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{"created":"2022-01-31T12:46:19.538892+00:00","id":"lit698","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 3: 493-496","fulltext":[{"file":"p0493.txt","language":"de","ocr_de":"Wer ist der Gesetzgeber der Naturgesetze?\nVon\nW. Wundt.\nIm Eingang eines im vorigen Hefte dieser Studien enthaltenen Aufsatzes habe ich die Wandlungen er\u00f6rtert, denen der Begriff des \u00bbGesetzes\u00ab unterworfen gewesen ist, nachdem er vom Gebiet der b\u00fcrgerlichen Rechtsordnung zuerst auf die Natur \u00fcbertragen worden war, um schlie\u00dflich in der neuesten Zeit, ver\u00e4ndert durch die dort erfahrenen Einfl\u00fcsse, in den verschiedenen Formen \u00bbgeistiger Gesetze\u00ab wieder in die N\u00e4he seines Ursprungs zur\u00fcckzukehren. Mein verehrter College RudolfHildebrand, dieser um die Geschichte unserer deutschen Sprache hochverdiente Forscher, dem wir so manche feinsinnige Beobachtung \u00fcber die Wandlungen und Wanderungen der Bedeutungen verdanken, hat mir nun aus Anlass jenes Aufsatzes eine Frage gestellt, die mir von allgemeinerem Interesse zu sein scheint, und die ich daher versuchen will, so weit ich es vermag, zu beantworten. Die Frage lautet: Wen dachte man sich bei dem Gebrauch des Bildes als den Geher des Gesetzes?\nBei Descartes, weicherzwar den Ausdruck nicht geschaffen hat, mit welchem aber doch die Einb\u00fcrgerung desselben in der neueren Naturwissenschaft beginnt, kann die Antwort auf diese Frage nicht zweifelhaft sein. Die Naturgesetze sind ihm Regeln, die wir nicht etwa der Beobachtung der Natur, sondern der Betrachtung der Eigenschaften Gottes entnehmen k\u00f6nnen. Regeln werden sie genannt, insofern sie von uns erkannt und der Erkl\u00e4rung der Erscheinungen zu Grunde gelegt werden, Gesetze, insofern sie Gott urspr\u00fcnglich in die Materie gelegt hat, als er die Eigenschaften derselben bestimmte. Der Geher des Gesetzes ist also hier Gott. Das Bild erscheint bei","page":493},{"file":"p0494.txt","language":"de","ocr_de":"494\nW. Wundt.\ndieser ersten Form seines Gebrauchs in doppelter Beziehung der urspr\u00fcnglichen Bedeutung angemessen : Das Naturgesetz ist eine Norm der nicht nur die einzelnen Ereignisse, als Handlungen aufgefasst unterworfen sind, sondern die auch einen pers\u00f6nlichen Willen zum Urheber hat. Damit h\u00e4ngt zugleich der sparsame Gebrauch des Wortes in dieser fr\u00fchesten Zeit seiner Anwendung zusammen. Die allgemeinen Eigenschaften der Materie und die Grundgesetze ihrer Bewegung sind \u2014 so ist die Anschauung \u2014 direct von Gott angeordnet ; alles Einzelne ergibt sich dann aber hieraus mit mathematischer Nothwendigkeit. Es ist dies die n\u00e4mliche Ansicht, welche sp\u00e4ter Leibniz wiederholt in die Form gebracht hat: \u00bbAlle Erscheinungen sind aus den mechanischen Gesetzen mit strenger causaler Nothwendigkeit abzuleiten, aber die mechanischen Gesetze selber sind nur aus Zwecken zu begreifen.