Open Access
{"created":"2022-01-31T12:23:45.705732+00:00","id":"lit685","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 2: 495-538","fulltext":[{"file":"p0495.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\nVon\nW. Wundt.\n1. Die Formulirung der Antinomien.\nAnh\u00e4nger wie Gegner der Kantischen Philosophie sind zumeist darin einig gewesen, in den \u00bbkosmologischen Antinomien\u00ab Meisterst\u00fccke dialektischen Scharfsinns anzuerkennen. Dennoch sind h\u00f6chstens von einigen Kantianern strengster Observanz sowohl die For-mulirungen wie die L\u00f6sungen der Antinomien f\u00fcr v\u00f6llig einwurfsfrei gehalten worden. Dass insbesondere die Formulirungen derselben unter dem gezwungenen Schematismus der Kategorien zu leiden hatten, wird Niemand bestreiten, dem nicht selbst dieser Schematismus als ein Universalmittel f\u00fcr die L\u00f6sung aller m\u00f6glichen erkenntniss-theoretischen Probleme gilt. Der Kritik Schopenhauer\u2019s1) wird man hier in allen wesentlichen Punkten beitreten k\u00f6nnen, auch wenn man nicht mit ihm den ganzen Streit f\u00fcr eine \u00bbblo\u00dfe Spiegelfechterei\u00ab h\u00e4lt. Auf diesem lediglich negirenden Standpunkte wurde selbstverst\u00e4ndlich jede Untersuchung dar\u00fcber, oh und wie etwa die M\u00e4ngel der Kantischen Darstellung zu verbessern seien, gegenstandslos. Wer dagegen dem von Kant behaupteten Conflict der Vernunft mit sich seihst irgendeine Berechtigung, wenn auch vielleicht in anderem Sinne als Kant seihst, zugesteht, der wird nicht umhin k\u00f6nnen, sich dieFrage vorzulegen, welche Gestalt den Antinomien am zweckm\u00e4\u00dfigsten zu gehen ist, wenn man nicht durch einen von au\u00dfen an sie herange-\n1) Kritik der Kantischen Philosophie, Werke Bd. II. S. 583 ff. Wundt, Philos. Studien. II.\t33","page":495},{"file":"p0496.txt","language":"de","ocr_de":"496\nW. Wundt.\nbrachten Begriffsschematismus, sondern nur durch die in dem Weltbegriff selbst liegenden Bedingungen sich leiten l\u00e4sst.\nSehen wir nun von den zwar mit Absicht gew\u00e4hlten, aber f\u00fcr die Sache selbst unwesentlichen speciellen Formulirungen Kant\u2019s zun\u00e4chst noch ab, so beziehen sich bekanntlich die vier Antinomien nach einander auf die Fragen: 1) der zeitlichen und r\u00e4umlichen Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt, 2) der endlichen oder unendlichen Theilbarkeit der Materie, 3) der endlichen oder unendlichen Causal-reihe der Erscheinungen, und 4) der Existenz oder Nichtexistenz eines schlechthin noth wendigen Wesens als Weltursache.\nDass die vierte dieser Antinomien nur eine andere Gestaltung der dritten sei, ist wohl allgemein anerkannt. Durch die Formulirung, die sie gefunden hat, durchbricht sie au\u00dferdem die Symmetrie des Systems, da jede der anderen Antinomien die Frage, ob die Welt endlich oder unendlich zu denken sei, in einer bestimmten Beziehung er\u00f6rtert, w\u00e4hrend diese vierte daf\u00fcr pl\u00f6tzlich den ontologischen Begriff des \u00bbschlechthin nothwendigen Wesens\u00ab einf\u00fchrt, hinter dessen Annahme und Bestreitung aber doch nur wieder die Antinomie der Causalit\u00e4t sich verbirgt.\nBeschr\u00e4nken wir uns demnach auf die drei ersten Antinomien, so dreht sich, wie l\u00e4ngst bemerkt worden ist, der ganze dialektische Streit um die Anwendung des Unendlichkeitsbegriffs auf das Weltproblem, und zwar besch\u00e4ftigen sich die beiden ersten, die mathe-matisch-transscendentalen Antinomien, wie Kant selbst sie nennt, mit der Unendlichkeit der in der Anschauung gleichartig gegebenen Eigenschaften, die dritte dagegen, die dynamisch-transscendentale Antinomie, bezieht sich auf die Unendlichkeit des Zusammenhanges der sich unserer Wahrnehmung ungleichartig darbietenden Erscheinungen. Unter den mathematisch-transscendentalen Antinomien hat die erste wieder den oberen Unendlichkeitsbegriff, das unendlich Gro\u00dfe in Zeit und Raum, die zweite den unteren Unendlichkeitsbegriff, das unendlich Kleine der r\u00e4umlichen Theilung der Materie, zum Gegenstand. Im Ganzenalso handelt es sich um drei Richtungen des oberen Grenzbegriffs, n\u00e4mlich um die Ausdehnung der Welt in Bezug auf Zeit, Raum und Causalit\u00e4t, und nur um eine einzige des unteren, die Theilbarkeit der Materie.\nSind nun hierdurch alle Anwendungen ersch\u00f6pft, welche die Idee","page":496},{"file":"p0497.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit. 497\nder Unendlichkeit auf den Weltbegriff finden, und in Bezug auf welche daher die Antinomie des Endlichen und des Unendlichen sich erheben kann? Diese Frage muss ohne Zweifel mit nein beantwortet werden. Die Kantischen Antinomien ersch\u00f6pfen nicht die m\u00f6glichen Anwendungen des Begriffs der Unendlichkeit auf das Weltproblem. Au\u00dferdem hat Kant zum Theil in eine Antinomie zusammengefasst, was in mehrere zu zerlegen ist. Denn die Gesichtspunkte, von denen aus der Streit \u00fcber die Endlichkeit oder Unendlichkeit der r\u00e4umlichen Ausdehnung gef\u00fchrt wird, sind nicht ganz identisch mit denjenigen, von denen aus sich der n\u00e4mliche Streit in Bezug auf die Zeit erhebt, da die letztere von jedem gegebenen Zeitpunkte aus nur nach einer Richtung, n\u00e4mlich nach r\u00fcckw\u00e4rts, unbegrenzt ist, w\u00e4hrend der Raum nach allen seinen Richtungen diese Eigenschaft besitzt.\nDie haupts\u00e4chlichste L\u00fccke der Antinomien besteht aber darin, dass in ihnen auf die Masse der Materie gar keine R\u00fccksicht genommen wird. Diese L\u00fccke ist Kant deshalb entgangen, weil er voraussetzte, dass die Eigenschaften der Masse mit denen des Raumes, in welchem die Materie sich ausdehnt, sowohl nach dem unendlich Gro\u00dfen wie nach dem unendlich Kleinen hin identisch seien. Dass dies in Bezug auf den oberen Unendlichkeitsbegriff nicht zutrifft, folgt aus der Eigenschaft der Dichtigkeit, welche erst zusammengenommen mit der r\u00e4umlichen Ausdehnung die Masse der Materie constituirt. Darum w\u00fcrde mit der Feststellung der unendlichen Ausdehnung der Materie \u00fcber die Unendlichkeit der Masse derselben noch nichts ausgemacht sein. Denn wenn.man z. B. voraussetzte, dass von einem bestimmten Punkte an die Dichtigkeit nach allen Richtungen im Verh\u00e4ltniss einer h\u00f6heren Potenz der Entfernung abnehme, so w\u00fcrde zwar die Ausdehnung der Materie unendlich sein, ihre Masse w\u00fcrde aber durch eine Zahl von endlicher Gr\u00f6\u00dfe dargestellt werden k\u00f6nnen. \u2018) Da nun\n1) Verstehen wir hier unter der absoluten Dichtigkeit der zwischen den Entfernungen r und \u00bb\u25a0' vom Weltmittelpunkt angeh\u00e4uften Materie die gesammte kosmische Masse, die zwischen den mit den Radien r und r' beschriebenen Kugelschalen sich befindet, so w\u00fcrde die Reihe der Dichtigkeiten schon dann zu einer Summe von endlicher Gr\u00f6\u00dfe convergiren, wenn die Abnahme im Verh\u00e4ltniss des Quadrats der Entfernungen vom Mittelpunkte erfolgte. Nimmt man dagegen den Begriff der Dichtigkeit im gew\u00f6hnlichen Sinne, bestimmt durch den Quotienten des Volums in die Masse, so wird, da das Volum im Verh\u00e4ltniss des Cubus von r zunimmt, auch die Reihe der Dichtigkeiten erst convergent, wenn ihre Abnahme mindestens der dritten Potenz der Entfernung proportional geht.\n33*","page":497},{"file":"p0498.txt","language":"de","ocr_de":"498\nW. Wundt,\neine solche Annahme nicht a priori unzul\u00e4ssig ist, wie man auch sonst \u00fcber die Constitution der Materie denken m\u00f6ge, so ist es klar, dass in Bezug auf die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Masse eine besondere, von der Frage der r\u00e4umlichen Ausdehnung unabh\u00e4ngige Antinomie aufgestellt werden kann.\nAus \u00e4hnlichen Griind\u00e9n ist die zweite Kantische Antinomie, die sich auf die endliche oder unendliche Theilharkeit bezieht, dadurch auf einen falschen Boden gestellt, dass sie die den Baum erf\u00fcllende Masse wie (1er kticht v\u00f6n-dem Baume selbst trennt, so dass es hier zu epier A^itinoipie \u00fcberhaupt'nur kommen kann, indem die Thesis, ganz unkl gar von der Ansckauung'abstrahirend, sich mit der Beproduction des Leibniz-Wolff\u2019schen ontologischen Schlusses von der Existenz des Zusammengesetzten auf die des Einfachen begn\u00fcgt. Wenn daher Kant auch diese Antinomie als eine mathematische bezeichnet und sie hiermit, gleich der ersten, auf Schwierigkeiten zuriickhezieht, die in den Bedingungen der Anschauung gelegen seien, so ist dies mindestens in Bezug auf die Thesis der zweiten Antinomie, die sich nur auf dem Boden begrifflicher Dialektik bewegt, nicht richtig. Kant selbst hat in der That hier sichtlich die Antithese bevorzugt, wie nicht blo\u00df die sp\u00e4ter von ihm in den \u00bbMetaphysischen Anfangsgr\u00fcnden der Naturwissenschaft\u00ab gegebene Continuit\u00e4tstheorie der Materie zeigt, sondern wie auch aus den Erl\u00e4uterungen und Aufl\u00f6sungen der kosmologischen Ideen in dem kritischen Hauptwerke schon hervorgeht. Kant macht n\u00e4mlich, indem er die zweite mit der ersten Antinomie vergleicht, eine Unterscheidung, die lebhaft an den Aristotelischen Gegensatz des Unendlichen durch Hinzuf\u00fcgung und des Unendlichen durch Theilung [a\u00efteiQov v.ax\u00e0 jiq\u00f4od-EGiv und outei-qov y.cn\u00e0 \u00f6iaiqeaiv) zur\u00fcckerinnert.1) Aristoteles h\u00e4lt die Existenz einer unendlichen Gr\u00f6\u00dfe im Baum f\u00fcr unm\u00f6glich, weil wir, so sehr wir uns auch einen K\u00f6rper durch Hinzuf\u00fcgung neuer Theile vergr\u00f6s-sert denken m\u00f6gen, doch immer nur endliche Gr\u00f6\u00dfen erreichen k\u00f6nnen ; das Unendliche in der Theilung dagegen erscheint ihm als wirklich, weil uns der ins Unendliche theilbare K\u00f6rper unmittelbar als ein Ganzes mit allen seinen Theilen gegeben ist.2) Entsprechend erkl\u00e4rt\n1)\tArist. Phys. Ill Cap. 5\u20148.\n2)\tDie Zeit stellt Aristoteles nicht mit dem Kaum, sondern mit dem unend-","page":498},{"file":"p0499.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t499\nKant, bei der Unendlichkeit der Zeit und des Raumes handle es sich nur um einen \u00bbRegressus in indefinitum\u00ab, weil beide immer nur empirisch unbegrenzt seien, indem in beiden Beziehungen die Weltreihe uns niemals ganz gegeben sein k\u00f6nne; die unendliche Theil-barkeit eines K\u00f6rpers dagegen sei ein \u00bbRegressus in infinitum\u00ab, da uns hier der ganze K\u00f6rper, wenn auch nicht die ganze unendliche Theilung desselben gegeben sei. v) Diese Unterscheidung beruht aher, wie die Aristotelische, auf einem falsch gew\u00e4hlten tertium comparationis. Wenn wir die Theilung ins unendlich Kleine mit dem Fortgang ins unendlich Gro\u00dfe vergleichen, so ist nicht der ganze K\u00f6rper, der ge-theilt werden soll, der ganzen Welt, sondern dem endlichen Theil derselben, mit welchem der Regressus beginnt, analog, und dem nie erreichbaren Universum entspricht dagegen der ebenfalls nie erreichbare unendlich kleine Theil des Ausgedehnten. Beide Arten des Regressus gehen also von einem Endlichen aus, welches gegeben ist, und endigen bei einem Unendlichen, welches niemals gegeben sein kann. Ein Regressus in indefinitum ist es, um ein von Kant selbst gebrauchtes Beispiel zu w\u00e4hlen, wenn man von einem lebenden Menschen in der Reihe seiner Voreltern immer weiter r\u00fcckw\u00e4rts geht.* 1 2) Aber mit der Annahme eines ersten Menschen ist die Annahme eines absoluten Anfangs der Zeit oder einer absoluten Grenze des Weltraums schlechterdings nicht zu vergleichen. Denn wenn auch der empirische Regressus niemals zu jenem ersten Menschen zur\u00fcckreichen wird, so ist doch seine Entstehung nicht nur ein empirisch vorstellbares, sondern sogar ein aus empirischen Gr\u00fcnden \u00e4u\u00dferst wahrscheinliches Ereigniss, wogegen die Vorstellung eines Zeitanfangs und einer Raumgrenze f\u00fcr uns absolut un vollziehbar ist.\nKann nun aber auch der von Kant behauptete Gegensatz zwischen der Antinomie der unendlichen Ausdehnung und derjenigen der unendlichen Theilbarkeit nicht angenommen werden, so existirt doch ein anderer sehr wesentlicher Unterschied zwischen beiden. Die Unm\u00f6glichkeit, dem Raum eine Grenze zu setzen, treibt uns an, auch\nlicfi theilbaren K\u00f6rper in Analogie, weil er die Kreisbewegung, die ebenfalls in ihrer Totalit\u00e4t gegeben ist, als das Substrat der objectiven Zeit betrachtet.\n1)\tVgl. die Aufl\u00f6sung der ersten und zweiten Antinomie. Ausg. von Rosenkranz S. 407 ff.\n2)\tA. a. O. S. 403 ff.","page":499},{"file":"p0500.txt","language":"de","ocr_de":"500\nW. Wundt.\ndie Masse der Materie r\u00e4umlich unbegrenzt anzunehmen, und umgekehrt: die Unm\u00f6glichkeit, einen unendlichen Baum durchzugehen, begr\u00fcndet unsere Neigung, auch f\u00fcr die Masse eine r\u00e4umliche Begrenzung vorauszusetzen. Bei der Theilbarkeit dagegen kann der Baum als die blo\u00dfe Form der Beziehung discreter Theile zu einander gedacht werden. Die unendliche Theilbarkeit des Baumes begr\u00fcndet also noch keineswegs eine solche der Masse. In der That hat Kant selbst in seinem fr\u00fcheren kosmologischen Werke gleichzeitig eine unendliche Ausdehnung des Universums und eine atomistische Constitution der Materie angenommen. *) Die Antinomie der endlichen oder unendlichen Theilbarkeit kann daher, insoweit sie \u00fcberhaupt bestehen bleibt, nicht auf Widerspr\u00fcche des Baumbegriffs, sondern nur auf solche des Massebegriffs sich beziehen. Da nun aber die Materie von uns nur vorausgesetzt wird, weil wir eines Tr\u00e4gers der Naturkr\u00e4fte bed\u00fcrfen, so r\u00fcckt dadurch die Frage der endlichen oder unendlichen Theilbarkeit aus der Classe der mathematischen in diejenige der dynamischen Antinomien; und da ferner die Aufsuchung der Eigenschaften der materiellen Masse, insoweit sie nicht von denjenigen des Baumes bestimmt sind, auf die Erw\u00e4gung ihrer empirischen Wirkungen sich st\u00fctzen muss, so k\u00f6nnte es sich ereignen, dass das von Kant statuirte Yerh\u00e4ltniss v\u00f6llig sich umkehrt, indem die Unendlichkeit der Ausdehnung auf einen Eegressus in ihfinitum, die unendliche Theilbarkeit aber blo\u00df auf einen Eegressus in indefinitum zur\u00fcckf\u00fchrt.