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{"created":"2022-01-31T12:58:23.554909+00:00","id":"lit660","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 1: 473-494","fulltext":[{"file":"p0473.txt","language":"de","ocr_de":"Die Logik der Chemie.\nEine methodologische Betrachtung von\nW. Wundt.\nSeit Baco die Physik die Mutter der Wissenschaften genannt hat, ist mehr und mehr die Ansicht zur allgemeinen Geltung durchgedrungen, dass in den Methoden der physikalischen Forschung das vollendetste Beispiel inductiver Methodik f\u00fcr alle \u00fcbrigen Erfahrungswissenschaften aufgestellt sei, \u00e4hnlich wie man umgekehrt in der Mathematik das un\u00fcbertreffliche Vorbild einer rein deductiven Wissenschaft zu sehen pflegt.\nIn der englischen Logik, deren Anschauungen in dieser Beziehung ma\u00dfgebend geworden sind, wirkt das Baconische Vorbild in einem guten, aber auch in einem schlimmen Sinne nach. So viel Anerken-nenswerthes z. B. John Herschel\u2019s \u00bbEinleitung in das Studium der Naturwissenschaften\u00ab und John Stuart Mills Logik \u00fcber die Methoden der experimentellen Forschung enthalten, so ist doch unschwer zu sehen, dass die Regeln, welche sie aufstellen, nicht direct aus der naturwissenschaftlichen Forschung abstrahirt, sondern zun\u00e4chst mit zweckm\u00e4\u00dfig angebrachten Vereinfachungen den Baconischen Vorschriften entlehnt und dann nachtr\u00e4glich durch moderne Beispiele erl\u00e4utert sind. F\u00fcr Baco aber ist das Urtheil seines Zeitgenossen William H a r v e y, \u00bber habe \u00fcber die Wissenschaften geurtheilt als ein Lordkanzler\u00ab, in dem doppelten Sinne wahr, dass es nicht blo\u00df auf die fl\u00fcchtige Kenntniss, die der vornehme Mann von der Naturwissenschaft seiner\nWundt, Phil. Studien. I.\t32","page":473},{"file":"p0474.txt","language":"de","ocr_de":"474\nVV. Wundt,\nZeit besa\u00df, sondern auch auf den juristischen Standpunkt seiner Methodenlehre hinweist, die, statt auf musterg\u00fcltige Beispiele induc-tiver Forschung gegr\u00fcndet zu sein, vielmehr ausdr\u00fccklich an das richterliche Zeugenverh\u00f6r und den Instanzenzug eines Processes erinnert.\nNun k\u00f6nnte man freilich fragen: Wenn die Baconischen Vorschriften nicht dennoch mit der Erfahrung \u00fcbereinstimmen, wie kommt es denn, dass jene neueren Autoren Beispiele finden konnten, die sich den Vorschriften f\u00fcgten? Aber man muss eine sehr geringe Meinung von den \u00bbAnticipationen des Geistes\u00ab haben, vor denen Niemand nachdr\u00fccklicher als Baco selbst gewarnt hat, um eine derartige Frage im Ernste erheben zu k\u00f6nnen. Wenn ein Logiker Thatsachen findet, die in ein fertiges Schema leidlich passen , so ist darum noch nicht einmal gewiss, ob er auch nur aus den n\u00e4mlichen Thatsachen das n\u00e4mliche Schema abstrahiren w\u00fcrde. Ziemlich gewiss aber ist es, dass er \u00fcberhaupt ganz andere musterg\u00fcltige Beispiele gew\u00e4hlt h\u00e4tte, w\u00e4re ihm nicht durch die im voraus empfangene Regel schon eine bestimmte Richtschnur gegeben gewesen.\nW\u00e4hrend ich nun in einem fr\u00fcheren Aufsatze dieser Studien mich zu zeigen bem\u00fchte, dass in der Mathematik der Induction eine viel bedeutsamere Rolle zukommt, als man gew\u00f6hnlich annimmt, und dass daher die gel\u00e4ufige Auffassung derselben als einer \u00bbdeductiven Wissenschaft\u00ab bis zu einem gewissen Grade einseitig ist, scheint mir die Auffassung der Physik als einer \u00bbinductiven Wissenschaft\u00ab gerade im entgegengesetzten Sinne das Ziel zu verfehlen. Vielmehr ruht die Physik im wesentlichen in nicht anderer Weise als die Mathematik auf Inductionen. Die vorwiegende Forschungsmethode ist aber auch in ihr die deductive, wie sie denn \u00fcberhaupt in methodischer Beziehung die gr\u00f6\u00dfte Verwandtschaft mit der Mathematik besitzt, und zwar nicht blo\u00df in jenen Gebieten der theoretischen oder mathematischen Physik, die man l\u00e4ngst in eine Art von Mittelstellung verwiesen oder manchmal sogar vorzugsweise der Mathematik zugerechnet hat, sondern selbst in denjenigen Untersuchungen, die durchaus zur Dom\u00e4ne der \u00bbExperimentalphysik\u00ab geh\u00f6ren. Zugleich verwickeln sich in der letzteren durch das fortw\u00e4hrende Eingreifen von Inductionen und Abstractionen derma\u00dfen die logischen Verfahrungsweisen, dass physikalische Untersuchungen namentlich bei den oft sehr complicirten","page":474},{"file":"p0475.txt","language":"de","ocr_de":"Die Logik der Chemie.\n475\nProblemstellungen, die der heutige Zustand der Wissenschaft mit sich f\u00fchrt, nur selten sich eignen, um an ihnen methodische Fragen mit Erfolg studiren zu k\u00f6nnen. Am allerwenigsten aber lassen sich solche Untersuchungen zur Gewinnung der ersten methodischen Anhaltspunkte benutzen. So sehr also jener Satz, dass die Physik die Mutter der Wissenschaften sei, wenigstens den \u00fcbrigen Naturwissenschaften gegen\u00fcber in Bezug auf die Grundbegriffe und die allgemeinen Principien der Natur er kl\u00e4rung immer noch gilt, so kann demselben doch in methodischer Hinsicht nur bedingungsweise beigepflichtet werden. Vielmehr liegt hier eine eigenth\u00fcmliche Schwierigkeit der Physik gerade darin, dass sie, mitten inne stehend zwischen der Mathematik und den inductiven Gebieten der Naturforschung, meistens keine der fundamentalen Methoden auch nur im Zusammenhang einer einzelnen Untersuchung hinreichend isolirt zur Geltung bringt, um sie mit voller Klarheit in ihrer Anwendung beobachten zu k\u00f6nnen.\nEs ist hier nicht der Ort, diese Behauptung \u00fcber die logische Stellung der Physik n\u00e4her zu begr\u00fcnden. Ein kurzer historischer Hinweis wird gen\u00fcgen, um sie wenigstens minder befremdlich erscheinen zu lassen, als sie Manchem auf den ersten Blick sein k\u00f6nnte.\nAls die haupts\u00e4chlichsten Sch\u00f6pfer der heutigen physikalischen Methodik sind bekanntlich Galilei und Newton anzusehen. Sie haben die logischen H\u00fclfsmittel geschaffen, durch welche jene \u00bbInterpretation der Natur\u00ab ins Werk gesetzt wurde, um die sich ein Baco vergeblich bem\u00fchte. Galilei\u2019s Methode ist nun verm\u00f6ge der verh\u00e4lt-nissm\u00e4\u00dfigen Einfachheit der Probleme, mit denen er sich besch\u00e4ftigt, von durchsichtiger Klarheit. So tiefe Blicke er aber auch in das wahre Wesen der naturwissenschaftlichen Induction gethan hat, deren Unterschiede von der methodisch werthlosen \u00bb vollst\u00e4ndigen Induction \u00ab des Aristoteles er scharf hervorhebt, so ist doch seine eigene Methode ganz und gar nicht die inductive, sondern die der mathematischen Deduction und nachtr\u00e4glichen Verification durch Experiment und Beobachtung. Die Hauptst\u00e4rke des Galilei\u2019schen Geistes ist sein eminentes Abstractionsverm\u00f6gen, eine von der inductiven Verarbeitung der Erfahrung ziemlich entfernt liegende Geistesanlage. Diese macht ihn zum Sch\u00f6pfer der mechanischen Axiome. Dem Tr\u00e4gheitsgesetz und dem Princip der Kelativit\u00e4t der Bewegung, diesen unver-\n32*","page":475},{"file":"p0476.txt","language":"de","ocr_de":"476\n\\V. Wundt.