\u00ab Diese Zwecke sind auch ihm die Zwecke der g\u00f6ttlichen Weltordnung; und hier h\u00e4ngt ihm die nat\u00fcrliche mit der sittlichen Welt, das Naturgesetz mit dem Sittengesetz unmittelbar zusammen: beide sind directe Ausfl\u00fcsse des g\u00f6ttlichen Willens. Newton hat seiner Naturphilosophie theologische Betrachtungen zumeist fern gehalten ; aber bei dem religi\u00f6sen Sinn, der dem gro\u00dfen Naturforscher eigen war, d\u00fcrfen wir nicht zweifeln, dass er bei seinen \u00bbLeges naturae\u00ab ebenfalls an den Willen Gottes als des h\u00f6chsten Gesetzgebers dachte. Nachdr\u00fccklich wird diese Anschauung durch die Bemerkungen bezeugt, mit denen er das dritte Buch der \u00bbPrincipien\u00ab abschlie\u00dft.\nMit der Einb\u00fcrgerung des Ausdrucks in der Naturwissenschaft hat sich nun aber das Verh\u00e4ltniss sichtlich allm\u00e4hlich ge\u00e4ndert. An die Stelle Gottes trat die Natur selbst. Aeltere pantheistische Anschauungen, bei denen jene beiden Begriffe von Gott und Natur in einen zusammenfielen, m\u00f6gen dabei urspr\u00fcnglich mitgewirkt haben. In diesem Sinne redet schon Giordano Bruno mit dem Ausdruck religi\u00f6ser Verehrung von den Naturgesetzen, und selbst \u00fcber Galilei\u2019s Naturanschauung ruht, wenngleich unausgesprochen, etwas von dem pantheistischen Zug der italienischen Naturphilosophie der vorangegangenen Zeit. Die v\u00f6llige L\u00f6sung von dieser religi\u00f6sen Wurzel brachte jedoch erst das auch der Naturwissenschaft sich bem\u00e4chtigende Freidenkerthum des vorigen Jahrhunderts zu Stande. Nebenbei hat wohl hier, wie in so vielen F\u00e4llen, der h\u00e4ufige Gebrauch die Profa-nirung des Ausdrucks beg\u00fcnstigt. Indem man unter \u00bbNaturgesetz\u00ab","page":494},{"file":"p0495.txt","language":"de","ocr_de":"Wer ist der Gesetzgeber der Naturgesetze ?\n495\nnun \u00fcberhaupt nur noch die strenge Regelm\u00e4\u00dfigkeit bestimmter Erscheinungen verstand, hinderte nichts mehr, den Gebrauch des Wortes weit \u00fcber seine urspr\u00fcnglichen Grenzen auszudehnen. So entstand die Unterscheidung -von allgemeinen und speciellen, axiomatischen und abgeleiteten Naturgesetzen. Diese Vorstellungsweise ist ohne Zweifel noch heute eine weit verbreitete. Von den zwei urspr\u00fcnglichen Bestandtheilen des Begriffs ist der eine, die Geltung f\u00fcr das einzelne Geschehen, das dem Gesetz unterworfen gedacht wird, erhalten geblieben; der andere, die Idee eines pers\u00f6nlichen Willens, der das Gesetz gibt, ist verloren gegangen. Aber obgleich diese Bedeutung fortbesteht und unter Umst\u00e4nden sogar leise Anwandlungen der Verbindung mit der ersten gelegentlich Vorkommen m\u00f6gen, so ist damit doch noch nicht die ganze Entwickelung ersch\u00f6pft, sondern jene fortgesetzte Ausdehnung auf untergeordnete Regelm\u00e4\u00dfigkeiten hat schlie\u00dflich zu einer letzten Gestaltung gef\u00fchrt, die man wohl als die f\u00fcr die heutige Zeit charakteristische bezeichnen kann.\nEinen je specielleren Inhalt ein Gesetz gewinnt, um so mehr bringt die Nothwendigkeit der Unterscheidung das Bed\u00fcrfniss einer kurzen und \u00fcberall leicht zu Gebote stehenden Benennung hervor. Wie lie\u00dfe sich aber ein Gesetz einfacher benennen, als indem man ihm den Namen desjenigen Mannes gibt, der es zuerst aufstellte? So hat denn in der That die Neuzeit eine Ueberf\u00fclle von pers\u00f6nlich benannten Naturgesetzen hervorgebracht. Wir reden vom Mariotte-schen, Gay-Lussac\u2019schen, Dulong und Petit\u2019schen, Avogadro-schen, Ohm\u2019sehen, Web er\u2019sehen Gesetz, und von vielen andern. Nachdem die gro\u00dfen Naturforscher vorangegangen, folgten allm\u00e4hlich die kleineren