\nSobald die Frage der unendlichen Theilbarkeit nicht mehr als eine mathematische, sondern als eine physikalische oder dynamische Antinomie betrachtet wird, so wird nun zugleich eine Incongruenz aufgehoben, die innerhalb der Kantischen Antinomien zwischen Zeit und Baum besteht: w\u00e4hrend n\u00e4mlich beim Eaum sowohl der obere wie der untere Unendlichkeitsbegriff zu einem Widerstreite f\u00fchrt, ist dies bei der Zeit nur in Bezug auf den ersteren der Fall. Dennoch hat schon der Eleate Zeno auf die Widerspr\u00fcche hingewiesen, die aus der unendlichen Theilbarkeit der Zeit, gerade so wie aus der des Baumes , f\u00fcr die Begriffe der Bewegung und Ver\u00e4nderung entspringen. Die Quelle des Ursprungs wie der L\u00f6sung dieser Widerspr\u00fcohe liegt in der Stetigkeit beider Anschauungsformen. Eben darum\n1) Naturgeschichte des Himmels, 1. und 0. Hauptst\u00fcck, Ausg. von Rosenkranz S. 93 f, und 151 f.","page":500},{"file":"p0501.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t5dl\nliegen aber diese dialektischen Schwierigkeiten au\u00dferhalb der eigentlich kosmologischen Fragen auf dem rein mathematischen Gebiete\" des Zahlbegriffs. Hiermit soll freilich nicht gesagt sein, dass nicht eine Voruntersuchung der Formen der Zahlenunendlichkeit auch f\u00fcr die Frage der kosmologischen Antinomien dienlich gewesen w\u00e4re. Denn die Formen des Zahlbegriffs passen allen realen Gestaltungen unserer Gr\u00f6\u00dfenvorstellungen sich an, und sie bieten zugleich den Vortheil dar, die begrifflichen Beziehungen dieser Vorstellungen in einer weit ersch\u00f6pfenderen Weise festzustellen, als dies die blo\u00df empirische Vergleichung zu leisten vermag. So ist es insbesondere auch f\u00fcr die gegenw\u00e4rtige Aufgabe von gro\u00dfer Bedeutung, dass zwar keine der allgemeinen Zahlarten dem oberen Unendlichkeitsbegriff sich entziehen kann, dass dagegen der untere nur f\u00fcr die irrationalen Zahlen in Betracht kommt. *) Darin findet die Thatsache ihren allgemeinen Ausdruck, dass wir zwar den Antrieb empfinden, nach oben hin die Vorstellung der Ausbreitung materieller Massen \u00fcber jede gegebene Grenze hinaus zu erweitern, dass aber nach unten hin nicht die gleiche N\u00f6thigung existirt, indem hier die Masse ebensowohl in der Form einer stetigen, gleich dem Baum ins Unendliche theilbaren Gr\u00f6\u00dfe, wie in der Form einer discreten, einer rationalen Zahlenmannigfaltigkeit entsprechenden Punktmenge gedacht werden kann.\nWie der dynamische Begriff der Masse an den mathematischen des Baumes sich anlehnt, indem nach oben hin die Grenzen der Masse nach denen des Baumes, nach unten hin mindestens die Ordnungsverh\u00e4ltnisse der Massenelemente nach den allgemeinen Eigenschaften des Baumes sich richten , so steht der zweite dynamische Begriff, derjenige der Causalit\u00e4t, mit dem mathematischen der Zeit im n\u00e4chsten Zusammenhang. Dennoch ist auch hier die dynamische keineswegs eine blo\u00dfe Wiederholung der mathematischen Begriffsform. Denn abgesehen von dem von Kant bereits hervorgehobenen Umstande , dass Ursache und Wirkung stets als nicht-identische zeitliche Erscheinungen von uns gedacht werden, erhebt sich bei der Causalit\u00e4t eine Frage , die f\u00fcr die Zeit v\u00f6llig gegenstandslos ist. Die letztere erstreckt sich n\u00e4mlich von jedem Zeitmomente aus unbegrenzt in die V ergangenheit, den gegenw\u00e4rtigen Zeitmoment aber \u00fcberschreitet\n1) Ueber den Begriff der Zahlart vgl. meine Logik II. S. 118 f.","page":501},{"file":"p0502.txt","language":"de","ocr_de":"502\nW. Wundt. 1\nsie immer nur im unmittelbaren Abfl\u00fcsse der Zeit. Die Frage also, ob die Welt eine endliche oder eine unendliche Zeit existirt, kann von einem gegebenen Zeitpunkte aus direct nie anders als in Bezug apf die vergangene Zeit erhoben werden. Anders verh\u00e4lt es sich mit der Cau-salit\u00e2t. Da sie ein physikalischer Begriff ist, der uns nicht blo\u00df antreibt, zu gegebenen Wirkungen die weiter zur\u00fcck liegenden Ursachen zu suchen, sondern auch aus gegebenen Ursachen die in der Zukunft zu erwartenden Wirkungen abzuleiten, so ist sie in gleicher Weise der Vergangenheit wie der Zukunft zugewandt. Von der Causalit\u00e4t aus \u00fcbertr\u00e4gt sich dann indirect erst die Beziehung zur Zukunft' auch auf die Zeit, weil wir die zuk\u00fcnftige Causalit\u00e4t nicht anders als in der Form eines Zeitverlaufes denken k\u00f6nnen. Darum kann nun hinsichtlich der zuk\u00fcnftigen Entwicklung der Welt zwar eine Antinomie in Bezug, auf den Causalbegriff entstehen, indem man den weiteren Fortgang der Causalit\u00e4t des Geschehens als einen begrenzten oder als einen unbegrenzten voraussetzen kann, aber eine hiervon unabh\u00e4ngige Antinomie hinsichtlich der Zukunft der Zeit ist unm\u00f6glich. Denn die Widerspr\u00fcche, welche die unendliche Vergangenheit mit sich f\u00fchrt. fallen bei der Zukunft v\u00f6llig hinweg, da die unendliche Zukunft erst wirklich durchlaufen sein m\u00fcsste, wenn sie sich einstellen sollten.\nAuf diese Weise ergibt sich uns schlie\u00dflich ein vollst\u00e4ndig symmetrisches System mathematischer und dynamischer Antinomien, indem jeder mathematischen Antinomie je zwei dynamische oder physikalische gegen\u00fcbertreten: der Antinomie der r\u00e4umlich endlichen oder unendlichen Ausdehnung die der endlichen oder unendlichen Gr\u00f6\u00dfe der Masse und die der endlichen oder unendlichen Theilbar-keit der Materie, der Antinomie der zeitlich endlichen oder unendlichen Dauer die des endlichen oder unendlichen Anfangs und die des endlichen oder unendlichen Fortgangs der Causalit\u00e4t der Erscheinungen. Wir erhalten so die folgende Tafel :\nMathematische Antinomien.\tDynamische Antinomien.\n1. Die Welt ist im Raume endlich oder 3. Die Welt ist der Masse der Materie unendlich ausgedehnt.\tnach von endlicher oder von unend-\nlicher Gr\u00f6\u00dfe.\n4. Die Welt ist in Bezug auf ihre materielle Masse ins Endliche oder ins Unendliche theilbar.","page":502},{"file":"p0503.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit. 503\n2. Die Welt besteht seit endlicher oder 5. Der Anfang der Causalit\u00e4t des Ge-seit unendlicher Zeit.\tschehens liegt in endlicher oder in\nunendlicher Vergangenheit.\n6. Das Ende der Causalit\u00e4t des Geschehens liegt in endlicher oder in unendlicher Zukunft.\n2. Die Beweise der Antinomien.\nKant selbst hat zu den Thesen und Antithesen der kosmologischen Antinomien bemerkt, unter den Behauptungen der Antithesis begegne man einer \u00bbvollkommenen Gleichf\u00f6rmigkeit der Denkungsart\u00ab, wogegen die Behauptungen der Thesis, da sie innerhalb jeder Reihe der Erscheinungen \u00bbintellectuelle Anf\u00e4nge \u00abzu Grunde legten, nicht einer gleich einfachen Maxime folgten. Man kann diese Bemerkung mit gr\u00f6\u00dferem Rechte noch auf die Beweise ausdehnen. Die Beweise der Antithesen verlaufen im wesentlichen vollkommen gleichartig. Der erste schlie\u00dft aus der Unm\u00f6glichkeit, eine leere Zeit und einen leeren Raum zu denken, auf die unendliche Ausdehnung der Welt in Zeit und Raum, der zweite aus der Unm\u00f6glichkeit, einen un-theilbaren Raum zu denken, auf die Untheilbarkeit der Materie, der dritte und vierte aus der Unm\u00f6glichkeit, den absoluten Anfang einer Causalreihe zu denken, ohne f\u00fcr das Entstehen dieses Anfangs selbst eine Causalit\u00e4t vorauszusetzen, auf die Unendlichkeit der Causalit\u00e4t und die Nichtexistenz einer ersten Weltursache.\nDagegen fehlt den Thesen durchaus diese Gleichartigkeit der Beweisf\u00fchrung, und in Folge dessen ist auch die Symmetrie zwischen den Beweisen der Thesen und Antithesen nur eine unvollst\u00e4ndige. Eine solche Symmetrie ist in der That allein bei der ersten Antinomie vorhanden, wo, vollkommen entsprechend dem Beweisgang der Antithesis, derjenige der Thesis ausf\u00fchrt, dass eine unendliche Synthesis in Zeit und Raum unm\u00f6glich und daher in beiden Beziehungen ein unendlicher Weltbegriff widersprechend sei. Nur eine kleine Abweichung findet sich in dem Beweis gegen die Unendlichkeit der r\u00e4umlichen Ausdehnung, indem hier aus der Unm\u00f6glichkeit, eine Unendlichkeit coexistirender Dinge durchzuz\u00e4hlen, also ebenfalls aus dem Widerspruch, den die Unendlichkeit der Zeit mit sich f\u00fchrt, gegen die r\u00e4umliche Unendlichkeit argumentirt wird, w\u00e4hrend, wie dies bei der Antithese geschieht, der Beweisgang aus denrWesen des Raumes","page":503},{"file":"p0504.txt","language":"de","ocr_de":"504\nW. Wundt.\nselbst gef\u00fchrt werden sollte und k\u00f6nnte. V\u00f6llig abweichende Gedankeng\u00e4nge kommen nun aber bei den \u00fcbrigen Thesen zur Geltung. Indess dem Beweis der zweiten Antithese , entsprechend dem der ersten, die anschaulichen Eigenschaften des Baumes zu Grunde liegen, bewegt sich die Argumentation der These mit ihrer Erneuerung des Leibniz-Wo Iff\u2019sehen Schlusses aus der Existenz des Zusammengesetzten auf die des Einfachen auf rein begrifflichem Gebiete. Zugleich wird aber durch diese Uebertragung die Bedeutung des Leibniz\u2019sehen Beweises wesentlich ver\u00e4ndert. Denn dieser hatte sich nicht auf Gegenst\u00e4nde der Anschauung, sondern auf reine Begriffsobjecte , die Monaden, bezogen, da Leibniz selbst den Baum als Erscheinung betrachtete und den Monaden als realen Wesen keine Existenz im Baume zuschrieb. Bei Kant verwandeln sich dagegen die Monaden in Atome , die im Baum als einfache Substanzen existi-ren, und es wird auf diese Weise erst ein wirklicher Gegensatz zu der Behauptung der Antithese hergestellt. Aber die Incongruenz der Beweisf\u00fchrungen ist geblieben : w\u00e4hrend die Atome rein begrifflich bewiesen werden, appellirt der Gegenbeweis an die Anschauung.\nDer Beweis der dritten Antithese schlie\u00dft sich innig an den der ersten an. Denn, wie Kant selbst in der Erl\u00e4uterung bemerkt, \u00bbwenn Ihr kein mathematisch Erstes der Zeit nach in der Welt annehmt, so habt Ihr auch nicht n\u00f6thig, ein dynamisch Erstes der Causalit\u00e4t nach zu suchen\u00ab. Demgem\u00e4\u00df \u00fcbertr\u00e4gt der Beweis lediglich das fr\u00fcher in Bezug auf die Zeit Ausgef\u00fchrte auf die Causalit\u00e4t, und das N\u00e4mliche wiederholt sich in etwas anderer Form bei der vierten Antithese. Dagegen bewegen sich die Beweise der Thesen auch hier wieder nur auf begrifflichem Boden, indem die dritte aus der Forderung einer vollst\u00e4ndigen Causalreihe auf die Existenz einer absolut ersten Ursache, die vierte aus der bedingten Natur jeder einzelnen Erscheinung auf ein Unbedingtes als den absoluten Anfang aller Bedingungen zur\u00fcckschlie\u00dft.\nDie Symmetrie in den Beweisf\u00fchrungen der ersten Antinomie beruht demnach darauf, dass hier 1) Beweis und Gegenbeweis beide anschaulich gef\u00fchrt \"werden, und dass 2) die Gegens\u00e4tze des Endlichen und Unendlichen sowohl in den Formulirungen der Thesis und Antithesis auftreten, wie in den Beweisen derselben festgehalten werden. Die Asymmetrie in den andern Antinomien entspringt dagegen","page":504},{"file":"p0505.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t505\ndaraus, dass 1) der Beweis der Thesis durchg\u00e4ngig ontologisch , derjenige der Antithesis anschaulich gef\u00fchrt wird , und dass 2) dem entsprechend auch die Gegens\u00e4tze der einander gegen\u00fcber gestellten Begriffe ihre Natur \u00e4ndern. In der Antithese sehen wir n\u00e4mlich immer wieder den Unendlichkeitsbegriff in irgend einer , zumeist nur unter einem negirenden Ausdruck verborgenen Form wiederkehren , zuerst als unendliche Theilbarkeit, dann als unendliche Causalreihe. In der Thesis jedoch verbindet sich mit der Aufhebung dieses Begriffs der Unendlichkeit jedesmal eine andere positive Bestimmung, deren con-tr\u00e4rer Gegensatz gar nicht das Unendliche, sondern irgend ein anderer Begriff ist, und deren Hauptbedeutung nicht, wie bei Baum und Zeit, auf der Endlichkeit, sondern auf weiteren Eigenschaften beruht, die zu dieser hinzutreten. Kant selbst bezeichnet daher nicht die Endlichkeit der materiellen Theilung und der Causalit\u00e4t, sondern die Einfachheit der Atome, die Freiheit und die Existenz eines nothwendigenUrwesens als den eigentlichen Inhalt dieser Thesen. Dass diese Begriffe mit einer bestimmten Absicht den einfachen Gegensatzbegriffen der Endlichkeit der Theilung, der Causalit\u00e4t und der Abh\u00e4ngigkeit substituirt worden sind, l\u00e4sst sich nicht verkennen. Durch die einfachen Substanzen suchte Kant die Beziehung zum metaphysischen Dogmatismus herzustellen, durch die Ideen der Freiheit und des schlechthin nothwendigen Wesens w\u00fcnschte er au\u00dferdem den Uebergang zu den Postulaten der praktischen Vernunft zu gewinnen. Eine solche Beimengung fremdartiger Gesichtspunkte konnte aber auf die kritische Untersuchung des kosmologischen Problems nicht ohne st\u00f6rende K\u00fcckwirkung bleiben. Dies zeigt sich, abgesehen von dem \u00fcbereinstimmenden Inhalte der dritten und vierten Antinomie, insbesondere auch darin, dass in der dritten Antinomie der Begriff der ersten Weltursache mit dem der Freiheit des Willens zusammenflie\u00dft, welche letztere doch mit der kosmologischen Frage an und f\u00fcr sich au\u00dfer aller Beziehung steht.\nNachdem auf diese Weise erst den urspr\u00fcnglichen Begriffsgegens\u00e4tzen andere substituirt sind, kann es dann um so leichter geschehen, dass auch sonst die in jeder Antinomie behandelten Begriffe nicht strenge festgehalten werden. Dieser Fehler wird aber z. B. begangen, wenn, wie oben bemerkt, schon bei der ersten These der Beweis gegen die Unendlichkeit des Baums mit H\u00fclfe der Zeit gef\u00fchrt wird,","page":505},{"file":"p0506.txt","language":"de","ocr_de":"506\nW. Wundt.\nund wenn ebenso die Beweisf\u00fchrungen f\u00fcr die dritte und vierte Antithese wiederum auf die Unendlichkeit der Zeit sich st\u00fctzen.\nIm Gegens\u00e4tze hierzu wird es nun als eine unerl\u00e4ssliche Forderung auszusprechen sein, dass jede Antinomie innerhalb des von ihr behandelten Begriffes bleibe. Die Widerspr\u00fcche hinsichtlich der Zeit werden also nur aus den Eigenschaften der Zeit, diejenigen hinsichtlich des Raumes nur aus den Bedingungen der Raumbestimmung der Objecte zu entwickeln sein. Bei den dynamischen Antinomien werden dann allerdings die Eigenschaften von Raum und Zeit insofern ebenfalls zum Einfl\u00fcsse gelangen, als der Begriff der Masse auf das im Raum Gegebene und der Begriff der Cau-salit\u00e4t auf das in der Zeit Geschehende sich bezieht. Aber es werden doch auch hier die Widerspr\u00fcche nicht aus den abstracten mathematischen Eigenschaften dieser Formen abgeleitet werden d\u00fcrfen, wie dies z. B. von Kant bei dem Beweis der unendlichen Theilbarkeit unter der zweiten Antithese geschieht, sondern sie werden den besonderen Bestimmungen zu entnehmen sein, welche die unter dem Einfl\u00fcsse der Erfahrung entstandenen Begriffe der Masse und der Causalit\u00e4t zu jenen allgemeinen Formen hinzubringen. Das Aehnliche gilt hinsichtlich des Verh\u00e4ltnisses der Begriffe der Masse und der Causalit\u00e4t zu einander. Beide setzen einander voraus, denn wir betrachten die materielle Masse als die Tr\u00e4gerin der Naturcausalit\u00e4t ; in jedem dieser Begriffe sind es aber doch wieder andere Momente, welche als die Quellen gewisser Widerspr\u00fcche auftreten. Bringt man diese Gesichtspunkte zur Anwendung, so nimmt das System der Beweisf\u00fchrungen die folgende Gestalt an.