\ng\u00e4nglichen Entdeckungen des Galilei\u2019sehen Denkens, liegen freilich auch Inductionen zu Grunde. Sie aber geh\u00f6ren ganz und gar der primitiven Form unmittelbarster, in einfachen Anschauungen begr\u00fcndeter Induction an, wie sie auch den mathematischen Abstrac-tionen vorausgeht. Das Fallgesetz und das Gesetz der parabolischen Wurfbewegung hat Galilei aus jenen von ihm mehr intuitiv als in-ductiv gefundenen Axiomen deducirt, durch Experimente aber hat er das Resultat seiner Deductionen best\u00e4tigt, so weit von einer solchen Best\u00e4tigung bei dem abstracten, durch manche \u00e4u\u00dfere Bedingungen, wie Luftwiderstand und Reibung, modificirten Charakter der Gesetze und bei der mangelhaften Beschaffenheit der experimentellen H\u00fclfs-mittel die Rede sein kann.\nBei Newton nimmt die physikalische Methodik schon eine weit verwickeltere Form an. Nur die der abstracten Mechanik zugeh\u00f6rigen Entwicklungen seiner \u00bbPrincipien der mathematischen Naturphilosophie \u00ab bewahren den Charakter mathematischer Deduction ; dagegen ist diese in den astronomischen Theilen \u00fcberall mit Inductionen verwebt, und noch mehr kommen letztere in Newton\u2019s optischen Arbeiten zur Geltung. Immerhin gewinnen auch hier in dem Ganzen der Untersuchung Analogieschl\u00fcsse und hypothetische Folgerungen einen Einfluss, der es einigerma\u00dfen schwierig macht, daraus allgemeine Regeln der physikalischen Methodik zu abstrahiren.\nWenn ich nun behaupte, dass demgem\u00e4\u00df nicht die Physik, sondern die Chemie diejenige Wissenschaft ist, in welcher die Methoden der naturwissenschaftlichen Induction ihre sch\u00e4rfste Ausbildung gefunden haben, so bin ich beinahe darauf gefasst, da und dort bei den Chemikern selbst einem Widerspruch zu begegnen. Sollten gewisse kritische Stimmen Recht haben, die aus dem Kreise derselben laut geworden sind, so w\u00fcrde es mit der Logik der modernen Chemie ziemlich schwach bestellt sein. Wird doch manchen ihrer Vertreter vorgeworfen, dass sie nicht blo\u00df mit der Logik, sondern sogar mit der Grammatik auf gespanntem Fu\u00dfe leben. Aber vielleicht ist gerade diese scharfe logische Censur ein besonders schlagendes Zeugniss f\u00fcr den eminent logischen Charakter der chemischen Wissenschaft. Denn schwerlich w\u00fcrde man in der Kritik chemischer Arbeiten ein so gro\u00dfes Gewicht auf die logische Seite legen k\u00f6nnen, wenn nicht der Charakter der Wissenschaft selbst dazu herausforderte. In der That","page":476},{"file":"p0477.txt","language":"de","ocr_de":"Die Logik der Chemie.\n477\nmeine ich, dass in Bezug auf die reine Ausbildung bestimmter logischer Methoden die Chemie fast nur mit der Mathematik zu vergleichen ist. Wie in dieser die Deduction, so ist in jener die Induction zu ihrer vollendetsten Ausbildung gelangt. Es gibt keine zweite Wissenschaft, in welcher das inductive Verfahren in so unvermischter Form und in so klarer Abfolge seiner einzelnen Stadien zu erkennen w\u00e4re.\nVerschiedene Umst\u00e4nde treffen zusammen, um diesen Erfolg herbeizuf\u00fchren. Wenn der logische Charakter der Mathematik wesentlich durch ihre hohe Ausbildung mitbedingt ist, so kann man von der Chemie wohl sagen, dass ihre logischen Eigent\u00fcmlichkeiten gerade einer verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig geringeren Ausbildung der Wissenschaft als solcher bed\u00fcrfen, um in voller Reinheit zur Geltung zu kommen. In der That ist der Zeitpunkt vielleicht nicht mehr ganz fern gelegen, wo auch der Chemie in noch weiterem Umfange, als es bis jetzt schon der Fall ist, jener deductive Zug sich bem\u00e4chtigt, der, urspr\u00fcnglich von der Mechanik ausgehend , allm\u00e4lig mit unwiderstehlicher Gewalt alle anderen Naturwissenschaften ergreift. Schon hat sich in der \u00bbphysikalischen Chemie\u00ab ein Untersuchungsgebiet abgetrennt, welches, haupts\u00e4chlich auf den Voraussetzungen der mechanischen W\u00e4rmetheorie fu\u00dfend, die in ihm herrschende physikalische Behandlungsweise der Probleme auszudehnen bestrebt ist. Zum Theil ist es wohl gerade diese aus neuen Anschauungen hervorgehende Ver\u00e4nderung der Methodik mit den bei ihrer geringen Ausbildung derselben noch anhaftenden M\u00e4ngeln, welche manche \u00e4ltere Chemiker, die in der Schule der klassischen chemischen Induction gro\u00df geworden sind, abst\u00f6\u00dft und sie als Mangel an Methode ansehen l\u00e4sst, was doch nur eine andere, von der bis dahin befolgten abweichende und freilich auch mit den Unvollkommenheiten alles Neuen behaftete Methode ist. Die verbreitetste dieser Unvollkommenheiten ist bekanntlich das eilfertige Theoretisiren. Wer die Geschichte der Wissenschaften kennt, wei\u00df, dass diese Schw\u00e4che den Uebergangsstadien ihrer Entwicklung niemals gefehlt hat. Sie ist ein nothwendiges Uebel, so gut wie der Irrthum, ohne den es keine Wahrheit g\u00e4be. Aber leicht erscheint denjenigen, die sich der sicheren Errungenschaften auf dem bis dahin verfolgten Wege erfreuen, als ein unreifer und verfehlter Versuch, was doch nur der unerl\u00e4ssliche Anfang auf einem neuen und aussichtsreicheren Wege ist.","page":477},{"file":"p0478.txt","language":"de","ocr_de":"478\nW. Wundt.\nDas Zeitalter der chemischen Induction hat seine Bl\u00fctheperiode erreicht in der haupts\u00e4chlich durch die Namen Berzelius und Lie-b i g bezeichneten Entwicklung der neueren Chemie. Nach einzelnen Seiten, namentlich auf dem Gebiete der chemischen Synthese, ist dieser Bl\u00fcthe noch eine Nachbl\u00fcthe gefolgt. Gleichwohl beginnt in neuerer Zeit theils durch ein einseitiges, wenn auch bei der F\u00fclle des angesammelten Stoffes hinreichend begreifliches Classificationsbestreben, theils durch die oben ber\u00fchrten physikalischen Einfl\u00fcsse der Charakter der chemischen Forschung allm\u00e4lig ein anderer zu werden. Auf diese Weise liegt jenes Zeitalter, f\u00fcr das man in diesem Sinne ganz wohl den Ausdruck des klassischen adoptiren kann, gerade in der richtigen Mitte zwischen den unsicher tastenden Anf\u00e4ngen der Forschung und einer weitergehenden Entwicklung, in der die Methoden einen gemischteren Charakter annehmen.