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{"created":"2022-01-31T12:59:52.277275+00:00","id":"lit678","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 2: 161-193","fulltext":[{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\nVon\nW. Wimdt.\n1. Die abstracten Correlatbegriffe als metaphysische Principien.\nDie Geschichte des philosophischen Denkens ist w\u00e4hrend einer langen Zeit von gewissen Begriffen beherrscht worden, die, logisch betrachtet, durch zwei charakteristische Merkmale sich auszeichnen: erstens dadurch, dass sie die abstr actes ten Formen sind, unter denen das in der inneren oder \u00e4u\u00dferen Erfahrung Gegebene zur begrifflichen Auffassung gelangt, und zweitens dadurch, dass zu einem jeden ein Correlatbegriff von gleicher Allgemeinheit existirt, mit dem er ein zusammengeh\u00f6riges Begriffspaar ausmacht. Diese beiden Eigenschaften stehen in unmittelbarem Zusammenhang. Jede Be-griffsabstraction hat die Folge, dass an dem gegebenen Substrat Bestandteile Zur\u00fcckbleiben, welche Gegenstand einer erg\u00e4nzenden Begriffsbildung werden k\u00f6nnen. Bei den niedrigeren Abstractionen, welche der Bildung der gew\u00f6hnlichen Gattungsbegriffe zu Grunde liegen, kann diese Erg\u00e4nzung immer nur zu engeren Gattungsbegriffen f\u00fchren, die dem erstgebildeten untergeordnet sind. Da nun aber der einer nachtr\u00e4glichen Begriffsbildung \u00fcberlassene Bestandtheil einen sehr verschiedenen Werth beanspruchen kann, so ergibt sich als Grenzfall der, wo zwischen zwei einander folgenden Abstractionen ein Werthunterschied \u00fcberhaupt nicht mehr existirt. Dieser Grenzfall ist hei den abstracten Correlatbegriffen erreicht. Jeder derselben bezeichnet einen allgemeinsten Gesichtspunkt, unter dem von uns ein\nWundt, Philos. Studien. II.\t11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nW. Wimdt.\ndem Denken Gegebenes aufgefasst werden kann ; jeder so angewandte Gesichtspunkt fordert aber als nothwendige Erg\u00e4nzung den ibm entgegengesetzten, der einer an sich gleichwerthigen Abstraction entspricht.\nMit R\u00fccksicht auf ihren logischen Charakter lassen sich die in Rede stehenden Begriffe in zwei Class en sondern. Die einen k\u00f6nnen wir als Subjectbegriffe bezeichnen, insofern sie von unserem Denken als abstracte Gegenstandsbegriffe behandelt werden und in allgemeinen Urtheilen \u00fcber das Gegebene die Stelle des Subjectes einnehmen. Hierher geh\u00f6ren: Sein und Werden, Stoff und For m, Substantialit\u00e4t und Causalit\u00e4t. Eine zweite Classe \u00e4hnlich abstracter Begriffspaare besitzt dagegen die logische Bedeutung von Pr\u00e4dicatbegriffen, da sie eine Eigenschaft zu irgend einem der n\u00e4heren Bestimmung bed\u00fcrftigen Denkinhalte angeben, so dass ihnen in Urtheilen \u00fcber das im Denken Gegebene im allgemeinen die Stelle des Pr\u00e4dicates zukommt. Die einflussreichsten Begriffe dieser Art sind: Einheit und Mannigfaltigkeit, Quantit\u00e4t und Quali-tat, Endlichkeit und Unendlichkeit. Die Beziehung zwischen beiden Reihen tritt \u00e4u\u00dferlich darin hervor, dass in der Geschichte des Denkens die Begriffe der zweiten Reihe vorzugsweise f\u00fcr die Begriffe der ersten als Pr\u00e4dicate gedient haben.\n\u2022 Sobald nun die genannten Correlatbegriffe als Abstractionen betrachtet werden, deren Substrat die empirische Wirklichkeit ist, so erhellt von selbst, dass keinem derselben, wenn er in einseitiger Iso-lirung festgehalten wird, die Wirklichkeit selbst entsprechen kann. In dieser gibt es kein Sein ohne ein Werden, keinen Stoff ohne eine Eorm, keine Einheit ohne Mannigfaltigkeit u. s. w. Nichts desto weniger hat die philosophische Speculation wiederholt und geflissentlich diese Eigenschaft der abstracten Correlatbegriffe au\u00dfer Acht gelassen. Indem die Metaphysik den Versuch machte, alles Wissen auf eine Begriffseinheit zur\u00fcckzuf\u00fchren, hat sie mit Vorliebe einen der Theilbegriffe eines abstracten Begriffspaares herausgegriffen, um ihn als absoluten Begriff zu behandeln.\nEs ist von Interesse zu bemerken, dass die Philosophie, sobald sie sich \u00fcberhaupt der Aufgaben strengerer Begriffsbildung bewusst geworden war, die allgemeinsten und inhaltsleersten jener Begriffe zuerst an wandte, um dann allm\u00e4hlich zu den concreteren zu gelangen, ein","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n163\nUebergang, bei dem zugleich der bevorzugte Begriff seine absolute Isolirung von Stufe zu Stufe mehr \u00fcberwand, indem er theils zu seinem Correlatbegriff, theils zu den \u00fcbrigen abstracten Begriffspaaren in Beziehungen gesetzt wurde, so dass auf den weiteren Entwicklungsstufen eigentlich nur noch von der Herrschaft, nicht mehr von der Alleinherrschaft eines einzelnen Begriffs die Rede sein kann. Die abweichenden Gesichtspunkte der Weltbetrachtung bringen es hier immerhin zu einer nebens\u00e4chlichen Geltung ; f\u00fcr untergeordnete Zwecke oder f\u00fcr einen beschr\u00e4nkteren Standpunkt bleibt ihnen ein gewisses Recht gewahrt, w\u00e4hrend freilich der H\u00f6hepunkt speculativer Betrachtung allein in einer absoluten Begriffseinheit Ruhe findet, welche alle Relationen und Determinationen ausschlie\u00dfen soll.\nSo stehen sich in dem Sein der Eleaten und dem Werden Hera-klits die zwei allgemeinsten unter jenen Begriffen in starrer Abgeschlossenheit gegen\u00fcber. Ihr Auftreten in diesen Anf\u00e4ngen der Entwicklung ist freilich nur dadurch m\u00f6glich, dass sie noch keineswegs als abstracte Begriffe gedacht werden, sondern mit gewissen sinnlichen Symbolen zusammenflie\u00dfen. Das Sein des Parmenides verk\u00f6rpert sich in der stetig und unver\u00e4nderlich den Raum erf\u00fcllenden Weltkugel, das Werden Heraklits in dem ewig beweglichen Urfeuer. Sp\u00e4ter finden die Gegens\u00e4tze von Stoff und Form ihre Auspr\u00e4gung in der einseitig vom Stoff ausgehenden Demokritischen Naturlehre und in der ebenso einseitig den Formbegriff betonenden Platonisch-Aristotelischen Philosophie. Doch sind hier die Gegens\u00e4tze schon flie\u00dfender geworden : die Atomistik kann so wenig der Form und Anordnung der Atome wie die idealistische Metaphysik, namentlich in der durchgebildeteren Gestalt, die ihr Aristoteles gegeben, des Stoffes zu ihren Formen entbehren, und an der weiteren Ineinsbildung dieser Gegens\u00e4tze arbeitet die ganze positive Weiterentwicklung der antiken Philosophie, namentlich das bedeutsamste System derselben, die Physik der Stoiker. In der neueren Philosophie ist es ein anderer Begriff, der sich in den Vordergrund dr\u00e4ngt : es ist dies der zuerst von Aristoteles entwickelte, aber bei ihm noch an die Wechselbegriffe des Stoffes und der Form gebundene Substanzbegriff, in dessen verschiedenen Fassungen und Beziehungen zu dem ihn erg\u00e4nzenden Causalbegriff die ganze Entwicklung der neueren Metaphysik sich beth\u00e4tigt.\nMannigfach durchkreuzt sich mit dieser wechselnden Herrschaft\n11*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nW. Wundt.\nder abstracten Subjectbegriffe der Einfluss der zumeist innig mit ihnen verbundenen abstracten Pr\u00e4dicate. Das Sein der Eleaten steht zugleich als absolute Einheit der Mannigfaltigkeit des Heraklitischen Werdens gegen\u00fcber, dem quantitativen Stoffprincip der Demokritischen Atomistik das qualitative der Empedokleischen Elemente. Energischer noch wird das Wirkliche als absolute Quantit\u00e4t gedacht in der Substanzlehre Spinoza\u2019s, als Qualit\u00e4t in der Monadologie eines Leibniz und Herb art. Mit diesem kreuzen sich hier zugleich die Gegens\u00e4tze der vorigenPr\u00e4dicatbegriffe. Die Substanzlehre Spinoza\u2019s ist daneben Einheitsphilosophie. In der unendlichen Substanz verschwinden alle qualitativen Unterschiede als Affectionen endlicher modi, die, \u00bbsub specie aeternitatis\u00ab betrachtet, keine wahre Realit\u00e4t besitzen. Die Monadenlehre ist Mannigfaltigkeitsphilosophie. Schon Leibniz betont, dass von einem einfachen Wesen zum andern und von einem gegebenen Zustande eines Wesens zum andern das innere Sein stetig ver\u00e4nderlich sei, und bei Herbart besteht alle Realit\u00e4t eines Wesens in seiner qualitativen Verschiedenheit von allen andern.\nJede Metaphysik strebt nun aber, indem sie das transscendente Sein der Dinge in einen Begriff zu fassen sucht, Einheitsphilosophie zu sein. Denn der n\u00e4chste Schritt besteht hier immer darin, dass man jenen Begriff im Gegens\u00e4tze zur Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erscheinungswelt bestimmt. Der Spinozismus folgt hierin \u00e4lteren mystischen Speculationen, welche den bei ihm unausgesprochen bleibenden Grundsatz, dass das Absolute nur durch Negationen bestimmt werden k\u00f6nne, offen zum Ausdruck bringen. Gegen\u00fcber der Einheit hat selbst die Unendlichkeit einen secund\u00e4ren Charakter. Zwar ist dieselbe aus dem n\u00e4mlichen Bed\u00fcrfniss der Negation der Erscheinungseigenschaften hervorgegangen, doch in ihrer specifisch metaphysischen Bedeutung wird sie erst durch den absoluten Einheitsgedanken bestimmt. Denn der transscendente Unendlichkeitsbegriff besteht nicht etwa in jenem endlosen Fortschritt, zu welchem der unbegrenzte Fluss der Erscheinungen herausfordert, sondern, indem hier das Unendliche als ein Absolutes gedacht wird, das zu dem Endlichen au\u00dfer aller Beziehung steht, ist der metaphysische Unendlichkeitshegriff immer zugleich Einheitsbegriff. Dieser Macht des Einheitsgedankens vermag sich auch die entgegengesetzte Richtung nicht zu entziehen. In der h\u00f6chsten Monade des Leibniz\u2019schen Systems, ja im Grunde","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n165\nschon in der Totalit\u00e4t der Beziehungen, in die jede Monade zur Unendlichkeit aller andern gesetzt wird, kommt derselbe zum Durchbruch. Vorsichtiger hat Herhart jenen Uebergang zu vermeiden gesucht. Aber es ist ihm dies doch nur gelungen, indem er jeder Bezugnahme auf die religi\u00f6sen Ideen aus dem Wege ging. Auch darin ist seine Mannigfaltigkeitsphilosophie der volle Gegensatz zu Spinoza\u2019s Einheitslehre : wie diese mit ihren Grundbegriffen imUebersinnlichen, so wurzelt jene in der sinnlichen Erfahrung. Sie macht nur den Anspruch, Erfahrungsmetaphysik zu sein. Aber gerade indem sie im Endlichen zu bleiben strebt, kommt der Einheits- und der Unendlich-keitsgedanke nun heim entgegengesetzten Punkte zum Vorschein : dem Realen wird von Her hart absolute Einfachheit zugesprochen; darum soll es alle Relationen, seihst alle Guantit\u00e4tsbestimmungen ausschlie\u00dfen. So baut diese Metaphysik auf der Einheit des unendlich Kleinen sich auf, aber das letztere ist wieder nicht im relativen Sinne verstanden, wie das unendlich Kleine der Differentialrechnung, sondern im absoluten, darin zwar abermals der volle Gegensatz, aber auch das volle metaphysische Aequivalent zu Spinoza\u2019s Unendlichkeitslehre.