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{"created":"2022-01-31T13:00:10.882649+00:00","id":"lit657","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 1: 251-260","fulltext":[{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Messung psychischer Vorg\u00e4nge.\nVon\nW. Wundt.\nIn einer unter obigem Titel am 3. M\u00e4rz 1881 in der K\u00f6nig!. Akademie der Wissenschaften zu Berlin gelesenen Abhandlung besch\u00e4ftigt sich Eduard Zeller mit der Frage, ob und unter welchen Bedingungen die psychischen Vorg\u00e4nge einer Messung zug\u00e4nglich seien. Der ber\u00fchmte Verfasser der \u00bbPhilosophie der Griechen\u00ab kommt, nachdem er in der an ihm bekannten klaren und ma\u00dfvollen Weise die Instanzen f\u00fcr und wider er\u00f6rtert, auf Grund gewisser allgemeiner Betrachtungen im Wesentlichen zu einem verneinenden Ergebniss, das er jedoch am Schl\u00fcsse seines Vortrags zum Theil wieder aufhebt, indem er die psychologische Bedeutung des Weber\u2019schen Gesetzes, welches bekanntlich durch Messungen gefunden ist, anerkennt. Es sei mir gestattet, zun\u00e4chst an diesen zweiten Theil der Zelle r\u2019schen Abhandlung, bei dem ich mich mit dem ausgezeichneten Verfasser in erfreulicher Uebereinstimmung befinde, eine kurze Bemerkung zu kn\u00fcpfen, um sodann auf den ersten Theil, welcher die Lebensfrage der experimentellen Psychologie in so einschneidender Weise beantwortet, etwas ausf\u00fchrlicher einzugehen.\nEduard Zeller ist geneigt, das Weber\u2019sche Gesetz auf ein allgemeines Princip der Relativit\u00e4t aller psychischen Zust\u00e4nde zur\u00fcckzuf\u00fchren , das er insbesondere auch im Gebiet der Gef\u00fchle verwirklicht findet. In einer Note ist bemerkt, eine \u00e4hnliche Auffassung finde sich unter den ihm bekannten neueren Darstellungen am bestimmtesten in meiner physiologischen Psychologie (1. Aufl., S. 421 ff.) bereits ausgesprochen, sie sei aber hier auf das Gebiet der Sinnesempfindun-","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nW. Wundt.\ngen beschr\u00e4nkt geblieben. H\u00e4tte der Verf. einige Seiten weiter gelesen, so w\u00fcrde ihm nicht entgangen sein, dass ich in \u00e4hnlichem Sinne, wie es von ihm in der gegenw\u00e4rtigen Abhandlung geschieht, auch\ndie Beziehungen der Gef\u00fchle und Gem\u00fcthsbewegungen auf das psycho-\n\u00bb\nphysische Gesetz zur\u00fcckf\u00fchrte, ohne dass ich \u00fcbrigens der Meinung gewesen w\u00e4re, damit einen neuen Satz auszusprechen, da ich auf die bereits von Fechner erw\u00e4hnten Bestimmungen der \u00bbmensura sortis\u00ab bei Daniel Bernoulli und Laplace hinweisen konnte (ebend. S. 434). W\u00e4re es nicht zu unbescheiden vorauszusetzen, dass fr\u00fchere Arbeiten, die jetzt zum Theil veraltet sind, noch nachgeschlagen werden , so w\u00fcrde ich au\u00dferdem die ganz allgemeinen Formulirungen anf\u00fchren k\u00f6nnen, die ich im selben Sinne in meinen ersten psychologischen Schriften dem psychophysischen Gesetze gegeben habe J). Es f\u00e4llt mir nat\u00fcrlich nicht bei, hier eine Priorit\u00e4t zu beanspruchen. Wenn es sich darum handelte, zu ermitteln, wer der Erste gewesen ist, der die Relativit\u00e4t der psychischen Zust\u00e4nde einem exacten Gesetze unterordnete, so k\u00f6nnte hier nur Ernst Heinrich Weber oder allenfalls Daniel Bernoulli in Betracht kommen. Aber f\u00fcr die W\u00fcrdigung der weiteren Auseinandersetzungen scheint es mir nicht ganz unerheblich zu sein, festzustellen, in wieweit der Verfasser den einschlagenden Er\u00f6rterungen der neueren Psychophysik gefolgt ist.