\nAber es ist nicht blo\u00df der g\u00fcnstige Zeitpunkt, in welchem wir vielleicht eben jetzt noch das Bild der chemischen Wissenschaft zu erfassen verm\u00f6gen, der uns in ihr den Typus einer inductiven Naturwissenschaft sehen l\u00e4sst, sondern offenbar bringen es die eigenth\u00fcmlichen Aufgaben derselben mit sich, dass hier die Induction deutlicher von anderen Verfahrungsweisen und in ihre einzelnen Processe und Stadien sich scheidet. Die Stoffbestandtheile sind in gewissem Sinne stabiler als andere Naturerscheinungen. Sie gestatten es der Forschung, die Probleme, die sich ihr in Bezug auf die materielle Zusammensetzung der K\u00f6rper darbieten, in regelm\u00e4\u00dfig geordneter Folge von Stufe zu Stufe zu l\u00f6sen, und selbst in solchen F\u00e4llen, wo die sp\u00e4teren Aufgaben noch nicht l\u00f6sbar sind, bieten die zun\u00e4chst zug\u00e4nglichen immer noch ein zureichendes Interesse dar, um sie selbst\u00e4ndig in Angriff zu nehmen. Bei physikalischen Problemen dagegen greifen alle Einzelaufgaben viel inniger in einander ein, und eine blo\u00df theilweise L\u00f6sung l\u00e4sst uns meist so unbefriedigt, dass ihr kaum ein besonderer Werth beigemessen wird. So meinen wir z. B., es sei sehr wenig geleistet, wenn eine physikalische Erscheinung in ihre Bestandtheile zerlegt ist ; wir verlangen vor Allem die causale Beziehung derselben kennen zu lernen. Auf chemischem Gebiete dagegen besitzt das ^Resultat einer Elementaranalyse, selbst wenn es uns noch zu gar keinen Vorstellungen \u00fcber die sogenannte rationelle Zusammensetzung des betreffenden K\u00f6rpers verhilft, schon einen selbst\u00e4ndigen Werth.","page":478},{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"Die Logik der Chemie.\n479\nBevor ich nun zu einer kurzen Schilderung des logischen Charakters der chemischen Untersuchungsmethoden \u00fcbergehe, wird es erforderlich sein, die Hauptmethoden der wissenschaftlichen, insbesondere der naturwissenschaftlichen Forschung mit R\u00fccksicht auf ihre regelm\u00e4\u00dfige Aufeinanderfolge in einigen allgemeinen Umrissen zu skizziren. Ich habe schon erw\u00e4hnt, dass ich die von den Hauptvertretern der neueren englischen Logik gro\u00dfentheils nach Baconischem Vorbild gegebene Darstellung der naturwissenschaftlichen Methodik nicht als zutreffend anzuerkennen vermag. Auch glaube ich nicht, dass man anders ein einigerma\u00dfen klares Bild von der Aufeinanderfolge und Wechselbeziehung der verschiedenen Methoden gewinnen kann, als indem man, die \u00fcberlieferten Regeln v\u00f6llig zur Seite lassend, aus musterg\u00fcltigen und m\u00f6glichst einfachen Beispielen die wahren Gesetze des wissenschaftlichen Verfahrens zu abstrahiren versucht. Es versteht sich von seihst, dass die Resultate dieser Abstraction aus den Objecten der methodologischen Erfahrung in manchen einzelnen Punkten mit Beobachtungen Zusammentreffen werden, die theils von Logikern, theils von Naturforschern bereits gemacht worden sind. Insbesondere sind die einzelnen elementaren Verfahrungsweisen schon mehrfach geschildert, am treffendsten vielleicht von Newton im dritten Buch seiner Optik.\nDie s\u00e4mmtlichen logischen Verfahrungsweisen, die bei einer wissenschaftlichen Untersuchung zur Anwendung kommen, lassen sich nun zun\u00e4chst unterscheiden in einfache und in zusammengesetzte. Die ersteren bilden die Elemente der letzteren, deren specifische Eigenth\u00fcmlichkeit sich stets auf die Verbindungsweise und Reihenfolge, sowie auf das Vorwalten bestimmter einfacher Methoden zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4sst. Der einfachen Methoden der Untersuchung gibt es nur zwei : die Analyse und die Synthese. Die erstere besteht in der Zergliederung eines zusammengesetzten Gegenstandes in seine Bestandtheile, die letztere in der Verbindung irgend welcher relativ einfacher Thatsachen zum Behuf der Erzeugung zusammengesetzter Resultate. In die zusammengesetzten Methoden der Untersuchung gehen Analyse und Synthese als ihre Bestandtheile ein. Auf diese Weise erheben sich auf beiden wieder zwei Paare zusammengesetzter Methoden von allgemeing\u00fcltiger Bedeutung: die Abstraction mit ihrer Umkehrung, der Determi-","page":479},{"file":"p0480.txt","language":"de","ocr_de":"480\nW. Wundt.\nnation , und die In duc tion mit ihrer Umkehrung, der Deduction. Die Abstraction gr\u00fcndet sich auf analytische Untersuchungen, die Determination ist ein synthetisches Verfahren. Die Induction st\u00fctzt sich vorzugsweise auf eine Analyse der Thatsachen ; die Deduction verbindet hinwiederum die durch die Analyse gewonnenen Elemente. Doch ist damit schon hei der Abstraction und Determination und noch mehr bei der Induction und Deduction nur die vorwiegende Richtung der Denkoperationen bezeichnet, und es verr\u00e4th sich eben in der im allgemeinen combinirten Anwendung der Analyse und Synthese die zusammengesetztere Beschaffenheit der Methoden. Uebrigens sind in dieser Beziehung wieder die Abstraction und Determination als die relativ einfacheren Verfahrungsweisen zu betrachten, wenn es auch in der concreten wissenschaftlichen Untersuchung h\u00e4ufig genug sich f\u00fcgt, dass die Abstraction erst an bereits vollzogene Inductionen ankn\u00fcpft und die Determination sogar noch in den Verlauf der Deduction wirkungsvoll eingreift.\nVergleichen wir nun mit diesen hier nur in den \u00e4u\u00dfersten Umrissen angedeuteten allgemeinen Principien der wissenschaftlichen Methodik speciell die chemischen Verfahrungsweisen, so erhellt sofort, dass hier gerade die ersten, einfacheren Stufen der Untersuchung mit seltener Deutlichkeit ausgebildet sind. Es gibt kein bezeichnenderes Merkmal f\u00fcr diese Thatsache, als dass wieder die Chemie neben der Mathematik die einzige Disciplin ist, in welcher die Ausdr\u00fccke f\u00fcr die beiden elementaren logischen Methoden eine gel\u00e4ufige V er wendung finden. Aber in der deutlichen logischen Auspr\u00e4gung ihrer Unterschiede ist hier zweifellos die Chemie der exacteren Wissenschaft weit \u00fcberlegen. Wohl unterscheidet auch der Mathematiker zwischen analytischer und synthetischer Methode, aber er ger\u00e4th doch nicht selten in einige Verlegenheit, wenn man von ihm verlangt, die Unterschiede beider pr\u00e4cis zu definiren. In der That wird man in den meisten Werken \u00fcber Analysis und \u00fcber synthetische Geometrie vergeblich nach befriedigenden Begriffsbestimmungen suchen. Diese hier unleugbar vorhandene Schwierigkeit entspringt, wie ich an einem fr\u00fcheren Ort ausgef\u00fchrt habe, aus dem innigen Ineinandergreifen beider Methoden, welches es bedingt, dass jene mathematischen Gebiete \u00fcberhaupt nur von dem in ihnen vorwiegenden logischen Verfahren ihre","page":480},{"file":"p0481.txt","language":"de","ocr_de":"Die Logik der Chemie.