\nWie auf diese Weise die Mannigfaltigkeitsphilosophie durch den metaphysischen Trieb der Einheitslehre entgegengef\u00fchrt wird, so vermag \u00fcbrigens die letztere in dem Streben, den Forderungen der Erscheinungswelt gerecht zu werden, nicht umhin, ihrerseits dem Mannigfaltigkeitsgedanken eine gewisse Geltung einzur\u00e4umen. Jeder Versuch, der blo\u00df negativ bestimmten absoluten Einheit gewisse positive Attribute, wie Denken und Ausdehnung, beizulegen, f\u00fchrt zu diesem Bruch mit der Strenge des transscendenten Princips. So haben hier, mehr noch als bei den alten Gegens\u00e4tzen des Stoffs und der Form, die absolut gedachten Begriffe ihre starre Abgeschlossenheit ein-geb\u00fc\u00dft.\nEs konnte nicht ausbleiben, dass der Gedanke dieses Flie\u00dfens der Begriffe auch einmal in der Philosophie selbst seinen systematischen Ausdruck fand. Hegel, wie er der Meinung war, die verschiedenen Entwicklungsstufen der vorangegangenen Philosophie als aufgehobene Momente in seine eigene aufnehmen zu k\u00f6nnen, hat auch jenen abstracten Beziehungsbegriffen ihre Stellung in dem Zusammenhang der Begriffsentwicklung angewiesen. Der Begriff des Seins, von","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nW. Wundt.\nwelchem geschichtlich betrachtet diese Entwicklung ausging, bildet hei ihm Anfang und Ende des ganzen Zusammenhangs der Begriffswelt. So sehr die Erschleichungen, deren sich die dialektische Methode schuldig machte, im Einzelnen die innere Wahrheit dieses Systems beeintr\u00e4chtigen mochten, und so nothwendig der Versuch, die Ge-sammtheit der Einzelhegriffe in ein \u00e4hnliches correlates Verh\u00e4ltniss zu bringen, wie es nur den abstractesten Begriffsformen zukommt, nothwendig misslingen musste, so wird man doch nicht umhin k\u00f6nnen, dem Gedanken der immanenten Selbsterg\u00e4nzung der Begriffe durch ihre Gegens\u00e4tze eine gewisse Bedeutung zuzugestehen. Man k\u00f6nnte sogar behaupten, dass der logischen Aufeinanderfolge der abstracten Correlatbegriffe, welche Hegel mittelst der dialektischen Methode in seiner Logik zu gewinnen suchte, die Wirklichkeit der historischen Entwicklung mehr entspricht, als jenes Schema einer allm\u00e4hlichen Selbstbesinnung des Weltgeistes, in welches der n\u00e4mliche Philosoph in seinen Vorlesungen \u00fcber Geschichte der Philosophie die philosophischen Systeme einordnete. Selbstverst\u00e4ndlich soll jedoch diese Bemerkung nur auf die relative Wahrheit, die dem Gedanken des Flie\u00dfens der Begriffe innewohnt, sowie auf die thats\u00e4chlichen Grundlagen hinweisen, welche die dialektische Methode trotz ihrer prin-cipiellen Unhaltharkeit in der Existenz der abstracten Correlatbegriffe besitzt.\nIndem wir nunmehr zur Untersuchung dieser Begriffe \u00fcbergehen, soll ihre metaphysische Bedeutung fernerhin nur andeutend ber\u00fchrt, dagegen die Frage nach dem logischen Werthe derselben eingehender er\u00f6rtert werden. Obgleich die Beantwortung dieser Frage jeder metaphysischen Anwendung der genannten Begriffe offenbar vorangehen sollte, so w'ird sie doch von den Metaphysikern in der Regel v\u00f6llig uner\u00f6rtert gelassen. Jene allgemeinen Begriffe erscheinen als ein urspr\u00fcnglicher Thathestand, dessen Herkunft gar nicht erforscht zu werden braucht, oder den man abzuleiten meint, wenn man ihn, wie in der Hegel\u2019sehen Logik, einem gleichf\u00f6rmigen Schema einordnet. Das hierin zur Geltung gelangte Streben, nicht blo\u00df das Verh\u00e4ltniss eines jeden Correlatbegriffs zu den ihm beigeordneten festzustellen, sondern auch die einzelnen Begriffspaare zu einander in ein bestimmtes Verh\u00e4ltniss zu bringen, muss zwar als ein berechtigtes anerkannt werden. Aber eine solche Ordnung darf nicht auf eine","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n167\nvon au\u00dfen herangebrachte Methode von h\u00f6chst bestreitbarem logischem Werthe sich st\u00fctzen, sondern sie muss aus der Genese der einzelnen Begriffe seihst sich ergehen.\n2. Die correlate!! abstracten Subjectbegriffe.\na. Sein und Werden.\nUnter dem Begriff des Seins fassen wir drei Begriffspostulat e zusammen, die s\u00e4mmtlich erf\u00fcllt sein m\u00fcssen, wenn auf irgend einen Denkinhalt jener Begriff anwendbar sein soll.\nDas erste und nothwendigste Erforderniss des Seins ist das Gegebensein, die Existenz. Sein und Gegebensein decken sich aber nicht, sondern das letztere ist nur eines der Merkmale des ersteren. Die Ver\u00e4nderung, das Werden, der Schein k\u00f6nnen im einzelnen Fall als gegeben von uns anerkannt werden. Der Gegensatz des Seins, insofern ihm das Merkmal des Gegebenseins zukommt, ist das Nichts.\nDie zweite Forderung ist das objective Gegebensein oder das unabh\u00e4ngig von unserer subjectiven Auffassung vorausgesetzte Sein. Durch dieses Merkmal, welches wir auch als dasjenige der Wirklichkeit bezeichnen, wird die Art des Gegebenseins, welche zum Sein erforderlich ist, n\u00e4her bestimmt. Dennoch ersch\u00f6pft dasselbe nicht das Sein. Denn die n\u00e4mliche Objectivit\u00e4t kann auch dem Geschehen, dem Werden zugeschrieben werden. Der Gegensatz des Seins, insofern es eine von unserer subjectiven Auffassung unabh\u00e4ngige Existenz einschlie\u00dft, ist der Schein. Der Schein aber wird, sobald wir ihm eine bestimmte Beziehung zu einem ihm zu Grunde liegenden wirklichen Sein beilegen, zur Erscheinung. In diesem Sinne vereinigen sich in der Erscheinung die Begriffe des objectiven Seins und des Scheins. Der Schein bildet einen positiven oder contr\u00e4ren Gegensatz zu dem Sein, nicht einen blo\u00df negativen oder contradicto-rischen wie das Nichts, dessen Wortbezeichnung schon eine blo\u00df abgek\u00fcrzte sprachliche Form ist f\u00fcr das nicht-Sein.\nDas dritte Erfordemiss des Seins ist endlich das unver\u00e4nderte Gegebensein. Das Sein schlie\u00dft die Ver\u00e4nderung aus. Denn bei der Ver\u00e4nderung verschwindet entweder ein Gegebenes, oder es entsteht ein Gegebenes, oder es findet beides zugleich statt. Was aber","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nW. Wundt.\nverschwindet oder entsteht, das ist nicht, sondern entweder war es, d. h. es besa\u00df ein Sein, oder es wird sein, d. h. es f\u00fchrt zu einem Sein. Nennen wir daher den Begriff, welcher die Ver\u00e4nderung in diesem allgemeinsten Sinne, Entstehen sowohl wie Verschwinden eines Gegebenen, bezeichnet, das W erden, so ist der Gegensatz des Seins, insofern es ein unver\u00e4ndertes Gegebensein bezeichnet, das Werden. Dieses bildet den positivsten Gegensatz zum Sein. Wir k\u00f6nnen es mit demselben Rechte nicht nur als ein Gegebenes, sondern auch als ein ohjectiv Wirkliches auffassen wie das Sein. Daraus folgt aber, dass beide Begriffe gl eich es Recht besitzen, indem sie die einander entgegengesetzten und eben darum die einander erg\u00e4nzenden Glieder des Begriffs der gegebenen Wirklichkeit darstellen.\nAn diese Entwicklung der drei Merkmale, die in dem Begriff des Seins sich vereinigen, kn\u00fcpfen sich zwei naheliegende Bemerkungen. Zun\u00e4chst ist es augenf\u00e4llig, dass die mannigfachen Schwankungen, die uns in dem gemeinen wie in dem philosophischen Gebrauche dieses Begriffs begegnen, in der mehr oder weniger vollst\u00e4ndigen Vergegenw\u00e4rtigung der drei genannten Merkmale ihre Quelle haben. Der popul\u00e4re Sprachgebrauch begn\u00fcgt sich meistens mit dem Gegebensein, der wissenschaftliche f\u00fcgt dazu noch, durch das Motiv der Ausscheidung des Scheins bestimmt, das Merkmal der objectiven Wirklichkeit, und der philosophische erhebt sich endlich, durch den Gegensatz zum Wechselbegriff des Werdens angetrieben, zur Forderung der Constanz. Zugleich liegt dann in dieser Hinzunahme erg\u00e4nzender Merkmale ein Antrieb, nach einem andern Begriff zu suchen, der einer solchen Mehrdeutigkeit nicht unterworfen ist. Dies sind die Grundlagen f\u00fcr die Entwicklung des Begriffs der Substanz.\nFerner ist leicht zu sehen, dass die Dreiheit der Gegens\u00e4tze, die der Dreiheit der Merkmale des Seinsbegriffs correspondirt, auch in der geschichtlichen Entwicklung der Speculation ihre Auspr\u00e4gung gefunden hat. Obgleich f\u00fcr die positiven Versuche einer metaphysischen Welterkenntniss der Gegensatz des Seins und des Werdens der bedeutsamste ist, so haben doch jene andern Gegensatzhegriffe, das Nichts und der Schein, ebenfalls ihre Wirkung ausge\u00fcht. Sie entstehen inmitten der Eleatischen und Heraklitischen Lehren seihst, die, je starrer sie den absoluten Werth ihrer Principien festzuhalten bem\u00fcht sind, um so mehr gen\u00f6thigt werden, dem Schein und dem Nichts","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstraeten Begriffe.\n169\nZugest\u00e4ndnisse zu machen. Au\u00dferdem aber erhebt der Skepticismus der Sophisten mit Absicht diese Gegensatzhegriffe zu selbst\u00e4ndigen Principien.\nGehen wir nun von der Erw\u00e4gung aus, dass alle jene Begriffe nur einen relativen Werth beanspruchen k\u00f6nnen, weil jeder derselben immer nur zusammen mit seinem Correlatbegriff bestehen kann, so folgt aus einem solchen Verh\u00e4ltnis unmittelbar, dass wir nun auch umgekehrt nicht berechtigt sind, irgend einen derselben f\u00fcr sich allein auf die Erkenntnissohjecte anzuwenden, wie solches bei ihrem absoluten metaphysischen Gebrauche versucht wird. Indem das in der Erfahrung Gegebene immer beide Abstractionen zugleich in uns anregt, zeigt es sich eben, dass auch nur beide zusammen wieder auf das Gegebene angewandt werden k\u00f6nnen, weil die Motive zu den Begriffen, die unser Denken einander gegen\u00fcberstellt, in dem Substrat der Begriffsbildung selbst untrennbar vereinigt sind.