass irgend welche imagin\u00e4re Begriffe stets in Operationen ihre Quelle haben, die von den einer realen Veranschaulichung f\u00e4higen arithmetischen oder geometrischen Begriffen ausgehen, so bleibt auch hier in Bezug auf die fundamentalsten Principien die Ansicht Mill\u2019s bestehen, dass dieselben hypothetischer Art, aber aus Anlass bestimmter Erfahrungsobjecte gebildet seien.\nDas logische Verfahren nun, welches aus einzelnen Erfahrungen allgemeine mathematische S\u00e4tze, Definitionen oder Axiome, ableitet, bezeichnet Mill als eine Induction , und er fasst dasselbe als vollkommen \u00fcbereinstimmend mit der Gewinnung physikalischer oder anderer Naturgesetze durch Induction auf. Wie auf physikalischem Gebiet die empirischen Erscheinungen den von uns formulirten Gesetzen immer nur mehr oder weniger sich ann\u00e4hern, so sollen auch die Gesetze der Arithmetik und Geometrie nur eine schematische Bedeutungbesitzen, dadurch aber gerade auf alle m\u00f6glichen Objecte anwendbar sein.\nSo bestechend nun diese Ausf\u00fchrungen auf den ersten Blick erscheinen, so treten doch auch in ihnen die Schw\u00e4chen der nomina-listischen Auffassung deutlich zu Tage. Dass die mathematischen Wahrheiten in irgend einer Art von Erfahrung , mag es nun eine \u00e4u\u00dfere oder innere sein, ihre Quelle haben , wird heute h\u00f6chstens noch von Solchen geleugnet werden, die \u00fcber philosophischen Schlagw\u00f6rtern das Denken verlernt haben. In diesem Sinne wird auch von vornherein zugestanden werden, dass die mathematische Erkenntniss schlie\u00dflich auf Inductionen zur\u00fcckzuf\u00fchren ist. Aber dass nun diese Inductionen in ihrem Wesen v\u00f6llig mit denjenigen \u00fcbereinstimmen sollen, aus denen wir allgemeine Naturgesetze gewinnen, dies ist eine Annahme, welche in der thats\u00e4chlichen Verschiedenheit physikalischer und mathematischer S\u00e4tze ihre Widerlegung findet. Mit Recht hat in neuerer Zeit Baumann hervorgehoben, dass bei der Generalisation von Naturgesetzen die Uebereinstimmung mit der objectiven Erfahrung das Ziel der Untersuchung ist, w\u00e4hrend unsere geometrischen S\u00e4tze\n1) H. Grassmann, Die Ausdehnungslehre von 1844. 2. Aufl. S, XXI.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nW. Wundt.\nsich gerade auf solche Kaumgebilde beziehen, die h\u00f6chstens vor der T\u00e4uschung des ersten Sinnenscheins bestehen bleiben, die aber bei einer genaueren Messung niemals objective Wirklichkeit behalten. *) Man k\u00f6nnte zwar hiergegen einwenden, auch bei einem so allgemeinen Gesetz, wie dem Gravitationsgesetz, werde die Beobachtung um so mehr, je genauer sie ist, Abweichungen auffinden, theils in Folge des Zusammentreffens mit andern Naturgesetzen, theils in Folge der unvermeidlichen Messungsfehler. Aber gerade der Werth, den wir in beiden F\u00e4llen den Abweichungen beilegen, zeigt, dass es sich hier um verschiedene Dinge handelt. Der Physiker sucht die Abweichungen in Folge der Messungsfehler zu eliminiren, diejenigen, die durch andere Naturgesetze bedingt sind, auf ihre Ursachen zur\u00fcckzuf\u00fchren. Den Geometer dagegen st\u00f6ren die Ungenauigkeiten seiner Figuren ebenso wenig wie die Erkenntniss, dass es keine Objecte gibt, die seinen Begriffen vollkommen ad\u00e4quat sind. Flierin liegt eben der Beweis, dass sich seine Inductionen nicht auf \u00e4u\u00dfere Objecte beziehen, sondern nur auf seine eigenen Vorstellungen, und dass hier die Objecte blo\u00df die Kolle von Il\u00fclfsmitteln spielen, welche die Vorstellungen erwecken und darstellen sollen. Doch in Einer Beziehung existirt allerdings eine bemerkenswerthe Analogie zwischen der Generalisation der Naturgesetze und der Aufstellung mathematischer S\u00e4tze. Bei den fundamentalen Naturgesetzen gehen wir im allgemeinen von der Voraussetzung aus, dass sie von einfacher Art sind, dass sie also insbesondere eine einfache mathematische Formulirung zulassen. Nicht minder herrscht in der Mathematik diese Lex simplicitatis. In der Geometrie z. B. gelten der Punkt, die Gerade , die Ebene offenbar deshalb als die Elemente aller Construction, weil sie die einfachsten Gebilde unserer geometrischen Abstraction sind. Aber auch hier besteht ein gewaltiger Unterschied. In der Mathematik ist die Einfachheit der Principien eine selbstverst\u00e4ndliche Voraussetzung. Wo es sich herausstellen sollte, dass ein Princip dieser Voraussetzung nicht gen\u00fcgt, da muss es zerlegt werden, bis dieselbe erf\u00fcllt ist. In der Naturwissenschaft ist die Einfachheit ein Postulat, dem immer nur insoweit nachzugehen erlaubt ist, als die Erfahrung dies gestattet. Da-\nli Baumann, Die Lehren von Kaum, Zeit und Mathematik in der neueren Philosophie.\u2018II, S. 629 ff.","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die mathematische Induction.\n119\nraus geht schon hervor, dass dieses Postulat gar nicht in der Naturwissenschaft selbst seinen Ursprung genommen hat, sondern von au\u00dfen in dieselbe hereingetragen wird. In der That ist leicht zu erkennen, dass dieses naturwissenschaftliche Postulat nirgend anders als in der Mathematik oder in den formalen Gesetzen unserer Zeit- und Raumanschauung entspringt, die das Object der Mathematik sind, wie dies auch die Thatsache andeutet, dass wir f\u00fcr ein Naturgesetz zun\u00e4chst einen m\u00f6glichst einfachen mathematischen Ausdruck zu finden suchen.\nDie Auffassung der mathematischen S\u00e4tze als Generalisationen, die den Generalisationen der Naturgesetze entsprechen sollen , kreuzt sich nun aber au\u00dferdem mit einer fast noch unzul\u00e4ssigeren Anwendung des Begriffs der Abstraction. Da es keine Objecte oder Vorstellungen gibt, die den Begriffen der Einheit, des Punktes, der Geraden u. s. w. vollkommen ad\u00e4quat sind, so liegt es nahe, alle mathematischen Grundbegriffe aus einem Abstractionsprocess hervorgehen zu lassen. So wenig wir nun leugnen, dass die Mathematik auf Inductionen aufgebaut sei, ebenso sind wir weit entfernt, die Bedeutung der Abstraction bei der Aufstellung ihrer Begriffe in Abrede zu stellen. Aber auch hier begeht wieder der Nominalismus den Fehler, dass er diese Abstraction als einen uniformen Process ansieht, der sich in seiner Be-th\u00e4tigung auf mathematischem Gebiete durchaus nicht unterscheide von der Abstraction sonstiger Erfahrungsbegriffe. Nach ihm sollen wir den Begriff der Geraden genau in der n\u00e4mlichen Weise bilden, in welcher in uns etwa der Begriff eines vierf\u00fc\u00dfigen Thieres entsteht. Wie wir bei dem letzteren von allen Merkmalen eines Thieres nur dasjenige der vier F\u00fc\u00dfe festhalten, so sollen wir bei dem Begriff der geraden Linie nicht nur von der verschiedenen Dicke und L\u00e4nge der einzelnen in der Erfahrung gegebenen Linien, sondern auch von ihrer mehr oder minder gro\u00dfen Abweichung von der geraden Richtung ab-sehen und so die Gerade in abstracto \u00fcbrig behalten. Als wenn diese Eigenschaft, gerade zu sein, nicht eben allen einzelnen Linien, die von der geraden Richtung abweichen, fehlte, so dass sie unm\u00f6glich aus ihnen abstrahirt werden kann, sondern offenbar schon vorhanden sein muss, wenn jene Richtungen als ann\u00e4hernd gerade erkannt werden sollen ! Ja Mill stellt gelegentlich die Eigenschaft der Dinge, z\u00e4hlbar zu sein, genau auf Eine Linie mit ihrer Eigenschaft, blau oder hart","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nW. Wundt.\noder s\u00fc\u00df zu sein, mit dem einzigen Unterschiede, dass dieses Merkmal der Z\u00e4hlbarkeit allen Dingen ohne Ausnahme zukomme.l)\nGibt der Nominalismus in seinen Anf\u00e4ngen von der Entstehung der Voraussetzungen, von welchen die mathematische Demonstration ausgeht, gar keine Rechenschaft, so ist die Antwort dieser letzten Entwicklungen desselben ungen\u00fcgend ; denn indem hier haupts\u00e4chlich auf die \u00e4u\u00dferen Gelegenheitsursachen der mathematischen Begriffe Werth gelegt wird, bleiben die wesentlichen logischen Eigenth\u00fcmlich-keiten, die bei der Entstehung dieser Begriffe obwalten , unbeachtet. Wirft auf diese Weise der Nominalismus die mathematischen Begriffe trotz ihrer bedeutsamen Unterschiede mit den gew\u00f6hnlichen Erfahrungsbegriffen zusammen, so reisst aber der Realismus beide so weit auseinander, dass den mathematischen Principien abermals das logische Fundament abhanden kommt. Sie erscheinen entweder , wie in den \u00e4lteren Ansichten, als ein urspr\u00fcngliches Besitzthum des Geistes oder, wie bei Kant, als Erzeugnisse einer in urspr\u00fcnglichen Anschauungsformen frei th\u00e4tigen Einbildungskraft. So werthvoll auch hier der Hinweis auf die Betheiligung des Denkens und der allgemeinen Formen unserer Anschauung ist, so wird doch dabei nicht nur der Einfluss der \u00e4u\u00dfern und innern Erfahrung untersch\u00e4tzt, sondern es fehlt auch jeder Versuch, jener constructiven Th\u00e4tigkeit, welche die mathematische Objecte erzeugt, im Einzelnen nachzugehen und die, logischen Verfahrungsweisen festzustellen, aus denen die mathematischen Begriffsgebilde entspringen, und die schlie\u00dflich allein \u00fcber ihre Unterschiede von sonstigen Vorstellungen werden Rechenschaft geben k\u00f6nnen. Es scheint mir nicht, dass die Kantische Auffassung wesentlich gebessert wird, wenn man, wie es von Baumann geschieht, zwar die mathematischen Ideen auf eine Art innerer Erfahrung zur\u00fcckf\u00fchrt, aber von den Eigenth\u00fcmlichkeiten, durch welche sich Induction und Abstraction auf diesem Gebiet der Erfahrung etwa auszeichnen, keinerlei Rechenschaft gibt. Ebenso wenig d\u00fcrfte es der Sache entsprechen , wenn Baumann die mathematischen Ideen , weil sie einem andern Erfahrungsgebiet angeh\u00f6ren sollen, als die Naturbegriffe, gewisserma\u00dfen von au\u00dfen den letzteren gegen\u00fcbertreten und es nun erst auf eine besondere Pr\u00fcfung ankommen l\u00e4sst, ob sie auf die \u00e4u\u00dfere\n1) Mill, Logik, I, S. 266.","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n121\nErfahrung anwendbar seien oder nicht. ') Denn nicht nach dem Bereich der Objecte, die sie umfassen, trennen sich schlie\u00dflich das mathematische und das physikalische Erfahrungsgebiet, sondern nach den Gesichtspunkten und Methoden, welche sie an wenden. Diese nach einigen ihrer Hauptz\u00fcge zu schildern, soll nun unsere Aufgabe sein. Es dr\u00e4ngt sich aber dabei vor allem eine Bemerkung auf, welche f\u00fcr den Verlauf unserer Untersuchungen bestimmend sein wird. Man wird niemals der logischen Betrachtung mathematischer Principien gerecht werden, wenn man diese f\u00fcr sich nimmt, isolirt von dem Unterbau zahlreicher einzelner Anschauungen und S\u00e4tze, den sie voraussetzen. Am wenigsten wird die Frage nach dem Ursprung der Principien eine solche Untersuchung umgehen k\u00f6nnen. Wir verlassen daher vorl\u00e4ufig diese Frage, um die allgemeinere und doch in gewissem Sinne begrenztere ins Auge zu fassen, wie \u00fcberhaupt mathematische Ueberzeugungen zu entstehen pflegen. Hierauf gibt die Geschichte der Mathematik zwar keine ersch\u00f6pfende Antwort, aber sie enth\u00e4lt doch Andeutungen, welche nicht vernachl\u00e4ssigt werden d\u00fcrfen.