\nA. Die Beweise der mathematischen Antinomien.\nThesis.\n1. Die Welt ist von endlicher Ausdehnung im Baume.\nDenn man nehme an, sie sei unendlich ausgedehnt, so w\u00fcrde es in ihr nirgends einen Mittelpunkt oder einen irgendwie sonstgeometrisch ausgezeichneten Punkt geben, auf welchen die Lagen und die etwaigen Ortsver\u00e4nderungen aller \u00fcbrigen Punkte bezogen werden k\u00f6nnten.\nAntithesis.\n1. Die Welt ist von unendlicher Ausdehnung im Baume.\nDenn man nehme an, sie sei begrenzt, so m\u00fcssten wir uns jenseits der Weltgrenzen einen leeren Baum vorstellen. Nun k\u00f6nnte die Welt ein bestimmtes Lageverh\u00e4ltniss zu diesem leeren Baum nur besitzen, wenn in ihm irgend welche Objecte gegeben w\u00e4ren, in Bezug auf welche die","page":506},{"file":"p0507.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\n507\nDemnach w\u00fcrden weder Lagebeziehungen noch Bewegungen im unendlichen Raum existiren k\u00f6nnen. Die Relativit\u00e4t der Lage und der Lage\u00e4nderungen aller K\u00f6rper im Raum beweist also, dass die r\u00e4umliche Ausdehnung der Welt eine endliche Gr\u00f6\u00dfe besitzen muss.\n2.\tDie Welt besteht seit endlicher Zeit.\nDenn man nehme an , sie bestehe seit unendlicher Zeit, so w\u00fcrde, da die unendliche Zeit alle endlichen Zeiten in sich schlie\u00dft, die Totalit\u00e4t aller endlichen Zeiten durchlaufen, ein Zeitverlauf also \u00fcberhaupt unm\u00f6glich sein. Ebenso w\u00fcrde kein Zeitpunkt vom andern verschieden sein k\u00f6nnen, da bis zu jedem eine unendliche Zeit verstrichen w\u00e4re. Ein Zeitverlauf und eine Unterscheidung einzelner Zeitpunkte in demselben ist also nur m\u00f6glich, wenn die Welt erst seit endlicher Zeit besteht.\nB. Die Beweise der dyn Thesis.\n3.\tDie Masse der in der Welt enthaltenen Materie ist von endlicher Gro\u00df e.\nDenn man nehme an, sie sei von unendlicher Gr\u00f6\u00dfe, so w\u00fcrde jeder beliebige Punkt einer solchen Masse als deren Schwerpunkt oder Massenmittelpunkt angenommen werden k\u00f6nnen. Da nun in dem Massenmittelpunkte eines K\u00f6rpers die ganze Masse desselben vereinigt gedacht werden kann, so w\u00fcrde jeder Punkt der unendlichen Masse Tr\u00e4ger unendlicher Kr\u00e4fte sein. Endliche Kraftwirkungen der Materie von verschiedener Gr\u00f6\u00dfe, wie sie Mechanik und Physik zur Erkl\u00e4rung der Erscheinungen voraussetzen m\u00fcssen, w\u00fcrden also unm\u00f6glich sein.\nLage der Theile der Welt bestimmt werden k\u00f6nnte. Ein Raum, der Objecte enth\u00e4lt, ist aber ein erf\u00fcllter Raum. Also ist ein leerer Raum, gegen welchen die Welt begrenzt sein sollte, undenkbar.\n2. Die Welt besteht seit unendlicher Zeit.\nDenn man nehme an, sie bestehe seit endlicher Zelt, so m\u00fcsste ihr eine leere Zeit vorangegangen sein, in welcher nichts existirte und nichts geschah. Nun ist aber die Entstehung der Welt selbst ein Geschehen. In einer leeren Zeit, in welcher nichts geschieht, ist also auch die Entstehung der Welt unm\u00f6glich.\namischen Antinomien. Antithesis.\n3. Die Masse der in der Welt enthaltenen Materie ist von unendlicher Gr\u00f6\u00dfe.\nDenn man nehme an, sie sei von endlicher Gr\u00f6\u00dfe, so h\u00e4tte die Materie , falls man voraussetzt, dass sie seit unendlicher Zeit bestehe, sich l\u00e4ngst im unendlichen Raum zerstreuen m\u00fcssen, da ihre Bewegungen nach allen m\u00f6glichen Richtungen gehen und daher, so lange ein leerer Raum existirt, vorzugsweise nach diesem gerichtet sein m\u00fcssen, weil derselbe die Ausbreitung durch keine bereits vorhandenen materiellen Massen hindert. Eine endliche Materie w\u00fcrde sich auf diese Weise im unendlichen Raum ins Unendliche zerstreut haben, eine Materie von endlicher Dichtigkeit w\u00fcrde also \u00fcberhaupt unm\u00f6glich sein.","page":507},{"file":"p0508.txt","language":"de","ocr_de":"508\nW. Wundt.\nDie Masse der Materie istbis ins Unendliche theilbar.\nDenn man nehme an, sie sei blo\u00df bis zu einer bestimmten Grenze theilbar, so w\u00fcrde jeder letzte Theil noch eine gewisse messbare Wirkung aus-\u00fcben. Da nun jede Wirkung, wie \u00fcberhaupt jede Gr\u00f6\u00dfe, nur dadurch messbar ist, dass sie theilbar ist, so kann auch jeder noch so kleine Theil der Materie , so lange er \u00fcberhaupt eine endliche Gr\u00f6\u00dfe besitzt, weiter getheilt werden.\n4.\tDie Masse der Materie ist nur 4. bis ins Endliche theilbar.\nDenn man nehme an, sie sei bis ins Unendliche theilbar, so w\u00fcrde, da die Kraftwirkungen einer materiellen Masse um so kleiner werden, je kleiner sie selbst wird, schlie\u00dflich nach Vollzug der unendlichen Thei-lung nichts \u00fcbrig bleiben, was \u00fcberhaupt noch eine Wirkung aus\u00fcben k\u00f6nnte. Da aber aus elementaren Wirkungen, die s\u00e4mmtlich gleich Null sind, keine endliche Wirkung hervorgehen kann, so m\u00fcssen die letzten Elemente der Materie selbst eine endliche Masse besitzen.\n5.\tDer Anfang der Causalit\u00e4t 5. der Welt liegt in endlicher Vergangenheit.\nDenn angenommen, er liege in unendlicher Vergangenheit, so w\u00fcrde jeder beliebige Endeffect schon eingetreten sein ; es w\u00fcrde also \u00fcberhaupt keine Causalit\u00e4t mehr wirken k\u00f6nnen.\n6.\tDas Ende der Causalit\u00e4t der 6.\nWelt liegt in endlicher Zukunft.\nDenn angenommen, dasselbe liege erst in einer unendlich entfernten Zukunft, so w\u00fcrde jede \u00fcberhaupt denkbare Wirkung, also insbesondere auch ein Zustand vollst\u00e4ndigen Gleichgewichts aller Wirkungen vorher eintreten k\u00f6nnen. Ein solcher Zustand der Compensation aller Wirkungen w\u00fcrde aber jedes weitere causale Geschehen unm\u00f6glich machen. Denn da der Begriff der Causalit\u00e4t nur so lange einenlnhalt hat, als gesetzm\u00e4\u00dfige Ver\u00e4nderungen in der Welt anzutreffen sind, so w\u00fcrde auf eine Welt, in der sich gar nichts ver\u00e4nderte, der Begriff der Causalit\u00e4t \u00fcberhaupt keine Anwendung mehr finden k\u00f6nnen.\nMan wird vielleicht eine gewisse Incongruenz zwischen diesen dynamischen und den vorangegangenen mathematischen Antinomien\nDer Anfang der Causalit\u00e4t der Welt liegt in unendlicher Vergangenheit.\nDenn angenommen, er liege in endlicher Vergangenheit, so w\u00fcrde f\u00fcr ihn selbst, da nichts ohne Ursache geschieht, eine weitere Ursache vorausgesetzt werden m\u00fcssen, und so fort bis ins Unendliche.\nDas Ende der Causalit\u00e4t der Welt liegt in unendlicher Zukunft.\nDenn angenommen, dasselbe liege in einer endlichen Zukunft, so m\u00fcssten in einer messbaren Zeit alle Ver\u00e4nderungen in der Natur aufh\u00f6ren. Dies ist aber unter der Voraussetzung eines unendlichen Baumes und einer unendlichen Masse der Materie nicht m\u00f6glich. Denn selbst ein Zustand des Gleichgewichts aller Wirkungen, welcher k\u00fcnftige Ver\u00e4nderungen ausschl\u00f6sse,\u201e w\u00fcrde hier immer erst nach einer tmendlichen, d. h. nach einer niemals erreichbaren Zeit sich einstellen k\u00f6nnen.","page":508},{"file":"p0509.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit. 509\ndarin sehen, dass diese letzteren au\u00dfer den allgemein gegebenen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit nichts voraussetzen, w\u00e4hrend in den ersteren au\u00dfer den allgemeinen Begriffen der materiellen Masse und Causalit\u00e4t immer noch einige speciellere Voraussetzungen zur Anwendung kommen, die der'physikalischen Erfahrung entlehnt sind. So finden die S\u00e4tze \u00fcber den Massenmittelpunkt, \u00fcber die Zerstreuung der Materie im leeren Raum, \u00fcber einen Endzustand des Gleichgewichts der Bewegung successiv ihre Verwertliung. Dennoch liegt hierin kein Einwand gegen die Aufstellung der genannten Antinomien. Die Begriffe der materiellen Substanz und der Naturcausali-t\u00e4t entspringen zwar aus gewissen Forderungen des Denkens, andererseits ist aber die Gestaltung dieser Begriffe so innig gebunden an die naturwissenschaftliche Erfahrung, dass man ohne die Herbeiziehung der letzteren immer nur zu h\u00f6chst inhaltsleeren S\u00e4tzen \u00fcber dieselben gelangen k\u00f6nnte, und insbesondere m\u00fcsste ein Versuch, Antinomien hinsichtlich dieser Begriffe ohne jede R\u00fccksicht auf ihren empirischen Inhalt zu gestalten, nothwendig zu leeren Wiederholungen der mathematischen Antinomien zur\u00fcckf\u00fchren, wie dies Kant in der That begegnet ist. Auch sind die dynamischen Antinomien in den Formulirungen, die ihnen oben gegeben wurden, ebenso wenig k\u00fcnstlich erfunden wie die mathematischen, sondern sie entsprechen einem Widerstreit gewisser Ansichten und Hypothesen, der in der naturwissenschaftlichen Discussion wirklich zurGeltung gekommen ist. Es braucht in dieserBeziehung nur an die angeblich widersprechenden Folgerungen erinnert zu werden, welche man aus der Annahme einer unendlichen materiellen Masse gezogen hat, sowie an die Schl\u00fcsse, welche, unter der stillschweigenden Voraussetzung eines der Masse nach begrenzten Universums, an den zweiten Hauptsatz der mechanischen W\u00e4rmetheorie gekn\u00fcpft wurden.l) Dass wir diese Antinomien oben nicht in der concreten Gestalt formulirt haben, in welcher sie in der wissenschaftlichen Debatte aufgetreten sind, wird man wohl um so mehr gerechtfertigt finden, als nicht blo\u00df der allgemeinere logische Zweck dies verlangt, sondern als manchmal auch die in Anlehnung an eine bestimmte Form der Natur -causalit\u00e4t geltend gemachten Widerspr\u00fcche leicht auf eine andere\n1) Y gl. meinen Aufsatz \u00fcber das kosmologische Problem. Viertel) ahrsschr. f. Wiss. Philos. I S. 80 ff.","page":509},{"file":"p0510.txt","language":"de","ocr_de":"510\nW. Wundt.\n\u00fcbertragen werden k\u00f6nnen. Ebenso wird man es diesen Antinomien nicht zum Vorw\u00fcrfe machen k\u00f6nnen, dass zuweilen die Beweisf\u00fchrung einer These oder Antithese den Standpunkt der vorangegangenen These oder Antithese voraussetzt. Denn es herrscht hier wirklich ebenso unter den Thesen wie andererseits unter den Antithesen, um Kant\u2019s Ausdruck zu gebrauchen, eine \u00bbvollkommen \u00fcbereinstimmende Sinnesart \u00ab, und wenn auch nicht ganz selten kosmologische Hypothesen aufgetreten sind, welche ausdr\u00fccklich oder stillschweigend gewisse thetische und antithetische Standpunkte mit einander vereinigten, z. B. die Endlichkeit der Zeit und Causalit\u00e4t mit der Unendlichkeit des Raumes und der Masse, so w\u00fcrde doch eine solche Specialisi-rung f\u00fcr unsere Zwecke zu weit gef\u00fchrt und zur Aufkl\u00e4rung des Ursprungs der Antinomien nichts beigetragen haben. *)\n3. Die Aufl\u00f6sung der Antinomien.\nDer Aufl\u00f6sung der Antinomien hat Kant eine eingehende Untersuchung gewidmet, deren allgemeines Resultat er dahin zusammenfasst, dass die Reihe der Bedingungen immer nur in der regressiven Synthesis selbst, niemals aber in einem vor allem Regressus gegebenen Ding anzutreffen sei. Die Menge der Theile in einer gegebenen Erscheinung sei daher an sich weder endlich noch unendlich. Die eine wie die andere Behauptung setze voraus, dass die Welt als Ding an sich gegeben sei, w\u00e4hrend der kritische Idealismus vielmehr zu der Einsicht gelange, dass sie immer nur als E r s c h e i n u n g gegeben sein k\u00f6nne. Die Antinomie der reinen Vernunft werde also dadurch gehoben, dass sie sich als der Widerstreit eines dialektischen Scheins herausstelle, der daraus entspringe, \u00bbdass man die Idee der absoluten Totalit\u00e4t, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat, die nur in der Vorstellung und, wenn sie eine Reihe ausmachen, im successiven Regressus, sonst aber gar nicht existiren\u00ab. Ja Kant geht so weit, dass er nicht blo\u00df aus dem transscendentalen Idealismus den dialektischen Schein der Antinomien, sondern umgekehrt auch aus diesem den ersteren erweisen zu k\u00f6nnen meint. \u00bbDer Beweis\u00ab, sagt er, \u00bbw\u00fcrde in diesem\n1) Vgl. meinen Aufsatz \u00fcber das kosmologische Problem. Vierteljahrssehr. f\u00fcr Wiss. Philos. I S. 101.","page":510},{"file":"p0511.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\n511\nDilemma bestehen. Wenn die Welt ein an sich existirendes Ganze ist : so ist sie entweder endlich oder unendlich; nun ist das erstere sowohl als das zweite falsch (laut den Beweisen der Thesis und Antithesis). Also ist es auch falsch, dass die Welt (der Inbegriff aller Erscheinungen) ein an sich existirendes Ganzes sei\u00ab.1)\nSoll dieser Schluss bindend sein, so muss der Obersatz streng genommen lauten: \u00bbNur wenn die Welt ein an sich existirendes Ganzes ist, u. s. w.\u00ab Uebrigens hat Kant den in diesem Dilemma und den zugeh\u00f6rigen Er\u00f6rterungen f\u00fcr alle Antinomien aufgestellten Standpunkt nachher blo\u00df f\u00fcr die von ihm so genannten mathema tischen Antinomien festgehalten, dagegen f\u00fcr die beiden dynamischen die Auffassung geltend gemacht, dass hier gerade umgekehrt die Thesis und die Antithesis gleichzeitig wahr sein k\u00f6nnten. W\u00e4hrend also f\u00fcr die mathematischen Antinomien der Satz gilt: die Welt ist weder endlich, noch unendlich , hei\u00dft es bei dem dynamischen : sie kann sowohl als das eine wie als das andere gedacht werden. Zwar wird die Vereinbarkeit beider Standpunkte von Kant damit begr\u00fcndet, dass bei Zeit und Kaum nur ein Itegressus von gleichartigen zu gleichartigen Theilen, bei der Causalit\u00e4t aber ein solcher zu ungleichartigen stattfindet. Doch w\u00fcrde damit h\u00f6chstens die Denkbarkeit einer endlichen Causalreihe, nicht aber diejenige einer unendlichen erm\u00f6glicht sein, wie doch von Kant, um auch hier Thesis und Antithesis in ihren theoretischen Anspr\u00fcchen einander gleichzustellen, behauptet wird. Das tiefere Motiv f\u00fcr diese verschiedene Behandlung liegt offenbar wieder in einem dem Weltbegriff selbst heterogenen Motiv, in dem Streben n\u00e4mlich, einen angemessenen Uebergang zu den praktischen Postulaten zu gewinnen, einem Motiv, das bei Zeit und Raum v\u00f6llig au\u00dfer Betracht blieb, und das nun bei der Causalit\u00e4t um so entschiedener sich geltend macht. Hierdurch zerf\u00e4llt die Kantische Aufl\u00f6sung der einzelnen Antinomien in zwei getrennte Theile, deren jeder seine besondere Betrachtung erheischt. Die Aufl\u00f6sung der mathematischen Antinomien sucht zu zeigen, dass Thesis und Antithesis beide falsch sind; die Aufl\u00f6sung der dynamischen Antinomien sucht umgekehrt darzuthun, dass Thesis und Antithesis beide wahr sein k\u00f6nnen.