\nKann hiernach jedem einzelnen unter jenen Correlatbegriffen in seiner isolirten Existenz ein objectiver Erkenntnisswerth nicht zukommen, so weist aber die Allgemeing\u00fcltigkeit, mit der sich ihre Bildung vollzieht, und die Stellung, die sie deshalb, ganz abgesehen von ihrer nachtr\u00e4glichen metaphysischen Verwendung, in unserem Denken einnehmen, ebenso unzweifelhaft auf einen suhjectiven Erkenntnisswerth derselben hin. Dieser besteht darin, dass in dem Begriff des Seins sammt den drei Gegens\u00e4tzen, die ihm nach seinen drei Merkmalen zukommen, die logischen Functionen sich verdichtet haben, welche hei der \u00fcberall mit Hilfe der Abstraction arbeitenden Erkenntniss zur Anwendung kommen. Den drei Merkmalen des Seins entsprechen drei Stadien der logischen Pr\u00fcfung, welche hei jedem Erkenntnissproblem durchlaufen werden m\u00fcssen. Sie bestehen : 1 ) in der Nachweisung des Gegehenseins oder der Existenz des Objects. F\u00e4llt die Antwort auf die Existenzfrage verneinend aus, so f\u00e4llt damit die N\u00f6thigung zu jeder weiteren Untersuchung hinweg. Das Nichts kann nicht Gegenstand einer Pr\u00fcfung sein, denn es ne-girt, dass \u00fcberhaupt das Object zu einer solchen gegeben sei. 2) Es muss die Unabh\u00e4ngigkeit des Gegenstandes von unserer Auffassung nachgewiesen werden. Hierin besteht die Hauptaufgabe der tiefer eindringenden Forschung: der Schein ist zu scheiden von dem, was nicht Schein ist, sondern sich in aller Erfahrung als ge-","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nW. Wundt.\ngeben bew\u00e4hrt. Wie nur durch dies Gegebensein unter den wechselndsten Bedingungen der Erfahrung das wirkliche Sein sich als solches bew\u00e4hrt, so gibt sich umgekehrt der Schein dadurch zu erkennen, dass er ein wechselndes Sein ist, welches der Pr\u00fcfung nicht unver\u00e4ndert Stand h\u00e4lt, und welchem daher keine Wirklichkeit zuerkannt werden darf. Nachdem auf diese Weise die Existenz sowohl wie die Realit\u00e4t des Objects nachgewiesen ist, muss dasselbe ferner 3) den allgemeinsten Erkenntnissbegriffen untergeordnet werden. Dies geschieht, indem man es zun\u00e4chst zwei sich erg\u00e4nzenden Abstractionen unterwirft, deren eine von den Ver\u00e4nderungen absieht, welche das Object erfahren mag, es also als constant voraussetzt, w\u00e4hrend die andere umgekehrt die vor sich gehenden Ver\u00e4nderungen der Betrachtung unterwirft. Das Object selbst ist weder constant noch im absoluten Sinne ver\u00e4nderlich. Denn der Begriff der Ver\u00e4nderung ist nur vollziehbar als Uebergang von einem gegebenen Zustand zu einem andern gegebenen Zustand. Dabei k\u00f6nnen aber diese Zust\u00e4nde nur als relativ constante gedacht werden; sie m\u00fcssen von uns mindestens in einem Moment fixirt werden, wenn sie \u00fcberhaupt gedacht werden sollen. Ein Flie\u00dfen der Dinge ohne Ruhepunkt ist eine f\u00fcr uns unvollziehbare und eben deshalb auch f\u00fcr die logische Auffassung unm\u00f6gliche Vorstellung. Denn unser logisches Denken kann nur mit dem Vorstellungsmaterial operiren. welches das Bewusstsein ihm darbietet, wie es ja auch in seiner ganzen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit durchaus an die Beschaffenheit dieses Materials gebunden ist. Was aber die Vorstellung in festen Verbindungen enth\u00e4lt, das trennt die logische Abstraction, indem sie gewisse Eigenschaften oder bestimmte Momente der Vorstellung fixirt und aus dem so gebildeten Begriff alle andern Eigenschaften oder Momente ausschlie\u00dft. Hier sieht man deutlich, wie insbesondere auch in Bezug auf das zeitliche Geschehen die Abstraction vorgebildet ist in den elementaren psychischen Vorg\u00e4ngen. Keine Vorstellung ist eine ersch\u00f6pfende Vergegenw\u00e4rtigung der Empfindungen, welche das Object durch seine Wirkung auf uns anregt, sondern die Apperception beschr\u00e4nkt sich auf gewisse dominirende Empfindungen: sie bahnt dadurch dem nachfolgenden logischen Abstractionsverfahren den Weg. Ebenso ist der subjective Verlauf der Vorstellungen kein rastloses stetiges Flie\u00dfen derselben, wie wir es nachtr\u00e4glich aus bestimmten logischen Gr\u00fcnden","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n171\nfiir die objective Zeit postuliren, sondern ein Wechsel mit Ruhe-punkten, in welchem einzelne Momente ganz der Beachtung entgehen, w\u00e4hrend andere als relativ bleibende sich fixiren, um fiir uns in dem Wechsel der Vorstellungen die Ma\u00dfpunkte abzugeben, nach denen wir den Verlauf der Zeit eintheilen. In diesen Vorg\u00e4ngen liegen die psychischen Grundlagen f\u00fcr die logische Abstraction des Bleibenden und des Verg\u00e4nglichen oder, Avie diese Begriffe in ihrer abstracten Fassung hei\u00dfen, des S eins und des Werdens. Durch den psychischen Mechanismus nahe gelegt bew\u00e4hren sich nun aber diese Wechselbegriffe durch den subjectiven Erkenntnisswerth, den sie, nachdem einmal die Fragen des Gegebenseins und der objectiven Realit\u00e4t entschieden sind, beanspruchen. Sein und Werden erweisen sich n\u00e4mlich hier sofort als die allgemeinsten Kategorien zur Ordnung des Gegebenen. Als solche sind sie nicht Kategorien, die uns irgendwie objectiv getrennt von einander gegeben sind, sondern Begriffe, die wir neben einander und zum Theil nach einander auf die Objecte anwenden m\u00fcssen, so aber, dass jedes Object stets die Anwendung beider Begriffe herausfordert. In allem diesem sind Sein und Werden die Vorl\u00e4ufer der sp\u00e4ter entwickelten, ihnen n\u00e4chstverwandten Relationsbegriffe, des Stoffs und der Form, der Substantiali-t\u00e4t und Causalit\u00e4t.\nWir sind damit einerseits der Entstehung, andrerseits aber der nothwendigen Weiterentwicklung jener allgemeinsten Beziehungsbegriffe n\u00e4her getreten. Ihre Quelle liegt in dem Dingbegriff. Von dem Ding scheiden sich schon innerhalb der Bildungssph\u00e4re der gemeinen Erfahrungsbegriffe Eigenschaft und Zustand. Beide stehen wieder in innigster Wechselbeziehung, da der Zustand nur den Complex von Eigenschaften bezeichnet, welcher einem Ding in einem gegebenen Zeitmoment zukommt. In dem Zustand wird also gewisserma\u00dfen der Dingbegriff noch einmal gesetzt, aber zugleich mit dem Nebengedanken der Ver\u00e4nderlichkeit verbunden. Das Ding, seine Eigenschaften und Zust\u00e4nde sind auf diese Weise Reflexionshegriffe, die unserem sinnlichen Wahrnehmungsverm\u00f6gen Rechnung tragen : sie sind die allgemeinsten Gattungsbegriffe zu dem in der Wahrnehmung Gegebenen. Denn gegeben sind uns in dieser immer nur relativ beharrende und relativ ver\u00e4nderliche Vorstellungen, wobei wir aber auch die letzteren immerhin uns auf bestimmte Momente fixirt den-","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nW. Wundt.\nken m\u00fcssen. Es scheidet sich so die abgegrenzte Vorstellung ohne hinzugedachte zeitliche Nebenbeziehungen, das Ding, von der Vorstellung, welcher der Nebengedanke der vorausgegangenen oder folgenden Ver\u00e4nderung anhaftet, dem Zustande. Indem nun die logische Abstraction die in dem psychischen Mechanismus der Vorstellungs-th\u00e4tigkeit begr\u00fcndeten Schranken der BegrifFsbildung zu \u00fcberwinden trachtet, eliminirt sie aus dem Dingbegriff den Gedanken an die in ihm gelegene Coexistenz von Eigenschaften : es bleibt so der Begriff eines ohjectiv und unver\u00e4nderlich Gegebenen, welches durch keinen bestimmten Inhalt von irgend einem andern ohjectiv Gegebenen unterschieden ist, und dies ist eben der Begriff des Seins. Er fordert unvermeidlich seinen Correlatbegriff, dessen Abstraction in entsprechender Weise an die Vorstellung des Zustandes sich anschlie\u00dft. Wird aus dieser die Vorstellung des Dinges selbst mit seinen relativ beharrenden Eigenschaften eliminirt und blo\u00df der urspr\u00fcnglich als Nebengedanke damit verbundene zeitliche Wechsel zur\u00fcckbehalten, in letzterem wieder von jeder bestimmten Zeitbeziehung, insbesondere also auch von Vergangenheit und Zukunft abgesehen, so bleibt der Begriff des Werdens \u00fcbrig, der in seiner abstracten logischen Auspr\u00e4gung ebenso sehr ein innerhalb der Vorstellung un vollziehbares Postulat des Denkens ist wie der des Seins. Die innere N\u00f6thigung zu diesem Abstractionsverfahren liegt aber darin, dass das Denken durch seine eigenen Gesetze zu einer Analyse gen\u00f6thigt wird, welche die in den Erkenntnissobjecten verbundenen Elemente in getrennten und so viel als m\u00f6glich contr\u00e4r entgegengesetzten Begriffen fixirt. Denn der contr\u00e4re Gegensatz, da er den gr\u00f6\u00dftm\u00f6glichen positiven Unterschied innerhalb eines gegebenen Allgemeinbegriffs bezeichnet, ist stets derjenige, in dessen Feststellung sich die logische Analyse zun\u00e4chst beth\u00e4tigt, und unter allen m\u00f6glichen Zerlegungen nach contr\u00e4rem Gegens\u00e4tze ist wieder diejenige die n\u00e4chstliegende, welche von den allgemeinsten Vorstellungsformen ausgeht, die eben wegen ihrer Allgemeinheit zugleich die verbreitetsten und darum wirksamsten Motive zur Bildung abstracter Gegensatzbegriffe abgeben. Hierin liegt der Schl\u00fcssel f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der auf den ersten Blick befremdenden Thatsache, dass die metaphysische Ver-werthung jener Begriffe gerade mit den abstractesten angefangen hat. Zugleich besteht aber hierin die wirksamste Best\u00e4tigung des an sich","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n173\nblo\u00df subjectiven Erkenntnisswerth.es, der diesen allgemeinsten Kategorien zukommt. Beide, das Sein und das Werden, deuten in ihrer nothwendigen Wechselbeziehung eben nur die Abstractions-formen an, die wir hei der Bearbeitung eines gegebenen Erkenntniss-inhaltes zun\u00e4chst verwenden. Als solche m\u00fcssen sie zwar ihren Grund in den Objecten haben, sie selbst d\u00fcrfen aber nimmermehr objectivirt oder mit den Objecten verwechselt werden.\nEs konnte nicht aushleihen, dass die Fruchtlosigkeit der Bem\u00fchungen um eine metaphysische Verwerthung dieses Verh\u00e4ltniss, wenn auch nur dunkel, allm\u00e4hlich zum Bewusstsein brachte. Sind Sein und Werden nicht selbst Erkenntnissobjecte, aber Abstractions-formen, welche in den Erkenntnissobjecten ihren Grund haben, so liegt es nahe, ihre subjective Beschr\u00e4nkung dadurch auf heben zu wollen, dass man ihnen unmittelbar den Begriff des Objectes als Erg\u00e4nzung hinzuf\u00fcgt. So entsteht der einheitliche Begriff des seienden und werdenden Etwas, in welchem die ahstracten Kelations-formen des Seins und des Werdens den urspr\u00fcnglichen Dingbegriff zu Hilfe gezogen und zugleich unter der Wirkung ihrer eigenen abstracten Natur seines concreteren Charakters entkleidet haben. Das Etwas ist abstracter als das Ding, denn von der Beziehung zu Eigenschaften, die bei diesem nicht fehlen k\u00f6nnen, ist bei jenem v\u00f6llig abgesehen. Zusammen mit der participialen Form des Seienden und des Werdenden will es nur die Forderung obj ectiver Existenz betonen, indem es zugleich hervorhebt, dass beide Wechselbegriffe sich auf ein und dasselbe Substrat des Erkennens beziehen. Damit werden nun aber neue unterscheidende Abstractionen erforderlich, in denen sich die Wechselbegriffe des Seins und des Werdens in einer vertiefteren und den Anspr\u00fcchen der objectiven Wirklichkeit n\u00e4her kommenden Weise wiederholen. Diese neuen Wechselbegriffe sind die des Stoffs und der Form.