\nDie Ausf\u00fchrungen Zellers gegen die Messbarkeit psychischer Vorg\u00e4nge lassen sich nun im Wesentlichen auf zwei Punkte zur\u00fcckf\u00fchren, von denen der eine mehr speculativer, der andere empirischer Art ist. Der erste sagt, psychische Vorg\u00e4nge seien nicht messbar, weil der Versuch einer solchen Messung einen Widerspruch mit den Bedingungen in sich schlie\u00dfe, die bei jeder Messung erf\u00fcllt sein m\u00fcssten. Der zweite behauptet, psychische Vorg\u00e4nge seien nicht messbar, weil thats\u00e4chlich alle Versuche, solche Messungen auszuf\u00fchren, gescheitelt seien._ Wir wollen diese beiden 'Behauptungen, deren Begr\u00fcndungen zum Theil mit einander vermengt sind, einer gesonderten Pr\u00fcfung unterziehen.\n\u00bbDie psychischen Vorg\u00e4nge\u00ab, sagt Zeller, \u00bbsind uns nur in un-serm Selbstbewusstsein gegeben, sie k\u00f6nnen daher nur mit Bewusst-\n1) Beitr\u00e4ge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. Leipzig u. Heidelberg 1862, S. XXX f. Vorlesungen \u00fcber die Menschen- und Thierseele. Bd. 1. Leipzig 1863 S. 134.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Messung psychischer Vorg\u00e4nge.\n253\nSeinserscheinungen, also mit einander verglichen und an einander gemessen werden. Von welcher Ma\u00dfeinheit sollen wir aber hierbei ausgehen? .... Wenn wir zwei gegebene Bewusstseinserscheinungen mit einander vergleichen, so ist die erste derselben der Ma\u00dfstab, den wir an die zweite anlegen\u00ab. Jeder Versuch ihrer Messung liefert daher eine blo\u00dfe Verh\u00e4ltnissbestimmung, die von Fall zu Fall wechselt und niemals genau in bestimmten Zahlenwerthen ausgedr\u00fcckt werden kann. Alle quantitativen Bestimmungen bleiben darum hier nur ungef\u00e4hre vergleichende Sch\u00e4tzungen. \u00bbWenn wir z. B. sagen, wir haben uns in einem gegebenen Falle gut oder schlecht unterhalten, so leitet uns hierbei die Erinnerung an die Art, wie wir uns gew\u00f6hnlich unterhalten .... Auf die Frage aber, um wieviel die eine Unterhaltung von der andern an Werth \u00fcbertroffen worden sei, ist \u00e4ugen-scheinlich gar keine Antwort m\u00f6glich.a An einer vorangegangenen Stelle wird bemerkt, dass alle Ver\u00e4nderungen in der Natur als mechanische Bewegungen oder als Complexe solcher Bewegungen sich auffassen lassen, und dass daher Raumgr\u00f6\u00dfen als die unver\u00e4nderlichen Elemente aller unserer physikalischen Messungen gelten. Da nun aber die Bewusstseinserscheinungen in keiner Weise auf mechanische Bewegungen zur\u00fcckf\u00fchrbar seien, so werde damit auch jeder Gedanke an ihre Messung unm\u00f6glich gemacht.\nIch zweifle nicht, dass diese Argumentation bei Solchen, die mit den wirklichen Zwecken und Aufgaben psychischer Messung unbekannt sind , ihren Eindruck nicht verfehlen wird. Trotzdem, glaube ich, lie\u00dfe sich ungef\u00e4hr mit ebenso einleuchtenden Gr\u00fcnden beweisen, dass eine Messung \u00e4u\u00dferer Naturvorg\u00e4nge, obgleich die ganze Physik und Mechanik auf ihr beruhen, doch an sich und aus philosophischen Gr\u00fcnden unm\u00f6glich sei. \u00bbJeder Vorgang\u00ab \u2014 so lie\u00dfe sich etwa sagen \u2014 \u00bbkann nur an einem gleichartigen Vorgang gemessen werden. Nun ist die Sinnesempfindung das unerl\u00e4ssliche H\u00fclfsmittel zur Auffassung der \u00e4u\u00dferen Naturvorg\u00e4nge ; die Sinnesempfindung ist aber eine Bewusstseinserscheinung und als solche durchaus verschieden von den mechanischen Bewegungen, auf die wir das objective Geschehen zur\u00fcckf\u00fchren. Also ist jeder Versuch, das letztere nach seiner wirklichen Beschaffenheit zu messen und zu bestimmen, illusorisch\u00ab.