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{"created":"2022-01-31T13:00:25.650334+00:00","id":"lit696","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 3: 195-215","fulltext":[{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Begriff des Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze.\nVon\nW. Wundt.\nW\u00e4hrend in der \u00e4lteren Grammatik neben der \u00bbRegel\u00ab bekanntlich die \u00bbAusnahme\u00ab als deren selbstverst\u00e4ndliche Erg\u00e4nzung nicht zu fehlen pflegte, ist in der neueren Sprachwissenschaft das Streben entstanden, auch auf die sprachlichen Erscheinungen jenen strengeren Begriff des Gesetzes anzuwenden, der in der Naturwissenschaft Geltung besitzt, und bei welchem man die Statuirung zuf\u00e4lliger Ausnahmen nicht f\u00fcr zul\u00e4ssig h\u00e4lt. Aber da viele Linguisten ein solches Unternehmen als verfr\u00fcht oder selbst als unvereinbar mit dem Wesen der Sprache ansehen, so ist aus dieser Frage ein Streit erwachsen, dessen Ende gegenw\u00e4rtig noch kaum abzusehen scheint. Handelt es sich doch bei demselben nicht sowohl um Thatsachen, \u00fcber deren Existenz oder Nichtexistenz die Erfahrung entscheiden k\u00f6nnte, als vielmehr um Voraussetzungen und Forderungen, \u00fcber deren Berechtigung man sehr verschiedener Meinung sein kann. Eben deshalb hat aber dieser Streit au\u00dfer seinem fachwissenschaftlichen noch ein allgemeineres logisches Interesse. Es ist ausschlie\u00dflich das letztere, welches in den folgenden Er\u00f6rterungen in Betracht gezogen werden soll. Dieselben vermeiden es daher absichtlich, auf die thats\u00e4chlichen Streitpunkte einzugehen, die dabei als Nebenmomente mitwirken. Nur das allgemein und von beiden Seiten Anerkannte soll hier als g\u00fcltig vorausgesetzt werben. Dass sich der Streit auf die Lautgesetze der Sprache beschr\u00e4nkt, hat theils in der gr\u00fcndlicheren Durchforschung\nWundt, Philos. Studien. III.\t14","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nW. Wundt.\ndieses Gebietes, theils aber auch darin seinen Grund, dass der Laut in Folge seiner Abh\u00e4ngigkeit von der physischen Beschaffenheit der Sprachorgane vorzugsweise jener Naturseite des sprachlichen Lebens angeh\u00f6rt, auf welche eine Anwendung naturwissenschaftlicher Prin-cipien nahe zu liegen scheint. Immerhin wird man annehmen d\u00fcrfen, dass das Bestreben, den Lautgesetzen \u00bbAusnahmslosigkeit\u00ab zu sichern, in einer allgemeineren Tendenz ihre Quelle hat, welche die Sprache \u00fcberhaupt als ein Naturproduct ansehen m\u00f6chte. Z\u00e4hlt man auch kaum mehr mit August Schleicher geradezu die Sprachwissenschaft zu den Naturwissenschaften, so glaubt man doch an einer gewissen methodischen Verwandtschaft mit den letzteren festhalten zu d\u00fcrfen.\nNun ist der Begriff des Gjesetzes bekanntlich auf geistigem Gebiet entstanden. Das Alterthum kennt den Ausdruck \u00bbGesetz\u00ab, \u00bblex\u00ab, nur innerhalb der b\u00fcrgerlichen Rechtsordnung, wo durch denselben das ausdr\u00fccklich festgestellte Recht von den stillschweigend befolgten Normen der Sitte und Gewohnheit geschieden wird. H\u00f6chstens als gelegentliche Metaphern werden f\u00fcr die Einrichtungen der Natur \u00e4hnliche Ausdr\u00fccke verwandt.1) Erst in der neueren Naturwissenschaft hat sich der stehend gewordene Gebrauch des Wortes \u00bbNaturgesetz\u00ab (lex naturalis) allm\u00e4hlich ausgebildet. Noch bei Copernicus und Kepler pflegt die \u00bbHypothese\u00ab die Stelle des sp\u00e4teren Gesetzes einzunehmen. Galilei bezeichnet die fundamentalen Naturgesetze als \u00bbAxiomata\u00ab, die abgeleiteten als \u00bbTheoremata\u00ab, folgt also dem mathematischen Sprachgebrauch. Erst Descartes er\u00f6ffnet seine Naturphilosophie mit der Aufstellung gewisser \u00bbRegulae sive leges naturae\u00ab, und bei Newton endlich scheidet sich die Regel als ein blo\u00df methodologisches Forschungsprincip von dem Gesetz als einer die Naturerscheinungen beherrschenden Norm : im Eingang der mathematischen Principien formulirt er seine drei \u00bbAxiomata sive leges motus\u00ab, der Untersuchung des Weltsystems im dritten Buch schickt er seine drei \u00bbRegulae philosophandi\u00ab voran. Der haupts\u00e4chlichste Beweggrund f\u00fcr die Einf\u00fchrung des neuen Begriffs war sichtlich der Wunsch, innerhalb der wissenschaftlichen Darstellung von den \u00bbAxio-\n1) So, wie Eucken (Gesch. der philos. Terminologie S. 51) bemerkt, der Ausdruck \u00bbfoedera naturae\u00ab bei Luerez.","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"(Jeb. d. Begriff d. Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage d. Ausnahmslosigkeit d. Lautges. 197\nmen\u00ab, als Grunds\u00e4tzen von blo\u00df abstracter Bedeutung und rein mathematischem Erkl\u00e4rungswerth, diejenigen S\u00e4tze zu unterscheiden, denen man eine objective G\u00fcltigkeit in der Natur zuschrieb. Der so entstandene Begriff der \u00bblex naturalisa hat demnach in dieser ersten Periode seiner Ausbildung mit dem mathematischen Axiom die prin-cipielle Natur gemein; aber er unterscheidet sich dadurch, dass er nicht durch unmittelbare Intuition, wie etwa der Satz, dass zwei Gr\u00f6\u00dfen, die einer dritten gleich sind, auch einander gleichen, sondern nur dadurch sich bew\u00e4hrt findet, dass alle Erfahrungen mit ihm im Einklang stehen. In diesem Sinne bedient sich namentlich Newton des Ausdrucks. Die aus den principiellen S\u00e4tzen abgeleiteten dagegen bezeichnet er als Theoreme, \u00fcbereinstimmend mit den mathematischen Lehrs\u00e4tzen, oder, wenn dieselben einen concreten Charakter besitzen, als Ph\u00e4nomene (Erscheinungen).\nDiese Beschr\u00e4nkung ist nun sp\u00e4ter nicht mehr festgehalten worden. Der Ausdruck \u00bbGesetz\u00ab hat sich vielmehr einerseits allm\u00e4hlich auf das Einzelne und Concrete, auf die Lehrs\u00e4tze und Erscheinungen der Newton\u2019schen Naturlehre, andererseits aber auch auf das v\u00f6llig Abstracte und Mathematische ausgedehnt. So reden wir heute nicht blo\u00df von dem Beharrungsgesetz, welches schon Newton ein Gesetz nannte, sondern wir geben dem Gravitationsgesetz und den Kepler\u2019schen Gesetzen ebenfalls diesen Namen, w\u00e4hrend Newton das erstere als Theorem, die letzteren als \u00bbErscheinungen\u00ab bezeichnete. Andererseits reden wir von Zahlgesetzen und von geometrischen Gesetzen, wo die \u00e4ltere Zeit nur von Axiomen, Postulaten und Lehrs\u00e4tzen gesprochen haben w\u00fcrde. Der Begriff der \u00bblex naturalis\u00ab hat sich so allm\u00e4hlich, indem er sich des Attributs der Natur entledigte, \u00fcber alle m\u00f6glichen Gebiete ausgedehnt, in denen eine Regelm\u00e4\u00dfigkeit allgemeing\u00fcltiger Art zu bemerken ist, mag es sich dabei um S\u00e4tze von principieller oder von abgeleiteter Art oder selbst um solche concrete aber regelm\u00e4\u00dfige Erscheinungen handeln, f\u00fcr die eine principielle Ableitung bis dahin nicht m\u00f6glich ist. Das letztere pflegen wir durch den speciellen Ausdruck \u00bbempirisches Gesetz\u00ab anzudeuten, welcher darauf hinweisen soll, dass die betreffenden Formulirungen blo\u00df den speciellen Erfahrungen, auf die sie sich beziehen, entnommen sind, eine Erkl\u00e4rung aus Principien, die ein gr\u00f6\u00dferes Erfahrungsgebiet beherrschen, also nicht zulassen. Nachdem er diese etwas unbestimmte Bedeutung an-\n14*","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nW. Wundt.