\nb. Stoff und Form.\nDie Begriffe des Stoffs und der Form sind Erzeugnisse unseres abstrahirenden Denkens, die insofern mit den Begriffen des Seins und des Werdens auf gleichem Boden stehen, als sie verschiedene Gesichtspunkte darstellen, von denen aus die Erkenntnissobjecte, die an sich beide Begriffsmomente vereinigt enthalten, betrachtet werden k\u00f6nnen.","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nW. Wundt.\nAber sie unterscheiden sich wesentlich dadurch, dass sie auf Motive des Denkens zuriickweisen, die nicht blo\u00df in diesem sich zu festen Begriffen verdichten, sondern auch in ihrer Beziehung auf die Objecte der Anschauung von einander getrennt bleiben. Das Sein h\u00e4lt unserer Betrachtung nicht Stand, sobald die Objecte in Ver\u00e4nderungen begriffen sind, aber der Stoff, aus dem ein Gegenstand besteht, kann als beharrend aufgefasst werden, auch wenn seine Form wechselt, und hinwiederum k\u00f6nnen verschiedene Stoffe in \u00fcbereinstimmenden Formen gegeben sein, wie dies am deutlichsten bei der n\u00e4chsten Bedeutung der Form, der Gestalt, ist. Darum k\u00f6nnen wir die Begriffe von Stoff und Form nicht blo\u00df als subjective logische Formen betrachten, welche lediglich auf bestimmte Richtungen unserer Erkennt-nissfunctionen hin weisen, sondern wir m\u00fcssen ihnen einen objec-tiven Erkenntnisswerth zugestehen.\nDieser Umstand hat nun aber dazu gef\u00fchrt, dass man sie \u00fcberhaupt als trennbare Objecte betrachtete, eine Anschauung, welche namentlich in Bezug auf den Formbegriff lange Zeit die Metaphysik beherrschte, und welche in der Platonischen Ideenlehre ihren classi-schen Ausdruck fand. Sind auch nach Platonischer Auffassung innerhalb der Sinnenwelt Stoff und Form an einander gebunden, so gilt doch diese Verbindung als ein erst gewordenes Erzeugniss. Urspr\u00fcnglich besitzen die Formen als Ideen eine unabh\u00e4ngige Existenz, und als solche sind sie Gegenst\u00e4nde unserer Begriffsbildung. Aus dieser wird dann geschlossen, dass den objectiven Ideen selbst Allgemeinheit zukommt. Der Stoff, die Materie ist als das v\u00f6llig bestimmungslose gar nicht Gegenstand des Begriffs ; er ist, wie wir es heute ausdr\u00fccken w\u00fcrden, blo\u00dfe Anschauung, als der ausgedehnte Raum, welcher in der Sinnenwelt den Ideen ihre concrete Gestalt gibt. In allem diesem erkennt man deutlich noch die Nachwirkungen des Eleatischen Seins,* das, zur Idee umgestaltet, den Stoffbegriff zwar heranzieht, um einen Uebergang zur Erscheinungswelt zu gewinnen, aber eine Gleichberechtigung diesem Begriff noch keineswegs zugestehen will. Obgleich Aristoteles die v\u00f6llige Transscendenz der Ideenwelt beseitigt, indem er das Wirkliche gerade in dem einzelnen Ding anerkennt, welches Stoff und Form in sich vereinigt, so bleibt seine Grundanschauung die Platonische. Nicht nur ist die Form allein Gegenstand der Begriffsbildung, sondern die Endpunkte der Entwicklung,","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n175\nder denkende Geist und die Gottheit, werden von ihm als reine, stofflose Formen betrachtet. Dies h\u00e4ngt zusammen mit einer aus der Platonischen Ideenlehre hervorgegangenen Begriffsvertauschung, deren Wirkungen noch heute nicht erloschen sind. An die Stelle des Verh\u00e4ltnisses von Stoff und Form tritt das von K\u00f6rper und Geist. Indem der Geist als das formbestimmende gedacht wird, erscheint er als die Form selbst. Logisch betrachtet ist diese Begriffs\u00fcbertragung eine unzul\u00e4ssige. Denn der objective Erkenntnisswerth der Begriffe von Stoff und Form besteht gerade darin, dass dieselben auf unmittelbare Eigenschaften der Objecte hinweisen, die uns stets mit einander gegeben sind. Sobald man daher von der Form auf einen hypothetischen Grund derselben zur\u00fcckgeht, so wird hier das Metaphysische dem Logischen substituirt. Dadurch wird aber die Auffassung des Verh\u00e4ltnisses von Stoff und Form um so mehr getr\u00fcbt, als man von vornherein nur f\u00fcr die letztere einen solchen metaphysischen Grund voraussetzt. Wenn z. B. Aristoteles Gestalt, Bewegung, Zweck als Unterarten der Form bezeichnet, so ist es deutlich, dass diese Aufz\u00e4hlung von der metaphysischen Voraussetzung ausgeht: Form ist, was eine geistige Ursache hat, und f\u00fcr die Feststellung des Begriffs \u00bbgeistige Ursache\u00ab sind wieder gewisse Beobachtungen an den lebenden Wesen ma\u00dfgebend geworden. Noch bei Kant wirkt diese Vermengung des Formhegriffs mit den metaphysischen Voraussetzungen \u00fcber die Ursachen der Form darin nach, dass er den Formen der Erkenntniss, den Anschauungs- und Begriffsformen, einen intellec-tuellen Ursprung gibt, w\u00e4hrend er von dem Stoff, den er in die Empfindung verlegt, lediglich behauptet, dass er uns empirisch gegeben werde.\nSuchen wir nun unabh\u00e4ngig von solchen zu der Begriffsunterscheidung hinzugebrachten Voraussetzungen das Verh\u00e4ltniss beider Begriffe zu bestimmen, so haben wir von der Thatsache auszugehen, dass an den wirklichen Denkobjecten Stoff und Form immer mit einander gegeben sind, dass ebenso wenig ein formloser Stoff wie eine stofflose Form f\u00fcr uns denkbar ist. In dieser Beziehung gleichen beide vollkommen den verwandten Begriffspaaren, dem Sein und dem Werden, dem Ding und seinen Eigenschaften. Aber w\u00e4hrend in Sein und Werden nur die einander gegen\u00fcberstehenden Formen der Abstraction aus dem Gegebenen selbst sich ausgepr\u00e4gt haben, ist andererseits in","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nW. Wundt.\ndem Ding und seinen Eigenschaften der Einfluss der Erfahrungsmomente noch m\u00e4chtig genug, um die abstracte Sonderung der Begriffe v\u00f6llig zu hindern, so dass selbst die verwegenste metaphysische Speculation unf\u00e4hig sein w\u00fcrde, den Gedanken eines Dings ohne Eigenschaften oder einer Eigenschaft ohne dingliches Substrat zu verlangen. Hier liegen nun Stoff und Form genau in der Mitte. Alle Merkmale des Seins hat auch der Stoff beibehalten: die Existenz, die objective Realit\u00e4t und die Unver\u00e4nderlichkeit; aus dem Ding dagegen ist die Vorstellung des nothwendigen Verbundenseins mit Eigenschaften und des Wechsels dieser Eigenschaften, des Zustandes, in ihn \u00fcbergegangen. AVenn die Platonische Materie als das v\u00f6llig bestimmungslose, darum aber auch als das eigentlich niclit-seiende auftritt, so sind dies Unzul\u00e4nglichkeiten der Entwicklung, in denen das Sein der Eleaten noch deutlich seine Uebermacht geltend macht.\nHat der Stoffbegriff dem Sein die abstracten Elemente entlehnt, die ihn von dem Dingbegriff scheiden, so ist nun aber das Verh\u00e4ltniss des Formbegriffs zu dem AVerden keineswegs ein v\u00f6llig entsprechendes. Vielmehr tritt hier die merkw\u00fcrdige Erscheinung auf, dass das Sein, namentlich in den metaphysischen Verwerthungen dieses Begriffs, fortw\u00e4hrend die Tendenz besitzt, auch der Form seine Merkmale, insbesondere das dem AVerden direct entgegengesetzte der absoluten Unver\u00e4nderlichkeit, mitzutheilen. Von den Platonischen Ideen an bis auf Spinoza\u2019s Causa sui und die Vis primitiva des Leibniz herab ist die ontologische Metaphysik erf\u00fcllt von dem Streben, das Princip der AVr\u00e4nderung dem des Beharrens dienstbar zu machen. Das urspr\u00fcngliche Motiv dieses Strebens liegt in dem AViderstand, welchen der empirische Dingbegriff der Anwendung des abstracten Begriffs der Ver\u00e4nderung, des AVerdens entgegensetzt. Dieser Widerstand \u00e4u\u00dfert sich zun\u00e4chst an dem Dingbegriff selbst, indem zwei Relationsbegriffe ihm gegen\u00fcberstehen, die Eigenschaft, bei der von jeder Ver\u00e4nderung abgesehen wird, und derZu-stand, auf welchen sich das Moment des AVechsels zur\u00fcckgezogen hat. Da aber hierbei der Nebenbegriff relativ bleibender Eigenschaften nicht verloren gegangen ist, so bleibt auch dein Zustand das absolute Flie\u00dfen des AVerdebegriffs fremd. In Eigenschaft und Zustand sind auf diese AVeise Constanz und Ver\u00e4nderung relative Begriffe geblieben, wie solches dem empirischen Thatbestand unserer Vor-","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n177\nStellungen, aus denen sie als n\u00e4chste Abstractionen sich niederschlugen, entspricht. Wie nun in den Stoffbegriff aus dem Ding die Vorstellung eines Complexes bleibender Eigenschaften \u00fcberging und in ihm unter dem Einfluss des abstracten Seins zu absoluter Con-stanz sich verdichtete, so geht in den Formbegriff die Vorstellung des Zustandes als eines zwar relativ ver\u00e4nderlichen, aber doch f\u00fcr die begriffliche Betrachtung fixirt zu denkenden ein. Der Begriff des Werdens aber kommt zur Geltung, indem man auf das Moment der Entstehung eines gegebenen Zustandes den entscheidenden Werth legt. Dadurch erleidet der Begriff der Form eine Verschiebung, die ihn seiner eigentlichen Bedeutung, wie sie noch im gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch erhalten gehliehen ist, entfremdet. Nicht die relativ bleibende Gestaltung des Stoffes ist es, in welche das Formprincip verlegt wird, sondern die Ursache dieser Gestaltung, die eben in dem Moment der Formentstehung sich beth\u00e4tigt. Auf diese Ursache k\u00f6nnen aber, da nicht sie selbst in dem Wechsel der Erscheinungen gegeben ist, nunmehr alle Pr\u00e4dicate des Seins, insbesondere auch dasjenige des Beharrens, \u00fcbertragen werden. So hat sich das Denken aus dem unvers\u00f6hnlichen Widerstreit der abstracten Gegens\u00e4tze des Seins und Werdens gerettet, indem es. unter dem ma\u00dfgebenden Einfluss der relativen Beharrlichkeit der Vorstellungen und des von ihr getragenen empirischen Dinghegriffs mit seinen Pr\u00e4dicaten, dem Sein das Uehergewicht zuerkannte. Alle Ver\u00e4nderung wird zur Erscheinungsform eines beharrenden Substrates. Dieses Substrat, wenn man es ohne jede R\u00fccksicht auf die in ihm liegende M\u00f6glichkeit ver\u00e4nderliche Gestalt anzunehmen betrachtet, ist der Stoff, wenn man es aber mit R\u00fccksicht auf diese M\u00f6glichkeit und als das Princip der Ver\u00e4nderung seihst betrachtet, die Form. Damit haben sich Stoff und Form zur Forderung eines einheitlichen Begriffs verbunden, welcher sie beide in sich schlie\u00dft, indem er die einseitige Abstraction, die jedem von ihnen zu Grunde liegt, aufgibt, da er eben in der Forderung eines Substrates besteht, welches Stoff und Form zugleich ist. Dieser Begriff, den zum ersten Mal in seiner f\u00fcr die ganze weitere Entwicklung folgenreichen Bedeutung diejenige Philosophie entwickelt hat, die eben in der Vereinigung des Stoff-uud Formprincips ihren Schwerpunkt besitzt, die Aristotelische, ist der Begriff der Substanz. Doch mit seiner Bildung haben Sein und\nWundt, Philos. Studien. II.