\n481\nNamen erhalten haben.1) In der Chemie ist von dieser Schwierigkeit nichts zu bemerken. Jedermann wei\u00df , was er unter einer chemischen Analyse und einer chemischen Synthese zu verstehen habe, und es ist nicht die geringste Gefahr vorhanden, dass man beide mit einander verwechsle. Die Arbeitsgebiete sind hier auch in logischer Beziehung vollkommen scharf von einander zu trennen, ja eigentlich in logischer Beziehung mehr als in technischer, da bekanntlich die H\u00fclfsmittel der chemischen Analyse und Synthese vielfach \u00fcbereinstimmen, und da nicht nur die erstere die Herstellung bestimmter Verbindungen, sondern vor allem auch die letztere die Zerlegung vorhandener Verbindungen zu ihren Zwecken benutzt. Bilden doch die Affinit\u00e4tswirkungen der Elemente im so genannten Status nascendi die Grundlage der ganzen chemischen Synthese. Auch darin d\u00fcrfte aber schlie\u00dflich ein gewisser Vorzug der Chemie in logischer Hinsicht zu erblicken sein, dass in ihr die Bezeichnungen der Analyse und Synthese im wesentlichen auf die betreffenden Verfahrungsweisen beschr\u00e4nkt blieben, w\u00e4hrend diese Namen in der Mathematik auf ganze Disciplinen \u00fcbertragen worden sind, die dann selbstverst\u00e4ndlich auch anderer Methoden nicht entbehren k\u00f6nnen, ein Umstand, der einem laxen Gebrauch der Begriffe allzu f\u00f6rderlich gewesen ist. Dieser logische Vorzug der Chemie h\u00e4ngt damit zusammen, dass in ihr weit mehr als in andern Gebieten das Gesch\u00e4ft der Analyse und der Synthese aus dem sonstigen Zusammenhang der Probleme sich herausl\u00f6sen und bis zu einem gewissen Grade selbst\u00e4ndig behandeln l\u00e4sst. Nur selten reicht in dieser Beziehung das analytische oder synthetische Verfahren des Mathematikers an die Reinheit der chemischen Methodik heran. Die meisten Physiker vollends w\u00fcrden wohl in Verlegenheit kommen, wenn man sie nach einem treffenden Beispiel experimenteller physikalischer Analyse befragen wollte ; und doch ist nichts gewisser, als dass auch hier eine derartige Analyse existiren muss.\nVerm\u00f6ge dieser klaren Sonderung der einfachen logischen Methoden von einander lassen sich dieselben nun auch im Gebiete der Chemie viel deutlicher in ihren einzelnen Stadien verfolgen, als in irgend einer anderen wissenschaftlichen Disciplin. Ueberall kann sich die naturwissenschaftliche Analyse zwei Aufgaben stellen, die im all-\n1) Ueber die mathematische Induction. Philosophische Studien, I, S. 96.","page":481},{"file":"p0482.txt","language":"de","ocr_de":"482\nW. Wundt.\ngemeinen nur successiv gel\u00f6st werden k\u00f6nnen : die erste besteht in der Unterscheidung der Elemente einer Erscheinung, die zweite in der Nachweisung der causalen Beziehungen dieser Elemente zu einander. Es gibt keine Naturwissenschaft, in welcher diese Aufgaben und die ihnen entsprechenden logischen und technischen Verfahrungsweisen so scharf sich sondern wie in der chemischen Analyse. Bei der Untersuchung physikalischer Erscheinungen steht die causale Frage sofort im Vordergrund, und sie l\u00e4sst eine objective, von den urs\u00e4chlichen Beziehungen der Elemente vorl\u00e4ufig abstrahirende Zerlegung gar nicht auf kommen. Die chemische Elementaranalyse, deren Name auch in logischer Hinsicht durchaus charakteristisch ist, \u00fcbt nicht nur diese vorl\u00e4ufige Beschr\u00e4nkung, sondern sie scheidet auch wieder deutlicher, als es irgendwo sonst der Fall ist, die beiden Stadien der qualitativen und der quantitativen Untersuchung.\nDie Frage nach den causalen Beziehungen der Elemente einer Erscheinung ist im allgemeinen keine rein analytische mehr, da ihre Beantwortung zugleich synthetische Untersuchungen voraussetzt und daher dem zusammengesetzteren Verfahren der Induction anheimf\u00e4llt. Immerhin hat die Chemie analytische Methoden entwickelt, die diesem Zweck unmittelbar angemessen sind. Sie lassen sich unter der gemeinsamen Bezeichnung der stufen weisen Analyse zusammenfassen, deren charakteristischer Unterschied von der Elementaranalyse eben darin besteht, dass sie einen zusammengesetzten K\u00f6rper nicht sofort in seine Elemente zerlegt, sondern dass sie zun\u00e4chst einfachere Verbindungen zu gewinnen sucht, von denen vorausgesetzt werden kann, dass sie entweder als solche in dem untersuchten K\u00f6rper enthalten sind, oder dass sie doch irgendwie auf die Verbindung der Stoffe in dem letzteren Licht werfen k\u00f6nnen. W\u00e4hrend demnach die Elementaranalyse schlechthin nur die Composition eines K\u00f6rpers im Auge hat, sucht die stufenweise Analyse soviel als m\u00f6glich dessen Constitution zu ermitteln. Die Anschauungen \u00fcber die Constitution der chemischen Verbindungen, \u00fcber die Lagerungs- und Verbindungsweise der Elemente in denselben enthalten aber dasjenige, was von rein chemischer Seite \u00fcber die causalen Beziehungen der Elemente sich aussagen l\u00e4sst.\nEs ist bemerkenswert!!, dass diese verschiedenen Stadien der","page":482},{"file":"p0483.txt","language":"de","ocr_de":"Die Logik der Chemie.\n483\nchemischen Analyse auch historisch in einerWeise aufeinander gefolgt sind, die ihrem logischen Verh\u00e4ltnisse in auff\u00e4lliger Weise entspricht. Zugleich zeigt sich dabei aber deutlich, wie innig die fundamentalen Fortschritte der Untersuchung an bestimmte leitende Ideen gekn\u00fcpft sind, die, aus den bisherigen Forschungen als Ergebnisse oder auch blo\u00df als Vermuthungen heryorgehend, den weiteren Bestrebungen so lange als Leitstern dienen, bis sie in neuen Ideen ihre Erg\u00e4nzung oder Berichtigung finden. Robert Boyle entriss die Chemie den Banden der Alchemie, indem er die Annahme der Verwandlungsf\u00e4higkeit der einfachen Stoffe, von welcher die letztere beherrscht war, beseitigte. Indem er der Chemie das neue Ziel steckte, die unver\u00e4nderlichen Elementarbestandtheile der K\u00f6rper nachzuweisen, wurde er der eigentliche Sch\u00f6pfer der chemischen Analyse, die er zum ersten Mal mit diesem Namen in die Wissenschaft einf\u00fchrte. *) Seine Analyse ist aber noch ausschlie\u00dflich eine qualitative: sie begn\u00fcgt sieh mit dem Nachweis der Bestandtheile einer Verbindung. Denn noch fehlte dem Zeitalter Boy le\u2019s die bestimmte Idee der Verbindung der Elemente nach constanten Gewichtsverh\u00e4ltnissen. Erst die Chemiker des 18. Jahrhunderts,, ein B ergmann und Wenz el, welche von dieser Idee bei ihren Untersuchungen ausgingen, wurden dadurch die Urheber der quantitativen Analyse. Diese blieb jedoch in ihrem Fortschritt gehemmt, so lange die phlogistische Theorie durch die Annahme eines Stoffes von negativer Schwere, des Phlogiston, die Ausbildung folgerichtiger Vorstellungen \u00fcber die chemischenVerbindungs-erscheinungen unm\u00f6glich machte. Indem Lavoisier\u2019s Verbrennungstheorie diese Unklarheit beseitigte, best\u00e4tigte sie zugleich nach vor\u00fcbergehenden K\u00e4mpfen die Voraussetzung, dass die constanten Gewichtsverh\u00e4ltnisse der Elemente einer Verbindung einfachen und regelm\u00e4\u00dfigen Zahlenverh\u00e4ltnissen entsprechen. Von diesem Princip aus ergaben sich dann jene Aufgaben, welche, auf die Constitution der Verbindungen abzielend, der stufenweisen Analyse zu ihrer L\u00f6sung bedurften.