\n1) A. a. O. S. 389 f.\nWundt, Philos. Studien. II.\n34","page":511},{"file":"p0512.txt","language":"de","ocr_de":"512\nW. Wundt.\nDen Beweis, dass die Welt in Bezug auf Zeit und Raum weder endlich noch unendlich ausgedehnt, und dass die Materie weder endlich noch unendlich theilbar gedacht werden k\u00f6nne, f\u00fchrt Kant, indem er darauf hin weist, dass in beiden F\u00e4llen, da Zeit und Raum Erscheinungen sind, der Regressus lediglich ein empirischer sei. In einem solchen k\u00f6nne aber weder jemals eine absolute Grenze noch eine unendliche Totalit\u00e4t von Theilen angetroffen werden. Es handle sich immer nur um einen \u00bbregressus in indefinitum\u00ab, niemals um einen solchen in infinitum. Wir sollen also weder behaupten k\u00f6nnen, dass die Welt eine Grenze nach Zeit und Raum habe, noch dass sie keine habe, dass die Materie aus endlichen Theilen bestehe, noch dass sie ins Unendliche theilbar sei. Die Aufl\u00f6sung des Streites besteht in der Erkenntniss, dass er unl\u00f6sbar ist.\nIst dies wirklich der Eindruck, den Kant\u2019s eigene Beweise der Antinomien und deren Erl\u00e4uterungen hervorbringen? In Bezug auf die Thesen muss, sofern man bei der zweiten mit Kant der Theilbar-keit der Materie die des Raumes substituirt, unbedingt zugegeben werden, dass der Gedanke einer Grenze von Raum und Zeit hinsichtlich der Ausdehnung wie der Theilbarkeit nicht zu vollziehen ist, und gerade dann nicht zu vollziehen ist, wenn man mit Kant Raum und Zeit nicht f\u00fcr au\u00dfer uns existirende Dinge, bei denen uns ja die fortschreitende Erfahrung m\u00f6glicherweise eines besseren belehren k\u00f6nnte, sondern f\u00fcr Anschauungsformen h\u00e4lt, die wir als solche \u00fcber jede obere oder untere Grenze des in Raum und Zeit Gegebenen anzuwenden gen\u00f6thigt sind. Darum ist aber auch hier der Regressus kein blo\u00dfer regressus in indefinitum, wie bei dem Zur\u00fcckverfolgen der Voreltern eines Menschen, sondern ein wahrer regressus in infinitum, d. h. ein R\u00fcckgang, den wir nicht nur \u00fcber irgend eine zuf\u00e4llig gegebene empirische, sondern \u00fcber jede denkbar e Grenze hinaus fortzusetzen gen\u00f6thigt sind. In der That ist das nun auch ganz und gar der Standpunkt, den die Antithesen in den Beweisf\u00fchrungen sowie in deren Erl\u00e4uterungen einnehmen. Namentlich in den letzteren betont K an t mehrfach, dass in der Anschauung des Raumes und der Zeit als solcher, gegen\u00fcber jedem Versuch, aus blo\u00dfen Verstandesbegriffen das Gegentheil zu erweisen, der zwingende Antrieb zu einem derartigen Regressus liege. Aber bei der Aufl\u00f6sung der beiden Antinomien schiebt er pl\u00f6tzlich auch der Antithesis einen Standpunkt","page":512},{"file":"p0513.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's kosmolog'isehe Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t513\nunter, den eigentlich nur die Thesis in den Beweisen, durch die sie die Annahme oberer und unterer Weltgrenzen zu rechtfertigen sucht, einnimmt. Der Empirist (oder vielmehr Kritiker) der Antithesen verwandelt sich in einen Dogmatiker, der an die Stelle eines unendlichen Regressus, von dem doch in den Antithesen allein die Rede war, eine unendliche Totalit\u00e4t setzt, die in einem Verstandesbegriff umspannt werden soll, worauf dann freilich nicht mehr bestritten werden kann, dass die Weltidee f\u00fcr einen solchen Verstandesbegriff um ebenso viel zu gro\u00df sei, als sie f\u00fcr den Begriff der Thesis zu klein ist.1) Aber dieser ganze Erfolg r\u00fchrt doch nur davon her, dass die falsche Auffassung des Unendlichkeitsbegriffs , welche die Thesis in ihren Beweisen vertritt, nun auf einmal der Antithesis untergeschoben wird, die sich dieses Fehlers gar nicht schuldig gemacht hatte. So liegt die {K an t freilich sehr erw\u00fcnschte) kritische Ergebnisslosigkeit, welche das Resultat der Aufl\u00f6sung der mathematischen Antinomien ist, augenscheinlich darin begr\u00fcndet, dass sich Kant von den verschiedenen Gestaltungen des Unendlichkeitsbegriffs, die hier mit einander in Streit treten, keine Rechenschaft gibt. Dies hat aber zu dem f\u00fcr den Einfluss der Neigungen eines Philosophen auf die Richtungen seines Denkens h\u00f6chst bezeichnenden Ergebnisse gef\u00fchrt, dass Kant einen bestimmten Unendlichkeitsbegriff jeweils da anwendet, wo er ihm f\u00fcr seine anderweitigen Zwecke am dienlichsten ist. Die Beweise der Thesen st\u00fctzen sich, da es sich hier darum handelt, den Unendlichkeitsbegriff zu widerlegen, auf den f\u00fcr alle kosmologischen Fragen v\u00f6llig unbrauchbaren Begriff einer unendlichen Totalit\u00e4t ; die Beweise der Antithesen, in deren Interesse es liegt, die Einf\u00fchrung des Unendlichkeitsbegriffs thunlichst zu rechtfertigen, greifen zu einem wahren regressus in infinitum, welcher niemals als gegeben, immer aber als aufgegeben betrachtet werden muss. Die Kritik der Antithesen f\u00e4llt dann aber wieder in den unhaltbaren Unendlichkeitsbegriff der Thesen zur\u00fcck, wobei es schlie\u00dflich sein Bewenden hat. Wir werden demnach, wenn auch zum Theil aus andern Gr\u00fcnden, Schopenhauer2) Recht geben m\u00fcssen, der bereits die Antithesen f\u00fcr unwider-\n1)\tA. a. O. S. 374, 385 ff.\n2)\tSchopenhauer a. a. O. S. 5S5. Schopenhauer findet das Sophisma der ersten These darin, \u00bbdass statt der Anfangslosigkeit der Reihe der Zust\u00e4nde, wovon zuerst die Rede, pl\u00f6tzlich die Endlosigkeit (Unendlichkeit) derselben unter-\n34*","page":513},{"file":"p0514.txt","language":"de","ocr_de":"514\nW. Wundt.\nlegt erkl\u00e4rte. Freilich ist aber davon die zweiteAntithese auszunehmen, da, wie fr\u00fcher bemerkt, die Eigenschaften der materiellen Masse nicht nothwendig mit denen des Baumes identisch sein m\u00fcssen.\nAuf einen von der Betrachtungsweise der mathematischen Antinomien wesentlich abweichenden Standpunkt begibt sich Kant bei der Aufl\u00f6sung seiner dynamischen Antinomien, von denen die eine direct, die andere indirect aus der Anwendung des Causalbegriffs auf das Weltproblem hervorgeht. Auch hier gen\u00fcgt es daher f\u00fcr unsere Zwecke, die Aufl\u00f6sung der dritten Antinomie zu ber\u00fccksichtigen. Causalit\u00e4t ist nach Kant, im Unterschiede von Zeit und Kaum, eine Synthesis desUngleichartigen. W\u00e4hrend demnach eine Synthesis gleichartiger sinnlicher Erscheinungen niemals zu einem Gliede ge-\ngeschoben und nun bewiesen wird, was Niemand bezweifelt, dass dieser das Vollendetsein logisch widerspreche und demnach jede Gegenwart das Ende der Vergangenheit sei.\u00ab Cohen (Kant\u2019s Theorie der Erfahrung, S. 260) bemerkt hiergegen, von einer solchen Unterschiebung sei nicht die Rede, sondern zu allererst sei die als vollendet gesetzte Welt da. \u00bbVon dieser wird dann die Anfangslosig-keit gesetzt, welche zweite Pr\u00e4misse der ersten im Begriff des Unendlichen schnurstracks widerstreitet.\u00ab Aber der Fehler besteht eben darin, dass die Welt als vollendet gesetzt wird. Wenn das letztere geschieht, kann dann freilich auch beliebig der Anfangslosigkeit im Sinne Schopenhauer\u2019s die Endlosigkeit substitu\u00e2t werden, w\u00e4hrend, wenn nicht die vollendete Unendlichkeit, sondern nur ein Regressus ins Unendliche gestattet ist, man nicht beliebig statt des R\u00fcckgangs von der Gegenwart bis zum unendlich entfernten Anfang den Fortschritt von diesem bis zu jener setzen darf, wie es in der That in der Beweisf\u00fchrung der ersten These geschieht. Schopenhauer hat also eine Folge des falschen Unendlichkeitsbegriffs richtig erkannt, die eigentliche Quelle der Antinomie ist ihm aber entgangen. Trend eienburg\u2019s Einw\u00e4nde gegen die erste Antinomie (Historische Beitr\u00e4ge III S. 234) fallen in Bezug auf die Thesis im Wesentlichen mit Schopenhauer\u2019s Bemerkung zusammen. Er h\u00e4lt aber auch den Beweis der Antithese f\u00fcr fehlerhaft. \u00bbDa die Zeit als solche, abgesehen von ihrem Inhalt, unterschiedslos verflie\u00dft, so kommt\u00ab, wie er meint, \u00bbdas der leeren Zeit entnommene Argument nicht zu Stande.\u00ab Ebenso lasse sich, wrenn man den Raum nicht f\u00fcr eine Sache nimmt, die Welt zu ihm in kein Verh\u00e4ltniss setzen, und das Ungereimte falle hinweg. Diese Einw\u00e4nde sind nicht zutreffend. Denn das Ungereimte sieht Kant mit Recht gerade darin, dass Zeit und Raum Formen der Erscheinungen sind, dass also eine leere Zeit und ein leerer, d. h. von allen Erscheinungen entbl\u00f6\u00dfter Raum keine Bestimmungen darbieten, durch welche die erf\u00fcllte Zeit und der erf\u00fcllte Raum zu ihnen in Beziehung treten k\u00f6nnten, wie es doch der Fall sein m\u00fcsste, wenn die Welt zu irgend einer Zeit entstanden oder irgendwie im Raum begrenzt w\u00e4re.","page":514},{"file":"p0515.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\n515\nlangen kann, welches selbst \u00fcbersinnlicher Art ist, soll dies bei einer Reihe ungleichartiger Bedingungen sehr wohl m\u00f6glich sein, indem hier irgendwo die Ungleichartigkeit des hinzukommenden Gliedes eben darin besteht, dass dasselbe \u00fcberhaupt nicht mehr zu den sinnlichen Erscheinungen geh\u00f6rt, sondern, als ein blo\u00df intelligibler Gegenstand, au\u00dferhalb der Reihe liegt, also selbst der Causalit\u00e2t, als der Form der Abh\u00e4ngigkeit sinnlicher Erscheinungen von einander, nicht mehr unterworfen ist. Dadurch soll es dann geschehen, dass die Thesis, welche die Endlichkeit der Causalit\u00e4t der Welt, und die Antithesis, welche deren Unendlichkeit behauptet, beide wahr sein k\u00f6nnen, indem die erstere f\u00fcr den intelligibeln Ursprung, die zweite f\u00fcr den empirischen Regressus innerhalb der Weltoausalit\u00e4t Kraft beh\u00e4lt. Nachdem aber erst ein intelligibler Ursprung f\u00fcr den allerersten Anfang der letzteren als m\u00f6glich nachgewiesen ist, soll ein \u00e4hnlicher f\u00fcr eine beliebige einzelne Causalreihe nicht minder statthaft sein. Darum stellt Kant die beiden in seiner dritten Antinomie vertretenen Standpunkte als den der Causalit\u00e4t aus Freiheit und den der Causalit\u00e4t der Natur einander gegen\u00fcber, indem er damit schon hier auf die wichtige Anwendung dieser L\u00f6sung der Causali-t\u00e4tsantinomie im Postulat der Willensfreiheit hinweist.\nWenn es nun schon befremdlich erscheinen muss, dass von zwei einander entgegengesetzten Behauptungen beide falsch sind, so ist es sicherlich noch viel merkw\u00fcrdiger, dass beide wahr sein sollen. Kant hat freilich den nahe liegenden logischen Einwand gegen eine solche L\u00f6sung des Streites dadurch von vornherein abzuwehren gesucht, dass er hervorhebt, es handle sich hier nicht um einen contra-dictorischen, sondern um einen dialektischen Widerspruch, bei welchem letzteren das eine Urtheil nicht blo\u00df dem andern widerspreche , sondern etwas mehr sage, als zum Widerspruch erforderlich sei. Der contradictorische Widerspruch w\u00fcrde nach Kant lauten : \u00bbdie Welt ist entweder unendlich, oder sie ist nicht unendlich\u00ab, und hier w\u00fcrde in der That, wenn der erste Satz falsch ist, der zweite wahr sein. Wenn ich aber dem Widerspruch die Form gebe : \u00bb die Welt ist entweder unendlich, oder sie ist endlich\u00ab, so habeich in der zweiten Behauptung nicht blo\u00df die Unendlichkeit aufgehoben, sondern die Endlichkeit gesetzt, w\u00e4hrend die Wahrheit der aufgehobenen Unendlichkeit sehr wohl darin bestehen k\u00f6nnte, dass die Welt \u00fcber-","page":515},{"file":"p0516.txt","language":"de","ocr_de":"516\nW. Wundt.\nhaupt als Ding an sien nicht existirt, weder als eine endliche, noch als eine unendliche1).\nDie Sophistik dieser Auseinandersetzung liegt klar zu Tage. Kant substituirt dem Satz : ich habe die Welt als eine endliche gesetzt, ohne weiteres den anderen: ich habe sie als ein endliches Ding an sich gesetzt, w\u00e4hrend doch der Sinn der Antinomie ebenso gut sein kann: die Welt als Erscheinung muss unendlich oder endlich gedacht werden. In Wahrheit handelt es sich in den Antinomien um einen contr\u00e4ren Gegensatz, aber um einen jener F\u00e4lle des contr\u00e4ren Gegensatzes, wo derselbe seinem Inhalte nach mit dem contradictorischen \u00fcb er ein stimmt. Die beiden S\u00e4tze : \u00bbdie Welt ist entweder unendlich oder nicht unendlich\u00ab und \u00bbdie Welt ist entweder unendlich oder endlich\u00ab haben schlechterdings den n\u00e4mlichen Inhalt. Denn der Fall, dass die Welt \u00fcberhaupt nicht existirt. steht au\u00dfer Frage; auch Kant hat ihre Nichtexistenz nicht behauptet. Entweder wird sie in der Antinomie als Ding an sich oder als Erscheinung gedacht. Im ersteren Fall sind selbstverst\u00e4ndlich auch Kaum, Zeit und Causalit\u00e4t als Dinge an sich anzusehen, im zweiten Fall verwandeln sie sich in Formen der Erscheinung. Das eine wie das andere ist auf die Existenz der Antinomien und darum auch auf ihre L\u00f6sungen ohne Einfluss.\nObgleich nun aber Kant, da \u00fcber Dinge an sich nichts ausgesagt werden kann, die dynamischen Antinomien ebenso f\u00fcr einen blo\u00df dialektischen Schein erkl\u00e4ren m\u00fcsste wie die mathematischen, so sollen nun doch in diesem Fall Thesis und Antithesis beide Recht behalten, die Thesis, weil sie mit Recht die Handlung unter dem Gesichtspunkte des Dinges an sich betrachtet, die Antithesis, weil sie ebenfalls mit Recht die Welt nur als Natur oder mundus phaeno-menon im Auge hat. In doppelter Beziehung weicht also hier Kant \u2019 s Standpunkt von demjenigen gegen\u00fcber den mathematischen Antinomien ab : erstens sollen sich hier nicht beide S\u00e4tze auf die Welt als Ding an sich beziehen, sondern blo\u00df die Behauptung der These, und zweitens soll in diesem Falle \u00fcber das Ding an sich etwas ausgesagt werden k\u00f6nnen. Diese Aussage besteht darin, dass der intelligible Charakter als Ursache des empirischen, selbst aber als unbedingt,\n1) A. a. O. S. 397 ff.","page":516},{"file":"p0517.