\ngenommen, ist dann der Ausdruck \u00bbGesetz\u00ab auch auf das geistige Gebiet \u00fcbertragen worden, von dem er dereinst durch metaphorische Entlehnung genommen war. Dabei hat aber diese Uebertragung wieder in weitester Ausdehnung stattgefunden. Wir reden heute von psychologischen, logischen, ethischen, historischen , socialen Gesetzen, \u2014 kurz, es gibt keine Region des geistigen Lebens mehr, auf die der Ausdruck nicht Anwendung finden k\u00f6nnte oder gelegentlich einmal Anwendung gefunden h\u00e4tte. Selbst das scheinbar Unregelm\u00e4\u00dfigste, wie die Mode oder das Schwanken der B\u00f6rsencurse, muss es sich zuweilen gefallen lassen, dass man von seinen Gesetzen rede.\nEs konnte nicht ausbleiben, dass diese zu etwas vager Unbestimmtheit herangereifte Bedeutung des Begriffs allm\u00e4hlich Iteac-tionen hervorrief, die sich gegen seine Anwendung richteten. Solche Beactionen sind ebensowohl aus dem Kreise der Naturforscher wie aus dem der Vertreter der Geisteswissenschaften laut geworden. Dabei sind aber die von beiden Seiten geltend gemachten Einw\u00e4nde und die Gr\u00fcnde, aus denen man den gangbar gewordenen Namen zu beseitigen w\u00fcnscht, von sehr verschiedener Art. Auf naturwissenschaftlicher Seite erregt es Ansto\u00df, dass der Ausdruck \u00bbGesetz\u00ab eine Metapher sei, welche die Vorstellung einer Einsicht in Naturgeheimnisse erwecken k\u00f6nnte, die wir thats\u00e4chlich nicht besitzen. Man hebt hervor , dass das Einzige was wir erkennen Thatsachen, Erscheinungen seien, die wir m\u00f6glichst exact beschreiben sollen. Von diesen Thatsachen Kr\u00e4fte und Gesetze als ihre Ursachen zu unterscheiden, \u00e4hnlich etwa wie wir von dem einzelnen Strafvollzug das Strafgesetz trennen, sei unzul\u00e4ssig, weil uns eben in jenem Fall nur die einzelnen Thatsachen selber gegeben sind. Blo\u00df als H\u00fclfsbegriffe, die zur Abk\u00fcrzung der Beschreibung der Erscheinungen dienen, will man daher die Ausdr\u00fccke \u00bbKraft\u00ab und \u00bbGesetz\u00ab noch gelten lassen. \u00bbWenn die Wissenschaft weiter fortschreitet\u00ab, sagt P. G. Tait, \u00bbso steht auch aller Wahrscheinlichkeit nach der Kraft das Schicksal bevor, dahin verwiesen zu werden, wo schon die krystallenen Planetensph\u00e4ren, die vier Elemente, der W\u00e4rme- und Lichtstoff, das elektrische Fluidum und das Od Aufnahme gefunden haben.\u00ab Mit der Kraft w\u00fcrde selbstverst\u00e4ndlich auch das \u00bbGesetz\u00ab aus der Wissenschaft verschwinden. Denn die Naturgesetze definirt man als \u00bbdie von uns","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. (1. Begriff d. Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage d. Ausnahmslosigkeit d. Lautges. 199\nerkannten Wirkungsweisen der Naturkr\u00e4fte\u00ab, und die Kr\u00e4fte hinwiederum als die \u00bbobjectivirten Naturgesetze\u00ab. ')\nGanz verschieden davon sind die Gesichtspunkte, von denen aus die Vertreter der Geschichte, Sociologie, Linguistik die Verpflanzung des Begriffs \u00bbGesetz\u00ab in diese Wissenschaften f\u00fcr bedenklich erkl\u00e4ren. Ein Gesetz, so sagt man hier, ist der Ausdruck f\u00fcr eine constante Verbindung von Ursachen und Wirkungen. Von einem Gesetz l\u00e4sst sich daher nur reden, wo die Ursachen wie die Wirkungen beide genau bekannt und wom\u00f6glich der Messung zug\u00e4nglich sind, und wo \u00fcberdies die Wirkung mit unab\u00e4nderlicher Regelm\u00e4\u00dfigkeit der Ursache nachfolgt. Der Begriff des Gesetzes in diesem Sinne hat aber offenbar nur innerhalb der exacten Naturwissenschaften seine Stelle; au\u00dferhalb derselben ist seine Anwendung eine missbr\u00e4uchliche. Regelm\u00e4\u00dfigkeiten, deren Ursachen wir nicht kennen, oder Regeln, bei denen wir Ausnahmen statuiren m\u00fcssen, haben wir nicht das Recht Gesetze zu nennen. Da aber das Eine oder Andere bei den geistigen Gesetzen durchweg der Fall ist, so ist die Uebertragung des Begriffs der Naturgesetze auf das geistige Gebiet eine unzul\u00e4ssige : Man sollte hier nur von mehr oder weniger regelm\u00e4\u00dfigen Thatsachen statt von Gesetzen sprechen.1 2) Der Naturforscher m\u00f6chte also das Gesetz als eine \u00bbungl\u00fcckliche Metapher\u00ab wieder dahin zur\u00fcckschieben, woher es entlehnt ist ; der Historiker und Philologe m\u00f6chten es ganz und gar der Naturwissenschaft \u00fcberantworten. Beide w\u00fcrden mit dem gelegentlich von J. St. Mill gemachten Vorschlag, die niederen complexen Gleichf\u00f6rmigkeiten als blo\u00dfe \u00bbGesetze\u00ab, die fundamentaleren von universeller Geltung dagegen als \u00bbNaturgesetze\u00ab zu bezeichnen, schwerlich einverstanden sein.3) In der That hat dieser Compromissvor-schlag vielleicht nicht mehr Aussicht auf Erfolg als der Versuch, jene Ausdr\u00fccke ganz zu verbannen. Mag menschlicher Wille noch so sehr an der Feststellung unserer wissenschaftlichen Terminologie mitgewirkt haben, wo einmal ein Ausdruck eingeb\u00fcrgert ist wie hier, so dass selbst die, welche ihn bek\u00e4mpfen, kaum umhin k\u00f6nnen ihn gelegentlich anzuwenden, da ist es unm\u00f6glich, desselben durch ein willk\u00fcr-\n1)\tYergl. hierzu Huxley, Reden und Aufs\u00e4tze, deutsch von F. Schultze, S.16. Tait, Vorlesungen \u00fcber einige neuere Fortschritte der Physik, S. 14.\n2)\tR\u00fcmelin, Reden und Aufs\u00e4tze, I, S. Iff.\n3)\tJ. St. Mill, Logik, Ausg, von Schiel, 2. Aufl. II. S. 374.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nW. Wundt.\nliches Decret wieder ledig zu werden. Statt ihn abschaffen zu wollen sollte man vielmehr versuchen, aus seiner Definition die Unklarheiten zu entfernen, die widersprechende Meinungen \u00fcber seinen Inhalt oder einen Widerstreit mit den Thatsachen der Erfahrung veranlassen. Nicht einmal dies wird erreichbar sein, dass man, den oben erw\u00e4hnten Vorschlag Mill\u2019s noch weiter verfolgend, den Bedeutungsumfang, den der Begriff angenommen, wieder bis auf seine fr\u00fcheren, in Newton\u2019s Naturphilosophie festgehaltenen Grenzen einengt. Wir k\u00f6nnen einen Ausdruck f\u00fcr unsern Begriff eines \u00bbempirischen Gesetzes\u00ab z. B. gegenw\u00e4rtig noch nicht entbehren. Wer ihn abschaffen wollte, m\u00fcsste einen andern, der ebenso allgemein verstanden wird, an die Stelle setzen.