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{"created":"2022-01-31T12:44:14.184765+00:00","id":"lit726","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 4: 311-389","fulltext":[{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\nGrundz\u00fcge einer Theorie der Gesichtsempfindungen.\nVon\nW. Wundt.\nMit 3 Holzschnitten.\nVor bemerk un g.\nDas Problem der physiologischen Entstehung der Licht- und Farbenempfindlingen bietet, abgesehen von seiner allgemeinen Bedeutung, ein besonderes Int\u00e9resse in Folge des Umstandes dar, dass der eigentliche Gegenstand des Problems, n\u00e4mlich der physiologische Vorgang im Sehorgan, uns so gut wie unbekannt ist. Der Physiologe befindet sich daher in der eigenthiimlichen Lage, hier durchweg mit Werkzeugen arbeiten zu m\u00fcssen, die streng genommen nicht seinem eigenen Gebiet angeh\u00f6ren, \u2014 ein Fall, der sich freilich auch hei dem zweiten unserer h\u00f6heren Sinne, bei dem Geh\u00f6rssinn, einigerma\u00dfen wiederholt. Immerhin ist uns der Mechanismus des H\u00f6rens von physiologischer Seite zug\u00e4nglicher als wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf der Chemismus des Sehens. In der That schlie\u00dft dieser Ausdruck so ziemlich Alles ein was wir \u00fcber den Process der Gesichtsempfindung mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Grund physiologischer Untersuchungen aussagen k\u00f6nnen. In allem Uebrigen sind wir darauf angewiesen, einerseits durch physikalische H\u00fclfsmittel die geeignete Einwirkungsweise der Empfindungsreize herheizuf\u00fchren, und andererseits den psychologischen Effect der Erregung, die Empfindung, subjectiv zu analysiren. So kommt es, dass gerade in diesem\nWundt, Philos. Studien. IV.\t91","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nW. Wundt.\nFall die physiologische Empfindungstheorie zugleich ein nicht geringes psychologisches Interesse besitzt. Handelt es sich doch bei ihr um eine Construction, die zun\u00e4chst ganz und gar auf Grund subjectiver Thatsachen vorgenommen wird und deren Gelingen auf den Voraussetzungen beruht, die wir uns berechtigt glauben \u00fcber den Zusammenhang psychischer und physischer Vorg\u00e4nge zu machen. Auf diese Weise bildet das vorliegende Problem wie kaum ein anderes Gelegenheit, diese Voraussetzungen selbst in Bezug auf ihre Richtigkeit und Tragweite zu erproben.\nMit diesem psychologischen verbindet sich noch ein gewisses logisches Interesse. Gerade jene relative Unkenntniss \u00fcber die wirkliche Natur der physiologischen Sehprocesse l\u00e4sst hypothetischen Con-structionen den freiesten Spielraum. Von so gro\u00dfem Nachtheil dies in Bezug auf die objective Sicherheit unserer Vorstellungen sein mag, so bietet es doch anderseits den nicht geringen Vortheil dar, dass wir um so r\u00fcckhaltloser den logischen Forderungen Gen\u00fcge leisten k\u00f6nnen, welche an eine brauchbare Theorie zu stellen sind. Dieser Forderungen gibt es namentlich zwei: vollst\u00e4ndige Zusammenfassung aller Thatsachen, und zureichende Einfachheit der Voraussetzungen. Je mehr eine Theorie beiden Forderungen gen\u00fcgt, um so besser ist sie. Eine Zusammenfassung der Thatsachen ohne eine allgemeine Anschauung, die zu Grunde liegt, ist allenfalls eine Beschreibung, aber keine Theorie; aus einer einfachen Voraussetzung, welche die Thatsachen nicht oder nur unvollst\u00e4ndig zusammenfasst, l\u00e4sst sich zwar eine Theorie bilden, aber eine solche Theorie muss als unzureichend verworfen werden.\nDies sind die Gesichtspunkte, von welchen die nachfolgende Er\u00f6rterung ausgeht. Sie sucht zun\u00e4chst die allgemeinen Voraussetzungen zu entwickeln, die, zumeist unausgesprochen, den verschiedenen Theorien zu Grunde liegen. Diese Vorpr\u00fcfung ist zwar nicht entscheidend, aber doch insofern ma\u00dfgebend, als die wechselseitige Ueber-einstimmung oder Nicht\u00fcbereinstimmung jener Voraussetzungen immerhin ein gewisses Licht auf die Folgerichtigkeit der Theorie selbst wirft. Es folgt dann eine kritische Beleuchtung der beiden gangbaren Haupttheorien, deren Unhaltbarkeit theils aus ihrer Unvollst\u00e4ndigkeit theils aus ihrem Widerstreit mit gewissen Thatsachen der Erfahrung dargethan wird. Hieran schlie\u00dft sich endlich der Versuch, eine Theorie\n!","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n313\ndurchzuf\u00fchren, welche den beiden oben ausgesprochenen Forderungen der Vollst\u00e4ndigkeit und der Einfachheit gleichzeitig nachzukommen bem\u00fcht ist.