\t12","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nW. Wundt.\nWerden, Stoff und Form ihre Bedeutung nicht eingeh\u00fc\u00dft. Indem sie die unterscheidende Abstraction dazu dr\u00e4ngen, ein Princip des Beharrens zu sondern von einem solchen der Ver\u00e4nderung, bilden sich Substantialit\u00e4t und Causalit\u00e4t als ein neues Paar von Corre-latbegriffen, in denen sich die ganze seitherige Entwicklung der Abstraction sammt den fortw\u00e4hrenden Einwirkungen des empirischen Dingbegriffs zu bleibenderen, in sich aber wieder mannigfach abweichenden Gestaltungen verdichtet hat.\nc. Substantialit\u00e4t und Causalit\u00e4t.\nDer Begriff der Substanz wird noch heute in einer Doppelbedeutung gebraucht, welche geeignet ist, die Auffassung des Verh\u00e4ltnisses, in welchem derselbe zu den vorangegangenen Begriffen steht, zu tr\u00fcben. In seiner logischen Bedeutung bezeichnet er die den empirischen Dinghegriff begleitende Vorstellung des Beharrens heim Wechsel der Eigenschaften. Dies ist der Substanzbegriff Locke\u2019s, welchen (Hegel) auf seine psychologischen Elemente zur\u00fcckgef\u00fchrt und Kant unter die erkenntnisstheoretischen Kategorien aufgenommen hat. In seiner metaphysischen Bedeutung bezeichnet er das transscendente und als absolut unver\u00e4nderlich vorausgesetzte reale Substrat der Erscheinungswelt. Dies ist der metaphysische Substanzhegriff, welcher in den ontologischen Speculationen der neueren Philosophie verschiedene Entwicklungen erfahren hat und von Kant das \u00bbDing an sich\u00ab genannt worden ist; ein weiterer, von der Philosophie mannigfach beeinflusster Ausl\u00e4ufer des letzteren ist der S\u00fcbstanz-begriff der Naturwissenschaft, welcher sich aber dadurch unterscheidet, dass ihm blo\u00df ein hypothetischer Werth zugestanden wird1). Es bedarf kaum der Bemerkung, dass die erste Form dieser Entwicklungen, die rein erkenntnisstheoretische, hier ganz au\u00dfer Betracht bleibt. Wird in diesem Fall doch schon der Name der Substanz eigentlich nur mit Unrecht verwendet, da hei der Vorstellung des empirischen Dings von einem absolut beharrenden Tr\u00e4ger der Eigenschaften ebensowenig, wie von einer transscendenten Natur dieses Tr\u00e4gers die Rede sein kann. Die beiden Correlatbegriffe relativ beharrender Eigenschaften und relativ ver\u00e4nderlicher Zust\u00e4nde enth\u00e4lt\n1) Vgl. meine Logik, I, S. 411, 494.","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte unit Theorie der abstracten Begriffe.\n179\naber bereits der Dingbegriff selbst. Andrerseits ist nur der metaphysische Substanzbegriff in seiner untrennbaren Verbindung mit dem Causalbegriff als der letzte Schritt jener Entwicklung anzuerkennen, deren vorbereitende Stufen uns in den Correlatbegriffen von Sein und Werden, von Stoff und Form entgegentraten.\nDas charakteristische Merkmal dieses Substanzbegriffs besteht nun gerade darin, dass in ihn jene Nehenheziehung des Transscenden-ten, welche den vorangegangenen Begriffen an sich nicht zukommt, aufgenommen wird. Sein und Werden, Stoff und Form sind ab-stracte Begriffspaare, welchen als solchen das Wirkliche seihst nicht entsprechen kann, ja sie sind wegen der vollkommeneren contr\u00e4ren Gegens\u00e4tze, die sich in ihnen ausgepr\u00e4gt haben, abstracter als die Substanz, welche die Momente des Stoffs und der Form aufgehoben in sich enth\u00e4lt; aber sie sind Abstractionen aus der unmittelbaren Wirklichkeit. Transscendente Beziehungen gelangen in sie erst durch die Absicht, mit der man den einen der sich erg\u00e4nzenden Correlatbegriffe, den Forderungen des empirischen Dingbegriffs , dem sie alle entstammen, zum Trotz, zum alleingiiltigen Princip erhebt. Nur das Sein, welches das Werden von sich ausschlie\u00dft, oder das Werden, in dem alles Sein untergeht, nur der formlose Stoff oder die stofflose Form sind transscendente Principien. In ihrer Vereinigung gedacht behalten alle diese Begriffe den Werth von Abstractionen, welche nicht nur zul\u00e4ssig, sondern in gewissem Sinne nothwendig sind. Anders ist es mit der Substanz. Mit R\u00fccksicht auf die Abstractionsstufe betrachtet steht sie dem empirischen Dingbegriff nicht nur n\u00e4her als alle jene vorangegangenen Relationsbegriffe, sondern sie steht geradezu mit ihm auf gleicher Stufe. Denn an die Substanz werden Eigenschaften, Attribute und ver\u00e4nderliche Zust\u00e4nde ebenso unver\u00e4u\u00dferlich gebunden gedacht, wie an das empirische Ding. In dieser Beziehung erscheint der Substanzhegriff lediglich als eine philosophische Umgestaltung des Dingbegriffs. Dagegen wird bei der Substanz auf jedes unmittelbare Gegehensein in der Anschauung verzichtet. Die Eleaten meinten, obgleich ihnen die Erfahrungswelt in ihrer Ver\u00e4nderlichkeit als Schein galt, doch in der unver\u00e4nderlichen Raumerf\u00fcllung sicherlich nicht blo\u00df ein Bild des Seins, sondern die unmittelbare Verwirklichung desselben zu sehen. Plato lehrte eine Antheilnahme der Ideen an den Einzeldingen, und diese war ihm\n\u00ce2*","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nW. Wundt.\nnicht etwa eine \u00fcbersinnliche, sondern sie \u00e4u\u00dferte sich unmittelbar in der Formgestaltung der Gegenst\u00e4nde. F\u00fcr Aristoteles endlich ist das aus Stoff und Form bestehende Einzelne selbst die Substanz. Ganz anders in den letzten Entwicklungen des Substanzbegriffs : hier wird die Substanz toto genere ein \u00fcbersinnliches Ding, das bei Spinoza noch in einzelnen seiner Attribute in die Erfahrungswelt hereinreicht, bei Leibniz aber in seinem ganzen Umfang ein Noumenon ist, dem die Erfahrungswelt als ein gesetzm\u00e4\u00dfig verbundener Schein gegen\u00fcbersteht ; und der letzteren Auffassung entsprechen, abgesehen von dem Zugest\u00e4ndniss des hypothetischen Charakters des Substanzbegriffs, durchaus die metaphysischen Voraussetzungen der neueren Naturwissenschaft.\nDiese ganze Entwicklung findet sich nun in den Umgestaltungen, welche die vorangegangenen Relationsbegriffe erfahren haben, sichtlich schon vorgebildet. In ihnen allen lag die Tendenz, einen con-creten Inhalt zu gewinnen. Dieser Tendenz wurde durch die Aufnahme bestimmter Elemente aus dem empirischen Dinghegriff Folge gegeben ; insbesondere diente die untrennbare Verbindung des Dings mit seinen Eigenschaften und Zust\u00e4nden als Vorbild jener Begriffsentwicklungen, welche dem Sein und Werden, dem Stoff und der Form ihren urspr\u00fcnglichen Gegensatz nahmen, um ein einheitliches Princip f\u00fcr die denkende Auffassung der Welt zu gewinnen. Der nat\u00fcrliche Schlusspunkt dieser Entwicklung ist es, dass man in Bezug auf die objective Vereinigung der Beziehungsbegriffe wieder vollst\u00e4ndig hei dem Dingbegriff anlangt, dem nun aber au\u00dferdem alle die ah soluten Bestimmungen hinzugef\u00fcgt werden, welche hei den vorangegangenen ahstracten Begriffen gewonnen waren. Der so entstandene Begriff ist die Substanz. Die Attribute sind an sie gebunden wie die Eigenschaften an das Ding. Gleichzeitig hat sie aber von der sub-jectiven Abstractionsform des Seins die absolute Unver\u00e4nderlichkeit, von der des Werdens das ihr immanente Princip eines absoluten Grundes der Ver\u00e4nderungen geborgt. Sie vereinigt in sich Stoff und Form ; doch indem diese nicht mehr einander gegen\u00fcbergestellt werden, sondern zu einer absoluten Einheit aufgehoben sind, ist eine Vermengung der Substanz mit den sinnlichen Einzeldingen, wie sie noch der Aristotelischen Metaphysik begegnet, fortan unm\u00f6glich. H\u00f6chstens k\u00f6nnen die \u25a0 Einzeldinge und ihre Ver\u00e4nderungen als Aeu\u00dferungen","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschiclile und Theorie der abstracten Begriffe.\n181\noder Wirkungen der Substanz aufgefasst werden. Die Substanz selbst aber bleibt transscendent ; sie kann nur im Denken erfasst, nicht in der Sinnlichkeit angeschaut werden. Alles was die logische Abstraction, von dem Dingbegriff ausgehend, in correlaten Allgemeinbegriffen einander gegen\u00fcberstellt, ist zu absoluten Bestimmungen des metaphysischen Substanzbegriffes verwendet worden, und diese absoluten Bestimmungen eben sind es, die in Folge ihrer Unvereinbarkeit mit der empirischen Dingvorstellung den transscendenten Charakter der Substanz hervorgebracht haben.\nDurch diese vollst\u00e4ndig, nicht blo\u00df, wie bei den vorange-gaugenen Begriffsentwicklungen, theilweise anerkannte Transscen-denz wird nun der Substanzbegriff zur wahren \u00bbcoincidentia opposi-torum\u00ab. Sein und Werden, Stoff und Form sind in ihm v\u00f6llig zur Ruhe gekommen. Dieser Friede zwischen den urspr\u00fcnglich entgegengesetzten Begriffen findet in dem Correlatbegriff der Substanz, in der Causalit\u00e4t, seinen Ausdruck. Von dem Werden unterscheidet sich die Causalit\u00e4t dadurch, dass sie keinen Gegensatz zum beharrenden Sein der Substanz bildet, sondern selbst ein beharrendes Sein ist; denn an die Stelle des Werdens ist in ihr der Grund des Werdens getreten. Von der Form unterscheidet sie sich dadurch, dass sie nicht nothwendig als ein zu dem Stoff erst hinzukommendes, und darum von ihm verschiedenes gedacht werden muss, sondern dass sie, als der Grund aller Formbestimmung, an den Stoff untrennbar gebunden in das urspr\u00fcngliche Wesen desselben verlegt werden kann. W\u00e4hrend daher das Werden in einem unvers\u00f6hnlichen Gegens\u00e4tze zum beharrenden Sein stand, w\u00e4hrend die Form nur \u00e4u\u00dferlich und darum in gewissem Sinne zuf\u00e4llig an den Stoff gebunden war, ist die Causalit\u00e4t mit der Substantialit\u00e4t zur vollst\u00e4ndigen Einheit verschmolzen. \u00bb Keine Substantialit\u00e4t ohne Causalit\u00e4t ! \u00ab Mit diesem Worte hat Herbart die Grundvoraussetzung aller ontologischen Metaphysik ausgesprochen1), und das n\u00e4mliche Wort l\u00e4sst sich durchaus auf die naturwissenschaftliche Metaphysik anwenden. In beiden freilich hat dasselbe wieder einen etwas verschiedenen Sinn. Die philosophische Ontologie pflegt nicht nur die Substanz, sondern auch die Causalit\u00e4t als ein transscendentes Princip zu betrachten ; die\n1) Herbart, Metaphysik, II, S. 110. (Ausg. von Hartenstein, Bd. 4.)","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nW. Wundl.