\n3. Experimentelle Anf\u00e4nge der Mathematik.\nEine eingehende Untersuchung der logischen Induction liegt jenseits unserer Aufgabe ; es gen\u00fcgt f\u00fcr den gegenw\u00e4rtigen Zweck, festzuhalten, dass sie dasjenige Verfahren ist, durch welches aus einzelnen Thatsachen der Erfahrung allgemeine S\u00e4tze gewonnen werden. Eine Wissenschaft, die zu ihrem Resultate durchg\u00e4ngig auf diesem Wege gelangt, nennen wir eine inductive Wissenschaft. Findet die Ableitung so statt,, dass die einzelnen Thatsachen willk\u00fcrlich von uns variirt werden k\u00f6nnen, so wird die inductive speciell zur experimentellen Wissenschaft. In der Entwicklung des mathematischen Wissens begegnen wir nun mannigfachen Spuren, welche darauf hin-weisen, dass die Mathematik aus experimentellen Anf\u00e4ngen hervorgegangen ist. F\u00fcr diesen experimentellen Character der beginnenden Wissenschaft ist namentlich die Thatsache kennzeichnend, dass zahlreiche S\u00e4tze, f\u00fcr die man sp\u00e4ter deductive Beweise aus allgemeineren Voraussetzungen zu erfinden vermochte, urspr\u00fcnglich auf dem Wege der Induction und der experimentellen Pr\u00fcfung gewonnen wurden.\n1) Baumann, a. a. O. II, S. 650.","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nW. Wundt.\nSo begegnen uns die Spuren einer Induction bei der L\u00f6sung arithmetischer Probleme, die wir jetzt ohne weiteres unter Benutzung der Fundamentaloperationen auf deductivem Wege erledigen. Eine der fr\u00fchesten Aufgaben dieser Art ist die Umwandlung der durch die Theilung eines Ganzen gewonnenen Bruchzahlen in eine Summe einfacherer Br\u00fcche, die ihnen \u00e4quivalent sind, eine Aufgabe, welche schon von den alt\u00e4gyptischen Rechnern mit grosser Fertigkeit, aber offenbar auf experimentellem Wege gel\u00f6st wurde1). Der einfachste Bruch ist derjenige, dessen Z\u00e4hler die Eins ist, weil er unmittelbar das Yerh\u00e4ltniss des Theils zu dem Ganzen angibt. Die Ueberf\u00fchrung in solche Stammbr\u00fcche gew\u00e4hrte eine leichtere Vergleichung verschiedener Theilungen mit einander, und sie spielte daher, wie es scheint, in diesen fr\u00fchesten Zeiten der Mathematik eine \u00e4hnliche Rolle, wie sie heut zu Tage dem entgegengesetzten Verfahren der Umwandlung in Br\u00fcche mit gleichem Nenner zukommt. Aber w\u00e4hrend wir uns zu dem letzteren Zweck einer einfachen, auf die arithmetischen Axiome gegr\u00fcndeten Regel bedienen, fand der \u00e4gyptische Rechner offenbar rein empirisch durch versuchsweise Theilungen, dass beispielsweise 2/3 = y2 + V6 oder 7\u00f6 = Vs + yl5 sei u. s. w. Wie sehr die so gewonnene Tabelle der Induction entsprungen ist, geht am sichersten daraus hervor, dass keinerlei \u00fcbereinstimmende Regel die verschiedenen Theilungen beherrscht, so dass jede einzelne Zerlegung eine besondere Induction erforderte. H\u00f6chstens in solchen F\u00e4llen, wo eine einfache Vervielf\u00e4ltigung des Nenners gen\u00fcgte, um eine schon bekannte Zerlegung in eine neue \u00fcberzuf\u00fchren, mochte man sich wohl durch Anwendung der Multiplicationsregel die einzelne Induction ersparen : so etwa indem man aus der Gleichung 2/3 = 1/2 + 1/6 die andere 2/9 = 1/6 + yi8 oder seihst 2/y9 = y66 + yi9S ableitete. Das \u00e4gyptische Handbuch zeigt aber, dass nicht einmal dieser Weg einfachster Deduction in allen den F\u00e4llen eingeschlagen wurde, in denen er m\u00f6glich gewesen w\u00e4re.\nWir \u00fcbergehen hier die Verwerthungen geometrischer Messungen f\u00fcr arithmetische Zwecke, wie sie in der von der geometrischen Anschauung beherrschten Mathematik der Griechen mannigfach stattfanden, und auf die z. B. die Namen der Quadratzahlen (f\u00fcr die ungeraden Zahlen), der Dreieckszahlen (f\u00fcr die nat\u00fcrliche Zahlenreihe)\n1) M. Cantor, Vorlesungen \u00fcber Geschichte der Mathematik, I. S. 20 f.","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n123\nu, s. w. deutlich hinweisen. Sind auch solche Ableitungen f\u00fcr den empirischen Charakter der fr\u00fchesten Mathematik an und f\u00fcr sich kennzeichnend, so kommen dieselben doch deshalb weniger in Betracht, weil f\u00fcr jene zahlentheoretischen S\u00e4tze auch noch jetzt keine andere als inductive Begr\u00fcndungen m\u00f6glich sind.\nBedeutsamere Spuren einer experimentellen Periode kommen im Gebiete der Geometrie selbst vor. Besonders hier geschah es , dass S\u00e4tze, deren verwickelte Beschaffenheit ihre allgemeing\u00fcltige Erkennt-niss durch Induction ausschlie\u00dft, in gewissen einfacheren F\u00e4llen auf diesem Wege gefunden wurden, so dass der nachfolgenden Deduction nur noch die Aufgabe blieb, einen Beweis zu ersinnen, welcher das in einzelnen anschaulichen Beispielen Erkannte zu einer allgemeinen Wahrheit erhob. Wenn uns berichtet wird, dass die Alten den Satz von der Winkelsumme im Dreieck f\u00fcr jede besondere Form des Dreiecks auch besonders bewiesen , zuerst f\u00fcr das gleichseitige, dann f\u00fcr das gleichschenklige und zuletzt f\u00fcr das ungleichseitige Dreieck, so werden wir hierin die Symptome einer Induction um so weniger verkennen, als f\u00fcr das gleichseitige und gleichschenklige Dreieck, wie schon H. Hankel bemerkte, leicht der unmittelbare Augenschein zur Messung der Winkel f\u00fchren konnte. Denkt man sich das gleichseitige Dreieck so in ein Rechteck eingezeichnet, dass seine Basis mit einer Rechtecksseite zusammenf\u00e4llt, so lehrt leicht die Beobachtung, dass die drei Winkel an der Spitze, welche zusammen zwei Rechten gleich sind, den drei einander gleichen Winkeln des Dreiecks entsprechen. War erst der Satz f\u00fcr diesen einfachsten Fall gefunden, so lag es nahe, ihn nun auch f\u00fcr das gleichschenklige und sodann f\u00fcr jedes beliebige Dreieck durch eine \u00e4hnliche Einzeichnung in ein Rechteck zu pr\u00fcfen. Indem im letzteren Fall die drei Winkel an der Spitze von verschiedener Gr\u00f6\u00dfe wurden, zugleich aber sich' die Verschiedenheit der entsprechenden Dreieckswinkel der Beobachtung aufdr\u00e4ngte, mochte aus dieser Erweiterung der allgemeinere Satz von der Gleichheit derWech-selwinkel entspringen. Die sp\u00e4tere Deduction hat dann das Verh\u00e4lt-niss umgekehrt, indem zuerst der Satz von der Gleichheit der Wechselwinkel und dann aus diesem der von der Winkelsumme im Dreieck abgeleitet wurde t). Dass der pythagor\u00e4ische Lehrsatz offenbar in \u00e4hn-\n1) loh habe hier die Darstellung von Hankel (Zur Geschichte der Mathematik im Alterthum und Mittelalter, Leipzig 1874, S. 96), welche schon beim gleichseiti-","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nW. Wundt.\nlicher Weise zuerst in einzelnen, der Anschauung leicht zug\u00e4nglichen F\u00e4llen auftritt, ist schon mehrfach bemerkt worden. Oh man auch hier den Weg geometrischer Versuche eingeschlagen, wie Hankel annimmt, oder oh man, was Cantor vermuthet, zuerst an dem Dreieck von den Seitenlangen 3, 4, 5 den Satz als einen arithmetisch-geometrischen entdeckte, ist f\u00fcr die hier besprochene Frage ohne wesentliche Bedeutung !).\nUebrigens ist leicht ersichtlich, wie dieses experimentelle Verfahren, nachdem erst ein Satz in seiner allgemeing\u00fcltigen Form gefunden war, nun zugleich die H\u00fclfsmittel zur Deduction desselben an die Hand gab. Bedeutungsvoll ist in dieser Beziehung namentlich die Anwendung der geometrischen H\u00fclfsconstruction. Das Zeichnen von H\u00fclfslinien tritt durch seine probeweise Anwendung zun\u00e4chst noch ganz als ein experimentelles H\u00fclfsmittel auf. Aber dieses Verfahren steht zugleich auf der Schwelle zur Deduction, da der Gedanke nahe liegt, die n\u00e4mlichen H\u00fclfsmittel, die zur inductiven Auffindung eines Satzes gedient haben, nun auch sofort zur Beweisf\u00fchrung zu benutzen. So ist es denn begreiflich, dass im einzelnen Fall h\u00e4ufig nicht mehr entschieden werden kann, ob eine bestimmte H\u00fclfsconstruction sogleich in deductiver oder urspr\u00fcnglich in inductiver Absicht gebraucht wurde. Gibt man sich aber Rechenschaft \u00fcber den Weg, den heute noch Jeder bei der L\u00f6sung einer geometrischen Aufgabe einschl\u00e4gt, so kann es nicht zweifelhaft sein, dass die Construction \u00fcberall zun\u00e4chst in experimenteller Absicht ge\u00fcbt wird, als ein Erproben, welches manchmal erst nach vielen vergeblichen Versuchen zum Ziel f\u00fchrt. Ist auf diesem Wege die G\u00fcltigkeit gewisser S\u00e4tze festgestellt, so kann man erst zur Aufsuchung der zweckm\u00e4\u00dfigsten Constructionen \u00fcbergehen und auf diese Weise die n\u00e4mlichen H\u00fclfsmittel auch der Deduction dienstbar machen. Die Zuf\u00e4lligkeit der Methode, welche so vielfach bei den Constructionen Euklid\u2019s auff\u00e4llt, tr\u00e4gt noch deutliche Spuren jenes tastenden Verfahrens an sich, das man bei den ersten geometrischen Inductionen befolgen musste. Ja selbst darin\ngen Dreieck einen Beweis aus der Gleichheit der Wechselwinkel voraussetzt, durch eine noch anschaulichere Construction ersetzt, die es gestattet, den allgemeineren Satz erst auf den specielleren folgen zu lassen, ein Weg, der dem inductiven Charakter der fr\u00fchesten Mathematik noch besser entsprechen d\u00fcrfte.