\nDie Synthese setzt \u00fcberall die Analyse voraus. Nicht selten aber geschieht es, dass, wie in der Mathematik, nur geringe analytische Vorbereitungen erforderlich sind, um mit der Synthese beginnen zu\n1) H. Kopp, Geschichte der Chemie, II, S. 58.","page":483},{"file":"p0484.txt","language":"de","ocr_de":"484\nW. Wundt.\nk\u00f6nnen, so dass sich von einem sehr fr\u00fchen Stadium an beide Methoden mit einander verflechten. Auch hier bietet nun die Chemie die Eigenth\u00fcmlichkeit dar, die in anderen Beziehungen ein Nachtheil sein mag , in Ansehung der logischen Durchsichtigkeit der Methodik aber jedenfalls ein Vorzug ist, dass in ihr sehr sp\u00e4t erst die Synthese, wenigstens als ein planm\u00e4\u00dfig ausgebildetes, so viel als m\u00f6glich das Ganze des chemischen Systems umfassendes Verfahren, der Analyse nachgefolgt ist. Auch diese Erscheinung hat ihre nahe liegenden Gr\u00fcnde. Ohne bestimmte Vorstellungen \u00fcber die Constitution der Verbindungen sind synthetische Versuche \u00fcberhaupt unm\u00f6glich; diese werden aber um so mehr Aussicht auf Erfolg haben, je gr\u00fcndlicher auf dem Wege der stufenweisen Analyse die verschiedenen Zersetzungsweisen einer Verbindung studirt sind. Schon die Anf\u00e4nge der Synthese setzen also die volle Herrschaft \u00fcber die H\u00fclfsmittel der causalen Analyse voraus. Zu diesen, in \u00e4hnlicher Weise auch auf anderen Gebieten wiederkehrenden Verh\u00e4ltnissen kommt aber bei der Chemie noch eine specielle Ursache. Sie liegt darin, dass hier gerade die Synthese der einfachsten bin\u00e4ren Verbindungen mit besonderen Schwierigkeiten zu k\u00e4mpfen hatte, und zwar nicht blo\u00df mit Schwierigkeiten der technischen Ausf\u00fchrung, sondern auch mit solchen des theoretischen Verst\u00e4ndnisses. So lange die einfachen Stoffe im isolirten Zustand, wie der Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff u. s. w., lediglich als unverbundene Elemente angesehen wurden, war eine unmittelbare Verbindung derselben, wenn sie nicht etwa gerade im status nascendi geschah, v\u00f6llig unverst\u00e4ndlich, und auch dieser war im Grunde r\u00e4thselhaft, so sehr sich die Bedeutung desselben praktische Geltung errungen hatte. Die fundamentalen Methoden der chemischen Synthese haben daher zum Theil erst in gewissen Vorstellungen \u00fcber den Bewegungszustand der Molek\u00fcle, die aus der neueren mechanischen W\u00e4rmetheorie in die Chemie \u00fcbergingen, eine Art von Begr\u00fcndung gefunden.\nDiese Verh\u00e4ltnisse machen es nun zugleich begreiflich, dass, obgleich wir die chemische Synthese ohne Schwierigkeit in die n\u00e4mlichen beiden Formen unterscheiden k\u00f6nnen, die wir bei der Analyse vorfanden, n\u00e4mlich in die elementare und in die stufenweise Synthese, diese Formen hier doch eine v\u00f6llig ver\u00e4nderte und einander weit mehr gleichwerthige Bedeutung gewinnen. Die elementare Syn-","page":484},{"file":"p0485.txt","language":"de","ocr_de":"Die Logik der Chemie.\n485\nthese muss sich auf die Herstellung der einfachsten Verbindungen beschr\u00e4nken. Sie selbst kann dann aber als Anfang einer stufenweisen Synthese dienen, die sich an sie anschlie\u00dft; ja das eigentliche Problem der synthetischen Chemie liegt gerade darin, durch diese Combination die zusammengesetzteren Verbindungen stufenweise aus ihren Elementen zu erzeugen. Eine hiermit unmittelbar zusammenh\u00e4ngende Aufgabe der Synthese besteht in der Best\u00e4tigung der durch die Analyse gewonnenen Anschauungen \u00fcber die Constitution der Verbindungen. Indem sich aber zum Zweck der Erkenntniss der letzteren die Synthese mit der Analyse verbindet, bilden beide Verfahrungsweisen Bestandtheile der zusammengesetzteren Methode der Induction.\nDa wir logische Induction \u00fcberall dasjenige Verfahren nennen, welches aus den einzelnen Thatsachen der Erfahrung allgemeine Gesetze entwickelt, die dann als Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnde jener Thatsachen verwendet werden k\u00f6nnen, so werden wirderchemischenlnduction die Aufgabe zuweisen, dass sie die Gesetze auffinde, nach welchen die einfachen Sto ffe zu chemischen Verbindungen zusammentreten. Bezeichnet man die Ursache, aus welcher sich einfache Stoffe verbinden, mit einem seiner eigentlichen Bedeutung nach vorl\u00e4ufig ganz unbestimmt gelassenen Ausdruck als chemische Affinit\u00e4t, so sind demnach die Gesetze der chemischen Affinit\u00e4t das eigentliche Object der chemischen Induction. Ihre haupts\u00e4chlichsten H\u00fclfsmittel sind die chemische Analyse und Synthese in ihrer combinirten und vielfach in einander greifenden Anwendung.\nDie Analyse und Synthese gen\u00fcgen aber niemals, um eine Induction wirklich zu Stande zu bringen, sondern diese bedarf immer zugleich noch der Hypothesen, welche als F\u00fchrerinnen bei der Verkn\u00fcpfung der Untersuchungsresultate dienen m\u00fcssen, und in deren Best\u00e4tigung oder Widerlegung das Gesch\u00e4ft der Induction sich vollendet. Dies ist der haupts\u00e4chlichste Punkt, welchen die Baconische Inductionstheorie nebst allen neueren Lehren, die von ihr abh\u00e4ngig sind, \u00fcbersehen hat, und dessen sich auf der anderen Seite die praktische Naturforschung stets bewusst gewesen ist, seit Keppler in der gro\u00dfen Induction, welche der Auffindung seines ersten Gesetzes vor-","page":485},{"file":"p0486.txt","language":"de","ocr_de":"486\nW. Wundt.\nausging, sich mit so gl\u00e4nzendem Erfolg der F\u00fchrung der Hypothese bediente. Wieder ist nun hier die Chemie vor anderen Gebieten der Naturwissenschaft dadurch ausgezeichnet, dass nicht nur diese Rolle der Hypothese hei ihren Inductionen besonders deutlich hervortritt, sondern dass sich au\u00dferdem in der Beschaffenheit und Aufeinanderfolge der herrschenden Hypothesen eine gro\u00dfe Regelm\u00e4\u00dfigkeit zu erkennen gibt, die nur aus dem nahen Zusammenhang ihrer Untersuchungen und der hierdurch bedingten verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig gro\u00dfen Geschlossenheit ihres Gebietes einigerma\u00dfen erkl\u00e4rlich ist. Besonders auffallend contrastirt mit der Chemie in dieser Beziehung die Physik, in deren verschiedenen Theilen sehr verschiedenartige Hypothesen gleichzeitig herrschen k\u00f6nnen , abgesehen von den widerstreitenden Anschauungen, die sich bei den n\u00e4mlichen Problemen gegen\u00fcberstehen. An den letzteren hat es nat\u00fcrlich auch in der Chemie keinen