\nIn Wahrheit sind beide Argumentationen Trugschl\u00fcsse von ver-","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nW. Wundt.\nwandtem Charakter. Beide gehen von der Fiction aus, es gebe eine Welt au\u00dfer uns und eine Welt in uns, die sich zwar an ihren Grenzen ber\u00fchren , in ihrem inneren Zusammenhang aber nichts mit einander gemein haben. Diese Fiction ist unhaltbar, denn die Welt au\u00dfer uns besteht aus denjenigen Vorstellungen, denen wir verm\u00f6ge gewisser ihnen zukommender Eigenschaften eine objective Bedeutung beimessen, und die Welt in uns besteht aus diesen n\u00e4mlichen Vorstellungen sammt ihren wechselnden subjectiven Verbindungen und den daran gekn\u00fcpften Gef\u00fchlen und Willensregungen. Darum kann der Physiker jenem Einwand, dass die subjectiven H\u00fclfsmittel der Sinnes-wahmehmung als solche keine objective Untersuchung der \u00e4u\u00dferen Vorg\u00e4nge zulassen, mit voller Ruhe die Antwort entgegenhalten, Alles, was die Physik erstrebe, sei eben nur die Messung gewisser_ob-jectiver Vorstellungen an andern objectiven Vorstellungen, und mit dieser Aufgabe verbleibe sie daher vollst\u00e4ndig innerhalb der Bedingung der Messung des Gleichartigen an Gleichartigem. Mit demselben Rechte wird aber der Psychologe auf die Argumente Zeller\u2019s erwidern k\u00f6nnen: Alles, was die Psychologie, wenn sie Messungen ausfuhrt, erstrebt, ist die Messung gewisser Vorstellungen an andern Vorstellungen, und wenn sie dabei gelegentlich Vorstellungen von blo\u00df subjectivem Charakter an andern Vorstellungen misst, denen unser Bewusstsein eine objective Bedeutung zuschreibt, so h\u00f6ren die letzteren darum nicht auf, Vorstellungen zu sein und als solche der Bedingung der Gleichartigkeit mit dem gemessenen Gegenstand zu gen\u00fcgen.\nFreilich, auf die Hoffnung, die gr\u00f6\u00dfere oder geringere Langweiligkeit einer Unterhaltung nach Zahl und Ma\u00df zu bestimmen, wird die Psychologie voraussichtlich f\u00fcr immer verzichten m\u00fcssen, und sie wird es um so bereitwilliger thun, weil eine solche Bestimmung ebenso werthlos w\u00e4re, wie sie aussichtslos ist. Warum hat Zeller nicht auch den Physikern vorgewrorfen, dass sie sich au\u00dfer Stande sehen, die Zahl der Tropfen im Meere zu z\u00e4hlen oder die. Wege vorauszuberechnen, die ein vom Sturm gepeitschter Kahn auf hoher See einschlagen wird? Soll \u00fcberhaupt die Messung psychischer Vorg\u00e4nge von Erfolg sein, so wird sie sich selbstverst\u00e4ndlich nur auf die elementarsten Vorg\u00e4nge beziehen k\u00f6nnen. Wenn darum Plato in der Republik ausrechnet, dass der wahre K\u00f6nig 729mal so angenehm lebe als der Tyrann, so","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Messung psychischer Vorg\u00e4nge.\n255\nwird man mit ziemlicher Sicherheit annehmen d\u00fcrfen, dass die Ans\u00e4tze einer solchen Rechnung falsch sind, aber man wird nicht, wie es Zeller zu thun scheint, daraus schlie\u00dfen d\u00fcrfen, dass psychische Messungen \u00fcberhaupt unm\u00f6glich seien. Doch dies f\u00fchrt uns auf den zweiten Theil der Zell ersehen Beweisf\u00fchrung, der schlie\u00dflich allein entscheidend ist, auf die Frage, ob die Messung psychischer Vorg\u00e4nge bis jetzt irgend einen thats\u00e4chlichen Erfolg aufzuweisen hat oder nicht.