\nIn der Behauptung der \u00bbAusnahmslosigkeit der Lautgesetze\u00ab sind nun zwei Begriffe verschiedenen Ursprungs vereinigt : der des Gesetzes, welchen man von der Naturwissenschaft \u00fcberkommen hat, und der der Ausnahme, welcher aus der \u00e4lteren Grammatik herstammt. Der in letzterer \u00fcblichen Nebeneinanderstellung von Regeln und Ausnahmen gegen\u00fcber will man hervorheben, dass die Lautver\u00e4nderungen ebenso festen Gesetzen unterworfen seien wie die Naturvorg\u00e4nge , und dass daher Ausnahmen von v\u00f6llig gesetzlosem Charakter hier ebenso wenig zul\u00e4ssig seien wie dort; \u00fcberall habe man vielmehr nach einer Erkl\u00e4rung solcher Ausnahmen, d. h. nach ihrer Ableitung aus irgend welchen andern Ursachen zu suchen, welche das in der so genannten Hegel enthaltene Gesetz durchkreuzen. In der Naturwissenschaft pflegt man in \u00e4hnlichem Sinne nicht von der Ausnahmslosigkeit, sondern von der Allgemeing\u00fcltigkeit der Gesetze zu sprechen. Obgleich man nun sachlich nichts anderes meinen konnte, so ist doch der Unterschied des Ausdrucks nicht ganz ohne Bedeutung. Denn das Wort \u00bbausnahmslos\u00ab ist dem Missverst\u00e4ndnisse mehr ausgesetzt als \u00bballgemeing\u00fcltig\u00ab. Niemand wird z. B. Bedenken tragen, den logischen Gesetzen Allgemeing\u00fcltigkeit zuzugestehen; aber der Behauptung, sie seien ausnahmslos, k\u00f6nnte entgegengehalten werden, es gebe zahlreiche F\u00e4lle, wo menschliches Denken gegen dieselben versto\u00dfe. Wie bei den logischen Gesetzen die Allgemeing\u00fcltigkeit lediglich ihre Geltung f\u00fcr das richtige Denken, nicht ihre thats\u00e4chlich ausnahmslose Geltung bezeichnen soll, so gilt bei der Allgemeing\u00fcltigkeit der Naturgesetze das Vorhandensein der n\u00e4m-","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Begrifl d. Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage d. Ausnahmslosigkeit d. Lautges. 201\nliehen urs\u00e4chlichen Bedingungen als selbstverst\u00e4ndliche Voraussetzung. W\u00e4hrend man aber l\u00e4ngst darin einig ist, zu der behaupteten Allgemeing\u00fcltigkeit der Naturgesetze diese Constanz der Bedingungen stillschweigend hinzuzudenken, ist man geneigt, von solchen Bedingungen bei dem-Begriff der Ausnahme zu abstrahiren und \u00e4hnlich wie dies bei dem entsprechenden Begriff der Regel geschehen war, nur auf die in Frage stehenden Thatsachen selbst R\u00fccksicht zu nehmen. Vielleicht ist es daher auch f\u00fcr die vorliegende Streitfrage nicht ohne Nutzen, das Verh\u00e4ltniss dieser thats\u00e4chlichen Ausnahmslosigkeit zur Allgemeing\u00fcltigkeit im oben definirten Sinne etwas n\u00e4her zu beleuchten.\nDem Satze : \u00bbJedes Naturgesetz hat, gleiche Bedingungen vorausgesetzt, allgemeine Geltung\u00ab, l\u00e4sst sich geradezu der andere gegen\u00fcberstellen: \u00bbKein Naturgesetz gilt thats\u00e4chlich ausnahmslos\u00ab. Es gibt nur e i n Gesetz, welchem wir, abgesehen von allen besonderen Bedingungen, Ausnahmslosigkeitzuerkennen. Dies ist das allgemeine Causalgesetz selbst, welches, \u00fcber das Gebiet der Naturgesetze hinausreichend, \u00fcberhaupt vielmehr den Charakter eines logischen Postulates als den eines eigentlichen Gesetzes besitzt. Denn das Causalgesetz gibt uns \u00fcber den Zusammenhang irgend welcher bestimmter Thatsachen gar keine Rechenschaft, und gerade deshalb kann bei ihm von allen besonderen Bedingungen abstrahirt werden. Wird es doch selbst an und f\u00fcr sich schon als ein von allen besonderen Bedingungen der Anwendung unabh\u00e4ngiges Gesetz hingestellt. Alle eigentlichen Naturgesetze dagegen gelten nur unter den f\u00fcr sie ausdr\u00fccklich oder stillschweigend statuirten Bedingungen. Sobald diese hinwegfallen, gelten sie nicht mehr, und in diesem Sinne gelten sie nicht ausnahmslos. Selbst f\u00fcr die abstractesten und allgemeinsten Naturgesetze trifft dies zu. Der Kreis der Bedingungen, unter denen sie gelten, ist ein sehr umfassender, aber er bleibt immer ein begrenzter, und die Allgemeing\u00fcltigkeit ist daher eine durch bestimmte Voraussetzungen limitirte. Bei den principiellen S\u00e4tzen der Mechanik, z. B. dem Beharrungsoder Tr\u00e4gheitsgesetz, umfassen diese Bedingungen die gesammte materielle Natur : hier liegt dann eben die Grenze ihrer G\u00fcltigkeit darin, dass sie Natur-Gesetze sind, dass sie also f\u00fcr alles was au\u00dferhalb der materiellen Natur liegt, f\u00fcr das geistige Leben, ihre G\u00fcltigkeit einb\u00fc\u00dfen.","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nVV. Wundt.\nWeit eingeschr\u00e4nkter ist der Kreis der Bedingungen, unter welchen jene specielleren S\u00e4tze, die der sp\u00e4tere Sprachgebrauch ebenfalls mit dem Namen der Gesetze belegt hat, Allgemeing\u00fcltigkeit besitzen. So gelten schon die Kepler sehen Gesetze nur f\u00fcr die speciellen Verh\u00e4ltnisse des Planetensystems ; sie gelten nicht einmal f\u00fcr alle unsere Sonne umkreisenden Weltk\u00f6rper, da viele Kometen, wie man annimmt , parabolische oder hyperbolische Bahnen beschreiben. Aber w\u00e4hrend hier immerhin in der Formulirung der Gesetze schon die Bedingungen ihrer Geltung angegeben sind, da man sie nicht allgemein f\u00fcr die die Sonne umkreisenden Himmelsk\u00f6rper, sondern nur f\u00fcr die Planeten aufstellt, begegnen uns unter den speciell so genannten \u00bbempirischen Gesetzen\u00ab nicht wenige, bei denen das vorl\u00e4ufig nicht m\u00f6glich ist, so dass nichts anderes \u00fcbrig bleibt, als der Formulirung des Gesetzes eine Bemerkung \u00fcber dessen nicht ausnahmslose Geltung beizuf\u00fcgen. So haben nach einem bekannten Gesetz der physikalischen Chemie die Producte aus W\u00e4rmecapacit\u00e4t und Atomgewicht f\u00fcr alle Elemente ann\u00e4hernd denselben Werth. Aber f\u00fcr einige Elemente, wie f\u00fcr das Bor und den Kohlenstoff, trifft dieses Gesetz nicht zu ; man pflegt daher der Formulirung desselben sofort die Ausnahmen beizuf\u00fcgen, f\u00fcr die es nicht gilt : die Familien\u00e4hnlichkeit eines solchen Gesetzes mit der grammatischen Regel und ihren Ausnahmen springt in die Augen. Nun haben aber allerdings die Physiker sich nicht begn\u00fcgt, diese Ausnahmen zu constatiren, sondern theils Beobachtungen ausgef\u00fchrt, theils theoretische Erkl\u00e4rungsversuche unternommen, welche darauf gerichtet sind, jene Ausnahmen zu erkl\u00e4ren, d. h. die Bedingungen der G\u00fcltigkeit des Gesetzes n\u00e4her zu definiren.\nDiese, manchmal sogar durch bis jetzt nicht erkl\u00e4rte Ausnahmen beschr\u00e4nkte G\u00fcltigkeit der empirischen Gesetze k\u00f6nnte der Einschr\u00e4nkung des Begriffs der Naturgesetze auf jene principiellen S\u00e4tze das Wort zu reden scheinen, deren Allgemeing\u00fcltigkeit f\u00fcr das ganze Naturgebiet unbestritten ist. Aber wenn wir bedenken, dass bei dem Ausdruck \u00bbGesetz\u00ab die Voraussetzung der objectiven Geltung haupts\u00e4chlich ma\u00dfgebend war, indem sie es eben ist, durch welche sich das Gesetz von dem rein mathematischen Axiom unterscheidet, so gewinnt die Sache ein anderes Ansehen. Die Kepler\u2019schen Gesetze, das Gesetz der Constanz des Products von W\u00e4rmecapacit\u00e4t und Atom-","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Deb. d. Begriff d. Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage d. Ausnahmslosigkeit d. Lautges. 203\ngewicht sind durch Beobachtungen gefunden ; die Thatsachen sind hei ihnen zwar nirgends in v\u00f6lliger Uebereinstimmung mit den einfachen Formulirungen der Gesetze, aber auch der Betrag der Abweichungen l\u00e4sst sich \u00fcberall mit der f\u00fcr uns erreichbaren Genauigkeit der Beobachtung angehen, so dass hier jenes Kriterium der ohjectiven G\u00fcltigkeit, das man hei der Aufstellung des Begriffs eines Gesetzes im Auge hatte, in der That zutrifft. Dagegen l\u00e4sst sich ein Satz vom Charakter des Tr\u00e4gheitsgesetzes niemals direct in der Erfahrung nachweisen. Er ist daher auch weniger durch Beobachtung als durch Speculation gefunden, und die Voraussetzung seiner Allgemeing\u00fcltigkeit beruht nicht darauf, dass er seihst, sondern dass die aus ihm gezogenen Schlussfolgerungen sich in aller Erfahrung bew\u00e4hrt finden. Aber da der Gedanke, dass andere, wenn auch wahrscheinlich complicirtere und schwieriger durchzuf\u00fchrende Voraussetzungen m\u00f6glicherweise dasselbe leisten k\u00f6nnten, in Folge jener Unm\u00f6glichkeit der direc-ten Nach Weisung in der Erfahrung nicht absolut zur\u00fcckgewiesen werden kann, so w\u00fcrde augenscheinlich gerade f\u00fcr diese S\u00e4tze von mehr mathematischem als physikalischem Charakter der \u00e4ltere Ausdruck \u00bbHypothesen\u00ab der zutreffendere sein. Ist also die Allgemeing\u00fcltigkeit der empirischen Naturgesetze eine beschr\u00e4nkte, weil von einem engen Umkreis besonderer Bedingungen abh\u00e4ngige, so ist die der princi-piellen Voraussetzungen der Naturlehre eine hypothetische und subjective, eingeschr\u00e4nkt auf das Gedankensystem, in welches wir dieselben eingeordnet haben.\nBei der Uebertragung des Begriffs des Gesetzes auf das psychologische Gebiet gestalten sich nun die Verh\u00e4ltnisse insofern einfacher, als eine derartig verschiedene Bangordnung von Gesetzen, wie sie in der Naturwissenschaft Verwendung findet, hier \u00fcberhaupt nicht m Frage kommt. Die Versuche, f\u00fcr das psychische Geschehen Gesetze von einem \u00e4hnlich hypothetischen, dabei aber das Gesammt-gebiet des inneren Lebens umfassenden Charakter, wie das Behar-rungsgesetz ein solches f\u00fcr das materielle Geschehen ist, aufzufinden, sind bis dahin missgl\u00fcckt. Herbart\u2019s \u00bbMechanik der Vorstellungen\u00ab niit ihren durchgehends hypothetischen, aber der einzigen Legitimation der Hypothese, der Verification durch die Erfahrung ermangelnden Voraussetzungen bildet das letzte und zugleich genialste Beispiel dieser Art. Die psychologischen Gesetze sind demnach sammt und","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nW. Wundt.\nsonders empirische Gesetze. An ihrer thats\u00e4chlichen Geltung ist nicht zu zweifeln, aber diese Geltung ist zugleich auf einen sehr engen Kreis von Bedingungen eingeschr\u00e4nkt. Es gibt kein psychologisches Gesetz, hei dem die Ausnahmen nicht zahlreicher w\u00e4ren als die \u00fcbereinstimmenden F\u00e4lle. Die Associationsgesetze z. B., die Mill, sicherlich \u00fcbertreibend, mit dem Gravitationsgesetz auf gleiche Linie gestellt hat, sind so sehr von vorangegangenen individuellen Lebenserfahrungen , zuf\u00e4lligen Eindr\u00fccken und st\u00f6renden Einfl\u00fcssen abh\u00e4ngig, dass hier der Umkreis der Bedingungen, unter denen ein einzelnes Associationsgesetz zur Wirksamkeit gelangt, geradezu ins Unabsehbare sich erweitert. Gegen\u00fcber den empirischen Naturgesetzen sind daher die entsprechenden psychologischen Gesetze regelm\u00e4\u00dfig durch das Merkmal ausgezeichnet, dass unter gegebenen Bedingungen die Wirksamkeit eines bestimmten Gesetzes immer nur als m\u00f6glich, niemals aber als nothwendig vorausgesagt werden kann. Wenn ein neuer Planet entdeckt wird, so muss er den Kepler sehen Gesetzen folgen; wenn wir einen Gegenstand wahrnehmen, der einem fr\u00fcher gesehenen \u00e4hnlich ist, so kann es eintreten, dass wir beide associiren, aber dieser Erfolg muss nicht eintreten, ja er tritt nur in einer fast verschwindenden Zahl von F\u00e4llen wirklich ein, weil von den unz\u00e4hligen Associationen, die in uns latent sind, in einem gegebenen Falle in der Regel nur eine actuell wird. Die Associationsgesetze gelten also nicht nur nicht ausnahmslos, sondern die Zahl der Ausnahmen ist bei ihnen viel gr\u00f6\u00dfer als die der \u00fcbereinstimmenden F\u00e4lle. Gleichwohl verlieret dieselben dadurch nicht die Berechtigung, empirische Gesetze genannt zu werden. Denn die Begrenzung der Bedingungen ist jedem Gesetz, sogar den principiellen S\u00e4tzen der Mechanik eigen. Ob diese Begrenzung gr\u00f6\u00dfer oder kleiner ist, kann keinen Unterschied begr\u00fcnden; darin dass uns ein gro\u00dfer Theil der begrenzenden Bedingungen v\u00f6llig unbekannt bleibt, liegt zwar ein sehr wichtiger praktischer, aber kein theoretischer Unterschied. Denn wir zweifeln nicht, dass, wenn uns f\u00fcr das Eintreten einer bestimmten Association die Bedingungen ebenso vollst\u00e4ndig gegeben w\u00e4ren wie f\u00fcr die G\u00fcltigkeit der Kepler\u2019schen Gesetze bei der Bewegung von Weltk\u00f6rpern, wir das erstere nicht weniger sicher Voraussagen k\u00f6nnten Will man skeptisch sein, so kann man die Berechtigung dieses Ver trauens bestreiten. Ein thats\u00e4chlicher Einwand l\u00e4sst sich gegen","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Begriff d. Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage d. Ausnahmslosigkeit d. Lautges. 205\nsolche Skepsis nicht beibringen. Nur darauf l\u00e4sst sich hinweisen, dass, wer jenes thut, das einzige Gesetz, das wir als ein ausnahmsloses anerkennen, das Causalgesetz, nichtmehr als ausnahmslos gelten l\u00e4sst. Hiermit w\u00fcrde in der Welt der Thatsachen nichts ge\u00e4ndert, aber es w\u00fcrde die Voraussetzung beseitigt sein, in welcher alles Suchen nach einzelnen Gesetzen des Geschehens seine Rechtfertigung findet. Wenn die Causalit\u00e4t ein Princip w\u00e4re, welches nur zuweilen, aber nicht immer gilt, so w\u00fcrde sie damit den Charakter eines Postulates verlieren, um den eines empirischen Gesetzes niederster Gattung anzunehmen, eines solchen n\u00e4mlich, welches unter uns unbekannten Bedingungen zuweilen gilt und unter uns ebenso unbekannten zuweilen nicht gilt. Da nun aber die Summe der Thatsachen, die sich einer vollst\u00e4ndigen Causalerkl\u00e4rung f\u00fcgen, unendlich viel kleiner ist als die Summe derjenigen, die sich ihr nicht f\u00fcgen, so kann das Causalgesetz selbst kein empirisches Gesetz, sondern nur ein logisches Postulat sein, welches seine Berechtigung eben daraus sch\u00f6pft, dass unter seiner Voraussetzung empirische Gesetze gefunden werden.