\n1) Hankel, a. a. O. S. 9S. Cantor, a. a. O. S. 153.","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n125\nzeigen sich hei diesem gro\u00dfen Geometer die Nachwirkungen der in-ductiven Periode, dass er nicht ganz selten ein allgemeines Theorem in mehrere F\u00e4lle zerlegt, f\u00fcr die er einzeln den Beweis f\u00fchrt ').\n4. Bleibende Formen der mathematischen Induction.\nObgleich hei der weiteren Ausbildung der mathematischen Wissenschaften und ihrer Methoden die Induction im Vergleich mit der Bedeutung, die ihr f\u00fcr die ersten Anf\u00e4nge zukam, zur\u00fcckgetreten ist, so bleibt sie doch fortan gerade bei den fundamentalsten S\u00e4tzen, auf welche schlie\u00dflich alle andern zur\u00fcckf\u00fchren, wirksam. So sind die allgemeinsten Aufgaben der Zahlentheorie nur dadurch zu l\u00f6sen, dass man gewisse einfache Bechenoperationen in einer Anzahl von F\u00e4llen wirklich ausf\u00fchrt, und die Theoreme, zu denen solche L\u00f6sungen f\u00fchren, lassen eine andere als diese inductive Begr\u00fcndung nicht zu. Die Kenntniss der Primzahlen verdankt man keinem andern Verfahren als der empirischen Ermittelung, dass gewisse Zahlen nur durch sich seihst und durch die Einheit theilhar sind. In gewissen Untersuchungen der Zahlentheorie wird aber die Induction dadurch verdeckt, dass sie in in direct er Weise Anwendung findet, indem man rascher durch ein Ausschlie\u00dfungsverfahren als durch directe Induction zu einem bestimmten Resultate gelangt. Handelt es sich z. B. darum, zu irgend einer Zahl\u00bb? diejenigen Primzahlen zu finden, die nicht in m aufgehen, so pflegt man zun\u00e4chst empirisch die Zahlen a, b, c ... zu bestimmen, welche Primfactoren zu m sind ; es haben dann nothwendig auch die\nm\t.\t.\t. .m m m\nMultipla dieser Zahlen 2a, 3a . . . \u2014 a u. s.w., deren Anzahl\u2014, -\u00ff \u2014.., ist, die Eisenschaft, Divisoren von m zu sein. Hat man also a und\n7\t-\tO\t/\n7\u00cfI\nseine Multipla ausgeschlossen, so ist m \u2014 \u2014 die Anzahl der aus dem ganzen Complex 1, 2, 3 . .. m zur\u00fcckbleibenden Zahlen, ebenso, wenn die \u00e8-Reihe ausgeschlossen wird, m \u2014 ~ oder allgemein: die Anzahl der s\u00e4mmtlichen relativen Primzahlen zu m ist\n1) Vgl. i. B. B. I 26, II 33, 35, 36, IV 5, V 6, 8, 20, 21 u. s. w.","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nW. Wundt.\nHier ist die inductive Ermittelung der Primfactoren benutzt worden, um auf k\u00fcrzerem \"Wege zum Ziel zu gelangen, als dies m\u00f6glich gewesen w\u00e4re, wenn man direct die relativen Primzahlen zu m durch Divisionsversuche bestimmt und gez\u00e4hlt h\u00e4tte. Das Verfahren ist daher auch keine reine Induction mehr, sondern, nachdem die Primfactoren inductiv gefunden sind, ist alles weitere eine einfache Deduction aus dem Satze, dass alle diejenigen unter m gelegenen Primzahlen, welche nicht Factoren von m sind, nothwendig relative Primzahlen zu m sein m\u00fcssen.\nGleicher Weise sind die grundlegenden S\u00e4tze der Combinations-lehre und der Analysis aus Inductionen hervorgegangen. Nur die unmittelbare Wahrnehmung, dass zwei Elemente in 2, drei in 6, vier in 24 Stellungen Vorkommen k\u00f6nnen u. s. f., hat zu dem allgemeinen Gesetze gef\u00fchrt, dass 1. 2. 3 . . . n die Zahl der Permutationen von \u00abElementen sei. Alle Reihenentwicklungen st\u00fctzen sich auf die Beobachtung, dass gegebene Gro\u00df en Verbindungen eine Zerlegung zulassen, welche entweder bei einem bestimmten Gliede ihren Abschluss erreicht, wie die Newton\u2019sche Binomialformel, deren Gliederzahl von der Potenz abh\u00e4ngig ist, oder ins unbestimmte fortgesetzt werden kann, wie die Reihe\n_L_ = ! _|_ * + *2 +*3\ndie man durch wirkliche Ausf\u00fchrung der Division von 1 durch 1 \u2014 x gewinnt, und deren letztes Glied immer wieder eine weitere Zerlegung zul\u00e4sst. Nur weil durch experimentelle Verfahrungsweisen dieser Art thats\u00e4chlich solche Reihen gebildet werden, l\u00e4sst sich die Voraussetzung rechtfertigen, dass \u00fcberhaupt jede Gr\u00f6\u00dfenfunction eine Reihenentwicklung gestattet. Diese Voraussetzung f\u00fcr jeden einzelnen Fall besonders zu beweisen, ist dann allerdings nicht mehr n\u00f6thig, sondern es gen\u00fcgt, dass der Erfolg ihre Richtigkeit ohne Ausnahme best\u00e4tigt.\nBei geometrischen Betrachtungen pflegt die inductive Grundlage verborgener zu bleiben, weil wir geneigt sind, sofort zuzugeben, dass irgend eine einzelne Wahrheit durch die allgemeinen Eigenschaften\n1) Lejeune-Dirichlet, Vorlegungen \u00fcber Zahlentheorie. 2.aAufl. S. 19 f.","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n127\ndes Baumes als eine selbstverst\u00e4ndliche Folge gegeben sei. Dabei darf aber doch nicht \u00fcbersehen werden, dass darum nicht minder die fundamentalsten S\u00e4tze, in denen jene Eigenschaften zur Darstellung gelangen, nur durch Induction sich feststellen lassen und erst, nachdem sie gefunden sind, auf gewisse Axiome zur\u00fcckgef\u00fchrt werdenk\u00f6nnen, sofern sie nicht selbsteinenaxiomatischen Charakter besitzen. F\u00fcr solche S\u00e4tze wie die folgenden : zwei Gerade k\u00f6nnen nur einen Punkt, zwei Ebenen nur eine einzige Gerade mit einander gemein haben, die Lage einer Ebene ist durch einen Punkt und eine au\u00dferhalb desselben liegende Gerade bestimmt, durch die Punkte auf einer Geraden und einen au\u00dferhalb liegenden Punkt kann in der ihnen angeh\u00f6renden Ebene nur ein einziges Strahlenb\u00fcschel gelegt werden u. s. w., f\u00fcr solche S\u00e4tze gen\u00fcgt die Berufung auf die unmittelbare Anschauung, welche sich mit der Ueberzeugung verbindet, dass in allen F\u00e4llen, in denen die betreffenden Raumgebilde in den angegebenen Relationen wahrgenommen wurden, jene S\u00e4tze sich best\u00e4tigt fanden.\nGerade bei solchen einfachen S\u00e4tzen, welche entweder selbst unter die Axiome gerechnet werden oder ihnen nahe stehen, ist es nun ein altes Bestreben der Mathematiker, die Spuren der Induction zu verwischen. Dies geschieht entweder, indem man hervorhebt, dass eine einmalige Beobachtung zu ihrer Feststellung vollkommen zureichend sei, oder indem man an Stelle der Induction eine Beweisf\u00fchrung treten l\u00e4sst.\nDer erste dieser Einw\u00e4nde \u00fcbersieht den naheliegenden Umstand, dass die Erfahrungen, aus denen wir die Ueberzeugung von der Richtigkeit der einfachsten arithmetischen und geometrischen S\u00e4tze gesch\u00f6pft haben, zum gro\u00dfen Theil von uns in einer Zeit gemacht wurden, die der wissenschaftlichen Induction lange vorausgeht. Den Charakter der Allgemeinheit wird man solchen S\u00e4tzen wie der Additionsformel 7 + 5 = 12 oder dem geometrischen Satz, dass zwei Gerade nie mehr als einen Punkt gemein haben, nicht absprechen d\u00fcrfen, denn der erste ist f\u00fcr alle m\u00f6glichen Gruppirungen von 7 und 5 Einheiten, der zweite f\u00fcr alle m\u00f6glichen Geraden im Raum giltig. Eben deshalb aber ist es nicht denkbar, dass man zur Feststellung dieser S\u00e4tze anders als durch ein mehrfaches Experimentiren in der innem oder \u00e4u\u00dfern Erfahrung gelangt sei. Nur eine Mehrheit von Anschauungen konnte lehren, dass, wie man auch die einzelnen Einheiten der","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nW. Wundt.\nZahlen 7 und 5 aneinanderf\u00fcge, die resultirende Anschauung immer die n\u00e4mliche Summe von Einheiten enthalte, oder dass, wie man auch die Richtungen der Geraden sich \u00e4ndern lasse, niemals ein Bild mit zwei Durchschnittspunkten entstehen k\u00f6nne.\nNicht besser steht es mit den Beweismethoden, durch welche man den experimentellen Ursprung gewisser Erkenntnisse zu verh\u00fcllen sucht. Diese setzen entweder, indem sie apagogischer Art sind, in Wirklichkeit das zu Beweisende voraus, oder sie enthalten selbst nichts anderes als die Schilderung eines Inductionsverfahrens. In beide Gattungen geh\u00f6ren die Euklidischen Congruenzbeweise. Der \\ersuchte Beweis f\u00fcr die Congruenz zweier Dreiecke besteht hier darin, dass man angehalten wird, die gleichen St\u00fccke zur Deckung zu bringen, worauf, wenn die drei Seiten gleich sind, die unmittelbare Anschauung lehren soll, dass auch die ganzen Dreiecke zusammenfallen (I, Satz 8), oder falls zwei Seiten und der eingeschlossene Winkel, eine Seite und zwei Winkel gleich sind, so wird gezeigt, dass die Vor-aussetzung der Nichtcongruenz dem Axiome, nach welchem zwei Gerade keinen Raum einschlie\u00dfen, widersprechen w\u00fcrde (Satz 4 und 26). Es ist klar, dass auch dieser apagogisclie Beweis der Berufung an die unmittelbare Erfahrung nur eine andere Wendung gibt; denn ich wei\u00df ja nur aus der Anschauung, dass das Dreieck eine geschlossene Figur ist, der Beweis sagt also blo\u00df, dass die Nichtcongruenz meiner Anschauung widersprechen w\u00fcrde.