\nIn den Auseinandersetzungen \u00fcber diesen Punkt laufen zwei Gedankenreihen neben einander her, die nicht v\u00f6llig mit einander in Einklang zu bringen sind. Die eine bem\u00fcht sich nachzuweisen, dass eine Gewinnung absoluter Ma\u00dfe auf psychischem Gebiet unm\u00f6glich , und dass man darum hier stets auf relative Ma\u00dfbestimmungen beschr\u00e4nkt Sei. Die andere geht dahin, dass \u00fcberhaupt eine genaue in Zahlen wiederzugebende Messung und also auch eine relative Ma\u00dfbestimmung unm\u00f6glich sei. Einige der Bemerkungen, die sich auf die absolute Messung beziehen, werden schwerlich von irgend Jemanden bestritten werden. Ich glaube nicht, dass ein Psychologe sich jemals mit dem k\u00fchnen Gedanken getragen hat, es werde auf psychischem Gebiete m\u00f6glich sein, \u00e4hnliche absolute Constanten festzustellen, wie wir solche etwa in der Zahl f\u00fcr die irdische Schwere, in den elektrostatischen, elektromagnetischen und elektrodynamischen Einheiten, in dem calorimetrischen Ma\u00dfsystem und in andern numerischen Bestimmungen der Physik besitzen. Selbst in solchen F\u00e4llen, wo sich f\u00fcr gewisse psychische Vorg\u00e4nge durchschnittliche Intensit\u00e4ts- oder Zeit-werthe aufstellen lassen, werden die einzelnen Abweichungen_ wegen der mannigfachen Complicationen, denen hier selbst die elementarsten Processe begegnen, immer von viel gr\u00f6\u00dferem Belang sein. Namentlich aber wird eine solche Bestimmung absoluter Constanten niemals die praktische Bedeutung besitzen k\u00f6nnen, wie auf physikalischem Gebiet, wo auf ihrer Kenntniss haupts\u00e4chlich unsere Beherrschung der Natur durch technische H\u00fclfsmittel beruht. Aber wenn selbst eine absolute Ma\u00dfbestimmung psychischer Vorg\u00e4nge f\u00fcr immer unm\u00f6glich w\u00e4re \u2014 was, wie wir sogleich sehen werden, keineswegs .der J?all ist \u2014 so w\u00fcrde damit doch nicht zugleich die M\u00f6glichkeit genauer, d. h. numerischer Messungen ausgeschlossen sein. F\u00fcr ein Gebiet hat dies Zeller selbst anerkannt, f\u00fcr die Messung der Empfindungen, wo er","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nW. Wundt.\ngerade das Webe r sehe Gesetz als einen Ausdruck der Thatsache betrachtet, dass unsere Ma\u00dfbestimmungen psychischer Zust\u00e4nde blo\u00df relative seien. Nun ist das Web ersehe Gesetz nicht durch philo-, sophische Speculation, auch nicht auf dem Wege der sogenannten. Selbstbeobachtung, sondern durch messende Versuche gefunden, und es selbst enth\u00e4lt daher eine numerische Beziehung, welche zwar zun\u00e4chst die Abh\u00e4ngigkeit der Empfindung von der St\u00e4rke des \u00e4u\u00dferen Reizes, damit aber doch zugleich auch die Abh\u00e4ngigkeit des Wachsthums der Empfindung von einer bereits vorhandenen Empfindungsst\u00e4rke ausdr\u00fcckt : auf diese letztere Beziehung legt ja die psychologische Deutung des Weberschen Gesetzes und damit auch Zeller, der sich ihr anschlie\u00dft, besonderes Gewicht. Ist demnach eben dieses Gesetz der numerische Ausdruck einer ganz allgemeinen psychologischen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit, wie kann man dann gleichzeitig behaupten, dass hier \u00fcberhaupt Messungen unm\u00f6glich seien? Zeigt doch der Verfasser selbst, wie die Resultate solcher Messungen sogar zur Interpretation anderer Erscheinungen verwerthet werden k\u00f6nnen, die nicht unmittelbar messbar sind, indem er das Web er\u2019sehe Gesetz auch auf die Beziehungen der Gef\u00fchle \u00fcbertr\u00e4gt. Damit hat er eigentlich die beste Widerlegung einer verbreiteten Meinung, die trotzdem an mehreren Stellen seiner eigenen Abhandlung anklingt, geliefert, der Meinung n\u00e4mlich, dass die Sinnesempfindungen f\u00fcr die Frage nach der Messbarkeit psychischer Vorg\u00e4nge \u00fcberhaupt nicht in Betracht kommen d\u00fcrften, weil sie noch dem physiologischen Gebiet angeh\u00f6rten.. Gerade darin besteht ja die psychologische Deutung des Weber'schen Gesetzes, der sich der Verfasser anschlie\u00dft, dass der Ausdruck desselben nicht in den physiologischen Reizungsvorg\u00e4ngen, sondern in dem eigent\u00fcmlichen Verhalten unseres Bewusstseins seine Quelle habe, und dass es also in diesem Sinne ein psychologisches Gesetz sei.