Mangel, aber es ist doch leicht zu bemerken, dass hier wenigstens die gleichzeitigen Anschauungen meistens auf einem beschr\u00e4nkteren Terrain sich bewegen. In einer Beziehung freilich hat die Physik, wie anderen Naturwissenschaften so besonders auch der Chemie gegen\u00fcber ihren ma\u00dfgebenden Einfluss als principielle Disciplin behauptet, darin n\u00e4mlich, dass in den meisten Phasen ihrer Entwicklung die chemische Induction ihre leitenden Hypothesen der Physik entlehnte. Nur eine Periode der neueren Chemie hat einer specifisch chemischen Grundhypothese den Vorzug gegeben; aber man kann kaum behaupten , dass diese Periode den logischen Forderungen, die an einen Zweig der erkl\u00e4renden Naturlehre gestellt werden k\u00f6nnen, am meisten gerecht geworden sei. Suchen wir uns n\u00e4mlich den Entwicklungsgang der chemischen Induction in seinen allgemeinsten Umrissen zu vergegenw\u00e4rtigen, so scheint sich derselbe in vier Hauptperioden zu gliedern, in deren jeder eine eigenth\u00fcmliche Hypothese als die herrschende betrachtet werden kann.\nIn der ersten dieser Perioden ist es die Gravitationstheorie, welche die ma\u00dfgebende Bedeutung besitzt. Die chemische Affinit\u00e4t erscheint der unmittelbaren Abstraction als eine anziehende Kraft, \u00e4hnlich der Schwere. Dazu war das vorige Jahrhundert, unter der Nachwirkung der New ton\u2019sehen Gravitationstheorie, ohnehin geneigt, alle Anziehungserscheinungen auf die allgemeine Schwere zur\u00fcckzuf\u00fchren. In zwei Formen hat die Idee der Gravitation auf den","page":486},{"file":"p0487.txt","language":"de","ocr_de":"Die Logik der Chemie.\n487\nBegriff der Affinit\u00e4t Anwendung gefunden. Bei der ersten suchte man den Erfahrungen \u00fcber die constanten Gewichtsverh\u00e4ltnisse der in den Verbindungen enthaltenen Elemente unmittelbar mittelst bestimmter Voraussetzungen \u00fcber die anziehenden Eigenschaften der kleinsten Theilchen der K\u00f6rper Rechnung zu tragen; bei der zweiten suchte man die Abh\u00e4ngigkeit der Schweranziehung von der Masse direct auch auf die chemische Anziehung anzuwenden, indem man die mit dieser Voraussetzung im Widerspruch stehende Constanz der Zusammensetzung gewisser Verbindungen aus physikalischen Nebenbedingungen erkl\u00e4rte. Die erste Richtung vertritt Bergmann, welcher damit der Hauptbegr\u00fcnder des Begriffs der chemischen Affinit\u00e4t wird, die aber bei ihm durchaus noch als eine specielle Form der Schwerkraft erscheint; die zweite Richtung vertritt B erthollet. In dem Kampfe beider Richtungen erringt die Bergmann\u2019sche Affinit\u00e4tslehre den Sieg. Sie erweist sich als diejenige Hypothese, die durch die Resultate der Analyse am meisten gest\u00fctzt ist. Sie f\u00fchrt zugleich, indem das Gesetz der constanten Gewichtsverh\u00e4ltnisse durch Dalton zum Gesetz der multiplen Proportionen, d. h. der constanten und einfachen Gewichtsverh\u00e4ltnisse, eingeschr\u00e4nkt wird, mit Nothwendig-keit zur atomistischen Hypothese. Die Anziehungen zwischen den Atomen werden nun zwar vielfach noch als Anziehungen kleinster Massen gedacht. Nachdem aber der specifische Inhalt des Gravitationsgesetzes verschwunden ist, steht der Unterordnung unter eine andere Naturkraft, die den Affinit\u00e4tswirkungen homogener erscheint, nichts mehr im Wege.\nEine solche Naturkraft bietet sich nun in der galvanischen Elek-tricit\u00e4t dar, die ebenso im Anfang des gegenw\u00e4rtigen Jahrhunderts das allgemeine Interesse beherrscht wie die Gravitationstheorie im Laufe des vorigen. Die zweite Periode der chemischen Induction geh\u00f6rt daher der elektro-chemischen Hypothese an. Die zersetzende Wirkung des elektrischen Stromes gew\u00e4hrt derselben eine empirische St\u00fctze. In der ihr durch Berzelius gegebenen Gestalt hat sie lange Zeit die chemische Induction geleitet. Das Gebiet der unorganischen Chemie f\u00fcgte sich ihr verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig leicht, wenn auch fr\u00fche schon in einzelnen F\u00e4llen mit R\u00fccksicht auf das sonstige chemische Verhalten der K\u00f6rper Bedenken sich regten. Gr\u00f6\u00dfere Schwierigkeiten ergaben sich innerhalb der organischen Chemie, in","page":487},{"file":"p0488.txt","language":"de","ocr_de":"488\nW. Wundt.\nder mehr und mehr die thats\u00e4chlichen Grundlagen der elektrochemischen Hypothese aufgegeben wurden, an deren Stelle eine blo\u00df \u00e4u\u00dfere Analogie der Verbindungsformeln mit denjenigen der unorganischen Chemie trat. Um diese Analogie herzustellen, wurde \u00fcberdies der hypothetische H\u00fclfsbegriff der Radicale erforderlich, d. h. gewisser Verbindungen, die in Zusammensetzungen die Rolle von Elementen \u00fcbernehmen, ein H\u00fclfsbegriff, der \u00fcbrigens, abgesehen von dem Gesichtspunkt, der zun\u00e4chst auf ihn f\u00fchrte, der chemischen Forschung werthvolle Dienste geleistet hat. Die elektrochemische Hypothese selbst aber war nicht mehr haltbar, als das Studium der Substitutionserscheinungen mit Thatsachen bekannt machte, die der Annahme einer Correspondenz des elektrischen Verhaltens der Elemente und ihrer Affinit\u00e4tswirkungen direct widersprachen.\nDamit war zugleich die dritte Periode der chemischen Induction er\u00f6ffnet, deren charakteristische Eigenth\u00fcmlichkeit in ihrer speci-fisch chemischen Richtung besteht, insofern man nun die chemische Affinit\u00e4t nicht mehr als die Aeu\u00dferung irgend einer allgemeineren Naturkraft, wie der Gravitation oder der elektrischen Anziehung, sondern als eine den chemischen Atomen specifisch zukommende Kraft anzusehen begann. Gerade durch die S\u00fcbstitutionserscheinun-gen wurde man aber zugleich zu der Anschauung gedr\u00e4ngt, dass die Eigenschaften einer Verbindung nicht sowohl von den Eigenschaften der in ihr enthaltenen Elemente als von der Gruppirung dieser Elemente ahhingen. Das Hauptinteresse concentrirte sich daher nun auf das Studium der Structur der Verbindungen. Es entstand so jene haupts\u00e4chlich von Dumas,Gerhardt und Laurent eingeschlagene Richtung, welche man passend als die der Structurchemie bezeichnet hat. F\u00fcr die Entwicklung der chemischen Induction ist dieselbe ohne Zweifel von gro\u00dfer Bedeutung gewesen. Das ungeheure Material der organischen Chemie bedurfte dringend einer systematischen Ordnung, welche es zugleich m\u00f6glich machte, die etwa noch bestehenden L\u00fccken des Systems zu erkennen und durch die Darstellung neuer Verbindungen auszuf\u00fcllen. Aber der gro\u00dfe Mangel dieser Richtung war, dass unter ihren H\u00e4nden die Chemie v\u00f6llig den Charakter einer erkl\u00e4renden Naturwissenschaft verlor. Sie war eine descriptive und classificatorische Wissenschaft geworden, in der selbst","page":488},{"file":"p0489.txt","language":"de","ocr_de":"Die Logik der Chemie.