\nAehnlich verh\u00e4lt es sich mit den f\u00fcr gewisse arithmetische Fundamentals\u00e4tze versuchten Beweisf\u00fchrungen. Das so genannte Associationsgesetz der Addition und Multiplication, wonach (\u00ab'4- b) -)- c = a + [b + c) und (ab), c \u2014 a. (bc) ist, beweist man f\u00fcr beliebig viele Zahlen, indem man zeigt, dass es, wenn es f\u00fcr eine gegebene Anzahl von Elementen richtig ist, auch f\u00fcr die n\u00e4chst gr\u00f6\u00dfere Anzahl richtig sein m\u00fcsse1). Dieses in der Mathematik als vollst\u00e4ndige Induction bezeich-nete Verfahren ist in der That insoweit eine Induction, als die Voraussetzung, das Gesetz sei f\u00fcr eine gegebene Anzahl zutreffend, nur aus experimentellen Ermittelungen hervorgegangen sein kann. Nur ist es nicht zul\u00e4ssig, diese Voraussetzung wie eine vorl\u00e4ufige Hypothese einzuf\u00fchren, die durch die nachtr\u00e4gliche Ausdehnung auf eine beliebige\n1) Lej eune-Di\u00efichlet, a. a. O. S. 3.","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n129\nAnzahl von Gliedern, welche in Wahrheit keine Induction mehr ist, ihre Best\u00e4tigung erst empfangen. Diese Best\u00e4tigung w\u00fcrde nichts beweisen , wenn der Satz nicht durch Erfahrungen, die sich auf eine beschr\u00e4nkte Anzahl von Gliedern beziehen, vollkommen festst\u00e4nde. Aber es ist eine bemerkenswerthe Eigenthiimlichkeit der modernen Mathematik, dass sie es liebt, die Erfahrung zu verleugnen, indem sie, um ihren deductiven Charakter zu wahren, S\u00e4tze als Hypothesen behandelt, die in Wirklichkeit durch Induction aus der Erfahrung entstanden sind. Sehr augenf\u00e4llig tritt dies an einer apagogischen Beweisf\u00fchrung hervor, welche man f\u00fcr den mit dem Associationsgesetz nahe zusammenh\u00e4ngenden Satz versucht hat, dass, wenn zwei Zahlen A und B aus der n\u00e4mlichen Anzahl von Einheiten bestehen, keine eindeutige Verkn\u00fcpfung zwischen ihnen m\u00f6glich ist, bei welcher ein Rest bleibt. Man nimmt an, das Gegentheil w\u00e4re m\u00f6glich : es soll neben der Verbindung, die keinen Rest l\u00e4sst, noch eine andere stattfinden k\u00f6nnen, bei welcher etwa von B eine Einheit b \u00fcbrig bleibt. Nun nehme man dieses Element b aus der ZahlB und entsprechend das Element\u00ab, mit dem es bei der restlosen Verkn\u00fcpfung verbunden war, aus A weg: es wird dann vorausgesetzt, dass zwischen den gebliebenen Zahlen \u00c4 und B' wieder zwei Verkn\u00fcpfungen, die eine mit einem Rest und die andere ohne einen solchen m\u00f6glich seien, und es sollen nun die einander entsprechenden Elemente l' und a weggenommen und so fortgefahren werden, bis von jeder der beiden Zahlen nur noch eine Einheit \u00fcbrig bleibt. Dass nun zwischen zwei Einheiten mehr als Eine Art der Verbindung nicht stattfinden kann, ist unmittelbar einleuchtend, und es wird daher gefolgert, dass auch zwischen Zahlen aus beliebig vielen Einheiten nicht zwei Verbindungen m\u00f6glich sind1). Der Schluss dieses Beweises ist offenbar eine demonstratio ad oculos, welche allerdings am einleuchtendsten bei blo\u00df zwei Einheiten wird, aber im Allgemeinen auch schon bei Gruppen von je 2, 3 oder \u00fcberhaupt einer kleineren Zahl von Einheiten deutlich genug sein d\u00fcrfte. Es handelt sich, wie bei den Congruenzbeweisen Euklid\u2019s, um eine Berufung an die Anschauung, welche in das Gewand der apagogischen Beweisf\u00fchrung gekleidet ist. Das wirkliche Inductionsverfahren wird hierbei umgedreht. W\u00e4hrend das letztere von den einfachsten F\u00e4llen ausgeht,\n1) Ernst Schr\u00f6der, Lehrbuch der Arithmetik und Algebra. I, S. 19 t. Wnndt.Philoe. Studien. I.\t9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nW. Wundt.\nwird hier der zusammengesetzte Fall bis zum einfachsten zur\u00fcckver-folgt. Es bedarf hiernach nicht mehr der n\u00e4heren Ausf\u00fchrung, dass auch die \u00fcbrigen allgemeinen Gesetze der Zahlen Verkn\u00fcpfung, das Commutations-und das Distributionsgesetz, a -f- b = b + a, a b = ha, [a -\\- b) c \u2014 ac -f- bc u. s. w., andere als inductive Begr\u00fcndungen nicht zulassen.\nNur auf einen Specialfall der Multiplication mag hier deshalb noch hingewiesen werden, weil bei demselben die Verkennung des in-ductiven Charakters der betreffenden Wahrheit zu sehr merkw\u00fcrdigen Beweisversuchen den Anlass geboten hat. n\u00e4mlich auf die Multiplicationsregel, wonach das Vorzeichen eines Productes aus zwei Factoren positiv ist, wenn beide Factoren ein gleiches, negativ, wenn sie ein verschiedenes Vorzeichen besitzen. Wenn man es auch f\u00fcr selbstverst\u00e4ndlich hielt, dass -\\-a. -\\-b = -\\-ab und allenfalls + a . \u2014 b= \u2014 ab sei, so wurde doch lange Zeit das Product \u2014 a . \u2014 b \u2014 ab f\u00fcr eine Art von Paradoxie gehalten, und'noch in der modernen Analysis kann man Ausf\u00fchrungen begegnen, welche sich begn\u00fcgen darauf hinzuweisen, dass \u2014 a. \u2014 b noth wendig das entgegengesetzte Vorzeichen zu + a. \u2014 b empfangen m\u00fcsse, eine Begr\u00fcndung, welche man, obgleich die hervorragendsten Mathematiker des vorigen Jahrhunderts, ein Euler und Laplace, f\u00fcr sie eingetreten sind, doch eine zureichende nicht wird nennen k\u00f6nnen. Auch, wie es zuweilen geschieht, als blo\u00df willk\u00fcrliche Voraussetzungen, deren Berechtigung erst durch den Erfolg bewiesen werde, k\u00f6nnen jene Gleichungen nicht gelten, da eben ihre erfolgreiche Anwendung auf eine Berechtigung hinweist, die sie an und f\u00fcr sich schon besitzen m\u00fcssen. Willk\u00fcrlich ist nur der Gebrauch der Vorzeichen plus und minus f\u00fcr gewisse reale Gegens\u00e4tze der durch Zahlen messbaren Objecte, wie der Werthgr\u00f6\u00dfen, der Richtungen im Raume u. dgl. Gleichwohl ist gerade dieser Gebrauch lediglich aus der Beobachtung der z\u00e4hlbaren Objecte hervorgegangen. Die Verkn\u00fcpfung zwischen den Gr\u00f6\u00dfen a und b ist in den drei F\u00e4llen die n\u00e4mliche, darum erscheint auch immer das n\u00e4mliche Product a.b. Aber die Gleichung + a . \u2014 b = \u2014 ab bedeutet, dass die Richtung der Gr\u00f6\u00dfe b, welche a-mal genommen werden soll, entgegengesetzt sei einer andern Richtung des n\u00e4mlichen Gr\u00f6\u00dfencontinuums, die mit b bezeichnet wurde, daher nothwendig auch die aus der Vervielf\u00e4ltigung hervorgehende Gr\u00f6\u00dfe einen negativen Werth haben muss. Das","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n131\nn\u00e4mliche Resultat gewinnt man, wenn umgekehrt, entsprechend der Gleichung \u2014 a ,-\\-b \u2014 \u2014 ai, eine positive Gr\u00f6\u00dfe b a-mal aufgehoben gedacht wird, wenn z. B. eine Summe von b Wertheinheiten a-mal hinweggenommen wird : die Gesammtsumme der hinweggenommenen Wertheinheiten ist hier abermals \u2014 \u2014 a b, weil von vornherein die Aufhebung der urspr\u00fcnglich gesetzten Gr\u00f6\u00dfen negativ bezeichnet wurde. Die Gleichung \u2014 a . \u2014 b \u2014 -\\- ab endlich sagt aus, dass eine negative Gr\u00f6\u00dfe b a-mal aufgehoben gedacht wird, dass also z. B. ein Verlust vom Werthe b a-mal wieder ersetzt oder ein in r\u00fcckl\u00e4ufiger Richtung gemessener Weg b in rechtl\u00e4ufiger Richtung a-mal zur\u00fcckgelegt sei. Hier muss mit derselben Sicherheit ein positives Product a. b erscheinen, als \u00fcberhaupt eine doppelte Negation verschwindet, eine allgemein logische Regel, von welcher der mathematische Fall eine Anwendung ist. Dieser Zusammenhang mit dem Satz des Widerspruchs beweist nichts gegen den inductiven Ursprung der Multiplicationsgesetze, da ja die logischen Axiome selber nicht nur gleichzeitig Gesetze des Denkens und der Objecte des Denkens, sondern auch unter dem Einfluss dieser Objecte entstanden sind. Auch wird durch den inductiven Ursprung der Multiplicationsregeln keineswegs ausgeschlossen, dass einzelne unter ihnen deducirt werden k\u00f6nnen, wenn die andern gegeben sind. Vielmehr wird, sobald nur die gegebenen Regeln eine vollst\u00e4ndige Definition der positiven und der negativen Einheiten enthalten, eine solche Deduction m\u00f6glich sein. In der That l\u00e4sst sich aus den beiden Gleichungen -\\-a. -\\-b \u2014 -\\-ab und+a \u2014\u25a0 a=0 die zweite und dritte Multiplicationsregel ableiten b. Die M\u00f6glichkeit\nIj Eine solche Ableitung gibt, nach einer Mittheilung von Kossak {Die Elemente der Arithmetik, Berlin 1872), Weierstrassin seinen Vorlesungen. Bezeichnet man mit e und e' entgegengesetzte Einheiten, so gelten die Voraussetzungen e \u25a0 e = e und e + e' = 0.\nIst nun a eine beliebige Gr\u00f6\u00dfe, so ist\na = a + e + e', ae \u2014 ae-\\- ee + ee'.\nae=ae + e-\\-e',\nee' \u2014 e\u2019.\na \u2014 a -(- e -f- e', ae' \u2014 a e' + ee' -f- e'e', a e\u2019 = a e' + e' + e, e'e' = e.\nEs ist aber auch also\nEbenso hat man\n\u25a0also\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nW. Wundt.\ndieser Deduction beweist aber nat\u00fcrlich nur, dass, nachdem die erste Regel und der Begriff der entgegengesetzten Zahlen durch Inductioff und Abstraction aus der Erfahrung gefunden sind, man sich dib besondere inductive Auffindung der \u00fcbrigen ersparen kann.\nSuchen wir das Gebiet zu umgrenzen, welches die mathematische Induction durch Bedingungen, die in der Natur der Sache liegen-, dauernd beanspruchen muss, so erweisen sichzun\u00e4chst alle axiom\u00e4t tischen S\u00e4tze als solche, die nicht nur regelm\u00e4\u00dfig durch Induction entstehen, sondern f\u00fcr die auch fortan keine andere Begr\u00fcndung gegeben werden kann. Der Umstand, dass die mathematischen Axiome im allgemeinen nur Umformungen der Definitionen sind, die sich von Zahl, Gr\u00f6\u00dfe, Raum u. s. w. aufstellen lassen, \u00e4ndert an dieser Sach\u00bb-l\u00e4ge nichts. Denn auch f\u00fcr die Definitionen l\u00e4sst kein anderer Ursprung sich nach weisen als die Abstraction aus der Erfahrung. Seihst f\u00fcr die Definitionen rein imagin\u00e4rer Gebilde hat dies Geltung, da dieselben von den durch Abstraction gewonnenen Fundamentalbegriffen ausgehen, die dann willk\u00fcrlich in Bezug auf irgend welche Eigenschaften ver\u00e4ndert gedacht werden. Insofern die mathematischen Definitionen ausschlie\u00dflich auf die Abstraction, die Axiome au\u00dferdem noch auf die Induction zur\u00fcckf\u00fchren, offenbart sich jedoch der Unterschied beider S\u00e4tze von einer bedeutsamen Seite. Die Axiome werden regelm\u00e4\u00dfig zuerst festgestellt. So ist die Wissenschaft lange Zeit im Besitz gewisser Axiome \u00fcber Raum, Zahl und Gr\u00f6\u00dfe gewesen, ehe es gelang, befriedigende Definitionen dieser Begriffe zu gewinnen. In dem Abstractionsprocess, welcher zu denselben f\u00fchrte, spielten Axiome eine wichtige Rolle. Ohne die S\u00e4tze z. B., dass die Gerade zwischen zwei Punkten die k\u00fcrzeste Linie sei, dass jedes Raumgebilde bei beliebiger Verschiebung im Raum sich selbst congruent bleibe, w\u00fcrde eine allgemeine Definition des Raumes gar nicht m\u00f6glich gewesen sein. Kann man nun aber auch, nachdem diese Definition aufgestellt ist, aus derselben durch eine blo\u00df formale Umwandlung die Axiome gewinnen, so f\u00fchrt doch jeder Versuch, die Richtigkeit der letzteren nachzuweisen, wiederum auf die n\u00e4mlichen Inductionen zur\u00fcck, aus denen sie urspr\u00fcnglich entstanden waren.