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t517\ndemnach nicht abh\u00e4ngig von weiteren Ursachen anzusehen sei. Kant begr\u00fcndet letzteres damit, dass Causalit\u00e4t als Verstandesbegriff nur auf Erscheinungen, nicht aber auf das Ding an sich angewandt werden k\u00f6nne. Doch ist es offenbar, dass er selbst die eine Seite des Causal-begriffs auf dasselbe anwendet, indem er das Intelligible als Ursache des Empirischen statuirt, und nur die zweite Seite, wonach jede Ursache wiederum als Wirkung einer weiter zur\u00fcckliegenden Ursache gedacht werden muss, bei demselben aufgehoben denkt. Der Kant eigenthiimliche Begriff einer \u00bbCausalit\u00e4t durch Freiheit\u00ab besteht also in dem Begriff einer Ursache , von welcher das empirische Geschehen abh\u00e4ngig sein soll, welche aber selbst nie als Wirkung gedacht werden k\u00f6nne. Damit f\u00e4llt dieser Begriff mit dem \u00e4lteren der \u00bbcausa sui\u00ab zusammen , dem er auch durch sein Transscendenz entspricht.\nDer specifische Unterschied dieser Kantischen causa sui von den fr\u00fcheren metaphysischen Gestaltungen des n\u00e4mlichen Begriffs besteht nur darin, dass dieselbe in dem menschlichen Willen in die empirische Wirklichkeit \u00dcbertritt, so dass hier der Wille als der eigentliche Coincidenzpunkt des Transscendenten und Empirischen erscheint. Aber auch dieser Unterschied trifft blo\u00df die Einzelausf\u00fchrung des metaphysischen Grundgedankens. Die causa sui sucht in jeder ihrer Formen nach einer solchen Verbindung mit den wirklichen Dingen. Nur wird dieselbe meist weit umfassender vorausgesetzt. Bei Spinoza erstreckt sie sich \u00fcber die gesammte empirische Wirklichkeit, und es war daher eine nahe liegende Conception, dass Schopenhauer den Kantischen Willen in ein der Spinozischen Substanz gleichendes Weltprincip umzuwandeln suchte , was dann ,freilich ohne phantastische Analogien und bodenlose Hypothesen nicht abging. Kant w\u00fcrde sich von diesen Fr\u00fcchten seiner intelligibeln Freiheitslehre sicherlich missbilligend abgewandt haben. Bei ihm bleibt der Wille die einzige schmale Br\u00fccke, die aus der Welt der Erscheinungen in das Reich des Uebersinnlichen hin\u00fcberf\u00fchrt. Diese Beschr\u00e4n-kung verleiht den \u00fcbrigen Theilen seiner Erkenntnisslehre den Charakter kritischer Vorsicht, freilich nur, um bei diesem Punkte die Willk\u00fcr einer solchen Einf\u00fchrung der causa sui um so augenf\u00e4lliger zu machen. Wer von vornherein die gesammte Sinnenwelt als die Wirkung einer transscendenten Ursache zu begreifen sucht, dem wird man diesen Gebrauch des empirischen Begriffs der Ursache nicht son-","page":517},{"file":"p0518.txt","language":"de","ocr_de":"518\nW. Wundt.\nderlich verdenken k\u00f6nnen : er bewegt sich damit auf dem Boden unab\u00e4nderlich festgehaltener Postulate. Wer aber wie Kant die Anwendung von Erfahrungsbegriffen auf das Transscendente beharrlich ablehnt, der widerstreitet, indem er an diesem einen Punkt das Sinnliche mit dem Uebersinnlichen doch auch nur mittelst des empirischen Begriffs der Wirkung verbindet, seinen eigenen Voraussetzungen. Man kann f\u00fcglich zweifelhaft sein, ob Kant im Rechte war, als er den Gebrauch der Kategorie der Causalit\u00e4t jenseits des Erfahrungsgebietes ablehnte. Aber nach dem Standpunkt, den er nun einmal in dieser Frage einnahm, kann man nicht zweifelhaft sein, dass seine Entscheidung der dynamischen Antinomien derjenigen der mathematischen h\u00e4tte entsprechen m\u00fcssen. Wenn uns in Bezug auf Zeit und Raum blo\u00df ein Regressus in indefinitum gestattet ist, so kann hinsichtlich der Causalit\u00e4t erst recht nur von einem solchen die Rede sein. Bei Raum und Zeit haben wir wenigstens verm\u00f6ge der gegebenen Eigenschaften dieser Anschauungsformen eine bestimmte Vorstellung, wie wir uns \u00fcber jede gegebene Grenze hinaus den weiteren Fortschritt denken sollen. Da aber die Causalreihe, wie Kant sagt, zwischen ungleichartigen Gliedern verl\u00e4uft, so wird der in uns liegende Causalbegriff. immer nur die unbestimmte Forderung begr\u00fcnden, dass wir \u00fcber jedes gegebene Glied die Reihe fortsetzen, hinsichtlich der Frage, wie wir sie fortsetzen sollen, werden wir aber auf die Grenzen unserer Erfahrung eingeschr\u00e4nkt bleiben.\nMan kann hinzuf\u00fcgen : K a n t h\u00e4tte auch aus ethischen Gr\u00fcnden nicht n\u00f6thig gehabt, vor dieser L\u00f6sung zur\u00fcckzuschrecken. Seme Scheu, den sittlichen Willen der Causalit\u00e4t zu unterwerfen, ist sichtlich daraus entsprungen, dass er nur jenen naturalistischen Causal-hegriff vor Augen hatte, welcher den besonderen Bedingungen, die der Begriff der materiellen Substanz mit sich f\u00fchrt, seinen Ursprung verdankt. H\u00e4tte er sich dar\u00fcber Rechenschaft gegeben, dass die Ueber-tragung der Constanz der Kraft oder des Satzes \u00bb causa aequat effectum \u00ab auf das geistige Gebiet gar keinen Sinn hat, so w\u00fcrde er eine bessere Vereinigung des ethischen und des kosiqologischen Standpunktes gefunden haben, als sie seine merkw\u00fcrdige Vorschrift enth\u00e4lt, man solle eine und dieselbe Begebenheit doppelt betrachten, einmal n\u00e4mlich als Ausfluss des empirischen Charakters der unbeschr\u00e4nkten G\u00fcltigkeit der Causalit\u00e4t unterworfen, und sodann als Ausfluss des intelligiblen","page":518},{"file":"p0519.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t519\nCharakters als. eine freie, jener Causalit\u00e4t nicht unterworfene Handlung. t)\nAber wenn gleich die rein negative, die dynamischen mit den mathematischen Antinomien gleichstellende L\u00f6sung der positiven, die Kant hier gegeben hat, vorzuziehen w\u00e4re, so m\u00fcsste sie doch auch in diesem Fall aus den n\u00e4mlichen Gr\u00fcnden wie dort abgelehnt werden. Der contradictorische Widerstreit fordert \u00fcberall eine bestimmte Antwort. Indem wir nunmehr nach einer solchen suchen, wollen wir uns aber wiederum von Kant\u2019s Kategorienschema und den Unzul\u00e4nglichkeiten , die demselben entsprungen sind, emancipiren, um die in den beiden vorigen Capiteln gegebenen neuen Formulirungen der Antinomien und ihrer Beweise der Besprechung zu Grunde zu legen.\nA. Die Aufl\u00f6sung der mathematischen Antinomien.\nDie Thesen dieser Antinomien behaupten die Endlichkeit der Welt, die Antithesen ihre Unendlichkeit nach Kaum und Zeit. Die Beweise der Thesen wie der Antithesen operiren aber mit dem Unendlichkeitsbegriff: jene, indem sie von der Voraussetzung der Unendlichkeit ausgehen, diese, indem sie auf eine solche Voraussetzung zur\u00fcckkommen. W\u00e4re nun der Unendlichkeitshegriff in beiderlei Beweisen der n\u00e4mliche, so w\u00fcrde bei der contradictorischjen Form des Widerspruchs nothwendig entweder die Thesis oder die Antithesis Re\u00e7ht behalten m\u00fcssen ; es w\u00fcrde dann also ein Fehler in einer der Beweisformen, wenn nicht in beiden, vorauszusetzen sein. Umgekehrt, wenn die Beweisformen beide richtig sind, so wird der Unendlichkeitsbegriff nicht der n\u00e4mliche sein k\u00f6nnen. In diesem Fall wird aber nicht ohne weiteres der Thesis oder Antithesis Recht zu geben, sondern zuvor eine Untersuchung dar\u00fcber nothwendig sein, welcher der zur Anwendung gekommenen Unendlichkeitsbegriffe der rechtm\u00e4\u00dfige ist.\ntu der That l\u00e4sst nun der Beweisgang leicht erkennen, dass der letztere Fall vorliegt. Die Argumentation der Thesen hat den Begriff e*ner segebenen unendlichen Totalit\u00e4t im Auge oder den Begriff des U eberendlichen (Transfiniten), wie ich ihn anderw\u00e4rts Bezeichnet habe.1 2) Es wird ihr leicht zu zeigen, dass die Anwendung\n1)\tVgl. hierzu meine Logik I S. 375, II S. 502 ff\n2)\tLogik II S. 128.","page":519},{"file":"p0520.txt","language":"de","ocr_de":"520\nW. WuDdt.\ndieses Begriffs auf die empirische Auffassung der Welt zu Widerspr\u00fcchen f\u00fchrt. Erw\u00e4gt man, dass das Transfinite ein schlechthin transscendenter Begriff ist, so erweisen sich diese Widerspr\u00fcche als selbstverst\u00e4ndlich. Das Empirische l\u00e4sst niemals Beziehungen zu dem Transscendenten zu. Die Beweise veranschaulichen dies in Bezug auf die beiden F\u00e4lle eines in seiner Totalit\u00e4t als gegeben vorausgesetzten unendlichen Baumes und einer ebensolchen unendlichen Zeit.\nDie Unendlichkeitsbegriffe, auf welche die Beweisf\u00fchrungen der Antithesen hinauskommen, entsprechen aber keineswegs einer solchen absoluten unendlichen Totalit\u00e4t, sondern das Endliche wird hier nur aufgehoben durch die Forderung eines re gr es sus in infinitum, welcher, da er eben niemals vollendet werden kann, die als gegeben vorausgesetzte unendliche Totalit\u00e4t von vornherein ausschlie\u00dft. Die Antithesen beziehen sich also auf den Begriff des Endlosen oder Infiniten, welcher sehr wohl mit der empirischen Auffassung der Welt vertr\u00e4glich ist, weil er nur einen Fortschritt \u00fcber eine jede gegebene Grenze, nicht aber das Unendliche selbst als gegeben voraussetzt.\nHiernach behalten zun\u00e4chst die Antithesen den Thesen gegen\u00fcber Becht. Der Standpunkt der ersteren wird durch die Beweise der letzteren nicht widerlegt, weil diese sich auf einen ganz anderen Unendlichkeitsbegriff beziehen, als auf denjenigen , der \u00fcberhaupt bei den Antithesen in Frage kommt. Gleichwohl behalten auch die Beweise der Thesen ihren positiven Werth, insofern sie n\u00e4mlich die Anwendung des transfiniten Unendlichkeitsbegriffs auf das Weltproblem als widersprechend darthun. In diesem Sinne k\u00f6nnte man sogar Kant\u2019s Auffassung vom Endergebniss der dynamischen Antinomien geradezu auf diese mathematischen anwenden : die Beweise der Thesis und der Antithesis sind beide richtig; und wenn die Behauptung der Thesis, dass die Welt endlich sei, blo\u00df den Sinn in sich schl\u00f6sse, dass sie nie als eine in ihrer Totalit\u00e4t gegebene Unendlichkeit vorausgesetzt werden d\u00fcrfe, so w\u00fcrde nichts gegen sie einzuwenden sein. Sobald wir aber den Begriff des Endlichen im gew\u00f6hnlichen Sinne nehmen, so wird die Behauptung der Thesis falsch. Der Widerspruch zwischen Thesis und Antithesis lie\u00dfe sich demnach als ein contradictorischer nur aufrecht erhalten, wenn man das Infinite als ein Endliches, aber Unbegrenztes dem Transfiniten gegen\u00fcberstellte, was Hegel\u2019s Unter-","page":520},{"file":"p0521.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosinologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t521\nScheidung der falschen und wahren Unendlichkeit oder G. Cantor\u2019s uneigentlich und eigentlich Unendlichem entsprechen w\u00fcrde. Diese Auffassung leidet aber an dein Uebelstande, dass sie den transfiniten auf den infiniten Unendlichkeitshegriff anwendet. Da das Transfinite als ein Gegebenes vorausgesetzt wird, so ber\u00fccksichtigt sie auch hei dem Infiniten nur das jeweils Gegebene, welches selbstverst\u00e4ndlich ein endliches ist. Nun besteht aber das Wesen des Infiniten gerade darin, dass es niemals gegeben sein kann. Die Aufl\u00f6sung der mathematischen Antinomien wird also vielmehr darin gesucht werden m\u00fcssen, dass die Beweise dem allgemeinen contradictorischen Widerspruch der Thesis und Antithesis zwei speciellere contradictorische Gegens\u00e4tze substituiren. Dem einen l\u00e4sst sich die Form geben: \u00bbdie Welt ist entweder nach Zeit und Raum eine gegebene endliche Gr\u00f6\u00dfe, oder sie ist es nicht\u00ab; dem andern: \u00bbdie Welt ist entweder nach Zeit und Raum eine gegebene unendliche Gr\u00f6\u00dfe, oder sie ist es nicht\u00ab. Der Beweis, dass die Welt keine gegebene endliche Gr\u00f6\u00dfe sein kann, schlie\u00dft nicht ein, dass sie eine gegebene unendliche ist, und umgekehrt. Vielmehr ist die Negation des ersten Satzes mit der des zweiten vereinbar : \u00bbdie Welt ist weder eine gegebene endliche noch eine gegebene unendliche Gr\u00f6\u00dfe\u00ab, und diese doppelte Verneinung ist es gerade, die den infiniten Unendlichkeitsbegriff definirt.\nB. DieAufl\u00f6sung der dynamischen Antinomien.\nKant hat den in den dynamischen Antinomien auftretenden Re-gressus, speciell mit R\u00fccksicht auf die Causalit\u00e4t, eine \u00bbSynthese des Ungleichartigen\u00ab genannt, ein Ausdruck, der besser zu vermeiden sein d\u00fcrfte, theils weil er bestreitbar ist, theils aber und namentlich weil er zu unzul\u00e4ssigen Anwendungen herausfordert. Er ist bestreitbar, denn die Glieder einer Causalreihe, z. B. die Bewegung einer Masse und der durch sie in einer andern Masse hervorgebrachte Bewegungseffect, sind im gew\u00f6hnlichen Sinne des Worts gleichartige Vorg\u00e4nge. Er fordert zu unzul\u00e4ssigen Anwendungen heraus, weil der Begriff des Ungleichartigen auch die Verbindung solcher Glieder m\u00f6glich erscheinen l\u00e4sst, die niemals verbunden werden d\u00fcrfen. In der That hat ja Kant selbst kein Bedenken getragen das Transscendente als Ursache des Empirischen zu statuiren. Richtig aber bleibt an jener Unter-","page":521},{"file":"p0522.txt","language":"de","ocr_de":"522\nW. Wundt.\nScheidung, dass es sich hier um eine wesentlich andere Art der Synthese handelt als hei Raum und Zeit, die als blo\u00dfe Formen der Ordnung eines gegebenen Inhalts niemals ihre Beschaffenheit \u00e4ndern k\u00f6nnen, und hei denen es daher auch niemals zweifelhaft sein kann, wie \u00fcber eine gegebene Grenze hinaus der Regressus weiter fortgesetzt werden soll. Bei den Begriffen der materiellen Masse und der Causa-lit\u00e4t verh\u00e4lt sich dies anders, weil hier die Synthese an einen empirischen Inhalt gekn\u00fcpft ist, so dass, wenn der Regressus bei einer bestimmten Grenze angelangt ist, er immer nur unter der Bedingung weiter fortgesetzt werden kann, dass uns von den zuletzt aufgefundenen empirischen Thatsachen ein Schluss auf die ferneren Glieder erlaubt ist. Es handelt sich also hier um eine Synthese von empirisch gegebenen Daten aus, ein Vorgang, der \u00fcbrigens immerhin von einer Synthese des empirisch Gegebenen verschieden ist, da die letztere nur dasjenige umfassen w\u00fcrde, was thats\u00e4chlich unserer Erfahrung zug\u00e4nglich ist, w\u00e4hrend jene erstere Synthese auch das mitumfasst, worauf wir aus den in der Erfahrung gegebenen Thatsachen zur\u00fcckschlie\u00dfen k\u00f6nnen. In der That verdanken die dynamischen Antinomien nur unserem logischen Streben, von der Erfahrung aus R\u00fcckschl\u00fcsse zu machen auf das nicht direct der Erfahrung Zug\u00e4ngliche, ihre Existenz ; sie w\u00fcrden nicht vorhanden sein, wenn unser Denken sich dabei beruhigen k\u00f6nnte, nur unsere wirklichen Erfahrungen zu verbinden. Aber letzteres ist schon deshalb nicht m\u00f6glich, weil eine solche Verbindung der unmittelbar gegebenen empirischen Thatsachen gar nicht m\u00f6glich ist, ohne Voraussetzungen zu machen, die auf ein nicht direct Gegebenes zur\u00fcckgehen.