\nErfahrungswelt bleibt ihr ein \u00bbSchein\u00ab, der h\u00f6chstens in vermittelter Weise mit der an sich unerfahrbaren unmittelbaren Causalit\u00e4t der Substanz zusammenh\u00e4ngt. Der naturwissenschaftlichen Metaphysik besteht der Unterschied zwischen beiden Correlatbegriffen gerade darin, dass sie die Substanz als einen an sich der Erfahrung niemals zug\u00e4nglichen und darum stets hypothetischen Begriff betrachtet, w\u00e4hrend die gesammten empirischen Naturerscheinungen aus der Causalit\u00e4t jener Substanz erkl\u00e4rt werden. Dabei fehlt es freilich nicht an zwischenliegenden Standpunkten ; doch pflegt die Naturwissenschaft, auch wenn sie eine Causalit\u00e4t annimmt, die nicht selbst, sondern erst in ihren entfernteren Wirkungen der Beobachtung zug\u00e4nglich ist, jene in empirischer Form vorzustellen, indem sie eine aus der Erfahrung bekannte Causalit\u00e4t zu Grunde legt. Auf diese Weise wird z. B. von der naturwissenschaftlichen Atomistik die Causalit\u00e4t der Bewegung verwerthet. F\u00fcr die Bildung des Substanzhegriffs selbst dient dann die erfahrungsm\u00e4\u00dfige Causalit\u00e4t ebenso als Leitfaden, wie umgekehrt wieder diese aus den Voraussetzungen \u00fcber die Substanz abgeleitet wird. Das Verh\u00e4ltniss beider Begriffe gestaltet sich demnach in der naturwissenschaftlichen Metaphysik so, dass in der Substanz, als dem Tr\u00e4ger der Causalit\u00e4t, diejenigen Voraussetzungen \u00fcber das Substrat der Erscheinungen vereinigt werden m\u00fcssen, welche eine widerspruchslose Causalerkl\u00e4rung m\u00f6glich machen. Die wahren Motive zur Bildung des Substanzbegriffs liegen f\u00fcr den so gewonnenen Standpunkt darin, dass den Naturerscheinungen selbst eine unmittelbare Realit\u00e4t deshalb nicht zugeschrieben werden kann, weil eine solche Annahme in unaufl\u00f6sbare Widerspr\u00fcche verwickelt. Die Geschichte der Physik ist darum ein fortw\u00e4hrender Kampf gegen diese Widerspr\u00fcche mittelst der Gestaltung hypothetischer Voraussetzungen \u00fcber das Substrat der Naturcausalit\u00e4t. Der Satz \u00bbKeine Substantialit\u00e4t ohne Causalit\u00e4t\u00ab hat hier die Bedeutung einer Warnung, man solle nicht solche Substanz Voraussetzungen machen, f\u00fcr welche innerhalb der Naturcausalit\u00e4t keine zwingenden Motive vorliegen. Wo darum eine Causalit\u00e4t ohne solche Widerspruchsmotive gegeben ist, da liegt kein Grund vor, nun auf eine transscendente Substanz zur\u00fcckzuschlie\u00dfen. Dieser Fall ereignet sich bei der innern Erfahrung als solcher, auf welche zwar ebenfalls beide Correlatbegriffe neben einander anwendbar sind, doch immer nur so, dass man sich ihrer als","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n183\nsich erg\u00e4nzender Gesichtspunkte bewusst ist, unter denen das unmittelbar Gegebene der logischen Betrachtung unterworfen wird. Die Substanz der inneren Erfahrung ist der gesammte Thatbestand derselben, wenn wir ihn ohne R\u00fccksicht auf die besonderen Beziehungen von Grund und Folge betrachten, die zwischen den einzelnen Theilen derselben stattfinden ; die Causalit\u00e4t der inneren Erfahrung dagegen besteht gerade in der Auffassung dieser Beziehungen1). Damit fallen nun aber die eigenth\u00fcmlichen Unterschiede, die f\u00fcr die \u00e4u\u00dfere Erfahrung dem Substanz- und Causalbegriff gegen\u00fcber den Wechselbegriffen des Seins und des Werdens, des Stoffs und der Form ihren Werth verleihen, \u00fcberhaupt hinweg. Der tiefere Grund hiervon ist sichtlich darin zu suchen, dass ein Dingbegriff, wie er aus der \u00e4u\u00dferen Erfahrung entwickelt wird, f\u00fcr die innere \u00fcberhaupt nicht existirt, und dass also auch alle die Motive, welche dort zu einer Vereinigung jener abstracten Beziehungsbegriffe mit dem Dingbegriff f\u00fchren, hier hinwegfallen.\nMit den Wechselbegriffen der Substantialit\u00e4t und Causalit\u00e4t, in denen diese Reduction der abstracten Relationsformen auf den Dinghegriff sich verk\u00f6rpert, sind die Entwicklungen abgeschlossen, die sich auf die Objecte, insofern dieselben als logische Subjecte in unsern Erkenntnissprocess eingehen, beziehen. Es bleibt uns jetzt noch \u00fcbrig, auf die Pr\u00e4dicate einen Blick zu werfen, die, von \u00e4hnlich abstracter Natur und in \u00e4hnlichen correlaten Beziehungen stehend, diesen Subjecten beigelegt werden.\n3. Die correlaten abstracten Pr\u00e4dicatbegriffe.\na. Einheit und Mannigfaltigkeit.\nAn die Wechselbegriffe des Seins und des Werdens sind die Pr\u00e4dicate der Einheit und Mannigfaltigkeit auf das innigste gebunden. Das Sein, indem man ihm Unver\u00e4nderlichkeit zuschreibt, wird zugleich als absolute Einheit gedacht; dem-Werden dagegen entspricht die Mannigfaltigkeit, da der Uebergang von einem Sein zum andern eine Vielheit des Seienden voraussetzt. Auch der Stoff wird noch mit Vorliebe als ein einheitlicher, die Form als eine mannigfaltige gedacht. Doch machen sich hier ebenfalls die R\u00fcckwirkungen geltend,\n1) Vgl. hierzu meine Logik, I, S. 486, II, S. 502.","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nW. Wundt.\ndie schon bei den Subjectbegriffen die abstracteren Relationen des Seins unddes Werdens aus\u00fcben. Nicht nur der vovg des Anaxagoras, welcher das formende Princip der Welt ist, wird als Einheit dem unendlich mannigfaltigen Stoff gegen\u00fcbergestellt, sondern auch die Platonischen Ideen werden Einheiten genannt, um ihre innere Abgeschlossenheit gegen\u00fcber der an sich chaotischen Materie anzudeuten. Die Substanz tr\u00e4gt in allen ihren Gestaltungen das Pr\u00e4dicat der Einheit, mag nun diese Einheit gleichzeitig als eine unendliche Mannigfaltigkeit gefasst sein, so dass nur durch den Begriff der Allheit derjenige der Einheit gewonnen wird, wie in der S\u00fcbstanzlehre Spinoza\u2019s, oder mag man umgekehrt sich die Einheit durch die absolute Einfachheit der Substanz zu sichern streben, wie in der Monadenlehre des Leibniz und seiner Nachfolger. Der naturwissenschaftlichen Metaphysik besteht die Einheit der Substanz in ihrer qualitativen Gleichartigkeit. Der Causalit\u00e4t liegt es dann ob, die Vermittlung mit der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen herzustellen. Sie tr\u00e4gt darum zun\u00e4chst das Pr\u00e4dicat der Mannigfaltigkeit. Aber auch hier schl\u00e4gt dasselbe wieder in seinen Gegensatz um. Gebunden an die Substanz, muss die ontologische Causalit\u00e4t an der Einheit jener Theil nehmen, und die physikalische erreicht das n\u00e4mliche Ziel durch die postulirte Einheit der Naturkr\u00e4fte. Der metaphysische Gedanke einer unendlichen Mannigfaltigkeit, Reiche zugleich absolute Einheit ist, findet eben auf den verschiedensten Wegen immer wieder seinen Eingang.\nDas fortw\u00e4hrende Streben, beide Begriffe an einander zu binden, weist nun aber zugleich auf die wahre logische Bedeutung derselben hin. Sie sind Wechselbegriffe, die wir stets neben einander auf die Denkobjecte anzuwenden gen\u00f6thigt sind, die jedoch, ebenso wie die ihnen zun\u00e4chst ad\u00e4quaten Subjectbegriffe des Seins und des Werdens, nur einen subjectiven Erkenntnisswerth besitzen. Was von dem Denken nicht in eine Einheit zusammengefasst werden kann, ist \u00fcberhaupt kein Denkobject. Alles [Denken beth\u00e4tigt sich aber an einem mannigfaltigen Inhalt. Die Abstractionen der Einheit und Mannigfaltigkeit laufen daher in dieser ihrer relativen Bedeutung stets neben einander her. Indem die metaphysische Speculation sie in absolute Pr\u00e4dicate umwandelt, erhebt sie in ganz \u00e4hnlicher Weise, wie es hei den entsprechenden Subjectbegriffen des Seins und des Werdens","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n185\ngeschehen ist, rein formale Gesichtspunkte, die fiir die Auffassung der Objecte ihre unantastbare logische Geltung besitzen, in Aussagen \u00fcber den Inhalt der Objecte oder des Realen selber.\nAls solche Aussagen leiden nun Einheit und Mannigfaltigkeit an der n\u00e4mlichen Unbestimmtheit wie Sein und Werden. Unter jener Wirkung des Dingbegriffs, welche auch die Subjectbegriffe in concre-tere Gestaltungen \u00fcbergef\u00fchrt hat, wird daher nach einer begrifflichen Erg\u00e4nzung gesucht, welche beiden Begriffen einen bestimmteren Inhalt verleiht. Diese Erg\u00e4nzung besteht in den ebenfalls zu einander correlaten Pr\u00e4dicaten der Quantit\u00e4t und Qualit\u00e4t.\nb. Quantit\u00e4t und Qualit\u00e4t.\nSobald wir von aller Verschiedenheit des Seienden abstrahiren, bleiben nur noch quantitative Bestimmungen f\u00fcr dasselbe m\u00f6glich; denn alle Qualit\u00e4t setzt innere Unterschiede voraus, die uns n\u00f6thigen, ein bestimmtes Quale einem andern gegen\u00fcberzustellen. Der Begriff der Quantit\u00e4t h\u00e4ngt daher zun\u00e4chst mit dem der Einheit, der Begriff der Qualit\u00e4t mit dem der Mannigfaltigkeit zusammen. Einmal entstanden lassen aber diese Abstractionen auch gekreuzte Verbindungen zu: das qualitativ Einheitliche kann als eine quantitative Mannigfaltigkeit, wie in der Atomistik, oder das quantitativ Einheitliche als eine qualitative Mannigfaltigkeit gedacht werden, wie bei der Attri-butenlehre Spinoza\u2019s. W\u00e4hrend aber Einheit und Mannigfaltigkeit als die abstractesten Pr\u00e4dicate zun\u00e4chst auch auf die abstractesten Correlatbegriffe des Seins und des Werdens bezogen wurden, bieten Quantit\u00e4t und Qualit\u00e4t als die concreteren zu den dem Dingbegriff n\u00e4her stehenden Abstractionen des Stoffs und der Form die unmittelbarste Beziehung dar. Der formlose Stoff kann nur als Quantum, und demgem\u00e4\u00df muss die Form als der Grund aller Qualit\u00e4tsunterschiede betrachtet werden. Aber auch hier fehlt es nicht an jenen Wechselwirkungen, die uns bei den entsprechenden Subjectbegriffen begegnet sind. Das Einheitsstreben der Speculation sucht alle Qualit\u00e4tsunterschiede auf quantitative Beziehungen zur\u00fcckzuf\u00fchren, wie dies nicht blo\u00df die Atomistik aller Zeiten, sondern selbst die mathematische Umgestaltung des Formbegriffs zeigt, -welche Plato seiner Ideenlehre in ihren kosm\u00f6logischen Anwendungen gegeben. Wo man dagegen auf die Durchf\u00fchrung des Einheitsgedankens verzichtet, da wird, wie","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nW. Wundt.