\nN\u00e4chst den Axiomen verdanken sodann solche S\u00e4tze einer Induction ihren Ursprung, welche alsunmittelbareSpecialisirungen der Axiome betrachtet w'erden k\u00f6nnen. Hierher geh\u00f6ren alle Zahl-","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n133\nformein, wie 7 -(- 5 = 12, 5 . 6 = 30 u. dergl., alle auf die einfachsten Raumconstructionen sich beziehenden S\u00e4tze der synthetischen Geometrie, wie z. B. dass zwei Gerade in einem Punkt, zwei Ebenen in einer Geraden sich schneiden, dass alle Strahlen, die durch einen Punkt und eine Gerade gelegt werden, in einer einzigen Ebene liegen u. s. w. Von den eigentlichen Lehrs\u00e4tzen unterscheiden sich diese Fundamentals\u00e4tze dadurch, dass sie, hierin den Axiomen gleichend, keinen Beweis zulassen, sondern nur in dem unmittelbaren Hinweis auf die Anschauung ihre Begr\u00fcndung finden. Von den Axiomen dagegen sind sie insofern verschieden, als diese die allgemeinsten Ab-stractionen aus jenen s\u00e4mmtlichen in der unmittelbaren Anschauung gegebenen S\u00e4tzen darstellen. Die letzteren lassen sich daher auf die Axiome zur\u00fcckf\u00fchren, aber sie gestatten keinen eigentlichen Beweis aus denselben, da bei ihnen stets neue Elemente der Anschauung auf-treten, welche in den Axiomen noch nicht enthalten sind. Der Begriff der mathematischen Axiome ist darum ungen\u00fcgend bestimmt, wenn man sie blo\u00df negativ als diejenigen S\u00e4tze bezeichnet, welche einen Beweis aus anderen S\u00e4tzen nicht zulassen. Vielmehr werden durch dieselben die allgemeinsten Gesetze festgestellt, von welchen die verschiedenen mathematischen Begriffsgebiete beherrscht sind, und mit denen alle einzelnen S\u00e4tze in Uebereinstimmung stehen m\u00fcssen. Sie sind daher Verallgemeinerungen aus den durch Induction gefundenen und nur durch Induction erweisbaren einzelnen Thatsachen der mathematischen Anschauung. Die Axiome selbst lassen sich, eben weil sie v\u00f6llig abstracte S\u00e4tze sind, nur in diesen ihren einzelnen Anwendungen in der Anschauung nachweisen. Das Additionsgesetz z. B. hat f\u00fcr uns eine anschauliche Wirklichkeit nur insofern, als wir es uns an einzelnen Additionsformeln deutlich machen. Den Satz von der Con-gruenz des Raumes mit sich selbst m\u00fcssen wir auf concrete Raumgebilde anwenden, die wir uns im Raume bewegt oder zur Deckung gebracht denken, und alle einzelnen Congruenzs\u00e4tze sind solche Anwendungen.\nEin drittes Gebiet der Induction bilden endlich diejenigen allgemeinen S\u00e4tze, die aus Einzelinductionen der soeben beschriebenen Art durch Generalisation hervorgegangen sind. Bei der Fest-stellung des Gesetzes, nach welchem die Primfactoren einer Zahl sich bestimmen lassen, oder der Anzahl der Combinationen, welche eine bestimmte Zahl von Elementen gestattet, oder der Form, nach welcher","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nW. Wundt.\neine durch empirische Entwicklung gefundene Reihe fortschreitet, ist das inductive Verfahren so augenf\u00e4llig, dass es l\u00e4ngst Anerkennung gefunden hat. Es ist aber klar, dass es sich hierbei nur um eine Weiterf\u00fchrung der einfachen Inductionen der vorhin beschriebenen Art handelt. Durch einfache Induction erh\u00e4lt man z. B. die Zahlformel 1 -f- 3 = 4 , durch eine mehrmalige Wiederholung solcher Inductionen die Glieder einer arithmetischen Reihe 1, 4, 7, 10, 13 . . ., und aus der Betrachtung dieser und \u00e4hnlicher Reihen gewinnt man durch Generalisation den Satz, dass das nte Glied einer arithmetischen Reihe = a + [n \u2014 1) d ist, wenn mit a das erste Glied und mit d die constante Differenz bezeichnet wird. So bilden j ene Specialisirungen der mathematischen Axiome, wie sie uns in den Zahlformeln, in den auf die einfachsten Constructionen zur\u00fcckgehenden geometrischen S\u00e4tzen entgegentreten, den Anfang aller mathematischen Induction. Auf der einen Seite gehen aus ihnen durch Abstraction die Axiome, auf der andern Seite durch Verbindung einer Anzahl zusammengeh\u00f6riger Inductionen und Generalisation die verwickelteren Inductionen hervor. Diese divergirende Entwicklung f\u00fchrt uns auf die Bedeutung des Abstractionsverfahrens f\u00fcr die mathematische Induction.\n5. Die mathematische Abstraction.\nDer Grund, weshalb die mathematische Induction besonders in ihren einfachsten F\u00e4llen \u00fcbersehen zu werden pflegt, liegt vornehmlich darin, dass sich dieselbe von Anfang an mit einem sehr vollst\u00e4ndigen und durch eigenth\u00fcmliche Merkmale ausgezeichneten Abstractions-verfahren verbindet. Niemand w\u00fcrde daran zweifeln, dass die Additionsformel 7 + 5 = 12 der Induction ihren Ursprung verdanke, wenn die Zahlensymbole eine concrete Bedeutung bes\u00e4\u00dfen, wenn also die Formel etwa lautete : sieben Aepfel und f\u00fcnf Aepfel sind zw\u00f6lf Aepfel. Aber da jene Symbole alle m\u00f6glichen Objecte bezeichnen k\u00f6nnen, so ist man geneigt, die Zahlen Vorstellungen und ihre Verbindungen , sowie die grundlegenden geometrischen Constructionen, als die Sch\u00f6pfungen einer reinen Gedankenth\u00e4tigkeit anzusehen, auf welche der nur auf empirischem Gebiet zul\u00e4ssige Begriff der Induction keine Anwendung finden k\u00f6nne. In diesem Sinne meinte der \u00e4ltere Realismus, alle mathematischen S\u00e4tze Hessen sich aus den abstracten","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n135\nBegriffen der Zahl, der Gr\u00f6\u00dfe, des Raumes ohne jede weitere Beih\u00fclfe analytisch entwickeln. Sobald man dagegen die anschauliche Grundlage der mathematischen S\u00e4tze anerkannte, wurde man entweder durch den abstracten Charakter derselben veranlasst, sie mit Kant auf synthetische Constructionen innerhalb einer reinen Anschauung zur\u00fcckzuf\u00fchren, oder man suchte in einer Weise, die mehr auf die psychologische Natur der Vorg\u00e4nge, als auf ihre logische Bedeutung R\u00fccksicht nahm, die Unterschiede zwischen der mathematischen und der naturwissenschaftlichen Induction zu verwischen. So besteht der Mangel beider Auffassungen darin, dass in ihnen jener Abstractions-process, welcher den mathematischen Inductionen haupts\u00e4chlich erst ihre Allgemeinheit sichert, nicht in zureichender Weise zur Geltung kommt. Bei Kant erscheint die reine Anschauung als ein urspr\u00fcngliches Gebiet innerer Erfahrung, in welchem jede Erkenntniss des Einzelnen mit der Construction anhebt, w\u00e4hrend in Wahrheit die reine Anschauung die h\u00f6chste der Abstractionen ist, auf welche die einzelnen Abstractionen mathematischer Denkobjecte zur\u00fcckf\u00fchren. Mill dagegen vermengt die mathematischen Begriffsgebilde mit den Objecten der wirklichen Erfahrung, die Geometrie insbesondere bezeichnet er mit Comte geradezu als diejenige Naturwissenschaft, die sich mit den r\u00e4umlichen Eigenschaften der K\u00f6rper besch\u00e4ftige. \u2019) So verwandeln sich ihm die Grunds\u00e4tze der Mathematik in Inductionen, die sogar nur eine ann\u00e4hernde G\u00fcltigkeit besitzen, da es gerade Linien, Ebenen, regelm\u00e4\u00dfige Figuren, wie sie die Geometrie voraussetzt, in der Wirklichkeit nicht gibt. Er nimmt die mathematischen S\u00e4tze f\u00fcr unmittelbare Inductionen aus der Erfahrung, w\u00e4hrend sie Inductionen von Abstractionen aus der Erfahrung sind.\nUnter Abstraction \u00fcberhaupt verstehen wir das Verfahren, durch welches aus einer Anzahl einzelner Vorstellungen gewisse Elemente eliminirt und die zur\u00fcckbleibenden als Gegenstand eines Begriffes festgehalten werden. Nur verm\u00f6ge des negativen Theils dieser Definition k\u00f6nnen wir nun offenbar die Entstehung mathematischer Begriffsgebilde dem Verfahren der Abstraction unterordnen. Jene Elimination wechselnder Bestandtheile der einzelnen Vorstellungen wird bei jedem einzelnen mathematischen Begriff und schlie\u00dflich selbst\n1) a. a. O. II, S. 164.","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nW. Wundt.\nbei den allgemeinen Anschauungsformen der Zeit und des Raumes, auf welche sie alle zur\u00fcckf\u00fchren, gefordert. Dagegen begegnet der positive Theil der Definition hier eigent\u00fcmlichen Schwierigkeiten. Wenn jene Elimination vollst\u00e4ndig ausgef\u00fchrt wird, so scheint kein Rest \u00fcbrig zu bleiben, welcher dem mathematischen Begriffsgebilde entspricht. Die Zahl ist ebenso wenig eine f\u00fcr sich denkbare objective Eigenschaft der z\u00e4hlbaren Objecte, wie gerade Richtung und ausdehnungslose Beschaffenheit Merkmale sind, in welchen gewisse Linien \u00fcbereinstimmen. Trotzdem beweist diese Thatsache nicht, dass hier \u00fcberhaupt kein Abstractionsprocess stattfinde, sondern sie beweist nur, dass man die mathematische Abstraction falsch interpretirt, wenn man sie vollst\u00e4ndig nach Analogie derjenigen Abstractionen be-urtheilt, zu denen die physikalische Beobachtung Anlass gibt. Die zureichende B\u00fcrgschaft f\u00fcr das Stattfinden irgend einer Abstraction liegt bereits in dem oben erw\u00e4hnten Eliminations verfahren. Denn da die Abstraction an und f\u00fcr sich nur verlangt, dass gewisse Elemente der Vorstellung im Begriff au\u00dfer R\u00fccksicht bleiben, so ist die logische Natur der Abstraction an und f\u00fcr sich nur negativ bestimmt. Was als Resultat des Abstractionsverfahrens zur\u00fcckbleibt, h\u00e4ngt weniger von diesem Verfahren selbst als von der Natur der urspr\u00fcnglichen Vorstellungen ab. deren sich dasselbe bem\u00e4chtigt. Die Frage lautet also vielmehr : worin besteht der Unterschied der mathematischen Abstraction von der gew\u00f6hnlichen, die wir die physische nennen wollen ? Welche Bedingungen m\u00fcssen zu der letzteren hinzutreten, wenn mathematische Begriffe entstehen sollen?