\nI. Die allgemeinen Grundlagen der Theorien.\nDie Theorie der Licht- und Farbenempfindungen ist bekanntlich von der Construction der so genannten F\u00e4rb entafel ausgegangen. Diese Construction selbst aber hat wieder einen doppelten Ursprung genommen. Einerseits suchte man durch dieselbe den objectiven Bedingungen der Farbenmischung einen Ausdruck zu geben, anderseits bem\u00fchte man sich die Verh\u00e4ltnisse der subjectiven Verwandtschaft der einzelnen Lichtqualit\u00e4ten zur Darstellung zu bringen. Dort erhielt man, da man bald erkannte, dass mindestens drei Farben zu einer vollst\u00e4ndigen Erzeugung aller Qualit\u00e4ten durch Mischung erforderlich sind, das Farbendreieck ; hier gelangte man, indem man zun\u00e4chst auf die subjective Verwandtschaft der Anfangs- und Endfarbe des Spektrums, des Roth und Violett, R\u00fccksicht nahm, zum Farbenkreis. Au\u00dfer der genannten fesselte aber fr\u00fche schon eine andere subjective Eigenth\u00fcmlichkeit des Farbensystems die Aufmerksamkeit: sie besteht in der Existenz der vier sogenannten Haupt- oder Prin-cipalfarben, unter welchen man diejenigen Farben versteht, die in der unmittelbaren Empfindung nicht aus andern gemischt erscheinen sollen, im Unterschiede von den Uebergangsfarben, bei denen dies der Fall sei. Betrachtet man Roth, Gelb, Gr\u00fcn und Blau als solche Hauptfarben, so f\u00fchrt dies zur Construction eines Farbenvierecks.\nNat\u00fcrlich sind diese drei Constructionen nicht die einzig m\u00f6glichen. Vielmehr hat neuerlich Ewald Hering in seiner Abhandlung \u00bbUeber Newton\u2019s Gesetz der Farbenmischung\u00ab1) mit Recht hervorgehoben , dass sich au\u00dfer den genannten noch sehr viele, ja streng genommen unendlich viele geometrische Darstellungsweisen des Farbensystems denken lassen, die wieder nach verschiedenen Gesichtspunkten m einzelne Gruppen geordnet werden k\u00f6nnen. Gleichwohl ist es aus den angedeuteten Gr\u00fcnden begreiflich, dass bis jetzt nur die drei oben erw\u00e4hnten Constructionen, das Farbendreieck, der Farbenkreis und\n1/ Sonderabdruek aus dem Naturw. Jahrbuch \u00bbLotos\u00ab. Bd. VII. Prag 1887.\n21*","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nW. Wundt.\ndas Farbenviereck, als Grundlagen mehr oder weniger ausgebildeter Lichttheorien benutzt wurden. Von dem Farbendreieck ist die Young-Helmholtz\u2019sehe Theorie ausgegangen; sie nimmt, wie es in dem Wesen der Construction liegt, auf die sie sich st\u00fctzt, nur auf die physikalischen Bedingungen der Farbenmischung R\u00fccksicht, auf die s\u00fcbjectiven Eigenschaften der Empfindung aber nur insofern, als jede beliebige Entstehungsweise einer Lichtqualit\u00e4t derjenigen physiologisch gleichartig angenommen wird, die mit Fl\u00fclfe der drei Grundfarben die n\u00e4mliche Qualit\u00e4t hervorbringt. Das Farbenviereck hat Hering zur Grundlage seiner Theorie gemacht. Indem er demgem\u00e4\u00df die subjective Selbst\u00e4ndigkeit der vier Hauptfarben betont, sind f\u00fcr ihn die psychologischen Eigenschaften der Empfindung zun\u00e4chst bestimmend. Dies f\u00fchrt ihn aber mit Nothwendigkeit dazu, neben den vier fundamentalen Farbenempfindungen auch das Wei\u00df und das Schwarz als selbst\u00e4ndige Empfindungsprocesse anzuerkennen, welche in der Construction der Farbentafel nur deshalb keinen besonderen Ausdruck zu finden brauchen, weil sie jede andere Empfindung begleiten. Das Farblose ist daher hier nicht resultirende Empfindung, wie die vorige Theorie auf Grund der physikalischen Zusammensetzung des wei\u00dfen Lichtes annimmt, sondern eine Restempfindung, welche in Folge der wechselseitigen Compensation entgegengesetzt gerichteter