\nnoch heute in der chemischen Atomistik, der letzte Grund alles Unterschieds in urspr\u00fcnglichen Qualit\u00e4tsunterschieden des Stoffs gesehen, w\u00e4hrend die Formung des letzteren blo\u00df quantitativen Gesetzen unterworfen sei.\nJede dieser Beziehungen, sowohl die der Quantit\u00e4t auf den Stoff, der Qualit\u00e4t auf die Form, wie die umgekehrte, hat ihre Quelle in den urspr\u00fcnglichen Verh\u00e4ltnissen unserer Erfahrungshegriffe. Das empirische Ding in seiner n\u00e4chsten Bedeutung als K\u00f6rper der Au\u00dfen weit bildet als ein relativ Bleibendes die Grundlage des Stoffhegriffs; aus den wechselnden Eigenschaften , in denen das Ding als ein mannigfacher Umformungen f\u00e4higes sich darbietet, entwickelt sich der Formhegriff. Nach Abzug dieser Eigenschaften bleibt aber nur die II au nier f\u00fcllung \u00fcbrig, die lediglich quantitative Unterschiede zul\u00e4sst, daher nur das abstracte Ding als Quantum, alle Eigenschaften au\u00dfer der Baumerf\u00fcllung aber, also Farbe, W\u00e4rme, Festigkeitu. s. w., als Qualit\u00e4ten gedacht werden. An diese urspr\u00fcnglichen Unterscheidungen ankn\u00fcpfend, fasst jede Naturphilosophie, die das Wesen der k\u00f6rperlichen Dinge in der Eaumerf\u00fcllung sieht, den Stoff als Quantum und die verschiedene Formung des Stoffs als das Quale oder mindestens als den Grund aller Qualit\u00e4t auf.\nDaneben bildet sich aber noch eine andere Gedankenreihe, welche einem Standpunkte gereifterer Reflexion entspricht, insofern sie nicht von der naiven ohjectiven Gestaltung des Dinghegriffs, sondern von der subjectiven Analyse desselben ausgeht. Dinge oder Gegenst\u00e4nde der Au\u00dfenwelt k\u00f6nnen uns immer nur gegeben werden durch den Inhalt unserer Empfindungen. Die Empfindung aber ist, so lange nicht die ordnende Th\u00e4tigkeit unseres eigenen Bewusstseins hinzutritt, als reines Quale vorauszusetzen. Aus dem qualitativen Stoff der Empfindungen formt erst unsere Anschauungsth\u00e4tigkeit concrete Vorstellungen von einer bestimmten r\u00e4umlichen und zeitlichen Beschaffenheit. Hier wird also umgekehrt die Qualit\u00e4t dem Stoff-, die Quantit\u00e4t dem Formbegriff zugeordnet. Zu dieser Anschauung bekennen sich alle diejenigen Metaphysiker, welche einer qualitativen Mannigfaltigkeit realer Principien zugethan sind, wie die, freilich mit atomistischen Vorstellungen durchsetzte, qualitative Elementenlehre eines Empedokles und, in gel\u00e4uterter Gestalt, die Monadenlehre eines Leibniz und Herbart.\nBeide Auffassungen sind in gewissem Sinne berechtigt, weil in","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n187\nihnen verschiedene Standpunkte der Betrachtung sich auspr\u00e4gen, die sich erg\u00e4nzen. Darin liegt aber zugleich die Aufforderung , diese Erg\u00e4nzung wirklich auszufiihren. Der erste Standpunkt hat seine St\u00e4rke in seiner Objectivit\u00e4t. Er l\u00e4sst sich die in der unmittelbaren Vorstellung gelegene Beziehung auf ein reales Object nicht verk\u00fcmmern durch die nachtr\u00e4gliche Reflexion auf das vor stellende Subject, die in der That nur dann ein Recht gibt, die Realit\u00e4t des Objects zu beseitigen, wenn die Voraussetzung der letzteren durch die Widerspr\u00fcche, in die sie verwickelt, sich seihst aufhebt. Aber die Schw\u00e4che dieses Standpunktes liegt in seiner logischen Naivit\u00e4t. Die qualitativen Eigenschaften der Dinge nimmt er ebenfalls als ohjectiv gegeben hin, ohne sich um die Frage zu k\u00fcmmern, wie beide Pr\u00e4dicate des Gegebenen, die quantitativen und die qualitativen, mit einander vereinbar sind. Der zweite Standpunkt hat seine St\u00e4rke in der logischen Analyse des Dinghegriffs, die ihm als letztes Element aller objectiven Vorstellungen das Quale der Empfindung zeigt. Seine Schw\u00e4che liegt in seiner Subjectivit\u00e4t, die, wenn sie nicht \u00fcberhaupt alle Qualit\u00e4t in einen suhjectiven Schein auf l\u00f6st, nichts \u00fcbrig l\u00e4sst, als die Empfindung zu objectiviren.\nDas Hilfsmittel, welches die Einseitigkeit dieser Standpunkte auf hebt, und zugleich die berechtigten Motive derselben zur Geltung bringt, bestellt in der Anerkennung des hypothetischen Charakters des Substanzbegriffs, dessen Werth eben darin besteht, dass er die unhaltbaren Elemente des Dingbegriffs der Erscheinung zurechnet und nur diejenigen zur\u00fcckbeh\u00e4lt, die widerspruchslos bestehen bleiben k\u00f6nnen, indem sie sich zugleich zur Ableitung der Erscheinungswelt brauchbar erweisen. So verschwinden in der mit Causalit\u00e4t begabten Substanz mit den Gegens\u00e4tzen des Stoffs und der Form zugleich diejenigen der Quantit\u00e4t und der Qualit\u00e4t. Denn beide verwandeln sich in Wirkungen jener Substanz, indem als objectiv e Wirkungen die quantitativen Verh\u00e4ltnisse der Bewegung, als subjective die Qualit\u00e4ten der Empfindung betrachtet werden. Beide sind dadurch mit einander verkn\u00fcpft, dass in uns alle Quantit\u00e4tsvorstellungen aus qualitativen Empfindungen hervorgehen. Damit werden aber diese Quantit\u00e4tsvorstellungen nicht ihres objectiven Werthes beraubt, denn sie sind nicht blo\u00df psychologische Resultate, sondern gleichzeitig logische Postulate, insofern sich in den Objects Vorstellungen niemals,","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nW. Wundt.\nwie bei dem Quale der Empfindung, logische Motive zu ihrer Beseitigung geltend machen, daher diese Beseitigung ihrerseits nur als ein Act subjectiver Willk\u00fcr m\u00f6glich sein w\u00fcrde. Auf dieser durch die gemeinsame Arbeit der Naturwissenschaft und der Erkenntnisstheorie gesicherten Grundlage m\u00f6gen dann freilich noch mannigfache einzelne Gestaltungen des Substanzbegriffs m\u00f6glich sein; im allgemeinen aber ist der wissenschaftlichen Metaphysik dadurch ihr Weg vorgezeichnet.\nDas Verh\u00e4ltniss zwischen dem Quantit\u00e4ts- und dem Qualit\u00e4tsbegriff hat hiernach so sich gestaltet, dass beide zusammen nur noch als Pr\u00e4dicate unserer subjectiven Zust\u00e4nde gelten, wo sie in der Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t der Empfindungen, sowie in den quantitativen Ueberg\u00e4ngen zwischen verschiedenen Empfindungsqualit\u00e4ten sich vereinigen , w\u00e4hrend dagegen objective Bestimmungen nur in quantitativer Form m\u00f6glich sind. Dieses Verh\u00e4ltniss entspringt aus der mittelbaren Natur unserer objectiven Erkenntniss, welche es uns zwar gestattet, in den Objecten qualitatives Sein, \u00e4hnlich dem in uns seihst, zu vermuthen, welche aber eine objective Auffassung dieses inneren Seins schlechthin unm\u00f6glich macht. Freilich ist uns in der wirklichen Anschauung ebenso wenig jemals ein Quantum ohne ein Quale gegeben, wie eine Qualit\u00e4t, welche sich in keinerlei quantitativen Relationen befindet. Der Begriff der objectiven Substanz als eines reinen Quantums kann darum auch nicht bedeuten, dass dieselbe an sich selbst qualit\u00e4tslos sei, sondern nur, dass wir diese Qualit\u00e4t als eine f\u00fcr uns unbestimmbare dahingestellt lassen m\u00fcssen. Indem der Substanzhegriff in diesem Sinne auf quantitative Pr\u00e4dicate eingeschr\u00e4nkt wird, tritt nun an demselben ein letztes Gegensatzpaar von Pr\u00e4dicatbegriffen uns entgegen, welches alle Auffassungen der Substanz beherrscht: es sind die Begriffe der Endlichkeit und Unendlichkeit. Sobald Substanz und Causalit\u00e4t als reine Quantit\u00e4tsbegriffe gefasst werden, erhebt sich die Frage, ob beide als endliche oder als unendliche Quanta aufzufassen sind.\nc. Endlichkeit und Unendlichkeit.\nEndlichkeit und Unendlichkeit sind an sich quantitative Pr\u00e4dicate. Wenn sie auf Qualit\u00e4ten angewandt werden sollen, so m\u00fcssen diese zugleich dem Quantit\u00e4tsbegriff subsumirt werden. Da Endlichkeit und Unendlichkeit contr\u00e4re Gegens\u00e4tze sind, so k\u00f6nnte es auf-","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschieht\u00ab und Theorie der abstritcteu Begriffe-\t189\nfallen, dass dennoch alle Gr\u00f6\u00dfenhegriffe dem einen oder dem andern untergeordnet werden k\u00f6nnen, ohne dass anscheinend jemals ein mittlerer Fall eintritt. Die L\u00f6sung liegt in zwei hemerkenswerthen Eigenschaften dieses Begriffspaars. Erstens kommt der Unendlichkeitshegriff seihst in zwei contr\u00e4r entgegengesetzten Quantit\u00e4tsbeziehungen vor, in der Form des unendlich Kleinen und des unendlich Gro\u00dfen, zwischen denen alle endlichen Gr\u00f6\u00dfen gelegen sind ; und zweitens hat in jeder dieser Beziehungen der Unendlichkeitsbegriff wieder zwei verschiedene Bedeutungen, die des Infiniten, der werdenden oder relativen Unendlichkeit, und die des Transfiniten, der abgeschlossenen oder absoluten Unendlichkeit. ') Das Verh\u00e4ltniss der beiden letzteren Gestaltungen l\u00e4sst sich aber so auffassen, dass die infiniten Gr\u00f6\u00dfen den Uebergang bilden von den endlichen zu den transfiniten , und zwar sowohl in der Richtung des unendlich Gro\u00dfen wie in der des unendlich Kleinen.\nMit den Correlatbegriffen des Endlichen und Unendlichen sind die der Einheit und Mannigfaltigkeit unl\u00f6sbar verbunden. Aber auch hier ist die Verbindung eine gekreuzte. Die endliche Gr\u00f6\u00dfe wird in ihrer Sonderung von anderen stets zugleich als Einheit gedacht und bildet mit den anderen zusammen eine Mannigfaltigkeit. In der unendlichen Gr\u00f6\u00dfe dagegen liegt der Einheitshegriff, sobald sie als absolute oder transfinite, der Mannigfaltigkeitsbegriff, sobald sie als relative oder infinite gefasst wird ; denn das unendlich Gro\u00dfe oder Kleine bezeichnet hier nur das vorausgesetzte Durchlaufen einer unbegrenzten Mannigfaltigkeit von Zwischengr\u00f6\u00dfen.\nHieran schlie\u00dft sich noch eine weitere Trennung, die auf den allgemeinen Quantit\u00e4tsbegriff selber zuriiekwirkt, w\u00e4hrend sie zugleich in dem Verh\u00e4ltniss des letzteren zu dem Qualit\u00e4tshegriff ihre Quelle hat. Das Unendliche kann ein unendlich Gro\u00dfes oder Kleines hinsichtlich der Mannigfaltigkeit sein, die es einschlie\u00dft. Diese Gegensatzbegriffe der unendlichen Mannigfaltigkeit und Einfachheit ordnen sich dem Quantit\u00e4tsbegriff des Vielen (des Multum oder mo'kktv) unter. Es kann aber auch das Unendliche als eine unendlich gro\u00dfe oder kleine Einheit gedacht werden, und diese Gegensatzhegriffe der unendli che n Gr\u00f6\u00dfe und Kleinheit ge-\nll Vgl. meine Logik, II, S. 126 f.","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nW. Wundt.