\nWenn nun damit den Behauptungen der dynamischen Antinomien engere Schranken gesetzt sind, so ersetzen sie dies aber reichlich durch ihren Inhalt. Mit der unbestimmten Forderung, dass wir die r\u00e4umliche und zeitliche Ausdehnung der Welt \u00fcber jede gegebene Grenze hinaus fortgesetzt denken sollen, ist uns wenig geholfen; wir wollen wissen, wie wir in Bezug auf die Anordnung der Massen und den causalen Zusammenhang diesen Fortschritt vollziehen sollen. Am deutlichsten tritt dieser Vorzug darin hervor, dass die Zukunft des Universums an sich ein v\u00f6llig inhaltsleerer Begriff ist, der erst eine Bedeutung gewinnt, wenn wir vermittelst des Causalprincips aus dem gegebenen Verlauf des Geschehens auf den zuk\u00fcnftigen Schl\u00fcsse ziehen. Hier werden dann","page":522},{"file":"p0523.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t523\naber Vergangenheit und Zukunft logisch einander v\u00f6llig gleichwerthig : wir sagen mit der n\u00e4mlichen Sicherheit voraus, was aus den gegebenen Bedingungen nach mechanischen Gesetzen hervorgehen muss, wie wir diese Bedingungen selbst aus weiter zur\u00fcckliegenden nach den n\u00e4mlichen Gesetzen ableiten.\nWas nun die einzelnen Antinomien betrifft, so erkennt man sofort, dass der Standpunkt der Thesen auch in den Beweisf\u00fchrungen demjenigen der mathematischen Antinomien durchaus entspricht. Die in diesen in Bezug auf die Unendlichkeit des Raumes und der Zeit zur Geltung gebrachten Schwierigkeiten werden auf die im Raume enthaltene Masse und die in der Zeit wirkende Causalit\u00e4t \u00fcbertragen. Nur insofern tritt eine in der physikalischen Natur der Begriffe begr\u00fcndete Erweiterung ein, als bei der Masse der Begriff eines letzten untheilbaren Massetheilchens und bei der Causalit\u00e4t der Ausblick auf den zuk\u00fcnftigen Causalverlauf hinzukommt. In allen diesen Beziehungen schlie\u00dfen aber die Thesen auf eine endliche Begrenzung der Dinge, indem sie sich in den indirecten Beweisf\u00fchrungen wieder des Begriffs einer abgeschlossenen Unendlichkeit bedienen. Wenn nun dieser Begriff schon auf die mathematischen Eigenschaften des Raumes und der Zeit in ihrer Beziehung auf das Weltproblem nicht anwendbar ist, so ist er es selbstverst\u00e4ndlich um so viel weniger auf die physikalischen der Masse und Causalit\u00e4t, deren Feststellung \u00fcberall von den Bedingungen der Erfahrung abh\u00e4ngt. Konnte bei jenen ersteren die M\u00f6glichkeit, in dem abstract mathematischen Gebrauch namentlich des Raumbegriffs unter Umst\u00e4nden eine vollendete Unendlichkeit zu statuiren, zwar nicht als eine Rechtfertigung, aber doch als eine Art von Entschuldigung f\u00fcr den kosmologischen Gebrauch des n\u00e4mlichen Unendlichkeitsbegriffs dienen, so f\u00e4llt hier auch eine solche Entschuldigung fort.\nDagegen lassen sich die Beweisf\u00fchrungen der dynamischen Antithesen nicht ganz mit denjenigen der entsprechenden mathematischen auf eine Linie stellen. Vergleicht man zun\u00e4chst die dritte mit der ersten und die sechste mit der zweiten Antithese, so tritt hier ein wichtiger Unterschied darin hervor, dass bei den mathematischen Antinomien kein Beweis die Grenzen des jeweils behandelten Begriffs \u00fcberschreitet. Die Unendlichkeit der r\u00e4umlichen oder zeitlichen Ausdehnung wird nur aus der Unm\u00f6glichkeit, sich eine r\u00e4umliche oder","page":523},{"file":"p0524.txt","language":"de","ocr_de":"524\nW. Wundt.\nzeitliche Grenze zu denken, erwiesen. Ganz anders verh\u00e4lt sich dies hei der Masse und der zuk\u00fcnftigen Causalit\u00e4t. Hier kann die Unm\u00f6glichkeit einer endlichen Masse sowie einer endlichen Begrenzung der zuk\u00fcnftigen Causalit\u00e4t nur erwiesen werden, indem man zeigt, dass dieselben unter der Voraussetzung eines unendlichen Weltraumes zu Widerspr\u00fcchen f\u00fchren w\u00fcrden. Vergegenw\u00e4rtigt man sich aber, was f\u00fcr eine Art der Unendlichkeit hierbei vorausgesetzt ist, so ergibt sich das merkw\u00fcrdige Resultat, dass dies keineswegs diejenige Unendlichkeit ist, welche der Argumentation der ersten und zweiten Antithese zu Grunde liegt, sondern jene absolute und transfinite Unendlichkeit, deren sich die entsprechenden Thesen bedient hatten. Nur wenn die Welt als ein unendliches r\u00e4umliches und zeitliches Ganze gegeben ist, bleibt es richtig, dass sich ihre Masse bereits ins Unendliche zerstreut haben m\u00fcsste. Die sechste Antithese bedarf zwar keiner absoluten Unendlichkeit der Zeit, um so mehr st\u00fctzt auch sie sich auf die unendliche Totalit\u00e4t des Raumes, der sie, um ihren Gr\u00fcnden mehr Gewicht zu geben, auch noch die Totalit\u00e4t einer unendlichen Masse hinzuf\u00fcgt.\nDie dritte und sechste Antithese st\u00fctzen sich demnach nicht, wie die erste und zweite, auf einen contradictorischen Widerspruch, der einem contr\u00e4ren gleichbedeutend ist, sondern einzig und allein auf einen contr\u00e4ren, der sich \u00fcberdies zwischen zusammengesetzteren Begriffen bewegt. Er lautet: \u00bbDie Welt ist entweder eine endliche Masse in einem gegebenen unendlichen Raum seit gegebener unendlicher Zeit, oder sie ist eine unendliche Masse in einem gegebenen unendlichen Raum seit gegebener unendlicher Zeit\u00ab, und : \u00bbdie Causalit\u00e4t der Welt ist entweder eine endliche in einem gegebenen unendlichen Raum bei gegebener unendlicher Masse, oder sie ist eine unendliche in einem gegebenen unendlichen Raum bei gegebener unendlicher Masse\u00ab. Das Charakteristische dieser Widerspr\u00fcche besteht darin, dass jeder den Unendlichkeitsbegriff zweimal in abweichendem Sinne enth\u00e4lt, der erste die infinite Unendlichkeit der Masse verbunden mit der transfiniten des Raumes und der Zeit, der zweite die infinite Unendlichkeit der Causalit\u00e4t verbunden mit der transfiniten des Raumes und der Masse. Es ist klar, dass hier beide Glieder des Widerspruchs falsch sein k\u00f6nnen und es in der That sind, weil uns eine unendliche Totalit\u00e4t von Raum, Zeit und Masse niemals gegeben","page":524},{"file":"p0525.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t525\nsein kann. Auch, hier hei\u00dft also die L\u00f6sung: die Welt ist weder das eine, noch das andere, weil Raum und Zeit uns immer nur als eine endliche, in Wirklichkeit niemals vollendbare Unendlichkeit aufge-geben sein k\u00f6nnen.\nWesentlich anders verh\u00e4lt es sich mit der vierten und f\u00fcnften Antithese. Jene beweist die unendliche Theilbarkeit der Materie aus der Nothwendigkeit, dass jeder noch so kleine Theil uns durch eine messbare Wirkung gegeben, insofern also noch theilbar gedacht werden m\u00fcsse. Diese beweist einen in unendlicher Vergangenheit liegenden Anfang der Causalit\u00e4t, indem sie zeigt, dass jedes noch so weit entfernte Glied verm\u00f6ge der Eigenschaft des Causalprincips, ein Postulat unseres Denkens zu sein, eine weiter zur\u00fcckliegende Ursache voraussetze. Dort wird also aus dem Begritf der materiellen Masse als des Substrats zu jeder gegebenen Wirkung, hier aus dem Begriff der Causalit\u00e4t als der Form der Verkn\u00fcpfung alles Geschehens in einen durchg\u00e4ngigen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen auf die Unbegrenztheit des Regressus geschlossen.\nNun verdankt jeder der genannten Begriffe einer Wechselwirkung des Denkens und des empirischen Vorstellungsinhaltes seinen Ursprung, welcher von den Entstehungsbedingungen der allgemeinen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit wesentlich abweicht. Alles Vorstellen setzt n\u00e4mlich ein empirisches Substrat voraus. Eine Aussage dar\u00fcber, wie dieses beschaffen sei, ist daher nur innerhalb der Grenzen m\u00f6glich, in denen sich unsere unmittelbaren Erfahrungen sowie die Schlussfolgerungen, die uns dieselben gestatten, bewegen. W\u00e4hrend also die einmal vollzogene Bildung der Raum- und Zeitanschauung uns berechtigt, die r\u00e4umliche und zeitliche Ordnung des Gegebenen \u00fcber jede beliebige durch die Erfahrung gegebene Grenze hinaus auszudehnen, k\u00f6nnen wir immer nur sagen, dass, wo wir uns auch ein vorstellendes Wesen denken m\u00f6gen, ein Substrat gegeben sein m\u00fcsse, welches dasselbe seinen Vorstellungen zu Grunde legt, und auf welches von ihm das Princip der causalen Verkn\u00fcpfung der Erscheinungen angewandt wird. Ueber den Inhalt dieses Substrats und \u00fcber die Beschaffenheit der causalen Verkn\u00fcpfung, insofern sie von diesem Inhalte abh\u00e4ngig ist, verm\u00f6gen wir aber schlechterdings nichts auszusagen. Hierdurch geschieht es, dass der Regressus in Bezug auf Masse und Causalit\u00e4t nicht \u00fcber jede gegebene Grenze hinaus","page":525},{"file":"p0526.txt","language":"de","ocr_de":"526\nW. Wundt.\nin gleichartiger Weise fortgesetzt werden kann wie der des Raumes und der Zeit, sondern immer bei denjenigen Endpunkten stehen bleiben muss, bis zu welchen unsere Schlussfolgerung aus den Daten der Erfahrung zur\u00fcckreicht. Ueber diese Grenzen hinaus geht dieser Re-gressus in den blo\u00df r\u00e4umlichen und zeitlichen \u00fcber, d. h. wir postu-liren eine weitere r\u00e4umliche Ausbreitung oder Theilbarkeit der kosmischen Masse und eine weitere zeitliche Erstreckung der kosmischen Causalit\u00e4t in die Vergangenheit und Zukunft der Zeit ; diese Postulate besitzen aber keinen bestimmten Inhalt mehr, sie f\u00fcgen also zu den in den Antithesen der beiden mathematischen Antinomien ausgesprochenen Forderungen nichts Neues hinzu. Sonach ist der logische Regressus in Bezug auf Masse und Causalit\u00e4t ein von dem r\u00e4umlichen und zeitlichen wesentlich abweichender. Sein Wesen besteht darin, dass er keineswegs \u00fcber jede denkbare Grenze hinaus fortgesetzt werden kann, sondern vielmehr stets bei bestimmten Grenzen stehen zu bleiben gen\u00f6thigt ist, womit sich aber zugleich die allgemeine Forderung verbindet, diese Grenzen blo\u00df als relative zu betrachten, die in der Begrenzung unserer Erfahrungserkenntniss nothwendig begr\u00fcndet sind, und die daher ein fernerer Fortschritt dieser Erkennt-niss m\u00f6glicher Weise zu erweitern im Stande ist. Einen derartigen Regressus k\u00f6nnen wir f\u00fcglich mit dem Kantischen Ausdruck eines \u00bbRegressus in indefinitum\u00ab bezeichnen, wobei wir als den wesentlichen Unterschied desselben von dem Regressus in infinitum den festhalten, dass bei dem letzteren \u00fcber jede gegebene Grenze hinaus der Fortschritt in einer durch die vorangegangene Synthese fest bestimmten Weise fortgesetzt werden kann, w\u00e4hrend bei dem ersteren der Regressus stets bei einer bestimmten Grenze anlangt, \u00fcber die hinaus zwar der weitere Fortschritt als im allgemeinen m\u00f6glich, aber als unbestimmt in Bezug auf seine Art und Weise anerkannt werden muss.\nWenden wir diese Gesichtspunkte auf die Argumente der vierten und f\u00fcnften Antithese an, so tritt sofort der Fehler, dessen sich dieselben schuldig machen, an\u2019s Licht. Es wird hier n\u00e4mlich offenbar jener Regressus in infinitum, der in Bezug auf die r\u00e4umlichen und zeitlichen Eigenschaften der Welt gefordert ist, auch den Begriffen der Masse und Causalit\u00e4t zu Grunde gelegt, f\u00fcr die an sich nur ein Regressus in indefinitum m\u00f6glich ist. In abstracto k\u00f6nnen wir uns","page":526},{"file":"p0527.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\n527\nfreilich jedes materielle Theilchen weiter getheilt denken, weil der Raum, den es durch seine Wirkungen erf\u00fcllt, ins Unendliche theilbar ist ; aber unsere Erfahrungserkenntniss wird immer nur auf gewisse letzte Elemente zur\u00fcckschlie\u00dfen k\u00f6nnen, \u00fcber die hinaus der Regres-sus f\u00fcr uns zu einem v\u00f6llig unbestimmten wird, weil wir erst von jenen Elementen an die empirische Synthesis der Erscheinungen beginnen k\u00f6nnen. Ebenso k\u00f6nnen wir nicht nur, sondern m\u00fcssen wir uns \u00fcber jeden beliebigen Anfangspunkt hinaus den Weltproeess fortgesetzt denken, weil wir uns keinen absoluten Anfangspunkt der Zeit denken k\u00f6nnen. Aber hinsichtlich der Causalit\u00e4t des Geschehens werden wir mit unseren Schlussfolgerungen und Hypothesen immer bei gewissen relativen Anfangszust\u00e4nden stehen bleiben, \u00fcber die hinaus die Causalreihe v\u00f6llig ins Unbestimmte verl\u00e4uft.\nDie vierte und f\u00fcnfte Antithese st\u00fctzen sich demnach auf einen contr\u00e4ren Widerspruch zwischen dem Endlichen und Endlosen, welche Begriffe sie von dem Raum und der Zeit auf die Masse und Causajit\u00e4t \u00fcbertragen. Nun bringt es aber die Abh\u00e4ngigkeit dieser beiden letzteren von der Erfahrungserkenntniss mit sich, dass auf sie selbst jene Gegens\u00e4tze gar nicht angewandt weiden k\u00f6nnen, sondern dass sie unrechtm\u00e4\u00dfiger Weise den Gegens\u00e4tzen des Begrenzten und des Unbegrenzten oder, wie die Bezeichnung auch lauten k\u00f6nnte, des bestimmt Begrenzten und des unbestimmt Begrenzten (definitum und indefinitum) substituirt werden h. Die Materie besitzt eine unbestimmt begrenzte, eben darum aber weder eine endliche noch eine unendliche Theilbarkeit im gew\u00f6hnlichen Sinne, und ebenso\nB Die Ausdr\u00fccke begrenzt und unbegrenzt sind allerdings bis jetzt wohl zumeist anders als in dem hier und im Folgenden gebrauchten Sinne angewandt worden. So nennt Riemann eine Kreislinie endlich aber unbegrenzt, weil in ihr keine bestimmte Grenze angetroffen wird. Aber da hier das Fehlen der Grenze darauf beruht, dass in der Kreislinie ein endloser Fortschritt m\u00f6glich ist, so wird sie von unserem logischen Standpunkte aus dem Begriff des Endlosen (Infiniten) zufallen, das in seiner Totalit\u00e4t gedacht ebensowohl ein Endliches w'ie ein Ueber-endliehes sein kann 'vgl. hier\u00fcber unten Nr. 4). Als unbegrenzt bezeichne ich demnach hier, was keine bestimmte Grenze hat. Darin liegt, dass es bei einer unbegrenzten Gr\u00f6\u00dfe immer einen bestimmten endlichen Werth gibt, der, im Lnterschiede von der infiniten Gr\u00f6\u00dfe, nicht \u00fcberschritten werden kann, ohne dass aber, wie bei der endlichen und begrenzten Gr\u00f6\u00dfe, durch diesen Werth die Gr\u00f6\u00dfe selbst absolut bestimmt wird.\nWandt, Philos. Stadien. II.