\nAbgesehen von der gr\u00f6\u00dferen Zahl der Bedingungen und der daraus sich ergebenden gr\u00f6\u00dferen Unbestimmtheit der psychologischen Gesetze gibt es noch ein zweites Merkmal, durch welches sich dieselben von den Naturgesetzen unterscheiden. Dieses besteht darin, dass hei den letzteren die thats\u00e4chlichen Ausnahmen meist in einem Zusammenwirken des zu erwartenden Gesetzes mit andern Gesetzen von st\u00f6rendem Einfluss ihren Grund haben, so dass in der Ausnahme das Gesetz selbst noch irgendwie zu erkennen ist. Bei den psychologischen Gesetzen dagegen pflegt dasjenige, welches zur Herrschaft gelangt, die andern mit seltenen Ausnahmen ganz zu beseitigen. Wenn wir Vorstellungen nach Aehnlichkeit associiren, so schweigen die andern Associationsgesetze. Das Object, das unsere Aufmerksamkeit fesselt, l\u00e4sst uns an andern, deren Auffassung ebenfalls durch die sinnliche Wahrnehmung nahe gelegt ist, achtlos vor\u00fcbergehen. Wir k\u00f6nnen vermuthen, dass dieses, \u00fcbrigens nicht ganz ausnahmslose, Verschwinden der Wirkungen zum Theil in derselben ungeheuren Complication der geistigen Vorg\u00e4nge begr\u00fcndet sei, die uns die exacte Feststellung der Bedingungen, unter denen die Gesetze gelten, unm\u00f6glich macht ; auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet, z. B. bei meteorologischen und physiologischen Gesetzen, fehlt es daher nicht","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\n\\V. Wundt.\nan der \u00e4hnlichen Erscheinung. Au\u00dferdem f\u00e4llt aber der Umstand ins Gewicht, dass das Princip der Aequivalenz von Ursache und Wirkung, welches uns die vereinfachte Auffassung der Naturvorg\u00e4nge haupts\u00e4chlich erm\u00f6glicht, auf geistigem Gebiet offenbar seine Geltung verliert. Dieser Umstand bringt eine unendlich viel gr\u00f6\u00dfere individuelle Mannigfaltigkeit der geistigen Vorg\u00e4nge und namentlich einen fortw\u00e4hrenden Fluss der Gesetze des geistigen Lebens selbst mit sich. In dem gereiften Verst\u00e4nde spielen sich die Denkgesetze in wesentlich anderer Weise ab als im Bewusstsein des Kindes, und \u00e4hnliche Ver\u00e4nderungen, welche dann in der Sprache sich spiegeln m\u00fcssen, fehlen nicht im Leben der V\u00f6lker. Verlieren wir nun hierbei, wie es im Einzelnen leicht geschehen kann, die Continuit\u00e4t der Entwicklung aus dem Auge, so erscheint unvermeidlich das geistige Leben als ein unabsehbares Gewebe von Zuf\u00e4lligkeiten, das nur an wenigen Stellen zusammenh\u00e4ngende F\u00e4den causaler Verkn\u00fcpfung erkennen l\u00e4sst.\nTreten wir mit diesen allgemeinen Gesichtspunkten wieder an 'die Frage nach der \u00bbAusnahmslosigkeit der Lautgesetze\u00ab heran, so wird zun\u00e4chst von allen Seiten anerkannt, dass die Lautgesetze den Charakter empirischer Gesetze besitzen. Eher begegnet vielleicht der Satz. dass sie entweder direct oder indirect, ganz oder theilweise auf psychologischen Gesetzen beruhen, einigen Bedenken. Aber obgleich gerade die im engeren Sinne so genannten Lautgesetze, wie z. B. das Grimm\u2019sehe Gesetz der Lautverschiebung in den indogermanischen Sprachen, zun\u00e4chst auf gewissen nationalen Differenzirungen in der Bildung der Sprachorgane beruhen d\u00fcrften, so sind doch diese Differenzirungen selbst zum Theil wieder von psychologischen Factor en abh\u00e4ngig. Wenn man zur Erkl\u00e4rung mancher dieser Ver\u00e4nderungen das \u00bbStreben nach Bequemlichkeit\u00ab herbeigezogen hat, so ist ja dieses augenscheinlich ein psychologisches Motiv. Mag man nun dies Motiv gelten lassen oder nicht \u2014 als das einzige wird es wohl von Niemanden angesehen werden \u2014, auf ein Zusammenwirken irgend welcher physischer und psychischer Ursachen wird jeder Versuch einer Erkl\u00e4rung hinauslaufen. Die Lautgesetze, beruhend auf der geistigen und k\u00f6rperlichen Anlage der Sprachgemeinschaften, nehmen so, \u00e4hnlich andern Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten von psycho-physischem Charakter, eine Art Mittelstellung zwischen dem Physischen und Psychischen ein, aber sie theilen im Grunde diese Eigenschaft selbst mit den all-","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Begriff d. Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage d. Ausnahmslosigkeit d. Lautges. 207\ngemeinen psychologischen Gesetzen, die sich unm\u00f6glich ganz von den physischen Organisationsbedingungen getrennt denken lassen. Direct ausgepr\u00e4gt ist der psychologische Charakter einiger anderer Regelm\u00e4\u00dfigkeiten, die erst im Zusammenh\u00e4nge mit der Forderung der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze gelegentlich selbst den Lautgesetzen zugez\u00e4hlt worden sind. Es sind dies die sogenannten Analogiebildungen. Ihr unmittelbarer Zusammenhang mit psychologischen Associationen ist namentlich von der jung-grammatischen Schule, die den Analogiebildungen, als den Bedingungen \u00bbscheinbarer Ausnahmen von den Lautgesetzen\u00ab, einen gro\u00dfen Werth beilegte, betont worden. Hat man nun auch mehrfach von anderer Seite gegen einen \u00bbDualismus physiologischer und psychologischer Lautgesetze\u00ab oder gegen den \u00bbEinfluss der Psychologie auf die Lautphysiologie\u00ab \u00fcberhaupt Protest erhoben,1) so wollte man damit doch den Einfluss psychologischer Momente keineswegs beseitigen, sondern theils auf die psychologische Seite aller Lautver\u00e4nderungen, theils auf die allzu unbestimmte Natur des Begriffs der \u00bbIdeenassociation\u00ab hinweisen. Namentlich hat Curtius seit langer Zeit die Wahrscheinlichkeit psychologischer Ursachen auch f\u00fcr den von ihm sogenannten regelm\u00e4\u00dfigen Lautwandel betont. In der That w\u00fcrde es schwerlich berechtigt sein, wenn man hier eine Art Gegenwirkung physiologischer und psychologischer Ursachen statuiren wollte. H\u00f6chstens l\u00e4sst sich behaupten, dass bei den gew\u00f6hnlichen Lautgesetzen die n\u00e4chsten Bedingungen physischer, die entfernteren aber zum Theil psychischer Art sind, w\u00e4hrend bei den Analogiebildungen schon die n\u00e4chsten Ursachen einen psychischen Charakter besitzen. Auch bleibt der weitere Unterschied, dass uns jene entfernteren psychischen Bedingungen der gew\u00f6hnlichen Lautgesetze im allgemeinen unbekannt sind, so dass nur mehr oder weniger unsichere Hypothesen \u00fcber sie aufgestellt werden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend der Einfluss der Vorstellungsassociationen auf die Analogiebildungen unmittelbar in die Augen springt. Dagegen soll nicht geleugnet werden, dass die blo\u00dfe Zur\u00fcckf\u00fchrung auf \u00bbIdeenassociation\u00ab ohne n\u00e4here Angabe der Art und Wirkung der letzteren eine ziemlich vage Erkl\u00e4rung ist, und\n1) Vgl.G.Curtius, Zur Kritik der neuesten Sprachforschung, S.45. Misteli, Ztschr. f. V\u00f6lkerpsych. Bd. 12, S. 25.","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nW. Wundt.\ndass gerade die Analogiebildungen ein Gebiet sind, auf dem die Psychologie selbst noch manches von der Sprachforschung wird lernen k\u00f6nnen, ehe sie dieser hinwiederum Gesichtspunkte zu einer eingehenderen Erkl\u00e4rung der Thatsachen er\u00f6ffnen kann.