\nDoch \u2014 so belehrt uns der Verfasser weiter \u2014 alle derartige Messungen beziehen sich nur auf die Intensit\u00e4t der Empfindungen. Die Qualit\u00e4t derselben ist bisher allen Ma\u00df versuchen unzug\u00e4nglich geblieben und wird es voraussichtlich auch in Zukunft bleiben. Die quantitative Abstufung der Tonh\u00f6hen bildet nur eine scheinbare Ausnahme , denn die Unterscheidung der Intervalle beruht hier auf der durch das Zusammenfallen .der Obert\u00f6ne begr\u00fcndeten Klangverwandt^ scliaft, also auf qualitativen Merkmalen. Es ist mir nicht ganz klar,","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Messung psychischer Vorg\u00e4nge.\n257\ninwiefern diese Betrachtung beweisend sein soll. Entweder kann man unter der \u00bbMessung psychischer Vorg\u00e4nge\u00ab eine unmittelbare F\u00e4higkeit unseres Bewusstseins verstehen, seine Zust\u00e4nde messend zu vergleichen : dann ist die musikalische Intervallensch\u00e4tzung zweifellos ein Beleg f\u00fcr diese F\u00e4higkeit, auf welche Merkmale nun auch die Unterscheidung der Intervalle sich st\u00fctzen mag. Oder man versteht unter jener Messung das experimentelle Verfahren, das wir auf die Untersuchung der Bewusstseinsvorg\u00e4nge an wenden, dann geh\u00f6rt abermals der Fall nicht hierher, denn die Theorie der Klangverwandtschaft, auf welche sich der Verfasser beruft, st\u00fctzt sich auf Resultate, die durch messende Versuche gewonnen wurden. Ebenso ist es aber v\u00f6llig irrig, wenn weiterhin behauptet wird, auf andere Sinnesqualit\u00e4ten, wie z. B. auf die Farbenempfindungen, seien solche Versuche unanwendbar. Die quantitative Bestimmung der Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Farben beruht z. B. auf den n\u00e4mlichen Ma\u00dfprincipien wie die Untersuchung der Empfindungsst\u00e4rken. Noch mehr in das psychologische Gebiet f\u00e4llt die Untersuchung der Contrasterschei-nungen, f\u00fcr die manches durch quantitative Bestimmungen gewonnene Material bereits vorliegt und anderes mittelst der Anwendung der psychophysischen Ma\u00dfprincipien wohl noch zu gewinnen ist.*)\nAuf die Untersuchungen \u00fcber die zusammengesetzteren Processe der Sinneswahmehmung ist der Verfasser gar nicht eingegangen. Dennoch kann hier im selben Sinne wie im Gebiet der elementaren psychophysischen Versuche eine \u00bbMessung psychischer Vorg\u00e4nge\u00ab in Frage kommen. Nicht nur nimmt das Verfahren, dessen sich die experimentelle Psychologie bedient, quantitative Methoden zu H\u00fclfe, sondern auch in die Resultate pflegen gewisse numerische Werthe von psychologischer Bedeutung einzugehen. In der Theorie des Sehens z. B. spielen die Untersuchungen \u00fcber die Unterscheidung kleinster Bewegungen des Auges und ihre Beziehung zur Sch\u00e4rfe des Sehens, \u00fcber die Gr\u00f6\u00dfe der bei der Sch\u00e4tzung von Richtungen und Distanzen begangenen Fehler, \u00fcber die mannigfachen quantitativ abzustufenden Bedingungen von Gesichtst\u00e4uschungen, sowie \u00fcber den Werth\n1) In einem der n\u00e4chsten Hefte dieser Studien wird eine in meinem Laboratorium ausgef\u00fchrte eingehende Arbeit \u00fcber den Farbencontrast erscheinen, welche durchg\u00e4ngig auf solchen Messungen beruht.","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nW. Wundt.