\t.,-","page":527},{"file":"p0528.txt","language":"de","ocr_de":"528\nW. Wundt.\nist die zur\u00fccklaufende Causalreihe lediglich eine unbestimmt begrenzte, keine unendliche wie die Zeitreihe.\nDie n\u00e4mlichen Gesichtspunkte, die hier in Bezug auf die vierte und f\u00fcnfte Antithese geltend gemacht worden sind, kommen nun aber selbstverst\u00e4ndlich hinsichtlich der dritten und sechsten zur Anwendung, so dass hei ihnen eine doppelte Vertauschung vorliegt, n\u00e4mlich neben der fr\u00fcher hervorgehobenen Einf\u00fchrung des Transfiniten f\u00fcr das Infinite in Bezug auf Zeit und Raum auch noch die Einf\u00fchrung des Infiniten f\u00fcr das Indefinite in Bezug auf Masse und Causalit\u00e4t. Dass in der That in den vier Beziehungen, in welchen die dynamischen Antinomien das kosmologische Problem behandeln, ein solcher Regresses in indefinitum in dem oben festgestellten Sinne gefordert ist, best\u00e4tigt sich an den thats\u00e4chlich existirenden naturwissenschaftlichen Voraussetzungen. Die unendliche Ausdehnung der materiellen Masse verfl\u00fcchtigt sich jenseits der Grenzen der unseren astronomischen H\u00fclfsmitteln sichtbaren Welt ins Unbestimmte, und zahlreiche Voraussetzungen, z. B. auch, wie fr\u00fcher bemerkt, eine solche, bei der die ins Unendliche ausgedehnte Masse der Materie eine endliche Gr\u00f6\u00dfe besitzt, sind hier gleich berechtigt. Die unendliche Theilbarkeit der Materie fristet heut zu Tage nur noch in jenen philosophischen Speculationen, welche die Materie mit dem Raum verwechseln, ihr Dasein. Physik und Chemie bed\u00fcrfen letzter, f\u00fcr unsere H\u00fclfsmittel nicht mehr theilbarer Elemente, m\u00f6gen sie nun Atome oder, wie zuweilen in den Betrachtungen der mathematischen Physik, materielle Punkte, Kraftcentren u. dgl. genannt werden. Aber kein besonnener Physiker oder Chemiker wird behaupten, dass die Atome in abstracto untheilbar seien. Das einzige, was in Frage steht, ist, dass sie thats\u00e4chlich, d. h. f\u00fcr unseren empirischen Re-gressus untheilbar sind. Ein R\u00fcckgang in der Reihe causaler Ver\u00e4nderungen wird ferner f\u00fcr jedes kosmische System \u2014 und f\u00fcr andere als begrenzte Systeme ist der Process undurchf\u00fchrbar \u2014 auf irgend einen Anfangszustand zur\u00fcckkommen, wie f\u00fcr unser Sonnensystem z. B. in den Hypothesen von Kant und Laplace ein solcher vorausgesetzt wird. Niemand wird glauben, dass vor diesem Anfangszustand keine Causalit\u00e4t existirt habe. Im Gegentheil, wir werden sogar voraussetzen, dass die Materie zuvor die n\u00e4mlichen Eigenschaften besessen habe und den n\u00e4mlichen mechanischen Gesetzen unterworfen","page":528},{"file":"p0529.txt","language":"de","ocr_de":"Kaufs kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t529\ngewesen sei wie jetzt, aber unser empirischer Regressus endigt auch hier wieder nothwendig hei einer bestimmten Grenze. Gesetzt, wir w\u00e4ren irgend einmal im Stande, dieselbe zu \u00fcberschreiten, so w\u00fcrde dies doch nur geschehen, um bei einer anderen ebenso fest bestimmten Grenze Halt zu machen. Nicht anders verh\u00e4lt es sich aber schlie\u00dflich mit der Verfolgung der Causalit\u00e4t in die Zukunft der Zeiten. Auch hier sind unsere Voraussagen selbstverst\u00e4ndlich wieder nur f\u00fcr begrenzte Systeme m\u00f6glich. Wenn nun in Bezug auf diese, z. B. in Bezug auf unser Sonnensystem, die mechanische W\u00e4rmetheorie auf einen Stillstand der causalen Ver\u00e4nderungen als auf einen Grenzzustand kommt, dem der Verlauf des Geschehens asymptotisch zustrebt, so ist, selbst wenn \u2014 was an sich nicht unm\u00f6glich ist der Zeitpunkt des Eintritts dieses Zustandes f\u00fcr das Sonnensystem vorausberechnet werden k\u00f6nnte, damit ebenso wenig ein absolutes Weitende wie mit dem Kant\u2019schen Nebelball ein absoluter Weltanfang gesetzt, schon deshalb nicht, weil solche Voraussagen immer nur auf einzelne Systeme sich beziehen k\u00f6nnen und also nicht nur den Verlauf des Geschehens in andern Systemen, sondern auch die aus einem unberechenbaren Her\u00fcberwirken der letzteren etwa entstehenden Ab\u00e4nderungen des angenommenen Processes ganz au\u00dfer Betracht lassen m\u00fcssen. Hier ist ja nicht zu vergessen, dass in Bezug auf Raum und Zeit die Unendlichkeit der Welt f\u00fcr uns ein wirklicher Regressus in infinitum, eben deshalb aber auch die Bedeutung solcher aus dem empirischen Regressus sich ergebender Anfangs- und Endzust\u00e4nde eine blo\u00df relative ist.\nDie L\u00f6sung der vier dynamischen Antinomien besteht sonach darin , dass hinsichtlich d\u00e9r Begriffe von Masse und Causalit\u00e4t unsere Erfahrung dem Regressus in der Reihe der Theile und der Bedingungen stets eine bestimmte endliche Grenze anweist, dass aber diese Grenze verm\u00f6ge der unendlichen Ausdehnung und Theilbarkeit des Raumes und des unendlichen Zeitverlaufs von uns nie als eine letzte Grenze im absoluten Sinne betrachtet werden kann. In der Endlichkeit der so zu Stande kommenden Synthese, zusammengenommen mit d.er aus der mathematischen Natur der Anschauungsformen entsprungenen unbestimmten Forderung eines an sich m\u00f6glichen Ueberschrei-tens der erreichten Grenzen, besteht aber das Wesen des Regressus in indefinitum.\n35*","page":529},{"file":"p0530.txt","language":"de","ocr_de":"530\nW. Wundt.\n4. Die Formen des Endlichen und des Unendlichen.\nDie Aufl\u00f6sung der Antinomien hat ergeben, dass die einander \u25a0widerstreitenden Beweisf\u00fchrungen derselben auf verschiedenen Gestaltungen oder Anwendungen des UnendlichkeitsbegrifFs beruhen, und bei einigen dieser Anwendungen liegt die Bemerkung nahe, dass bei ihnen gar kein wahrer Unendlichkeitsbegriff vorliegt, sondern ein Endliches, das, durch irgend welche Umst\u00e4nde beg\u00fcnstigt, in dem t\u00e4uschenden Gewand des Unendlichen auftritt. So ist jener Eegressus in indefinitum, auf welchen die L\u00f6sung der dynamischen Antinomien hinausf\u00fchrt, offenbar an sich ein endlicher Eegressus, der aber leicht als ein unendlicher erscheint, weil sich mit ihm das Bewusstsein verbindet, die erreichte endliche Grenze sei nur eine relative, \u00fcber die hinaus daher an sich ein weiterer Fortschritt m\u00f6glich ist. So k\u00f6nnen wir \u00fcberhaupt die indefinite Gr\u00f6\u00dfe als eine endliche Gr\u00f6\u00dfe mit der hinzugef\u00fcgten unbestimmten Forderung einer endlosen Zunahme d\u00e9finirai. In \u00e4hnlicher Weise, aber mit noch minderem Eechte, werden in den physikalischen Anwendungen der mathematischen Begriffe das unmessbar Gro\u00dfe und das unmessbar Kleine, z. B. die Entfernung eines Fixsterns oder die Gr\u00f6\u00dfe eines Molec\u00fcls, ohne weiteres dem Unendlichkeitsbegriff subsumirt, obgleich es sich hier nicht einmal um eine indefinite, sondern nur um eine incommensurable endliche Gr\u00f6\u00dfe handelt, d. h. um eine solche, die f\u00fcr unsere Messungsh\u00fclfsmittel zu gro\u00df oder zu klein ist.\nWesentlich anders verh\u00e4lt es sich dagegen mit denjenigen Formen des Unendlichen, die wir oben als das Infinite und Transfinite bezeichnet haben. Beide stehen im innigsten Zusammenh\u00e4nge mit einander und zwar so, dass das Infinite stets die unendliche Gr\u00f6\u00dfe in Bezug auf ihre Entstehung, das Transfinite aber in Bezug auf ihr Sein bezeichnet. So ist die Eeihe der ganzen Zahlen endlos , wenn wir uns ihr wirkliches Durchz\u00e4hlen denken, sie ist \u00fcb er en dl ich, wenn wir uns ihre Summe in einen Begriff zusammengefasst denken. Zwei Parallellinien k\u00f6nnen endlos verl\u00e4ngert werden, ohne sich zu schneiden, aber ihr Durchschnittspunkt liegt im Ueberendlichen. Es l\u00e4sst sich keine Anwendung des letzteren Begriffs denken, wo nicht auch Gelegenheit zur Bildung des ersten gegeben w\u00e4re. Dagegen trifft das Umgekehrte nicht \u00fcberall zu. Vielmehr gibt es zahlreiche F\u00e4lle","page":530},{"file":"p0531.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's kosinologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t531\nendlosen Fortschritts. in denen der Werth, welchem eine Gr\u00f6\u00dfe zustrebt, ein endlicher bleibt. So erreicht die unendliche Reihe b + i + \u00bb \u2022 \u2022 \u2022 \u2022, wenn man sich dieselbe vollendet denkt, nur den endlichen Werth 1. Eine Kreislinie kehrt ins Unendliche in sich selber zur\u00fcck, ohne den Werth 2 7t r jemals zu \u00fcberschreiten. Aehnlich verhalten sich die unendlichen oscillirenden Reihen, wie\n1 \u2014 1 + 1 \u2014 1 + 1 \u2014 1 + 1..............) die sich immer nur zwischen\ngewissen endlichen Maximal- und Minimalwerthen hin- und herbe-w'egen. Der Begriff des Infiniten umfasst also allgemein zwei F\u00e4lle: einen, in welchem der unendliche Fortschritt vollendet gedacht zu einer \u00fcb er endlichen, und einen, in welchem derselbe zu einer endlichen Gr\u00f6\u00dfe f\u00fchrt.\nWenn es nun im ersten dieser F\u00e4lle der abstracten mathematischen Behandlung der Begriffe immer frei steht, vom Infiniten zum Transfiniten \u00fcberzugehen, so ist das Gleiche bei den concreten physikalischen Anwendungen der mathematischen Begriffe keineswegs gestattet. Denn die Erfahrung ist nur dann im Stande, die Gr\u00f6\u00dfe, die aus einem unendlichen Progressus entsteht, in einen Begriff zusammenzufassen, wenn dieselbe einen endlichen Werth besitzt, wenn also der zweite der oben unterschiedenen F\u00e4lle vorliegt. Im ersten dagegen kann sie immer nur zur Forderung eines regressus in infinitum gelangen, und auch dies nur in dem speciellen Fall, wro es sich um die reine Form der Erfahrung handelt, also um den r\u00e4umlichen und zeitlichen Fortschritt ohne jede R\u00fccksicht auf die im Raume gegebenen Objecte und auf die in der Zeit verlaufenden Ereignisse. Sobald dagegen dieser Inhalt der Erfahrung in Frage kommt, so ist selbst dieser infinite Unendlichkeitsbegriff nicht mehr zul\u00e4ssig, sondern es k\u00f6nnen \u00fcberall nur endliche Gr\u00f6\u00dfen auftreten. Diese verwandeln sich aber, sobald die Grenzen der Erfahrung erreicht werden, in scheinbare Unendlichkeiten, deren sich wieder zwei unterscheiden lassen : das Indefinite (Unbegrenzte; und das Incommensurable (Unmessbare).\nDas vollst\u00e4ndige System der Gr\u00f6\u00dfenbegriffe l\u00e4sst hiernach mit R\u00fccksicht auf diese Verh\u00e4ltnisse in folgender Tafel sich darstellen:","page":531},{"file":"p0532.txt","language":"de","ocr_de":"532\nW. Wundt.\nQuantitas\nfinita\tinfmita\ttransfmita\ndefinita\tindefinita\ncommensurabilis\tincommensurabilis\nDie erste Eeihe dieser Tafel enth\u00e4lt einen dreifachen contr\u00e4ren Gegensatz, n\u00e4mlich: 1) das Endliche und das Endlose , 2) das Endlose und das Ueberendliche oder die un vollendbare und die vollendet gedachte Unendlichkeit, und 3) das Endliche und das Ueberendliche oder die vollendet gedachte endliche und die vollendet gedachte unendliche Gr\u00f6\u00dfe. Nun ist das vollendet Denken einer wirklichen Unendlichkeit immer nur in der Form einer begrifflichen Fiction m\u00f6glich. Schon hieraus ergibt sich also die Unm\u00f6glichkeit einer Anwendung des Transfiniten auf das empirische Gebiet. Zugleich besteht diese Fiction in der Anwendung gerade derjenigen Eigenschaft einer Gr\u00f6\u00dfe, welche bei dem Endlichen vorausgesetzt, bei dem Infiniten aber aufgehoben gedacht w\u00fcrd, n\u00e4mlich des Vollendetseins. Der mathematische Begriff des Transfiniten entsteht also, indem der Begriff des Endlichen in das Unendliche her\u00fcbergenommen, das Infinite als ein Finites gedacht wird. Dadurch geschieht es eben, dass sich das Transfinite in einem doppelten contr\u00e4ren Gegens\u00e4tze befindet, zu dem Finiten, insofern es aus einem Infiniten entstanden ist, zu dem Infiniten , insofern es als ein Finites gedacht wird. Aus diesem innigen Zusammenhang der beiden Gestalten des Unendlichkeitsbegriffes ergibt sich aber zugleich , dass es nicht zweckm\u00e4\u00dfig ist, das Infinite als eine falsche Unendlichkeit oder mit G. Cantor als ein uneigentlich Unendliches zu bezeichnen. Mit gr\u00f6\u00dferem Rechte k\u00f6nnte man ja vielleicht das Transfinite ein uneigentlich Unendliches nennen, da es den Begriff des Vollendeten sicherlich vom Endlichen entlehnt hat.\nDagegen wird man das Pr\u00e4dicat einer scheinbaren Unendlichkeit mit Recht auf das Indefinite und das Incommensurable anwenden k\u00f6nnen, welcher letztere Ausdruck \u00fcbrigens hier in einem von der gew\u00f6hnlichen arithmetischen Bedeutung abweichenden allgemeineren Sinne genommen ist, indem er das unmessbar Gro\u00dfe und das un messbar Kleine bezeichnen soll. Beide sind ein In-","page":532},{"file":"p0533.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit. 533\ncommensurables, insofern sie sich unsern von bestimmten empirischen Bedingungen abh\u00e4ngigen Messungsh\u00fclfsmitteln entziehen. Das Indefinite wird immer zugleich f\u00fcr uns ein Incommensurables sein, obgleich an sich beide Eigenschaften von einander unabh\u00e4ngig sind, und daher streng genommen in unserer Tafel die indefinite Gr\u00f6\u00dfe, gleich der definiten, noch einmal in eine messbare und eine unmessbare einge-theilt werden k\u00f6nnte. Dagegen geh\u00f6ren die gew\u00f6hnlichen F\u00e4lle des Incommensurabeln durchaus dem Gebiet begrenzter Gr\u00f6\u00dfen an. V on einem Fixstern z. B., dessen Entfernung wir unmessbar gro\u00df nennen , w\u00fcrden wir nicht sagen k\u00f6nnen, er sei in unbegrenzter Ferne, wogegen wir irgend einen Anfangszustand unseres Weltsystems als einen der Causalit\u00e4t nach unbegrenzten voraussetzen, weil es uns nicht m\u00f6glich ist, \u00fcber einen ihm vorausgegangenen Zustand irgend etwas auszusagen. Ebenso werden wir die Atome nicht nur unmessbar klein, sondern unbegrenzt klein nennen k\u00f6nnen , weil wir von weiter zur\u00fcckliegenden materiellen Elementen gar keine Kennt-niss besitzen.