\nAu\u00dfer der Analogie sind als weitere Ursachen f\u00fcr die Durchkreuzung der gew\u00f6hnlichen Lautgesetze noch der Einfluss des Accentes auf den Laut und die Dialectmischung herbeigezogen worden, wobei die letztere wieder zwischen r\u00e4umlich und zwischen zeitlich auseinanderliegenden Sprachgebieten stattfinden kann. Unter diesen Factoren entzieht sich der zweite noch ganz der Nachweisung seiner individuellen Bedingungen. Bei der Dialectmischung greifen so mannigfaltige, im einzelnen unbekannt bleibende Ursachen in einander ein, dass sich in der Regel nur die vorhandene Thatsache wird consta-tiren lassen.\nVon einer \u00bbAusnahmslosigkeit der Lautgesetze\u00ab k\u00f6nnte nun in einem strengeren Sinne des Wortes wohl nur dann die Rede sein, wenn man alle diese in verschiedenen F\u00e4llen wirkenden Bedingungen, gew\u00f6hnliche Lautverschiebung, Analogiebildung, Accent, Dialectmischung und m\u00f6glicher Weise noch andere bis dahin unbekannte Factoren, als Ursachen ansehen wollte, die nach bestimmten Gesetzen auf den Laut ein wirken, und wenn man darnach ebenso viele Lautgesetze unterschiede , als Ursachen der Laut\u00e4nderung existiren. Nun sind aber unter diesen Ursachen manche, wie z. B. die Analogiewirkungen, wieder von unabsehbarer Mannigfaltigkeit, da in einem einzelnen Fall sehr verschiedene Associationen mit andern sprachlichen Formen m\u00f6glich sind, wenn auch immer nur eine einzelne thats\u00e4chlich eintritt. Es kann keinem Zweifel unterworfen sein, dass, so sehr sich auch im Laufe der Zeit der Begriff des Gesetzes erweitert hat, doch eine so gro\u00dfe Ausdehnung desselben den heutigen Gebrauch des Wortes bedeutend \u00fcberschreiten w\u00fcrde. Denn dieser verbindet immerhin mit dem Begriff des Gesetzes die Annahme eines bestimmten Zusammenhanges von Ursachen und Wirkungen. Auch entspricht dem Ausdruck \u00bbLautgesetz\u00ab, wenn wir ihn in Analogie mit Ausdr\u00fccken wie \u00bbelektrische\u00ab, \u00bbmeteorologische Gesetze\u00ab, \u00bbAssociationsgesetze\u00ab u. dergl. anwenden wollen, zun\u00e4chst der Begriff eines Gesetzes, welches dem Gebiet der Lautver\u00e4nderungen specifisch eigenth\u00fcmlich ist, und welches eine bestimmte Gruppe von","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb d. Begriff d. Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage d. Ausnahmslosigkeit d. Lautges. 209\nLautver\u00e4nderungen in einen gemeinsamen Ausdruck zusammenfasst. So nennen wir z. B. das bekannte Dove\u2019sche Drehungsgesetz der Winde ein meteorologisches Gesetz ; das Gesetz, dass erw\u00e4rmte Luft sich ausdehnt und kalte sich zusammenzieht, nennen wir aber kein meteorologisches, sondern ein allgemeines physikalisches Gesetz, obgleich dasselbe bei den meteorologischen Processen eine wichtige Rolle spielt. In diesem Sinne verdient das Grimm\u2019sehe Gesetz der Lautverschiebung zweifellos den Namen eines Lautgesetzes; dagegen werden einzelne Analogiebildungen, die auf psychologischen Associationen beruhen, oder Dialecteinwirkungen, die in singul\u00e4ren historischen Beziehungen ihren Grund haben, einen Anspruch auf diesen Namen nicht erheben k\u00f6nnen.\nln der That scheint nun von den Sprachforschern der Ausdruck im allgemeinen in diesem begrenzteren Sinne verstanden zu werden. So insbesondere auch von denjenigen, welche die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze betonen, wie vor allem von Leskien, der zuerst diesen Satz aufstellte, und von Osthoff und Brugmann, die ihm zun\u00e4chst gefolgt seien. Wenn z. B. gesagt wird: \u00bbAller Lautwandel , so weit er mechanisch vor sich geht, vollzieht sich nach ausnahmslosen Gesetzen\u00ab, ') so ist damit indirect ausgesprochen, dass die Analogiebildungen Wirkungen intercurrirender Ursachen, nicht aber eigentliche Lautgesetze sind. Der Grundgedanke ist der, dass die bekannten , die constantere Richtung der Lautver\u00e4nderungen bezeichnenden Gesetze auf Kr\u00e4ften beruhten, die \u00fcberall, ja die im Grunde selbst da vorhanden seien, wo intercurrirende Ursachen das Zustandekommen der Wirkungen vereitelten. Nicht das ausnahmslose Zusammentreffen der Thatsachen mit dem Gesetz, sondern das ausnahmslose Vorhandensein der Ursachen, auf denen das Gesetz beruht, soll also behauptet werden. Aehnlich wie die Naturkr\u00e4fte nicht bald vorhanden sind, bald fehlen, sondern in unab\u00e4nderlicher Regelm\u00e4\u00dfigkeit zur Wirkung zu gelangen streben, aber bald ihre vollen Effecte erreichen, bald durch entgegenwirkende Ursachen compensirt werden, so sollen in den Lautgesetzen die constanten Kr\u00e4fte zu Tage treten, denen das Sprach-\n1) Osthoff und B rugmann, Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen I. Vorwort, S. XIII.","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nW. Wundt.\norgan innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft und innerhalb einer gegebenen Zeit unterworfen ist. Mit dieser Auffassung stimmt es auch \u00fcberein, dass man ausdr\u00fccklich die Regel aufstellte, Analogiebildungen und sonstige Einfl\u00fcsse seien immer erst dann zur Erkl\u00e4rung herbeizuziehen, wenn die gew\u00f6hnlichen Lautgesetze hierzu nicht ausreichten, eine Regel, mit der die andere Vorschrift, zu dem eigentlichen Lautgesetz k\u00f6nne man immer erst dann gelangen, wenn der Einfluss der Analogiebildungen eliminirt sei, nur scheinbar im Widerspruch steht. Dass nun dieser Gedanke durch den Ausdruck \u00bbAusnahmslosigkeit\u00ab nicht gerade gl\u00fccklich wiedergegeben wird, wurde schon im Eingang dieses Aufsatzes angedeutet. Man k\u00f6nnte im Einklang mit dem sonst angewandten Sprachgebrauch den Lautgesetzen innerhalb der in ihnen selbst enthaltenen r\u00e4umlichen und zeitlichen Bedingungen Allgemeing\u00fcltigkeit zuschreiben, gerade so wie man etwa das Dove\u2019sche Drehungsgesetz ein allgemeing\u00fcltiges nennt, und doch ohne Bedenken zugesteht, dass dasselbe zahlreiche Ausnahmen darbietet, die sich theils erkl\u00e4ren lassen, theils aber auch bis jetzt unerkl\u00e4rt bleiben. Die Allgemeing\u00fcltigkeit will eben nur ausdr\u00fccken, dass die Bedingungen, welche die Geltung eines Gesetzes bestimmen, immer vorhanden sind, ohne dass damit gesagt wird, dass das Gesetz selbst in jedem einzelnen Fall zur ungest\u00f6rten Geltung gelange. Doch bleibt in Sachen der Terminologie ja bekanntlich der Willk\u00fcr immer ein gewisser Spielraum. Nachdem der Begriff der Ausnahmslosigkeit f\u00fcr diesen Fall erst defi-nirt ist, mag er unbeanstandet weiter gebraucht werden. Hat er doch ohnehin in der polemischen Tendenz gegen die Ausnahmen der alten Grammatik eine Art historischer Berechtigung. Nebenbei bleibt aber zu beachten, dass diese \u00bbAusnahmslosigkeit\u00ab der Lautgesetze nicht mit derjenigen der universellen Naturgesetze auf gleicher Linie steht, bei denen die Wirkungen der Kr\u00e4fte, auf denen ein bestimmtes Gesetz beruht, auch in den F\u00e4llen nachzuweisen sind, wo das Gesetz selbst nicht zum Ausdruck gelangt, sondern dass sie den psychologischen und einigen andern complexen Gesetzen gleichen, deren Ursachen durch intercurrirende St\u00f6rungen in der Regel v\u00f6llig verschwinden.