\nDie Antwort auf diese Fragen ist im allgemeinen leicht zu geben, sobald wir uns die Schwierigkeiten vergegenw\u00e4rtigen, in die sich die gew\u00f6hnliche Lehre von der empirischen Entstehung der mathematischen Begriffe, bei der ebenjene Verwechslung der mathematischen mit der physischen Abstraction stattfindet, verwickelt. Diese Lehre bleibt siegreich, so lange sie sich auf die Schilderung der negativen Seite der Abstraction beschr\u00e4nkt ; sie scheitert aber in dem Augenblick, wo sie sich auf die positiven Begriffselemente besinnt, die ihr Zur\u00fcckbleiben. _ Die gew\u00f6hnliche Ausflucht, dass man sich auf die Vorstellungen beruft, die in unserm Bewusstsein die Begriffe repr\u00e4-sentiren, deckt nur nothd\u00fcrftig dieses Scheitern; denn sie verwechselt die Zeichen der Begriffe mit den Begriffen selber. Dieser ganze Miss-","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n137\nerfolg hat aber seine Quelle darin, dass man von Anfang an diejenigen Vorstellungselemente, die den zur Einleitung des Abstractionsprocesses dienenden Objecten angeh\u00f6ren, als die allein existirenden behandelt, die subjectiven, unserer eigenen Gedankenth\u00e4tigkeit angeh\u00f6renden ganz ignorirt. F\u00fchrte nun jener Misserfolg zu dem Ergebniss , dass das Eliminationsverfahren der Abstraction scheinbar keinen Rest zur\u00fccklie\u00df , so werden wir demnach sogleich schlie\u00dfen d\u00fcrfen, dass der in Wahrheit bleibende Rest nichts anderes als unsere bei der Bildung der mathematischen Vorstellungen wirksame Gedankenth\u00e4tigkeit ist, oder mit andern Worten, dass mathematische Begriffe zu Stande kommen, indem wir von allen denjenigen Elementen der Vorstellung abstrahiren, die in dem Object ihre Quelle haben.\t*\nAm deutlichsten kommt dieses Verfahren bei dem Begriff der Zahl zum Vorschein, weil die abstracte Natur dieses Begriffs sofort die Schw\u00e4che der physischen Abstractionstheorie blo\u00dflegt. Wenn wir uns fragen, was dann zur\u00fcckbleibt, wenn wir von allen wechselnden Bestandtheilen jener Vorstellungen abstrahiren, in denen sich die Function des Z\u00e4hlens beth\u00e4tigt, so ist dieses Zur\u00fcckbleibende nichts anderes als dieFunction des Z\u00e4hlens selber, eine Aufeinanderfolge und Verbindung von Apperceptionsacten, deren jeder einzelne den abstracten Begriff der Einheit darstellt. Wir k\u00f6nnen freilich nicht z\u00e4hlen ohne Objecte, die uns in innerer oder \u00e4u\u00dferer Erfahrung gegeben sein m\u00fcssen, und jede Darstellung von Zahlen sieht sich daher gen\u00f6thigt, zu objectiven Versinnlichungen zu greifen, welche den einfachsten Gelegenheitsursachen, aus denen Zahlen entstehen, nachgebildet sind. Aber der Begriff der Zahl ist, was nach Elimination aller dieser wechselnden Elemente als das Constante zur\u00fcckbleibt, die Verbindung der einzelnen Denkacte als solcher, abgesehen von jedem Inhalte. i)\nVon hier aus wird es nicht schwer werden, auch den geometrischen Begriffen gerecht zu werden. Der geometrische Punkt unterscheidet sich dadurch vom physischen Punkte, dass es sich bei dem letzteren immer um ein Etwas handelt, was objectiv, mit bestimmten physischen Eigenschaften begabt, gegeben sein soll. Der geometrische\n1) Vergl. meine Logik, I, S. 468.","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nW. Wundt.\nPunkt dagegen bedeutet den einzelnen Ort im Raume, insofern derselbe blo\u00df durch unsere ortsbestimmende Gedankenth\u00e4tigkeit gegeben ist. Von den Eigenschaften der physischen Gegenst\u00e4nde, die uns zur \u00e4u\u00dferen Bezeichnung so gut wie zur inneren Vorstellung eines Ortes dienen, wird hierbei abstrahirt, und es bleibt nur die fixirende Th\u00e4tig-keit zur\u00fcck, ohne die sich keine Ortsbestimmung vollzieht. Die ausdehnungslose Beschaffenheit des Punktes ist eine selbstverst\u00e4ndliche Folge dieser Abstraction, da die Ausdehnung immer nur den objectiven Bestimmungsmitteln der Oerter im Raum eigen ist.\nEtwas zusammengesetzter ist schon der Abstractionsprocess, welcher zum Begriff der geraden Linie f\u00fchrt. Hier wird nicht einfach, wie bei der arithmetischen Einheit und dem geometrischen Punkt, von dem z\u00e4hlbaren oder raumerf\u00fcllenden Object abstrahirt, sondern der sinnlichen Vorstellung eines ann\u00e4hernd geradlinigen Stabes folgt zun\u00e4chst die Wahrnehmung, dass ein solcher Stab, wie er auch um sich selbst gedreht werden mag, stets in constanter Weise zwei von einander entfernte Orte im Raum, durch die man ihn gelegt denkt, verbindet. Dieser Erfahrung bem\u00e4chtigt sich nun die mathematische Abstraction: indem sie aus der Vorstellung des Stabes, welcher die zwei Punkte verbindet, alle objectiven Bestandtheile eliminirt, bleibt der Denkact \u00fcbrig, welcher die relative Lage beider Punkte in Bezug auf einander bestimmt. Da die Gerade, welche zum Behuf der Lagebestimmung gezogen werden muss , nur in Bezug auf ihre Richtung und die L\u00e4nge, die sie zwischen den zwei Punkten besitzt, bei jener Lagebestimmung in Betracht kommt, so bleiben so als einzige Elemente des Begriffs einer gegebenen geraden Linie Richtung und L\u00e4nge \u00fcbrig. Der Umstand, dass es in der Natur keine absolut geradlinige Grenze gibt, steht diesem Begriff nicht im Wege, da der Gedanke der lagebestimmenden Verbindung zweier Punkte ein Postulat unseres Denkens ist und keine wirkliche Vorstellung.\nIn \u00e4hnlicher Weise ist nun die Verarbeitung der \u00fcbrigen geometrischen Vorstellungen aufzufassen. Die einfacheren derselben werden ebenfalls durch unmittelbare Erfahrungen nahe gelegt; andere entstehen durch objective oder subjective, von unserer Einbildungskraft geleitete Experimente oder, wie man es gew\u00f6hnlich ausdr\u00fcckt, auf dem Wege der Construction. Das auf solche Weise entstandene Bild wird aber erst zum geometrischen Object im eigentlichen Sinne, in-","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n139\ndem wir alle diejenigen Elemente der Vorstellung eliminiren, welche nur nebens\u00e4chliche Begleiter des Resultates sind, das unser Denken beabsichtigt. Wenn wir eine gegebene Figur als Kreis auffassen oder einen Kreis construiren wollen, so besteht das Postulat unseres Denkens in einer continuirlichen Folge geometrischer Punkte, welche in einer Ebene liegen und mit einem einzigen festen Punkte durch eine Gerade von constanter Gr\u00f6\u00dfe verbunden werden k\u00f6nnen. Bei der geometrischen Untersuchung des Kreises besch\u00e4ftigt uns nur dieses Postulat unseres Denkens, nicht die einzelne Vorstellung, welche den Begriff in unserm Bewusstsein vertreten muss. Man hat vielfach den Hauptwerth darauf gelegt, dass die diesen Begriffen entsprechenden Vorstellungen von uns construirt werden m\u00fcssten. Meistens verbindet sich damit die Meinung, in Folge dieser Entstehungsweise schw\u00e4nde alsbald die Schwierigkeit, dass die geometrischen Gebilde, keinen realen Objecten entsprechen, und es sei darum jetzt m\u00f6glich, sofort die con-struirten Vorstellungen selbst als geometrische Gebilde zu betrachten, ohne dass ein hinzukommender Abstractionsprocess erforderlich w\u00e4re. Aber diese construirten Vorstellungen leiden an den n\u00e4mlichen Ungenauigkeiten wie die \u00e4u\u00dfern Objecte ; das wesentliche Moment der Begriffbildung bleibt also immer die Abstraction von allen empirischen Bestandtheilen der Vorstellung und die Zur\u00fcckf\u00fchrung auf diejenigen Elemente, welche den Charakter von Postulaten des Denkens besitzen. Es ist schlie\u00dflich hervorzuheben, dass die allgemeinen Bedingungen der mathematischen Begriffbildung, die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit, durchaus auf einem Abstractionsprocess der n\u00e4mlichen Art beruhen, indem wir uns bei ihnen jeden gegebenen Raumund Zeitinhalt eliminirt denken und auf diese Weise nur die subjectiven Apperceptionsformen zur\u00fcckbehalten, welche dem r\u00e4umlichen und zeitlichen Vorstellen entsprechen. Eben wegen des auch hier vorhandenen Abstraetionsprocesses ist die \u00bbreine Anschauung\u00ab ein Begriff und keine Vorstellung.\nVon der Kantischen Auffassung unterscheidet sich die hier entwickelte haupts\u00e4chlich darin, dass Kant die subjectiven Elemente der mathematischen Begriffbildung den objectiven vorangehen l\u00e4sst und sie in diesem Sinne als transscendentale Bedingungen der empirischen Vorstellung selbst bezeichnet. Diese Ansicht ist wesentlich dadurch bedingt, dass Kant die begriffliche Natur der reinen Anschauung leug-","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nW. Wundt.\nnet und demnach eine unmittelbare constructive Th\u00e4tigkeit der reinen Einbildungskraft in dem oben angedeuteten Sinne statuirt. Nichts aber berechtigt uns, in dieser Weise dasjenige, was wir als letztes Resultat des mathematischen Erkennens vorfinden, an den Anfang desselben zu stellen, statt dem wirklichen Erkennen mit unserer Reconstruction Schritt f\u00fcr Schritt nachzufolgen. W\u00e4hlen wir nun den letzteren Weg, so stellt sich die reine Anschauung als eine Abstraction aus der empirischen Anschauung dar, und ebenso ergibt sich jeder Gegenstand des mathematischen Denkens als Erzeugniss einer Abstraction, welche von empirischen Gegenst\u00e4nden ausgeht. Der auszeichnende Charakter der mathematischen Abstraction besteht aber darin, dass bei ihr alle objectiv gegebenen Elemente der Vorstellungen eliminirt werden und die reinen Formen der Gedanken th\u00e4tigkeit, die zur Verkn\u00fcpfung jener Elemente erfordert wird, als mathematische Begriffsgebilde Zur\u00fcckbleiben.