\nVergegenw\u00e4rtigt man sich nun unter Festhaltung dieser Gesichtspunkte die F\u00e4lle , in denen einerseits die beiden wahren Unendlichkeiten, das Infinite und Transfinite, und anderseits die beiden scheinbaren, das Indefinite und Incommensurable, Vorkommen, so ergibt sich leicht, dass das einzige Gebiet der beiden ersteren Begriffe das rein mathematische , und dass das ebenso ausschlie\u00dfliche Gebiet der beiden letzteren Begriffe das physische ist. Der Begriff des Infiniten reicht genau so weit in das physische Gebiet her\u00fcber, als hier die mathematischen Formen des Baumes und der Zeit zur Geltung kommen. Andererseits haben aber auch die Begriffe des Indefiniten und Incommensurabeln in der reinen Mathematik keine St\u00e4tte ; das Incommensurable im mathematischen Sinne f\u00fchrt in AVahrheit auf den Begriff des Infiniten zur\u00fcck. Doch wie vermittelst der Baum- und Zeitform der mathematische Unendlichkeitsbegriff auf das Physikalische her\u00fcb erwirkt, so gewinnt andererseits verm\u00f6ge der physikalischen Anwendungen der Mathematik das Indefinite und Incommensurable seinen Einfluss auf die mathematische Untersuchung. Gerade die Infinitesimalmethode hat ihre wichtigsten Impulse von der Bearbeitung physikalischer Probleme empfangen, bei denen es sich lediglich um solche scheinbare Unendlichkeiten handelt. Trotzdem wird","page":533},{"file":"p0534.txt","language":"de","ocr_de":"534\nW. Wundt.\ndurch diese Einwirkungen die Natur der mathematischen Unendlichkeitshegriffe in keiner Weise alterirt. Denn die Mathematik vermag jene physikalischen Scheinbegriffe des Unendlichen nur zu assimili-ren, indem sie dieselben in wahre Unendlichkeitsbegriffe um wandelt. So viel es also auch die Differentialrechnung in ihren physikalischen Anwendungen mit unbegrenzten und namentlich mit unmessbaren, aber darum doch endlichen Gr\u00f6\u00dfen zu thun hat, sie wendet auf sie alle den n\u00e4mlichen Begriff des Infiniten an, dessen sie sich f\u00fcr mathematische Probleme, bei denen es sich um wahre Unendlichkeiten handelt, bedient.\nHat aber auch diese Wechselwirkung auf den Geist der mathematischen Methode keinen Einfluss gewinnen k\u00f6nnen, so hat sich ein solcher um so mehr in der Darstellungsweise geltend gemacht. Noch heute sind uns mathematische Anwendungen und selbst Begr\u00fcndungen der Differentialrechnung gel\u00e4ufig, in denen die Infinitesimalgr\u00f6\u00dfen wie endliche, aber unmessbar oder unbegrenzt kleine Gr\u00f6\u00dfen behandelt werden. Darin liegt eine v\u00f6llige Umkehrung der thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisse. W\u00e4hrend in Wirklichkeit die mathematische Behandlung jene der Physik entlehnten scheinbaren Unendlichkeitsbegriffe in wahre umwandelt, werden hier gelegentlich den wahren Unendlichkeitsbegriffen der Geometrie und Arithmetik blo\u00df scheinbare substituirt. Die Quelle dieser Vertauschungen liegt aber nicht blo\u00df in den physikalischen Anwendungen des Calculs, sondern wahrscheinlich in nicht geringerem Grade in den Wechselbeziehungen der beiden wahren Unendlichkeitsbegriffe zu einander und in der Verwandtschaft, welche, wie oben bemerkt, das Transfinite mit dem Endlichen besitzt. Die Infinitesimalmethode kann den Begriff des Infiniten nur zum Behuf der Rechnung fixiren, indem sie den infiniten Process als vollendet betrachtet, also streng genommen dem Infiniten das Transfinite substituirt. Wir sind in diesem Fall nur deshalb geneigt diese Substitution zu \u00fcbersehen, weil sie vorzugsweise im Gebiet des unteren Unendlichkeitsbegriffs stattfindet, wo das Infinitesimalsymbol ebenso gut im Sinne einer unendlich zu denkenden Abnahme einer gegebenen Gr\u00f6\u00dfe wie im Sinne des bereits vollzogenen Processes dieser Abnahme gedacht werden kann. Hier f\u00e4llt n\u00e4mlich ein wesentlicher Unterschied des Infiniten und Transfiniten, der beim oberen Unendlichkeitsbegriff stattfindet, v\u00f6llig hinweg. Er besteht darin, dass das","page":534},{"file":"p0535.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's Kosmoloo'ische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit,\n535\nunendlich Gro\u00dfe im. Sinne des Infiniten keine von seinem eigenen Wachsthum unabh\u00e4ngige Zunahme gestattet, w\u00e4hrend zu der abgeschlossenen Unendlichkeit beliebige weitere endliche oder unendliche Gr\u00f6\u00dfen hinzugef\u00fcgt werden k\u00f6nnen. Aber schon die Fixirung des Grenzbegriffs in einem bestimmten Symbol schlie\u00dft eigentlich die Thatsache in sich, dass man sich den Process vollendet denkt, und insofern kann man also die Infinitesimalmethode \u00fcberhaupt auf diesen Kunstgriff der Substitution des vollendeten an Stelle des unvollend-baren Unendlichkeitsbegriffs zur\u00fcckf\u00fchren. Da nun der Begriff des Vollendetseins nirgend anders als von der endlichen ..Gr\u00f6\u00dfe hergenommen ist, so ist dadurch jene Verwechslung des Endlichen mit der vollendeten Unendlichkeit, welche die gew\u00f6hnlichen Darstellungen der Infinitesimalmethode begehen, nahe gelegt.\nDie Schwierigkeiten, welche die Existenz der verschiedenen Unendlichkeitsbegriffe in ihrer Anwendung auf das kosmologische Problem mit sich f\u00fchren, hat man bekanntlich dadurch zuweilen zu umgehen gesucht, das-j man die Voraussetzungen \u00fcber die Form des Raumes und eventuell auch der Zeit im Sinne der so genannten nichteuklidischen Geometrie \u00e4nderte, indem ein positives constantes Kr\u00fcmmungsma\u00df desselben, welches aber erst jenseits der uns zug\u00e4nglichen Beobachtungsgrenzen merkbar werde, angenommen wurde. Da jene Schwierigkeiten, wie die Discussion der kosmologischen Antinomien gezeigt hat, lediglich in der Einf\u00fchrung des hier nicht zul\u00e4ssigen transfiniten Unendlichkeitsbegriffs ihre Quelle haben, so wird damit jener Aush\u00fclfsversuch an sich zwecklos. Sobald wir uns auf den Boden des infiniten \u00dcnendlichkeitsbegriffes begeben, wird der Schluss auf irgend welche unendliche Endeffecte, den man aus der Unendlichkeit des Raumes ziehen m\u00f6chte, deshalb hinf\u00e4llig, weil zur Herbeif\u00fchrung solcher Effecte eine unendliche, d. h. nie zu durchlaufende Zeit erforderlich sein w\u00fcrde ; und der Schluss auf irgend welche den Verlauf des Geschehens unm\u00f6glich machende Endzust\u00e4nde, den man aus der Unendlichkeit der Zeit ziehen m\u00f6chte, wird dadurch beseitigt, dass die Unendlichkeit des Raumes solche Enderfolge abermals \u00fcber jede wirklich zu erreichende Grenze hinausr\u00fcckt. Der infinite Unendlichkeitsbegriff f\u00fchrt also nur dann zu Schwierigkeiten, wenn man bei unendlichem Zeitverlauf den Raum endlich annimmt, wie dies gerade","page":535},{"file":"p0536.txt","language":"de","ocr_de":"536\nW. Wundt.\nvon Seiten jener transscendenten Hypothese geschieht. Der Haupteinwand gegen dieselbe liegt aber weder hierin noch in den physikalischen Schwierigkeiten, in die sie verwickelt.1) Der entscheidende Punkt ist vielmehr der, dass sie auf einer unhaltbaren Auffassung \u00fcber das Wesen des Raumes beruht. Der Raum ist die Form, in welche unser Bewusstsein die Objecte der Au\u00dfenwelt ordnet. Die Gerade ist kein au\u00dfer uns liegender Gegenstand, den wir als Ma\u00dfstab an die Dinge anlegen k\u00f6nnen, sondern eine Constructionslinie, die wir seihst ziehen, die in der abstracten und exacten Form, in der wir sie als Messungs-h\u00fclfsmittel verwenden, in gar keiner \u00e4u\u00dferen Erfahrung vorkommt, ja die nicht einmal als Abstraction von \u00e4u\u00dferen Objecten m\u00f6glich ist, weil keine Abstraction Eigenschaften zuriickbehalten kann, die in\n1) Ich habe in meinem fr\u00fcheren Aufsatze \u00fcber das kosmologische Problem namentlich zwei solche Schwierigkeiten hervorgehoben : Erstens w\u00fcrde im sph\u00e4rischen Raum zwar ebenso wie im Euklidischen nach Riemann\u2019s Bemerkung Unabh\u00e4ngigkeit der K\u00f6rper vom Ort existiren, aber es w\u00fcrden auf sehr gro\u00dfe Entfernungen hin zwei Punkte eines in einfachster Richtung bewegten K\u00f6rpers nicht mehr einander parallele Linien beschreiben, die Lichtstrahlen w\u00fcrden nicht mehr geradlinig, sondern in gekr\u00fcmmten Bahnen sich fortpflanzen u. dgl. Ich habe hiergegen eingewandt, dass, so lange unsere eigene Raumanschauung unge\u00e4ndert bleibe, wir solche Ver\u00e4nderungen immer nur auf die Materie im Raum, also auf Ver\u00e4nderungen in den physikalischen Eigenschaften der K\u00f6rper, in den Gesetzen der Lichtfortpflanzung, nicht aber auf den Raum selbst beziehen k\u00f6nnten. Darauf ist verschiedentlich bemerkt worden, unsere Raumanschauung m\u00fcsse selbstverst\u00e4ndlich an1 den Ver\u00e4nderungen des \u00e4u\u00dferen Raumes Theil nehmen. Hierin aber finde ich gerade das Ungeheuerliche und eb n darum, wenn man will, das Unwiderlegbare dieser Annahme. Denn wenn Jemand behauptet, wir k\u00f6nnten unter Umst\u00e4nden dazu veranlasst werden, die Gerade nicht mehr als H\u00fclfsmittel der Messung von Entfernungen im Raum zu verwenden, so l\u00e4sst sich dagegen ungef\u00e4hr ebenso wenig sagen als gegen die Hypothese, dass in irgend welchen Theilen der Welt m\u00f6glicher Weise der Satz A \u2014 A seine G\u00fcltigkeit verliere. Zweitens habe ich darauf hingewiesen, dass das Streben, die wirkliche Welt zum Restph\u00e4nomen einer transscendenten unerfahrbaren Welt zu stempeln, insbesondere auch in der nothwendig werdenden Annahme von unendlichen Gravitationswirkungen eines K\u00f6rpers auf sich selbst seinen Ausdruck finde, die sich \u00fcbrigens compensiren, da sie nach allen m\u00f6glichen Richtungen gehen. Hiergegen hat Kurd Lasswitz bemerkt, nach dem Newton\u2019schen Gesetz entspr\u00e4chen diese Wirkungen einer convergirenden Reihe, seien also mindestens nicht unendlich. Unter der Voraussetzung, dass im sph\u00e4rischen Raum das Newton\u2019sche Gesetz gilt, habe ich hiergegen nichts einzuwenden; aber diese Voraussetzung finde ich mindestens willk\u00fcrlich. Denn wir haben allen Grund, anzunehmen, dass die Fortpflanzung der Kr\u00e4ftewirkungen im Raum von der Beschaffenheit des Raumes abh\u00e4ngt, und dass also das Newton\u2019sche Gesetz, \u00e4hnlich wie die analoge Fortpflanzung von Licht, Schall u. s. w., an den dreidimensionalen ebenen Raum gebunden ist.","page":536},{"file":"p0537.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\t537\nkeinem der Objecte, auf die sie sich bezieht, verwirklicht sind. Hierin verr\u00e4th sich eben der subjective, lediglich die Einwirkung von Empfindungen auf unser Bewusstsein voraussetzende Ursprung des Raumes wie der Zeit, in welchem zugleich der Grund liegt, dass in Bezug auf diese Anschauungsformen das kosmologische Problem auf einen endlosen, nicht blo\u00df auf einen unbegrenzten Regressus zur\u00fcck-fiihrt.\nHierin verh\u00e4lt es sich wesentlich anders mit dem Begriff der Materie. Er ist nicht an die Form, sondern an den specifischen Inhalt unserer Erfahrung gebunden, und nur deshalb, weil nach den Gesetzen unserer Anschauung die Vorstellung einer Weltgrenze unvollziehbar ist, wird uns auch eine endlich begrenzte Ausdehnung der Welt undenkbar. W\u00fcrde aber das Gesetz der Vertheilung der Massen uns zu dem Schl\u00fcsse f\u00fchren, die Menge der Materie im unendlichen Weltraum sei von endlicher Gr\u00f6\u00dfe, so w\u00fcrde dies an sich nicht im geringsten undenkbar sein. Damit soll selbstverst\u00e4ndlich eine solche Hypothese nicht als die wahrscheinlichste empfohlen, sondern es soll an dieser Consequenz nur der wesentliche Unterschied des indefiniten vom infiniten Regressus, wie er \u00e4hnlich auch in Bezug auf die cau-salen Anfangs- und Endzust\u00e4nde des Universums besteht, verdeutlicht werden. >) Wahrscheinlich werden uns immer die H\u00fclfsmittel fehlen, um zwischen dieser und irgend einer anderen der m\u00f6glichen Hypothesen zu entscheiden. Denn sobald entweder ein festes Gesetz der Vertheilung der Massen nicht existirt oder aber ein solches erst\n1) Von Kurd Lasswitz (Vierteljahrssehr. f. wiss. Phil. I S. 314) ist behauptet worden, eine derartige Annahme \u00fcber die Masse der Materie schlie\u00dfe eine vollendete Unendlichkeit ein. Dies beruht, wie ich glaube, auf einem Missverst\u00e4ndniss. Ich behaupte selbstverst\u00e4ndlich nicht, dass es f\u00fcr uns m\u00f6glich sei, den r\u00e4umlichen Regressus in infinitum, der erforderlich w\u00e4re, damit ein solches Gesetz als Thatsache der Beobachtung gelte, zu vollenden, sondern ich behaupte nur, dass m\u00f6glicher Weise in den unserer Beobachtung zug\u00e4nglichen Grenzen ein Gesetz der Vertheilung sich heraussteilen k\u00f6nnte, welches, unter Voraussetzung seiner G\u00fcltigkeit, \u00fcber diese Grenzen hinaus eine endliche Masse im unendlichen Raume ergeben w\u00fcrde. Es w\u00fcrde dann ein solches Gesetz auf einer \u00e4hnlichen Schlussfolgerung beruhen, wie die Folgerungen in Bezug auf den causalen Anfangs- und Endzustand derWelt. Nat\u00fcrlich gebe ich zu, dass ein solcher Schluss auch insofern immer hypothetisch bleiben w\u00fcrde, als er den Fortschritt jenseits der Erfahrungsgrenzen nach dem n\u00e4mlichen Gesetz denkt wie innerhalb derselben. Aber mutatis mutandis k\u00f6nnen solche hypothetische Elemente auch bei jenen Voraussetzungen \u00fcber die Anfangs- und Endzust\u00e4nde nicht entbehrt werden.","page":537},{"file":"p0538.txt","language":"de","ocr_de":"538 W. Wundt, Kant\u2019s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit.\nin einer die Grenzen unserer Beobachtung weit \u00fcbersteigenden Entfernung nachweisbar sein w\u00fcrde, so wird die Grenze f\u00fcr unseren indefiniten materiellen Weltbegriff lediglich mit der durch die directen astronomischen H\u00fclfsmittel erreichbaren Grenze zusammenfallen. Ein Argument zu Gunsten einer endlichen Masse der Materie oder mindestens einer Yertheilung derselben, falls sie unendlich sein sollte, um einen Punkt der gr\u00f6\u00dften Dichte, lie\u00dfe sich allerdings aus dem in der Thesis der dritten Antinomie betonten Erforderniss eines Massenmittelpunktes hernehmen. Aber es l\u00e4sst sich dem Begriff der Gravitation, selbst ohne seinen heute g\u00fcltigen empirischen Inhalt zu \u00e4ndern, leicht eine Form geben, bei welcher der in der gew\u00f6hnlichen Formu-lirung des Gravitationsgesetzes liegende Widerspruch verschwindet. Wir sind n\u00e4mlich offenbar nicht berechtigt zu sagen, dass die Gravitation keine Zeit zu ihrer Fortpflanzung bed\u00fcrfe, sondern nur, dass diese Zeit f\u00fcr den unserer Beobachtung zug\u00e4nglichen Theil der Welt verschwindend klein sei. Geben wir dem Begriff diese Form, so verschwindet einerseits aus ihm der empirisch unvollziehbare Gedanke der vollendeten Unendlichkeit, und andererseits ist damit zugleich die Forderung, nach einem Massenmittelpunkt auch der unserer Beobachtung entr\u00fcckten Materie zu suchen, beseitigt, da wir nicht wissen k\u00f6nnen, ob hier die Fortpflanzungszeit der Gravitation nicht endliche oder schlie\u00dflich selbst relativ unendliche Werthe erreicht.","page":538}],"identifier":"lit685","issued":"1885","language":"de","pages":"495-538","startpages":"495","title":"Kant\u2018s kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:23:45.705741+00:00"}