nach. Die Ehrenbezeigung durch Verewigung des Namens, welche zuerst die Botaniker und Mineralogen bei ihren Species-bezeichnungen eingef\u00fchrt, bem\u00e4chtigte sich so, wenn auch in einem durch den Gegenstand beschr\u00e4nkteren Ma\u00dfe, der Physik, Chemie und verwandter Disciplinen. Zugleich tragen nun manche dieser \u00bbGesetze\u00ab einen einigerma\u00dfen ephemeren Charakter an sich : sie kommen und gehen, um n\u00f6thigenfalls durch neue ersetzt zu werden. In vielen F\u00e4llen werden daher nunmehr die Ausdr\u00fccke \u00bbGesetz\u00ab und \u00bbHypothese\u00ab geradezu in identischem Sinne gebraucht. Es ist klar, dass von einem g\u00f6ttlichen Ursprung hier nicht mehr geredet werden kann, ebenso wenig aber davon, dass sie von, ja manchmal nicht ein-","page":495},{"file":"p0496.txt","language":"de","ocr_de":"496\nW. Wundt. Wer ist der Gesetzgeber der Naturgesetze?\nmal davon, dass sie f\u00fcr die Natur gegeben seien. Wer bleibt also hier als der Gesetzgeber \u00fcbrig, wenn nicht derNaturforscher, der einen derartigen Satz zum ersten Mal aufstellt? In der That ist nicht zu verkennen, dass diese Bedeutung mehr und mehr die herrschende geworden ist, wenn sie sich auch in vielen F\u00e4llen noch mit der zweiten und da und dort sogar einmal mit der ersten verbinden kann. Die meisten derartigen Entwickelungen haben ja das Eigenth\u00fcmliche an sich, dass neben dem neu Entstandenen das Alte nicht v\u00f6llig untergeht.\nWie weit \u00fcbrigens auch diese dritte und letzte Stufe von der ersten, auf der Gott der Gesetzgeber war, entfernt scheinen mag, in einem Punkte kommt sie derselben doch wieder n\u00e4her als das Zeitalter des reinen Naturalismus. Das Gesetz hat nicht blo\u00df, wie hier, den Charakter eines Befehls, dem die objectiven Erscheinungen gehorchen, sondern es ist auch ein pers\u00f6nlicher Wille wiedergefunden, der diesen Befehl gibt; und da dieser Wille ein individueller menschlicher Wille ist, so kommt hier das Bild sogar der Urbedeutung, der es entnommen ist, wieder am n\u00e4chsten. Wenn endlich an der Entwickelung des zweiten Stadiums die naturalistische Weltansicht des vorigen Jahrhunderts, so mag an diesem die skeptische Neigung der Zeit nicht ganz unbetheiligt sein, eine Neigung, die es begreiflich macht, dass man die Verantwortlichkeit f\u00fcr die Geltung irgend eines Satzes zun\u00e4chst nicht der Natur selbst, sondern lieber demjenigen auf b\u00fcrden m\u00f6chte, der ihn aufgestellt hat.\nAbgesehen von den Vorbehalten, die im Vorigen namentlich r\u00fccksichtlich der allm\u00e4hlichen Entstehung und der Coexistenz der verschiedenen Stufen gemacht sind, wird sich demnach die Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage kurz folgenderma\u00dfen geben lassen: Im siebzehnten! a hr hundert gibt Gott die Naturgesetze, im achtzehnten thut es die Natur selbst, und im neunzehnten besorgen es die einzelnen Naturforscher.\nWie in dieser kleinen Erscheinung sich der \u00bbGeist der Zeiten\u00ab spiegelt, dar\u00fcber Betrachtungen anzustellen, mag dem Culturhistoriker \u00fcberlassen bleiben.","page":496}],"identifier":"lit698","issued":"1886","language":"de","pages":"493-496","startpages":"493","title":"Wer ist der Gesetzgeber der Naturgesetze?","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:46:19.538898+00:00"}