\nAuch in diesem beschr\u00e4nkten Sinne, in welchem die Lehre von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze von ihren Vertretern offenbar","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Begriff d. Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage d. Ausnahmslosigkeit d. Lautges. 211\nthats\u00e4chlich verstanden wird, hat dieselbe aber keineswegs die allgemeine Zustimmung der Sprachforschung gefunden, sondern es bleibt ein Ein wand, der durch die obige limitirende Definition der \u00bbAusnahmslosigkeit\u00ab nicht aus der Welt geschafft wird, und er ist es gerade, der in principieller Beziehung das gr\u00f6\u00dfte Interesse besitzt. Derselbe hat zwar schon in der fr\u00fcheren Bek\u00e4mpfung der neueren Richtung eine gewisse Rolle gespielt, besonders energisch ist derselbe aber von Hugo Schuchardt in einer neuerlich erschienenen kleinen Streitschrift betont worden.1) Er besteht in dem Einfluss indi-dividueller Willk\u00fcr, welchem die Sprache, wie jede geistige Sch\u00f6pfung, von Seiten Einzelner ausgesetzt sei. Da aber die von einem einzelnen Menschen erzeugte sprachliche Bildung verm\u00f6ge des ihr zukommenden Charakters der Willk\u00fcr die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit ausschlie\u00dfe, so sei hierin eine Quelle zahlreicher einzelner Lautver\u00e4nderungen gegeben, die lediglich als thats\u00e4chliche hingenommen werden m\u00fcssten. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass die zeitlichen und r\u00e4umlichen Grenzen, innerhalb deren ein bestimmtes Lautgesetz gilt, nicht vollkommen streng die einzelnen Sprachen von einander scheiden, sondern einigerma\u00dfen flie\u00dfende sind, da jede Individualsprache aus einer Mischung zahlreicher Dialecte hervorgegangen und fortw\u00e4hrend von den in ihr fortexistirenden Dialecten beeinflusst sei, Einfl\u00fcsse, die ebenso wenig wie die individuellen Einwirkungen auf bestimmte Gesetze zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnten.\nDiese Einw\u00e4nde sind, wie mir scheint, vollkommen schlagend, wenn sie gegen jene erweiterte Auffassung des Begriffs der \u00bbLautgesetze\u00ab gerichtet werden, welche mit diesem Namen jede Art causaler Abh\u00e4ngigkeit bezeichnen wollte, die innerhalb der Lautver\u00e4nderungen existiren mag. Individuelle Einfl\u00fcsse und dialectische Mischungen entziehen sich so sehr jeder Subsumtion unter allgemeine Gesetze, dass man, um den ganzen Umfang g\u00fcltiger Lautgesetze zu ersch\u00f6pfen, eine unendliche Menge derselben voraussetzen m\u00fcsste, wobei noch \u00fcberdies viele nur in einer sehr beschr\u00e4nkten Zahl von F\u00e4llen, ja oft vielleicht nur in einem einzigen g\u00fcltig w\u00e4ren. Wir haben aber oben gesehen, dass in diesem weiten Sinne, zu dem allerdings der Ausdruck\n1) Hugo Schuchar Berlin 1885.\ndt, lieber die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker.\nWundt, Philos. Studien. III.\n15","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nW. Wundt.\n\u00bbAusnahmslosigkeit\u00ab verf\u00fchren k\u00f6nnte, der Begriff der Lautgesetze nicht verstanden wird, sondern dass man alle Momente, welche die G\u00fcltigkeit der regelm\u00e4\u00dfigen Lautgesetze aufheben k\u00f6nnen, als st\u00f6rende Ursachen, nicht aber seihst als Lautgesetze betrachtet. Die von Curtius eingef\u00fchrte Unterscheidung des \u00bbregelm\u00e4\u00dfigen\u00ab und des \u00bbsporadischen\u00ab Lautwandels, in der ja der verf\u00e4ngliche Ausdruck \u00bbAusnahme\u00ab bereits vermieden wird, ist in dieser Hinsicht auch f\u00fcr die Sp\u00e4teren, obgleich sie diese Bezeichnungen aufgegeben haben, ma\u00dfgebend geblieben. Regelm\u00e4\u00dfig ist derjenige Lautwandel, der nach den Lautgesetzen vor sich geht, sporadisch derjenige, der von inter-currirenden Ursachen abh\u00e4ngt.\nNehmen wir nun den Begriff des Lautgesetzes in diesem beschr\u00e4nkteren Sinne, so kann die Nachweisung noch, so vieler st\u00f6render Ursachen oder einzelner F\u00e4lle, in denen solche muthma\u00dflich eingewirkt haben, offenbar nichts gegen die Allgemeing\u00fcltigkeit der Lautgesetze in dem oben definirten Sinne beweisen, und der Ausdruck \u00bbAusnahmslosigkeit der Lautgesetze\u00ab ist dann nur eine andere Redeweise f\u00fcr \u00bbausnahmslose Causalit\u00e4t der Lautver\u00e4nderungen\u00ab, wobei aber zugleich ausdr\u00fccklich zugestanden wird, dass sich die Lautver-\u00e4nderungen selbst nicht alle auf die Lautgesetze zur\u00fcckf\u00fchren lassen, so dass jene ausnahmslose Causalit\u00e4t zugleich mit zahlreichen that-s\u00e4chlichen Ausnahmen von den Lautgesetzen verbunden ist. Ich m\u00f6chte glauben, dass, wenn in dieser Form der Satz aufgestellt worden w\u00e4re , er geringeren Widerspruch gefunden h\u00e4tte, und dass seine gegen die grammatische Ausnahme gerichtete Spitze darum nicht minder f\u00fchlbar gewesen w\u00e4re. Denn darin besteht, wie mir scheint, das Wesentliche und zugleich das unleugbar Bedeutsame der in der neueren Sprachwissenschaft zur Geltung gelangten Anschauungen, dass die Ausnahme nicht als eine selbstverst\u00e4ndliche und nicht weiter zu untersuchende Thatsache zugelassen wird, sondern dass man sich\ndie Aufgabe stellt, die intercurrirenden Ursachen nachzuweisen, welche die Ausnahme erkl\u00e4ren. Die Sprachwissenschaft bedient sich hierbei lediglich der auf anderen Gebieten l\u00e4ngst zur Geltung gelangten methodologischen Regel, dass der Zufall \u00fcberall als ein zur Erkl\u00e4rung der Erscheinungen unzul\u00e4ssiger Factor zu eliminiren sei. Diese Rege ist von der neueren Richtung der Sprachwissenschaft nicht erst entdeckt, sondern nur strenger formulirt, und gehandhabt worden.","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceb. d. Begriff d. Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage d. Ausnahmslosigkeit d. Lautges. 213\nDass \u00fcbrigens auf einem so verwickelten Gebiet ihre Durchf\u00fchrung Schwierigkeiten bereitet, und dass thats\u00e4chlich vielleicht niemals alle Durchkreuzungen der Gesetze causal zu erkl\u00e4ren sind , kann nicht wunder nehmen. Thats\u00e4chlich wird die \u00bbAusnahme\u00ab selbst in der schlimmen Bedeutung des Wortes, d. h. die nicht zu erkl\u00e4rende Durchbrechung eines Gesetzes , wahrscheinlich noch f\u00fcr lange Zeit aus der Linguistik so wenig wie aus der Meteorologie verschwinden. Ein erschwerendes Moment bildet hierbei noch die eigenth\u00fcmliche Lage der Sprachwissenschaft, dass sie die Ausnahmen von den Gesetzen auf bestimmte Ursachen zur\u00fcckf\u00fchren soll, dass sie die Ursachen der Lautgesetze selbst aber, abgesehen von unsicheren Hypothesen, noch nicht kennt.