\nder letzteren eine nicht unerhebliche Rolle. Nun wird kein Psychologe leugnen wollen, dass die Vorg\u00e4nge der Unterscheidung, dex T\u00e4uschung u. dergl. zun\u00e4chst Bewusstseinserscheinungen sind. Eino Untersuchung der quantitativen Ver\u00e4nderungen, welche diese Erscheinungen durch die Variation ihrer objectiven physiologischen Bedingungen erfahren, wird daher mit demselben Rechte, wie die Er-f mittelungen \u00fcber das Weber\u2019sche Gesetz, dem Gebiet psychischer Messung zugez\u00e4hlt werden k\u00f6nnen.\nMag nun aber auch diese Peripherie des Seelenlebens, die sich unmittelbar mit den k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4ngen ber\u00fchrt, dem experi-mentirenden Physiologen preisgegeben werden, die inneren psychischen Vorg\u00e4nge spotten nach Zeller's Ansicht jeder Anwendung von Ma\u00df und Zahl. Bei ihnen soll nicht einmal eine relative, geschweige denn eine absolute Messung m\u00f6glich sein. \u00bbDas einzige\u00ab meint Zeller, \u00bbworan etwa gedacht werden k\u00f6nnte, die Zahl der in einem gegebenen Zeitr\u00e4ume vollzogenen psychischen Akte, l\u00e4sst sich aus nahe liegenden Gr\u00fcnden niemals feststellen ; und ebensowenig l\u00e4sst sich die k\u00fcrzeste Dauer eines solchen Aktes bestimmen.;-was man vielmehr derartiges versucht hat. beschr\u00e4nkte sich theils auf gewisse Sinnesempfindungen, theils war es schon deshalb sehr unsicher , weil nicht die Dauer der einfachen Empfindungen, sondern nur die Zeit gemessen werden konnte, welche der Einzelne zu zwei aufeinanderfolgenden Wahrnehmungen oder zu einer Wahrnehmung und einer durch sie veranlassten Bewegung braucht.\u00ab\nDiese lakonische Aeu\u00dferung ist das Einzige, was unser Verfasser \u00fcber das in neuester Zeit so eifrig cultivirte Gebiet der psychologischen Zeitmessung zu sagen f\u00fcr n\u00f6thig findet. Wenn diese Worte vor zwanzig Jahren geschrieben w\u00e4ren, so w\u00fcrde sich vielleicht gegen sie einwenden lassen , dass es nicht ganz billig sei, ein neues Untersuchungsgebiet deshalb als aussichtslos zu bezeichnen, weil es noch nicht \u00fcber unvollkommene Anf\u00e4nge hinausgekommen ist. Heute erwecken sie den Verdacht, dass der Verfasser in seiner Kenntniss dieses Gebietes auf dem Standpunkte stehen geblieben ist, der vor zwanzig Jahren m\u00f6glich wrar. Oder hat Zeller gegen die Versuche, die in neuerer Zeit ausgef\u00fchrt worden sind, um nach Elimination der \u00e4u\u00dferen physiologischen Leitungs- und Bewegungsvorg\u00e4nge die Dauer der Apperception verschiedener einfacher oder zusammenge-","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Messung psychischer Vorg\u00e4nge.\n259\nsetzter Vorstellungen, der Willenserregung, der Association einer Vorstellung zu bestimmen, so schwere Bedenken, dass er den psychologischen Werth dieser Messungen nicht anerkennt? Dann w\u00e4re es doch Pflicht gewesen, diese Bedenken geltend zu machen. Ich will nicht davon reden, dass in der ungef\u00e4hr sechs Monate vor dem akademischen Vortrag der ZeHerrschen Abhandlung erschienenen zweiten Auflage meiner \u00bbphysiologischen Psychologie\u00ab bereits die wesentlichen Resultate der in dem vorliegenden und dem vorangegangenen Hefte der \u00bbphilosophischen Studien\u00ab enthaltenen experimentellen Arbeiten mitgetheilt sind. Bei philologischen, historischen und naturwissenschaftlichen Arbeiten