\nh\u00f6ren unter den Quantit\u00e4tsbegriff des Gro\u00dfen (des Magnum oder Ttoaov). Der Ursprung des ersteren Begriffs liegt in der Mannigfaltigkeit der Empfindungsqualit\u00e4ten, deren Vielheit ohne jede R\u00fccksicht auf Gr\u00f6\u00dfe im engeren Sinne aufgefasst werden kann. Das Motiv zur Bildung des zweiten Begriffs besteht in der in sich gleichartigen Raumanschauung, auf welche eben deshalb unmittelbar nur das Pr\u00e4-dicat des Gro\u00dfen Anwendung findet. Unter beiden Quantit\u00e4tsbegriffen ist es derjenige der Vielheit, welcher in dem zur Ma\u00dfbestimmung aller Gr\u00f6\u00dfen dienenden Begriff der Zahl seine Auspr\u00e4gung gefunden hat, ein Umstand, welcher in Folge der Nothwendigkeit, diesen Begriff auch auf einheitliche Gr\u00f6\u00dfen anzuwenden, zu der Entstehung des Systems der irrationalen Zahlen Veranlassung bot.\nIn der Anwendung auf bestimmte Subjectbegriffe von metaphysischer Bedeutung sind nun Endlichkeit und Unendlichkeit zu herrschenden Gegens\u00e4tzen erst unter dem Einfluss der Wechselbegriffe der Substantialit\u00e4t und Causalit\u00e4t geworden. Sein und Werden sind zu abstract, als dass bei ihnen die Frage \u00fcberhaupt gestellt w\u00fcrde: Stoff und Form liegen dem unmittelbaren Dingbegriff zu nahe. Erst die metaphysische Transscendenz der Substanz, die doch fortw\u00e4hrend in physischen Causalwirkungen ihr Correlat findet, l\u00e4sst die Forderung entstehen, dass dieses Verh\u00e4ltniss des Physischen zum Metaphysischen, das zugleich mit demjenigen der empirischen Mannigfaltigkeit zu einer transscendenten Einheit zusammenf\u00e4llt, nach reinen Quantit\u00e4tsbegriffen betrachtet auf den Gegensatz des Endlichen und Unendlichen zur\u00fcckf\u00fchre. Die Substanz gilt demnach als das Unendliche, dem die Causalit\u00e4t derselben als das in der gegebenen Einzelerscheinung Endliche, in seiner Totalit\u00e4t aber gleichfalls Unendliche und darum an sich mit der Substanz Identische gegen\u00fcbergestellt wird.\nHier ist es nun aber bemerkenswert!]., dass in dieser Anwendung auf den Substanzbegriff die beiden Unendlichkeitsbegriffe, der absolute und der relative, zur Anwendung gekommen sind. Ein absolut Unendliches ist der Substanzbegriff der philosophischen Metaphysik. Darum ist er zugleich absolute Einheit, mag er im Sinne der Mannigfaltigkeitsphilosophie als absolute Einfachheit (absolute Einheit des Vielheitsbegriffs) oder im Sinne der Einheitsphilosophie als absolute Totalit\u00e4t (absolute Einheit des Gr\u00f6\u00dfenbegriffs) gedacht werden. In","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n191\nder That enth\u00e4lt nicht blo\u00df der Substanzbegriff eines Spinoza das Pr\u00e4dicat des Transfiniten, sondern auch der eines Leibniz und Her hart; nur vertritt dieser die entgegengesetzte Seite des Unend-lichkeitsbegriffs. (S. oben S. 165.) So kommt es, dass die Einheitsphilosophie in der absoluten Totalit\u00e4t einer unendlichen Mannigfaltigkeit, die Mannigfaltigkeitsphilosophie aber in der absoluten Einheit eines alle Mannigfaltigkeit ausschlie\u00dfenden Einfachen ihren letzten Ruhepunkt findet.\nV\u00f6llig anders verh\u00e4lt es sich mit dem Substanzbegriff der naturwissenschaftlichen Metaphysik. Auf ihn findet \u00fcberall nur das Pr\u00e4dicat der infiniten Unendlichkeit seine Anwendung. Denn die Substanz in der Totalit\u00e4t ihrer Bestimmungen begrifflich zu umfassen, gilt hier \u00fcberhaupt nicht als wissenschaftliche Aufgabe. Wohl aber stellt sich die N\u00f6thigung heraus, \u00fcber jeden gegebenen Punkt endlicher Zusammenh\u00e4nge die unbegrenzte M\u00f6glichkeit eines weiteren Fortgangs vorauszusetzen. Darum ist zwar auch hier der Substanzbegriff transscendent, aber es werden keine Voraussetzungen f\u00fcr ihn aufgestellt, die nicht aus empirischen Bedingungen entspringen. Eben darum kann nun das Pr\u00e4dicat der Endlichkeit f\u00fcr ihn nur in demselben Sinne aufgehoben sein, als es f\u00fcr die empirischen Erscheinungen ebenfalls aufgehoben ist, insofern n\u00e4mlich, als diese Erscheinungen niemals eine v\u00f6llig in sich abgeschlossene Totalit\u00e4t ausmachen.\n4. Die abstracten Correlatbegriffe und die Gliederung der Wissenschaften.\nDie Entwicklungen der beiden Begriffsreihen, deren Betrachtung uns hier besch\u00e4ftigt hat, unterscheiden sich, abgesehen von der in den Allgemeinbezeichnungen ausgedr\u00fcckten Differenz ihres logischen Charakters, wesentlich darin, dass die Subjectbegriffe in einer bestimmten Ordnung ausgebildet worden sind, wobei die Entstehung eines neuen Begriffspaares regelm\u00e4\u00dfig zugleich die allm\u00e4hliche Verdr\u00e4ngung des vorangegangenen im Gefolge hatte, w\u00e4hrend bei den Pr\u00e4dicatbegriffen zwar noch eine bevorzugte Beziehung zu bestimmten correlaten Sub-jectbegriffen stattfindet, ohne dass jedoch darum die Verbindung mit den \u00fcbrigen ganz ausgeschlossen w\u00e4re. Dieser Unterschied h\u00e4ngt mit der abweichenden wissenschaftlichen Bedeutung beider Begriffsreihen","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nW. Wundt..\nnahe zusammen, und derselbe ist daher auch f\u00fcr die haupts\u00e4chlichste Gliederung der wissenschaftlichen Untersuchungen bestimmend gewesen.\nDie Entwicklung der Subjectbegriffe beginnt mit den allgemeinsten subjectiven Abstraction\u00ab!, und sie erhebt sich von diesen allm\u00e4hlich durch die Einwirkungen des empirischen Dinghegriffs zu Principien von objectiverem Werthe. Das Motiv zur Bildung aller Begriffe liegt aber hier in dem Inhalt der Erfahrung. Die Aufgabe, den gesammten Inhalt der Erfahrung nach den in ihm seihst gelegenen Bedingungen begrifflich zu ordnen, wird schlie\u00dflich in den Begriffen der Substantialit\u00e4t und Causalit\u00e4t mit vollkommener Klarheit erfasst und so weit als m\u00f6glich durch die n\u00e4here Bestimmung dieser Begriffe gel\u00f6st. Als der centrale Begriff, zu welchem der Substanzbegriff nur eine f\u00fcr bestimmte Seiten der Erfahrung unerl\u00e4ssliche Erg\u00e4nzung bildet, stellt sich hier immer deutlicher derjenige der Causalit\u00e4t heraus. Die Causalit\u00e4t ist es, die als ordnender Begriff den gesammten Inhalt der Erfahrung beherrscht. F\u00fcr diejenigen Erfahrungen, die sich auf \u00e4u\u00dfere Gegenst\u00e4nde beziehen, deren inneres Sein uns nicht unmittelbar gegeben ist, fordert sie als hypothetische Erg\u00e4nzung den Substanzbegriff. Das gro\u00dfe Wissenschaftsgebiet, das auf diese Weise dem Causalbegriff untergeordnet ist, ist dasjenige der Erfahrungswissenschaften ; vom logischen Standpunkte kann es treffender dasjenige der Causal Wissenschaften genannt werden.\nDie Entwicklung der Pr\u00e4dicatbegriffe hat sich, wie es ihrer logischen Natur gem\u00e4\u00df ist, in fortw\u00e4hrender Anlehnung an die Subject-begriffe vollzogen, von ihnen beeinflusst und wieder auf sie zur\u00fcckwirkend. Je mehr aber dabei der letzte Begriff jener ersten Entwicklungsreihe, der Substanzbegriff, als ein g\u00e4nzlich hypothetischer sich herausstellt, um so deutlicher wird es f\u00fchlbar, dass der Gebrauch der Pr\u00e4dicatbegriffe an sich ein g\u00e4nzlich freier ist, indem dieselben keineswegs blo\u00df auf ein durch den Eifahrungsinhalt ihnen dargehotenes Begriffssubstrat sich zu beziehen brauchen, sondern dieses Substrat seihst sich zu schaffen im Stande sind. Der Pr\u00e4dicatbegriff, der sich hierbei schlie\u00dflich als der centrale ergibt, um welchen alle andern sich ordnen, ist derjenige der Mannigfaltigkeit. Er fordert zun\u00e4chst den Einheitshegriff als seine correlate Erg\u00e4nzung, kann aber dann ebensowohl als quantitative wie als qualitative, als endliche wie als","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe.\n193\nunendliche, und schlie\u00dflich nicht nur als infinite, sondern auch als transfinite Mannigfaltigkeit gedacht werden. Denn die abstracte Untersuchung reiner Pr\u00e4dicatbegriffe, welche von der Beziehung auf gegebene Subjectbegriffe g\u00e4nzlich absieht, ist in der Lage, sich diese letzteren von den logisch postulirten Pr\u00e4dicaten aus selbst schaffen zu k\u00f6nnen. Die Untersuchung bewegt sich hier lediglich in Denkm\u00f6glichkeiten, die das Wirkliche, auf dessen Ordnung sich die abstracten Subjectbegriffe beziehen, als ein verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig beschr\u00e4nktes Gebiet in sich schlie\u00dfen. Die Wissenschaft, welche in diesem Sinne nicht gegebene, sondern logisch vorausgesetzte Denkobjecte nach Ma\u00dfgabe der allgemeinen Pr\u00e4dicatbegriffe, die sich auf solche beziehen, untersucht, ist die Mathematik oder, wie sie vom logischen Standpunkte aus genannt werden kann, die Mannigfaltigkeitslehre.\nNachdem beide Wissensgebiete, die Causal- uud die Mannigfaltigkeitswissenschaften, auf diese ihre allgemeinsten Aufgaben zur\u00fcck-gefiihrt sind, kehrt nun aber das Verh\u00e4ltnis sich um, das urspr\u00fcnglich nicht nur zwischen den Begriffen, von denen sie beherrscht sind, sondern auch zwischen ihnen selber bestand. Wie das Pr\u00e4dicat immer auf ein gegebenes Subject sich bezieht, so sind auch die Mannigfaltigkeitsbegriffe zun\u00e4chst von den Begriffen bestimmt worden, die sich durch unmittelbare Abstraction aus der Erfahrung gebildet hatten; doch das abstracte Pr\u00e4dicat der Mannigfaltigkeit hat sich schlie\u00dflich sein logisches Subject in dem Begriff des Denkm\u00f6glichen selbst geschaffen.\nDie nahe Beziehung, in welcher die beiden Reihen abstracter Correlatbegriffe zu einander stehen, macht es begreiflich, dass auch die ontologische Metaphysik sich dieses Begriffs des Denkm\u00f6glichen nicht selten bedient hat, in der T\u00e4uschung befangen, aus ihm mittelst irgend welcher dialektischer Kunstgriffe das Wirkliche construiren zu k\u00f6nnen. Nachdem die Mathematik dem Verlangen, mit blo\u00dfen M\u00f6glichkeitsbegriffen zu rechnen, nachgekommen ist, wird vielleicht die Metaphysik in Zukunft vor solchen Gebiets\u00fcberschreitungen besser bewahrt bleiben. Um so mehr aber ist zu hoffen, dass sich die Mathematik nicht ihrerseits derselben schuldig mache, indem sie aus ihren i'ein logischen Voraussetzungen metaphysische Folgerungen zu gewinnen glaubt.\nWundt, Philos. Studien. II.\nVA","page":193}],"identifier":"lit678","issued":"1885","language":"de","pages":"161-193","startpages":"161","title":"Zur Geschichte und Theorie der abstracten Begriffe","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:59:52.277282+00:00"}