\n489\ndas Experiment nur zu systematischen Zwecken, zur Herstellung von Verbindungen, welche das System voraussehen lie\u00df, nicht aber zur Auffindung der Ursachen der Erscheinungen verwerthet wurde. Darum ist auch der in der Chemie meistens gebrauchte Ausdruck Typentheorie f\u00fcr die hier zu Grunde liegende Auffassung kaum ein geeigneter. Jede Theorie verlangt eine Hypothese, welche \u00fcber den Grund der untersuchten Erscheinungen Rechenschaft gibt. Eine derartige Hypothese ist aber in der Annahme der Typen an und f\u00fcr sich ebenso wenig enthalten wie etwa in den Classificationsprineipien des Linn\u00e9\u2019sehen oder Decandolle\u2019sehen Pflanzensystems.\nDennoch weist schon die so genannte Typentheorie auf eine Affinit\u00e4tshypothese hin, die denn auch in folgerichtiger Entwicklung aus ihr hervorgegangen ist. Da n\u00e4mlich das von ihr aufgestellte System trotz mancher Willk\u00fcrlichkeiten nicht blo\u00df die chemische Induction leitete, sondern noth wendig zugleich von ihr geleitet wurde, indem man die Resultate der stufenweisen Zerlegung und der Substitution bei den aufgestellten Structurformeln verwerthete, so war dieses System zwar in den Hauptgliederungen ein k\u00fcnstliches, in Bezug auf die Zusammenfassung der einzelnen Gruppen der Verbindungen aber im wesentlichen ein nat\u00fcrliches. Nothwendig mussten daher an den typischen Formeln die wirklichen Affinit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse der in sie eingehenden Atome und \u00c4tomgruppen irgendwie zum Vorschein kommen, und es bedurfte daher im Grunde nur einer geeigneten Interpretation jener Formeln, um zu einer rein chemischen Affinit\u00e4tshypothese zu gelangen. In der That ist auf diesem Wege aus den Anschauungen der Structurchemie die sogenannte Valenzhypothese hervorgegangen, in welcher der von der ersterenangebahnte rein chemische Standpunkt seinen theoretischen Ausdruck fand.\nDie Valenzhypothese st\u00fctzt sich auf die im allgemeinen schon aus den Structurformeln ersichtliche Thatsache, dass die verschiedene Affinit\u00e4tsgr\u00f6\u00dfe der einzelnen Elemente an den verschiedenen Atommengen anderer Elemente, welche sie zu binden verm\u00f6gen, gemessen werden kann. Die n\u00e4here Betrachtung dieser Hypothese zeigt aber, dass dieselbe nur in unzureichender und einseitiger Weise von den Eigenschaften der chemischen Verbindungen Rechenschaft gibt. Sie ber\u00fccksichtigt nur die quantitativen Verbindungsverh\u00e4ltnisse der Eie-\nWundt, Phil. Studien. I.\t33","page":489},{"file":"p0490.txt","language":"de","ocr_de":"490\nW. Wundt.\nmente in der Mehrzahl der chemischen Verbindungen, l\u00e4sst aber die Abh\u00e4ngigkeit der sonstigen Eigenschaften der letzteren von den Eigenschaften der in sie eingehenden Elemente, den gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Grad der Zersetzbarkeit der Verbindungen sowie ihr physikalisches Verhalten ganz au\u00dfer Betracht. Dazu kommt, dass sich eine immerhin nicht ganz kleine Anzahl von Verbindungen dem Ma\u00dfstab der constanten Werthigkeit nicht f\u00fcgt, eine Thatsache, welche darauf hinweist, dass der Affinit\u00e4tswerth der Elemente keine constante, sondern eine mit \u00e4u\u00dferen Bedingungen, wie Temperatur, Einfluss \u00e4u\u00dferer Stoffe, einigerma\u00dfen variable Gr\u00f6\u00dfe ist. Nur scheint diese Gr\u00f6\u00dfe nicht stetig, sondern, gem\u00e4\u00df dem Gesetz der multiplen Proportionen, nach bestimmten einfachen ganzen Zahlenverh\u00e4ltnissen ver\u00e4nderlich zu sein, und au\u00dferdem scheint es f\u00fcr jedes Element einen bestimmten Maximalwerth der Affinit\u00e4tsgr\u00f6\u00dfe zu geben, der nicht \u00fcberschritten werden kann.\nDiese Erw\u00e4gungen leiten unmittelbar zu denjenigen Gesichtspunkten \u00fcber, welche in der vierten Periode der chemischen Induction ma\u00dfgebend werden. Ihr geh\u00f6rt die Gegenwart und voraussichtlich noch mehr die n\u00e4chste Zukunft der chemischen Forschung an. Sie tritt, nach dem vorwaltenden Charakter der Untersuchungen, namentlich den die erste und zweite Periode beherrschenden Ideen als die Periode der thermochemischen Untersuchungen und Theorie en gegen\u00fcber. Denn ihre vorwaltende Tendenz besteht in der Uebertragung der Principien der mechanischen W\u00e4rmetheorie auf die chemischen Verbindungserscheinungen. Zun\u00e4chst waltet auch hier noch ein Standpunkt vor, dessen Festhaltung namentlich durch den starren chemischen Affinit\u00e4tsbegriff, wie ihn die Valenzhypothese zur Geltung gebracht hatte, gefordert ist. Es ist dies der Standpunkt der rein statischen Betrachtung der chemischen Vorg\u00e4nge, der bei jeder Zersetzung oder Synthese nur den Anfangs- und Endzustand in Betracht zieht, ohne R\u00fccksicht auf die etwa durchlaufenen Zwischenzust\u00e4nde, und ohne R\u00fccksicht namentlich auf 'die Geschwindigkeit, mit welcher die Processe vor sich gehen. Gleichwohl liegen diese Fragen so nahe, dass sie nicht auf die Dauer umgangen werden k\u00f6nnen. So entsteht die Nothwendigkeit, das bisher bei dem Studium der chemischen Processe v\u00f6llig vernachl\u00e4ssigte Element der Zeit in R\u00fccksicht zu ziehen, und es tritt der chemischen Statik, die fortan","page":490},{"file":"p0491.txt","language":"de","ocr_de":"Die Logik der Chemie.\n491\nihren Werth beh\u00e4lt, eine chemische Dynamik mit neuen Aufgaben gegen\u00fcber. Obgleich dieses Gebiet noch ganz in seinen Anf\u00e4ngen begriffen ist; so l\u00e4sst sich doch wohl voraussehen, dass dasselbe in nicht ferner Zeit der chemischen Induction eine ver\u00e4nderte Gestalt gehen wird, wodurch dieselbe in methodischer Beziehung mehr als bis jetzt der physikalischen Induction an die Seite tritt. Die chemische Analyse und Synthese werden dann nicht mehr die ausschlie\u00dflichen H\u00fclfsmitt\u00e8l sein, mit denen jene Induction, geleitet von bestimmten hypothetischen Vorstellungen \u00fcber die Affinit\u00e4tsbeziehungen der Stoffe, op\u00e8rirt, sondern diese chemischen H\u00fclfsmittel werden sich mit der physikalischen Analyse der den chemischen Process begleitenden Erscheinungen combiniren, und es werden durch die Erfolge dieser combinirten Methode auch die theoretischen Voraussetzungen der Chemie Modificationen erfahren, in welchen die innigere Beziehung zum Ausdruck kommt, in die durch diese Untersuchungen das Gebiet der chemischen Forschung zur physikalischen W\u00e4rmetheorie getreten ist.