pflegt man zwar zu verlangen, dass sich ein Autor, ehe er \u00fcber einen bestimmten Gegenstand seine Meinung \u00e4u\u00dfert, nicht nur mit der \u00e4lteren, sondern auch mit der neueren Literatur desselben einigerma\u00dfen vertraut gemacht habe; einem Philosophen l\u00e4sst sich bei der Vielseitigkeit seiner Besch\u00e4ftigungen eine solche Kenntniss nicht immer zumuthen. Aber die Versuche von Bonders, die absoluten Unterscheidungs- und Willenszeiten zu bestimmen, sind schon seit dem Jahre 1868 in Deutschland bekannt, und sie haben seitdem mannigfache Nachfolge gefunden. Je einschneidender das Urtheil des Verfassers \u00fcber die ganze Frage, und je angesehener mit Recht seine philosophische Autorit\u00e4t ist, um so mehr war es, wie ich meine, seine Pflicht, \u00fcber diese Dinge nicht schweigend hinwegzugehen. Ein besonderer Grund zur Ber\u00fccksichtigung derselben lag f\u00fcr ihn \u00fcberdies in der Thatsache, dass e$ sich gerade bei diesen Zeitmessungen um die Bestimmung rein psychischer Vorg\u00e4nge handelt, und dass hier \u00fcberall der Versuch gemacht wird, die absolute Dauer der Vorg\u00e4nge zu ermitteln, im Widerspruch mit dem Grundthema der Zeller\u2019schen Abhandlung, wonach auf psychischem Gebiet nur relative Sch\u00e4tzungen m\u00f6glich seien. Oder sollen diese Messungen etwa deshalb keinen psychologischen Werth haben, weil wir unsere absoluten Zeitma\u00dfe \u00e4u\u00dferen BewegungsVorg\u00e4ngen entnehmen? Mit demselben Rechte, meine ich, k\u00f6nnte man es f\u00fcr unzul\u00e4ssig erkl\u00e4ren, dass wir in der praktischen Lebensf\u00fchrung unsere geistige Th\u00e4tigkeit nach \u00e4u\u00dferen Zeitma\u00dfen regeln.\nWenn eine Voraussetzung mit den Thatsachen in Widerspruch ger\u00e4th, so ist zu vermuthen, dass entweder die Voraussetzung falsch 1st, oder dass von ihr ein unrichtiger Gebrauch gemacht wird. Ich","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nW. Wundt. Ueber die Messung psychischer Vorg\u00e4nge.\nhoffe gezeigt zu haben, dass hier der letztere Fall zu trifft. Der Satz, dass die Bewusstseinserscheinungen nur an Bewusstseinserscheinungen gemessen werden k\u00f6nnen, ist richtig; aber er f\u00fchrt zu Trugschl\u00fcssen, wenn man ihn stillschweigend mit der weiteren Voraussetzung verbindet, die \u00e4u\u00dfere Erfahrung geh\u00f6re nicht zu den Bewusstseinserscheinungen. Denn diese Voraussetzung ist in dem Ma\u00dfe falsch, dass man sich ihrer sogar nur als stillschweigend eingef\u00fchrter Pr\u00e4misse zu bedienen wagt. Zellers ganze Argumentation ist theils auf diesen Irrthum, theils auf eine f\u00fcr den gegenw\u00e4rtigen Zustand der Wissenschaft nicht mehr zutreffende Kenntniss der Thatsachen gebaut. Von seinen Ausf\u00fchrungen sind daher nur diejenigen richtig, die sich auf das psychophysische Gesetz beziehen, und die mit seinen sonstigen Behauptungen im Widerspruch stehen. Irrth\u00fcmer aber sind bekanntlich um so gef\u00e4hrlicher, je gewichtiger die Autorit\u00e4t ist, die ihnen ihre Unterst\u00fctzung leiht. Sollte meine Bek\u00e4mpfung der Ansichten unseres vortrefflichen Historikers der Philosophie etwas energisch ausgefallen sein, so hoffe ich darum, dass man hierin zugleich ein Zeichen der Hochsch\u00e4tzung erblicken m\u00f6ge, mit der ich vor seiner philosophischen Autorit\u00e4t erf\u00fcllt bin.","page":260}],"identifier":"lit657","issued":"1883","language":"de","pages":"251-260","startpages":"251","title":"Ueber die Messung psychischer Vorg\u00e4nge","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:00:10.882654+00:00"}