\nIn dieser Reduction auf die formalen Elemente unseres Denkens besteht das Wesen des mathematischen Apriori. Dagegen k\u00f6nnen wir den Grund desselben nicht in einer jede Induction und Abstraction entbehrlich machenden Construction, am wenigsten aber in irgend einem aller Erfahrung vorausgehenden Wissen erblicken, da im Gegen-theil die mathematischen Begriffe, von der Erfahrung ausgehend, den l\u00e4ngsten Weg zur\u00fccklegen m\u00fcssen. In Folge der Verbindung der mathematischen Induction und Abstraction werden die an einzelnen Objecten der Erfahrung vollzogenen Inductionen auf die allgemeinsten formalen Abstractionen von jenen Objecten \u00fcbertragen, diese Abstrac-tionen dann zu weiteren Inductionen verwendet und endlich nach Anleitung der allgemeinsten Abstractionen die f\u00fcr ein bestimmtes Gebiet gewonnenen Inductionen unter gewisse allgemeine Regeln, die so genannten Axiome, geordnet.\nIm Einzelnen greift nun die Abstraction in den Process der mathematischen Induction in doppelter Weise ein. Zun\u00e4chst erm\u00f6glicht sie es, die an einzelnen Gebilden der Anschauung gewonnenen S\u00e4tze sofort auf ganze Classen solcher Gebilde zu \u00fcbertragen und so denselben die ihnen zukommende Allgemeinheit zu sichern. Der Satz 7 + 5 = 12 gilt f\u00fcr alle m\u00f6glichen z\u00e4hlbaren Objecte, und deshalb nur sagen wir von ihm, dass er von Zahlen \u00fcberhaupt gilt. Sodann aber bem\u00e4chtigt sich die Abstraction der durch einzelne Inductionen gewonnenen S\u00e4tze,","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Mnction.\n141\num mit ihrer H\u00fclfe die nachher in der Form von Definitionen fixirten Grundbegriffe zu gewinnen, welche als die allgemeinen Bedingungen jener einzelnen S\u00e4tze angesehen werden k\u00f6nnen. Ist auf diese Weise erst die allgemeinste Definition gefunden, die ein bestimmtes mathematisches Begriffsgebiet beherrscht, so liegt darin ab er der Anlass, nun wiederum jene S\u00e4tze zu pr\u00fcfen, denen ein axiomatischer Charakter zugeschrieben werden k\u00f6nnte, und aus ihnen diejenigen zum Rang definitiver Axiome zu erheben, welche zureichend sind, die Definition zu ersch\u00f6pfen, und daher alle anderen unmittelbar anschaulichen, keines Beweises bed\u00fcrftigen S\u00e4tze als specielle F\u00e4lle unter sich enthalten. Euklid\u2019s Axiome erscheinen uns nur deshalb fast zuf\u00e4llig zusammengetragen, weil ihre Aufstellung nicht von bestimmten Definitionen der Grundbegriffe von Zahl, Gr\u00f6\u00dfe und Raum geleitet wird, daher denn auch theils Axiome verschiedenartiger Gebiete mit einander, theils S\u00e4tze von untergeordnetem Charakter mit den Axiomen vermengt werden. Solche speciellere S\u00e4tze, sowie die unmittelbaren Anwendungen der Axiome in Zahlformeln oder einfachen geometrischen Construc-tionen, lassen sich zwar stets auf die Axiome zur\u00fcckf\u00fchren, einer eigentlichen Beweisf\u00fchrung aus denselben sind sie aber deshalb nicht bed\u00fcrftig, weil sie ihnen an unmittelbarer anschaulicher Gewissheit vollst\u00e4ndig gleichkommen, und deshalb nicht zug\u00e4nglich, weil bei jedem specielleren Satz auch wieder specielle Bedingungen der Anschauung auftreten, auf welche die Axiome verm\u00f6ge ihres abstracten Charakters nicht R\u00fccksicht nehmen k\u00f6nnen. So ist zwar die Additionsformel 7 + 5 = 12 unter dem arithmetischen Axiome enthalten, nach welchem durch die Verbindung von Zahlen eine neue Zahl entsteht, die ebenso viele Einheiten enth\u00e4lt, wie die urspr\u00fcnglichen Zahlen zusammengenommen. Aber die Kenntniss dieser allgemeinen Regel erspart es uns nicht, im einzelnen Fall die Summe durch eine wirkliche Addition aufzufinden oder, falls wir uns einer feststehenden Summenformel bedienen, die Richtigkeit derselben durch eine Wiederholung der urspr\u00fcnglichen Induction zu best\u00e4tigen. Denn jene Formel enth\u00e4lt eine selbst\u00e4ndige Thatsache, die einer eigens auf sie gerichteten Beobachtung zu ihrer Nachweisung bedarf, wie denn auch das Wort \u00bbZw\u00f6lf\u00ab an Stelle einer Definition gebraucht wird, die in der allgemeinen Definition des Additionsverfahrens durchaus noch nicht vorgesehen ist. Ebenso l\u00e4sst sich der geometrische Satz, dass durch einen Punkt und","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nW. Wundt.\neine Gerade au\u00dferhalb desselben nur eine einzige Ebene gelegt werden kann, auf das Axiom zur\u00fcckf\u00fchren, dass die Lage eines jeden Raumgebildes durch drei Punkte bestimmt ist. Der Unterschied dieses Axioms von jenem Satze besteht aber darin, dass das Axiom eine abstracted Beschaffenheit besitzt, w\u00e4hrend eben deshalb der Vorzug der Anschaulichkeit auf Seite des einzelnen Satzes liegt, da wir uns ein Raumgebilde in abstracto \u00fcberhaupt nicht vorstellen k\u00f6nnen. Au\u00dferdem ersetzt auch hier das allgemeine Axiom nicht die concrete Erfahrung, die in dem Satz von der Lagebestimmung der Ebene ausgesprochen ist. Denn weder in jenem Axiom noch in der allgemeinen Definition des Raumes ist die Vorstellung der Ebene enthalten.\nNur in Einer Beziehung bedarf die obige Entwicklung noch der Vervollst\u00e4ndigung. Die Abstraction gibt uns zwar \u00fcber die gro\u00dfe Allgemeinheit Rechenschaft, welche die mathematischen Inductionen gewinnen, aber nicht \u00fcber die Art der Allgemeingiltigkeit, die wir ihnen zuschreiben. Nichtsdestoweniger unterscheidet sich in diesem Punkte die Mathematik ebenso sehr wie in Bezug auf die abstractere Natur ihrer Objecte. Auch in den Erfahrungswissenschaften fehlt allerdings nicht die Ueberzeugung von der Allgemeingiltigkeit der Gesetze. Diese besitzt aber hier einen wesentlich anderen Charakter. Sie beschr\u00e4nkt sich auf die Annahme, dass unter genau \u00fcbereinstimmenden Bedingungen uns stets \u00fcbereinstimmende Erscheinungen begegnen werden. Auf mathematischem Gebiete dagegen schlie\u00dft sie die Voraussetzung ein, dass die Bedingungen selbst, unter denen unsere Begriffe stehen, unter allen Umst\u00e4nden constant bleiben. Der die Abstraction und Induction erg\u00e4nzende logische Vorgang, welcher diese Form der Allgemeingiltigkeit hervorbringt, ist die exacte Analogie.\n6. Die exacte Analogie.\nF\u00fcr eine Schlussfolgerung, bei welcher man nachweist, dass ein bis zu einem beliebigen Gliede n g\u00fctiges Gesetz auch f\u00fcr ein weiteres Glied n + 1 seine Giltigkeit bewahre, ist in der Mathematik der Name \u00bbvollst\u00e4ndige Induction\u00ab eingef\u00fchrt. Dieser Ausdruck gibt aber nicht blo\u00df dem in der Logik in ganz anderem Sinne gebrauchten Begriff der vollst\u00e4ndigen Induction eine abweichende Bedeutung, sondern er ist auch an sich ungeeignet. Vielmehr handelt es sich in","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Uebet die mathematische Induction.\n143\nsolchen F\u00e4llen immer um die Verbindung einer gew\u00f6hnlichen unvollst\u00e4ndigen Induction mit einem exacten Analogieschluss1). Durch wirkliche Ausf\u00fchrung der Multiplication hat man z. B. die Form einiger Binomien, wie [a + 5)2, [a + V)3, (ab)*, gefunden, und man schlie\u00dft dann, dass sich irgend ein Binomium (a 5)11 zudem n\u00e4chsten (\u00f6-j-6)n + 1 ebenso verhalten m\u00fcsse, wie sich [a + b)2 zu (a + &)3 verh\u00e4lt. Derartige Schl\u00fcsse von einem Gliede n auf das n\u00e4chste n + 1 kommen in der Zahlentheorie und Analysis h\u00e4ufig vor, und es wiederholt sich in ihnen stets der n\u00e4mliche Gedankengang. So findet man z. B. durch unmittelbare Induction, dass dasCommuta-tionsgesetz f\u00fcr zwei und f\u00fcr drei Zahlen gilt, und zeigt dann, dass es in \u00e4hnlicher Weise von n auf n + 1 Zahlen ausgedehnt werden kann, wodurch es, da f\u00fcr n jede beliebige Zahl gesetzt werden darf, allgemein bewiesen ist2). Der gemeinsame Grund f\u00fcr diese unbedingte Verallgemeinerung arithmetischer Inductionen ist die Gleichf\u00f6rmigkeit derZahlengesetze. Wir wissen, dass die Hinzuf\u00fcgung von Eins zu einer andern Eins die n\u00e4mliche absolute Zunahme bewirkt, als wenn wir sie zu 1000 oder 10 000 Einheiten hinzuf\u00fcgten. Diese Ueber-zeugung gr\u00fcndet sich nicht blo\u00df auf die thats\u00e4chliche Best\u00e4tigung in aller Erfahrung, sondern in erster Linie auf jene Constanz der Begriffe, welche die Bedingung unseres eigenen logischen Denkens ist. Wollte ich annehmen, dass f\u00fcr den Fortschritt von wzu\u00fc+1 ein anderes Gesetz der Zunahme Platz greife, als vonl zu 1\t1, so m\u00fcsste ich an-\nnehmen, dass der Begriff der Eins oder der Vorgang der additiven Verbindung eine Ver\u00e4nderung erfahren habe, d. h. dass identische Denkoperationen nicht mit einander identisch seien. Eine solche Annahme widerstreitet freilich auch aller Erfahrung, und wir k\u00f6nnen uns, da wir die Begriffe nur in anschaulichen Formen denken, die Unm\u00f6glichkeit derselben nicht zwingender deutlich machen, als indem wir auf ihre Unvereinbarkeit mit der Anschauung hinweisen. Dennoch hei\u00dft es Heterogenes vermengen, wenn man nun deshalb mit Mill mathematische Verallgemeinerungen dieser Art der Generalisation empirischer Gesetze gleichstellt und sie auf eine blo\u00dfe inductio per enumerationem simplicem zur\u00fcckf\u00fchrt3), Es waltet doch eine wesentliche Verschieden-\n1)\tVgl. hierzu meine Logik, I S. 309 f.\n2)\tLejeune-Dirichlet, Vorlesungen \u00fcber Zahlentheorie, S. 1 f.\n3)\tMill, Logik II, S. 154.","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nW. Wundt.