\nAber auch mit dieser Reduction des hier besprochenen Grundsatzes auf die Voraussetzung einer durchg\u00e4ngigen Causalit\u00e4t ist schlie\u00dflich vielleicht noch nicht aller Widerspruch beseitigt. Handelt es sich hier nicht, so kann man fragen, um ein Gebiet, wo eben der Grundsatz ausnahmsloser Causalit\u00e4t seine G\u00fcltigkeit einb\u00fc\u00dft? Ja ist dies nicht \u00fcberall da zu erwarten, wo der individuelle Wille in die Gestaltung der Sprache sch\u00f6pferisch eingreift? So scheint denn diese methodologische Streitfrage unversehens aus dem Gebiet logischer Erw\u00e4gungen auf den Tummelplatz metaphysischer K\u00e4mpfe \u00fcberzuf\u00fchren. Ob Determinist oder Indeterminist, \u2014 das scheint liier schlie\u00dflich die einzige Frage. Gleichwohl ist es vielleicht m\u00f6glich, gerade weil es sich lediglich um eine methodologische Frage handelt, die Metaphysik aus dem Spiele zu lassen und sich mit der Anweisung zu begn\u00fcgen, die uns die Psychologie zu geben im Stande ist. Denn in Wahrheit sind wir ja mit der obigen Streitfrage unvermerkt in das Bereich der individuellen Psychologie gerathen. Diese begegnet allerorten jenem Spiel des Willens, dessen einzelne Effecte sich nur selten auf bestimmte zwingende Motive zur\u00fcckf\u00fchren lassen. Der Indeterminist betrachtet solche causal nicht vollst\u00e4ndig erkl\u00e4rbaren Willenshandlungen als wirkliche erste Ursachen, der Determinist nimmt an, dass sie aus der urspr\u00fcnglichen Anlage und vergangenen Entwicklung des Bewusstseins entspringen, also in eine f\u00fcr uns un\u00fcbersehbare Causalreihe auslaufen. Praktisch kommen beide F\u00e4lle auf das n\u00e4mliche hinaus : Der Determinist bescheidet sich, in der Verfolgung der Ursachen der Willenshandlung mit dem Indeterministen nicht weiter","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nW. Wundt.\nzur\u00fcckzugehen, als es m\u00f6glich ist. Aber auch methodologisch verschwindet der Unterschied dieser metaphysischen Standpunkte f\u00fcr die psychologische Untersuchung. Denn beide kommen darin \u00fcberein dass die Ursachen so weit nachgewiesen und zur\u00fcckverfolgt werden m\u00fcssen, als es m\u00f6glich ist. Schlie\u00dft sich also praktisch der Determinist dem Indeterministen an, so folgt umgekehrt theoretisch der Indeterminist dem Deterministen. Denn niemals kann es als Maxime wissenschaftlicher Forschung gelten, dass man einen Effect als gegeben hinnehmen solle, ohne den Ursachen desselben nachzufragen. F\u00fcr die Praxis des Lebens kann die Resignation n\u00fctzlich und w\u00fcn-schenswerth sein, f\u00fcr die Theorie ist sie nie oder doch h\u00f6chstens dann erlaubt, wenn man zu ihr nach vergeblichen Anstrengungen gezwungen ist. Darum ist aber auch die theoretische Resignation immer nur eine provisorische, nie eine endg\u00fcltige.\nDiese Verh\u00e4ltnisse erkl\u00e4ren es hinreichend, dass jene metaphysischen Steitfragen f\u00fcr den empirischen Psychologen nicht existiren. Dass das Ziel psychologischer Causalerkl\u00e4rung praktisch jemals erreicht werden k\u00f6nne, hofft niemand ; dass die methodologischen Postulate so gestellt werden m\u00fcssen, als ob es erreichbar w\u00e4re, gesteht jedermann zu. Der Sprachforscher wird sich gegen\u00fcber der Frage individueller Einfl\u00fcsse auf die Sprache nicht anders als der Psychologe gegen\u00fcber dem Thatbestand innerer Erfahrung \u00fcberhaupt verhalten k\u00f6nnen. Dass einzelne sprachliche Erscheinungen auf unerkl\u00e4rbaren Willenseinfl\u00fcssen beruhen, kann f\u00fcr ihn praktische Ueberzeugung, sie kann aber niemals methodologisches Postulat werden. Denn keiner Thatsache l\u00e4sst sich ansehen, ob sie causal erkl\u00e4rbar ist oder nicht; immer erst der Erfolg kann dar\u00fcber entscheiden. Wo menschliche Arbeit vielleicht Erfolg haben kann, da muss sie aber immer von der Hoffnung gef\u00fchrt sein, dass sie ihn wirklich habe.\nZu diesen f\u00fcr die Psychologie ma\u00dfgebenden Gesichtspunkten kommen f\u00fcr die Sprachwissenschaft noch einige weitere. Die Bildung der Sprachformen scheint nur in verschwindendem Ma\u00dfe auf einem willk\u00fcrlichen Pr\u00fcfen und W\u00e4hlen zwischen verschiedenen M\u00f6glichkeiten, sondern weitaus \u00fcberwiegend auf triebartigen Willenshandlungen zu beruhen, bei denen die Motive eindeutig gegeben, theils von Gef\u00fchlen und Associationen, theils von \u00e4u\u00dferen Einwirkungen unmittelbar abh\u00e4ngig sind. Darum steht zwar die Sprache mitten inne","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Heb. d. Begriff d. Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage d. Ausnahmslosigkeit d. Lautges. 215\nzwischen Naturproduct und Kunsterzeugniss, aber in ihrer unwillk\u00fcrlichen Entstehungsweise hat sie sicherlich mit dem ersteren die gr\u00f6\u00dfere Aehnlichkeit.1) Es ist nicht wahrscheinlich, dass v\u00f6llig launenhafte und dem absoluten Zufall gleich erscheinende individuelle Einfl\u00fcsse auf sie in erheblichem Ma\u00dfe eingewirkt haben; es ist noch weniger wahrscheinlich, dass solche Einfl\u00fcsse, wenn sie stattfanden, eine dauernde Macht \u00fcber sie gewinnen konnten. Darum wird die Sprachwissenschaft immerhin noch etwas mehr Aussicht haben, dass das Postulat einer ausnahmslosen Causalit\u00e4t der Erscheinungen in ihr in gewissem Umfange durchf\u00fchrbar sei. als die Psychologie, mit der sie bei sonst \u00e4hnlichen Bedingungen dieses Postulat gemein hat.\nFast m\u00f6chte ich glauben, dass die hier entwickelten Anschauungen nicht allzu weit von demjenigen abliegen, was Gegner wie Anh\u00e4nger der sogenannten \u00bbAusnahmslosigkeit der Lautgesetze\u00ab als in \"Wahrheit zutreffend annehmen. Der Kreis thats\u00e4chlicher Ausnahmen, bei denen man voraussichtlich f\u00fcr immer auf eine Erkl\u00e4rung verzichten muss, mag hier etwas weiter gezogen werden als dort, \u2014 dass man es sich nicht zum methodischen Grunds\u00e4tze machen darf, Ausnahmen zu constatiren, statt Regeln und Gesetze zu finden, und dass trotzdem wahrscheinlich niemals alles unter Regeln zu bringen oder auf bestimmte Ursachen zur\u00fcckzuf\u00fchren ist, dar\u00fcber ist man wohl allerw\u00e4rts einig. Gleichwohl schmeicheln sich diese bescheidenen Bemerkungen eines Unbetheiligten keineswegs mit der Hoffnung, dass sie etwa dazu beitragen k\u00f6nnten, den Streit zum Stillstand zu bringen. Der wissenschaftliche Streit pflegt, wie die Bewegung der K\u00f6rper, nur \u2022durch fortgesetzte Reibung sich allm\u00e4hlich zu ersch\u00f6pfen ; und da es in diesem Fall an Reibung nicht fehlt, so wird ja auch der endliche Ruhezustand nicht ausbleiben. Die obigen Betrachtungen bezweckten nichts weiter, als auf die Anwendungen aufmerksam zu machen, die hierbei der Begriff des Gesetzes gefunden, und dieselben mit den sonst aus der Geschichte der Wissenschaft bekannten Anwendungen des n\u00e4mlichen Begriffs zu vergleichen.\n1) Vergl. den Aufsatz : \u00bbDie Sprache und das Denken\u00ab in meinen \u00bbEssays\u00ab, S. 244 ff.","page":215}],"identifier":"lit696","issued":"1886","language":"de","pages":"195-215","startpages":"195","title":"Ueber den Begriff des Gesetzes, mit R\u00fccksicht auf die Frage der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:00:25.650340+00:00"}