\nUeberblickt man die mannigfachen Ver\u00e4nderungen, welche die Dichtung der chemischen Forschung im Verlaufe weniger Jahrzehnte erfahren hat, so scheint der Eindruck dieser Ver\u00e4nderungen beinahe im Widerspruch zu stehen mit den im Eingang betonten Vorz\u00fcgen der inductiven Methoden in der Chemie. In der That, wie k\u00f6nnen diese Vorz\u00fcge noch bestehen, wenn doch die leitenden Hypothesen fortw\u00e4hrend gewechselt haben, und wenn immer wieder die Folgezeit die Voraussetzungen, von denen die vorangegangene Generation wissenschaftlicher Forscher ausgegangen war, als unhaltbar nachgewiesen hat*? Doch der Pr\u00fcfstein einer guten Induction ist nicht die unbegrenzte Haltbarkeit der leitenden Hypothesen, sondern deren F\u00e4higkeit, unsere Kenntniss der Thatsachen zu erweitern und zu vertiefen. Nach diesem Ma\u00dfstabe gemessen sind aber die nach einander gekommenen hypothetischen Voraussetzungen, jede zu ihrer Zeit, von hohem Werthe f\u00fcr die Untersuchung gewesen, und die Geschichte der neueren Chemie ist vielleicht das lehrreichste Beispiel f\u00fcr die fruchtbare Wechselwirkung von Hypothese und inductiver Forschung, welches die Geschichte der Wissenschaft \u00fcberhaupt aufzuweisen hat.\n33*","page":491},{"file":"p0492.txt","language":"de","ocr_de":"492\nW. Wundt.\nAnders w\u00fcrde sich allerdings unsere Werthsch\u00e4tzung dann gestalten, wenn wir die Ausbildung der deductiven Forschungsmethoden in der Chemie n\u00e4her verfolgen wollten. Auch ist in dieser Beziehung die Wandelbarkeit der herrsehenden Hypothesen immerhin ein \u00e4u\u00dferes Zeichen, welches den Mangel hinreichend sicherer und umfassender Grundlagen f\u00fcr die Deduction der Erscheinungen ver-r\u00e4th. Es mag gen\u00fcgen, hier auf zwei Momente hinzuweisen, welche mit diesem Mangel nahe Zusammenh\u00e4ngen.\nDas ganze Forschungsgebiet der Chemie verdankt einer eigen-th\u00fcmlichen Form der Abstraction seinen Ursprung, welche durchaus der die physikalische Untersuchung beherrschenden Abstraction entspricht, und welche ich, im Unterschiede von der in den systematischen Naturwissenschaften gel\u00e4ufigen generali siren den Abstraction, als die isolirende Abstraction bezeichnen m\u00f6chte. Ein bestimmter Complex von Erscheinungen wird aus der Verbindung, in der er sich stets mit anderen Erscheinungen befindet, willk\u00fcrlich herausgegriffen und so viel als m\u00f6glich isolirt der Untersuchung unterworfen. In diesem Sinne behandelt die Mechanik der Schwere nur diejenigen Eigenschaften der K\u00f6rper, welche von der Schwere herr\u00fchren, die W\u00e4rmetheorie beschr\u00e4nkt sich auf die thermischen Vorg\u00e4nge und die direct von diesen abh\u00e4ngigen Bewegungserscheinungen, die Optik auf die Lichtprocesse, u. s. w. In \u00e4hnlicher Weise beschr\u00e4nkt sich die Chemie auf die von den Affinit\u00e4tsWirkungen abh\u00e4ngigen Erscheinungen der Verbindung und Zerlegung der Stoffe. So lange nun die verschiedenen Abstractionsgebiete Theile einer Wissenschaft ausmachen, wie es bei den verschiedenen Gebieten der Physik der Fall ist, so ist die Gefahr einer einseitigen Beschr\u00e4nkung der Forschung, welche sich die Einsicht in die causalen Beziehungen der Vorg\u00e4nge verschlie\u00dft, geringer. Kaum zu vermeiden aber ist diese, wenn dem Forscher zugemuthet wird, die Einseitigkeit der urspr\u00fcnglichen Abstractionen seiner Wissenschaft dadurch zu beseitigen, dass er sich auf ein v\u00f6llig fremdes Gebiet begibt. Wie sehr hier der anf\u00e4ngliche Vortheil zum Nachtheil ausschlagen kann, das zeigt sich an manchen scheinbar \u00e4u\u00dferlichen und auch aufs tiefste mit den Eigenth\u00fcmlichkeiten der Wissenschaft verwachsenen Erscheinungen. So ist die chemische Zeichensprache mit ihrer \u00fcbersichtlichen Dar-","page":492},{"file":"p0493.txt","language":"de","ocr_de":"Die Logik der Chemie.\n493\nStellung der Structur der Verbindungen und ihrer pr\u00e4gnanten Fixi-rung der chemischen Processe in bestimmten Operationsformeln eines der gl\u00e4nzendsten Erzeugnisse der chemischen Abstraction, aber sicherlich auch eines der gewichtigsten Hemmnisse, wenn es sich run die Aufhebung der M\u00e4ngel jener Abstraction handelt. Hat man doch mit Hecht darauf aufmerksam gemacht, dass sogar unsere Gewohnheit, auf einer ebenen Fl\u00e4che zu schreiben, augenscheinlich nicht ohne Einfluss auf die hypothetische Structur zahlreicher chemischer Verbindungen gewesen ist ! So zweifellos aber die Structurformeln in den K\u00f6pfen der Chemiker unsern zuf\u00e4lligen Vorstellungsgewohnheiten sich f\u00fcgen m\u00fcssen, so sehr haben wir allen Grund anzunehmen, dass die Mole-c\u00fcle der wirklichen Verbindungen nach drei und nicht blo\u00df nach zwei Dimensionen angeordnet sind.\nEin zweites sprechendes Zeugni\u00df f\u00fcr die mangelhafte Ausbildung der deductiven Methode in der Chemie besteht in der ausgedehnten Herrschaft des Analogieschlusses. Schon die elektrochemische Hypothese vermochte zahlreiche, namentlich organische Verbindungen nur dadurch ihrem allgemeinen Schema einzuf\u00fcgen, dass sie sich der Voraussetzung einer \u00e4u\u00dferen Analogie der Zusammensetzung bediente. Die Structurchemie vollends wurde in allen ihren Operationen lediglich von Analogieen geleitet. Bestanden doch die fundamentalen Voraussetzungen der Typentheorie eigentlich geradezu in der Aufforderung, alle zusammengesetzteren Verbindungen nach der Analogie gewisser einfacher, der sogenannten Typen, aufzufassen, und die Valenztheorie hat daran zun\u00e4chst nicht viel ge\u00e4ndert. Nun ist zwar der Analogieschluss unter Umst\u00e4nden ein unsch\u00e4tzbares logisches H\u00fclfsmittel, aber er ist doch die lockerste Form der Deduction. Wo er die letztere allein beherrscht, da l\u00e4sst sich daher mit Sicherheit behaupten, dass die Anwendung der deductiven Methode noch in ihren Anf\u00e4ngen begriffen sei. Auch hier hat erst der Eintritt in das Stadium der thermochemischen Untersuchungen und Theorieen mit der Beseitigung der Einseitigkeiten der chemischen Abstraction einen gewissen Wandel zu schaffen begonnen. Je mehr aber dadurch die vollkommeneren deductiven Methoden sich auszubilden beginnen, um so mehr wird die Chemie \u00fcberhaupt in ihrer Methodik der Physik sich n\u00e4hern, und die Zeit d\u00fcrfte daher nicht mehr fern liegen, wo sie nicht","page":493},{"file":"p0494.txt","language":"de","ocr_de":"494\nW. Wundt. Die Logik der Chemie.\nmehr, wie heute, als das beste Beispiel einer inductiven Wissenschaft bezeichnet werden kann. So zeigt es sich auch hier, dass jene Klarheit und relative Einfachheit der Methode, welche die Chemie bis dahin auszeichnete, nothwendig zugleich an gewisse Schranken gebunden ist, und dass es in der Wissenschaft nicht minder wie in anderen menschlichen Dingen Vorz\u00fcge gibt, die sich nicht vereinigen lassen.","page":494}],"identifier":"lit660","issued":"1883","language":"de","pages":"473-494","startpages":"473","title":"Die Logik der Chemie","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:58:23.554914+00:00"}