\nheit oh zwischen einem Satze, der nur dem Umstand, dass his dahin keine Erfahrung ihm widersprochen hat, seine allgemeine Geltung verdankt, w\u00e4hrend widerstreitende Erfahrungen sehr wohl vorstellbar w\u00e4ren, und einem solchen Satze, dessen Best\u00e4tigung wir uns nicht denken k\u00f6nnen, ohne gleichzeitig die Regeln unserer Anschauung und die Normen'unseres Denkens ver\u00e4ndert zu denken.\nDie bisher erw\u00e4hnten Beispiele exacter Analogie beziehen sich auf diejenigen Inductionen zusammengesetzter Art, welche schon die Mathematik als solche anerkannt hat. Hier gewinnt das Inductions-verfahren durch die Analogie seinen Abschluss, insofern diese erst der durch Induction erschlossenen Regel ihre allgemeingiltige Bedeutung anweist. In wesentlich anderer Weise vervollst\u00e4ndigt die Analogie jene vereinzelten Inductionen, welche sowohl diesen zusammengesetzten Inductionsprocessen wie der Bildung der Axiome zur Grundlage dienen. Hier haben die einzelnen durch Induction gewonnenen S\u00e4tze die Bedeutung abstracter Regeln f\u00fcr singul\u00e4re Thatsachen , die an und f\u00fcr sich einer Verallgemeinerung nicht zug\u00e4nglich sind ; die Analogie gestattet es dann aber ohne weiteres, andere singul\u00e4re S\u00e4tze von verwandter Art festzustellen, f\u00fcr die in Folge dessen das Erforderniss einer besonderen Induction hinwegf\u00e4llt. Nachdem die Summe 7 + 5 = 12 durch wirkliche Addition der Einheiten gefunden ist, bilden wir sofort die Summen 70 + 50 = 120 , 700 + 500 = 1200 u. s. w., ohne dass es uns nothwendig scheint, auch in diesen F\u00e4llen die Addition durchzuf\u00fchren. Einer der gr\u00f6\u00dften Vortheile unseres Ziffem-systems besteht darin, dass es uns gestattet, die Ausf\u00fchrung der elementaren Rechenoperationen auf die neun einfachen Zahlen zu beschr\u00e4nken und die hier gewonnenen Resultate auf jede beliebige h\u00f6here Zahl zu \u00fcbertragen. Indem man die 10, 100, 1000 u. s. w. als neue zusammengesetzte Einheiten betrachtet, setzt man voraus, die zwischen denselben m\u00f6glichen Operationen seien den n\u00e4mlichen Gesetzen unterworfen, wie diejenigen zwischen den einfachen Einheiten. Die einzelnen Inductionen, aus welchen die axiomatischen Gesetze der Addition, Multiplication, Subtraction rmd Division abstrahirt sind, beschr\u00e4nken sich so auf die Feststellung der f\u00fcr die Zahlen zwischen 1 und 10 m\u00f6glichen Zahlformeln , welche bei den directen Operationen unter allen Umst\u00e4nden leicht ausf\u00fchrbaren Verkn\u00fcpfungen der Einheiten entsprechen, w\u00e4hrend bei den inversen Operationen in jenen F\u00e4llen,","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die mathematische Induction.\n145\nin welchen negative und irrationale Gr\u00f6\u00dfen sich ergeben , die aufgestellten Zahlformeln wirklichen Inductionen nicht unmittelbar parallel gehen. In der That ist es gar nicht denkbar, dass man, so lange die Zahlen ihre urspr\u00fcngliche Bedeutung bewahrten, durch unmittelbare Z\u00e4hlungen zu negativen oder irrationalen Zahlen gelangt w\u00e4re. Meistens wurden offenbar die Zahlformeln, die zu solchen Zahlen f\u00fchrten, zun\u00e4chst nur nach Analogie anderer aus wirklichen Inductionen hervorgegangener aufgestellt, und erst sp\u00e4tere Inductionen von anderer Beschaffenheit f\u00fchrten zu der Entdeckung, dass denselben eine reale Bedeutung zukommen k\u00f6nne. Dies wird hinl\u00e4nglich durch die historische Thatsache bezeugt, dass lange Zeit der Gebrauch der negativen und irrationalen Zahlen Schwierigkeiten begegnete. Noch deutlicher tritt uns der n\u00e4mliche Verlauf bei dem durch die inverse Operation dritter Stufe, die Badicirung, entstandenen Begriff der imagin\u00e4ren Zahl entgegen, wo die reale Deutung von der Entstehung des Begriffs durch einen noch l\u00e4ngeren Zeitraum getrennt ist. In allen diesen F\u00e4llen hat sich der gew\u00f6hnliche Verlauf umgekehrt, indem die Analogie zuerst zu bestimmten Zahlformeln f\u00fchrte, welche dann erst durch Induction eine objective Grundlage gewannen. Selbstverst\u00e4ndlich kann es in solchen F\u00e4llen auch sich ereignen, dass die nachfolgende Induction ganz ausbleibt, dass also f\u00fcr Zahlbegriffe, zu denen man durch die cons\u00e9quente Ausf\u00fchrung bestimmter Operationen, gelangt, eine reale Bedeutung gar nicht gefunden werden kann. Auf diese Weise lassen alle jene Speculationen, die von dem Permanenzprincip ausgehen, auf die exacte Analogie sich zur\u00fcckf\u00fchren. Zweifelhafter k\u00f6nnte man dar\u00fcber sein, ob in den F\u00e4llen, wo sp\u00e4terhin eine reale Bedeutung f\u00fcr die urspr\u00fcnglich auf blo\u00df formalem Wege gewonnenen Begriffe aufgefunden wird, diese nachtr\u00e4gliche Uebertragung auf die Erfahrung einer Induction ihren Ursprung verdanke. In der That ist dies auch keineswegs so zu verstehen, als wenn die betreffenden Begriffe zuerst durch Analogie und dann noch einmal selbst\u00e4ndig durch Induction gefunden worden w\u00e4ren. Vielmehr hat die Induction immer nur zu realen Beziehungen hingef\u00fchrt, f\u00fcr deren Ausdruck jene schon vorhandenen Begriffe sich als geeignete H\u00fclfsmittel erwiesen. Ihre Anwendung in diesem Sinne ging aber stets aus einer willk\u00fcrlichen Uebertragung hervor, zu welcher die Induction nur das \u00e4u\u00dfere Motiv bildete. Kein objectiver\nWundt, Philos. Studien. I.\t10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nW. Wundt.\nZwang n\u00f6thigt' uns dazu, Gewinn und Verlust, Verm\u00f6gen und Schulden durch positive und negative Zahlen auszudr\u00fccken ; immerhin mussten durch Induction aus der Erfahrung jene gegens\u00e4tzlichen Begriffe entstanden sein, wenn die negative Zahl \u00fcberhaupt eine reale Bedeutung gewinnen sollte. In keiner andern Weise hat aber die Ausmessung stetiger Raumgr\u00f6\u00dfen zur realen Anwendung der irrationalen und schlie\u00dflich selbst der imagin\u00e4ren Zahlen gef\u00fchrt.\nAuf geometrischem Gebiete hat die exacte Analogie zun\u00e4chst die Bedeutung, dass sie das in einer einzelnen Construction anschaulich Gegebene ohne weiteres auf alle Raumgebilde gleicher Art \u00fcbertr\u00e4gt, in welchem Theile des Raumes sie sich auch befinden m\u00f6gen. Nur durch die Verbindung der Analogie mit der Induction k\u00f6nnen wir wissen, dass die an einer bestimmten Figur erkannte Thatsache unmittelbar den Werth eines allgemeinen Gesetzes hat. Die Analogie ist aber eine exacte, weil sie auf die Unm\u00f6glichkeit sich st\u00fctzt, andere R\u00e4ume als den in der wirklichen Anschauung gegebenen vorzustellen. Die gro\u00dfe Schwierigkeit, welche seit langer Zeit die Geometer in dem so genannten Parallelenaxiome gefunden, beruht wesentlich auf dem Vorkommen der bei diesem Satze mitwirkenden Analogie. Dass zwei gerade Linien, die von einer dritten unter gleichen Winkeln geschnitten werden, sich selbst niemals schneiden k\u00f6nnen, wie weit wir sie auch verl\u00e4ngern m\u00f6gen, schlie\u00dfen wir daraus, dass die schneidende Linie sich selbst parallel beliebig l\u00e4ngs der beiden Parallelen verschoben werden kann, ohne dass die schneidenden Winkel sich \u00e4ndern. Insoweit dieser Schluss auf die unmittelbare Anschauung sich st\u00fctzt, ist er eine Induction ; insoweit er von uns \u00fcber die wirkliche Anschauung hinaus verallgemeinert wird, ist er eine exacte Analogie, die sich auf die durchg\u00e4ngige Congruenz des Raumes mit sich selber st\u00fctzt. In einem wesentlich anderen Sinne dagegen verwerthet die geometrische Untersuchung die Analogie, wenn sie die Ueberg\u00e4nge zwischen den geometrischen Anschauungen \u00fcber die reale Anschauung hinaus im Sinne einer blo\u00dfen Analogie fortsetzt, wenn sie also einen analogen Uebergang, wie er von der Ebene zum Raum stattfindet, zwischen R\u00e4umen verschiedener Dimensionen statuirt. Hier beginnt, \u00e4hnlich wie bei den Erweiterungen des Zahlbegriffs, der Process mit der Analogie, welcher dann unter Umst\u00e4nden Induction en, die eine reale Anwendung vermitteln, nachfolgen k\u00f6nnen. Nur muss man freilich stets","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Uebcr die mathematische Induction.\n147\nbeachten, dass diese Anwendungen nicht mehr dem Gebiet] der eigentlichen Geometrie, welcher durch die Raumanschauung ihre festen Grenzen gezogen sind, angeh\u00f6ren, sondern dass es sich hierbei immer nur um eine Behandlung von Problemen anderer Gebiete, der Functionentheorie, oder der Mannigfaltigkeitslehre, in geometrischer Form handelt.\nAuf diese Weise ergeben sich f\u00fcr die Benutzung der exacten Analogie in dem Zusammenhang der mathematischen Methoden allgemein zwei Formen: eine erste, die sich an die Induction anschlie\u00dft und zur Feststellung der Allgemeing\u00fcltigkeit gewisser, urspr\u00fcnglich durch Induction gewonnener S\u00e4tze f\u00fchrt, und eine zweite, die gewisse Operationen oder auf anderem Wege festgestellte Begriffe \u00fcber ihr urspr\u00fcngliches Gebiet hinaus erweitert, indem sie einen bestimmten logischen Process nach Analogie der f\u00fcr ihn in d\u00e8n Erfahrungsgrenzen g\u00fcltigen Normen \u00fcber die letzteren fortsetzt. W\u00e4hrend die erste Form der Analogie vorzugsweise bei den fundamentalsten S\u00e4tzen ihre Anwendung findet, dient die zweite als Basis der abstractesten, den durch Induction gewonnenen Grunds\u00e4tzen fernliegendsten Specula-tionen. Die durch Analogien letzterer Art gewonnenen Begriffe lassen daher nur in einzelnen F\u00e4llen und h\u00e4ufig nur vermittelst einer v\u00f6lligen Umformung der urspr\u00fcnglichen Begriffe, stets aber unter Vermittelung nachtr\u00e4glicher Inductionen eine reale Anwendung zu.","page":147}],"identifier":"lit655","issued":"1883","language":"de","pages":"90-147","startpages":"90","title":"Ueber die mathematische Induction","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:11:58.655282+00:00"}