Farbenwirkungen zur\u00fcckbleibt. Darum f\u00fchrt diese Theorie mit Nothwendigkeit zugleich zur Annahme antagonistischer Farbenpaare. Auf den Farbenkreis habe ich selbst schon in der ersten Auflage meiner \u00bbPhysiologischen Psychologie\u00ab (1873\u201474), einige Zeit vor den Ver\u00f6ffentlichungen Her in g\u2019s wieder zur\u00fcckzugehen gesucht. Die dort gegebenen Andeutungen sind dann in der zweiten Auflage des genannten Werkes weiter ausgef\u00fchrt1). Den vier Hauptfarben wird hier keine absolute sondern nur eine relative Bedeutung zuerkannt. Dagegen wird die Geschlossenheit des Farbensystems betont, die in der Verwandtschaft der beiden Endfarben ihren Ausdruck findet. Auf diese Weise werden nur zwei Reizungsvorg\u00e4nge, der farblose und der farbige, unterschieden, von denen dem\n1) Namentlich ein wichtiger Punkt, n\u00e4mlich die Auffassung, dass das Farblose auf einem selbst\u00e4ndigen Empfindungsprocess beruhe, ist erst in der zweiten Auflage hinzugekommen. Ich verdanke denselben der Anregung der Hering-schen Arbeiten.","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n315\nletzteren eine Ver\u00e4nderlichkeit mit der Wellenl\u00e4nge zugeschrieben wird, welche in so kleinen Abstufungen vor sich geht, dass sie in der Empfindung als stetige Ver\u00e4nderung erscheint, und welche au\u00dferdem die beiden Eigenschaften besitzt, dass sie erstens ein in sich zur\u00fccklaufender Vorgang ist, und dass zweitens in diesem Kreisprocess je zwei maximal verschiedene Vorg\u00e4nge in ihren Wirkungen sich aufheben.\nF\u00fcr alle diese Hypothesen besteht die Hauptschwierigkeit darin, dass dasjenige, worauf sich die Hypothese direct bezieht, n\u00e4mlich der Reizungsvorgang in der Netzhaut und in den Sehnervenfasern, v\u00f6llig unbekannt ist. Wenn man heute die von Boll und K\u00fchne entdeckte Bleichung des Sehpurpurs und allenfalls auch noch die zuerst von Angelucci und Boll wahrgenommenen Pigmentwanderungen als \u00fcberzeugende Beweise f\u00fcr die photochemische Natur der Lichtreizung anzuf\u00fchren pflegt, so haben alle diese Thatsachen bis jetzt noch keinen Ertrag geliefert, der \u00fcber die ganz allgemeine Vorstellung einer chemischen Wirkung des Lichtes hinausginge. So gro\u00df man daher auch ihre Bedeutung f\u00fcr das k\u00fcnftige morphologische Studium der Seh-processe anschlagen mag, bis jetzt haben sie im Stand der Theorien nichts ge\u00e4ndert. Sogar die Vermuthung, dass die Lichtreizung ein photochemischer Process sei, ist vor dem Bekanntwerden jener wichtigen mikroskopischen Entdeckungen, lediglich auf Grund gewisser subjectiver Eigenschaften der Empfindungen schon ebenso ausgesprochen worden wie nachher1). Die eigenth\u00fcmliche Lage, in der sich die Lichtempfindungs-Theorien befinden, besteht daher darin, dass die Thatsachen, auf welche sie ihre physiologischen Voraussetzungen gr\u00fcnden m\u00fcssen, selbst nicht auf physiologischem, sondern theils auf physikalischem, theils auf psychologischem Gebiete liegen. Auf physikalischem insofern, als die genaue Kenntniss der objectiven Beschaffenheit des erregenden Lichtes bei der Analyse eines jeden Reizungsvorgangs erforderlich ist; auf psychologischem aber deshalb, weil allein aus der subjectiven Eigenschaft der Empfindung die objectiven Verh\u00e4ltnisse der physiologischen Erregungsprocesse erschlossen werden k\u00f6nnen. Diese Bedingungen bringen es von selbst mit sich, dass zwar keine Theorie jener beiden Seiten, der physikalischen sowohl wie der psychologischen, entbehren kann, dass aber doch bald auf die eine\n1) Vergl. z. B. meine Physiol. Psychol. I. Aufl. S. 342 f.","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nW. Wundt.\nbald auf die andere mehr Gewicht gelegt wird. So ist schon oben bemerkt worden, dass die Dreifarbentheorie den physikalischen, die Vierfarben- und die Kreistheorie den psychologischen Gesichtspunkt in den Vordergrund stellt.\nEine derartige Divergenz kann nun selbstverst\u00e4ndlich nur dadurch m\u00f6glich werden, dass das Princip, welches man in diesen F\u00e4llen der Interpretation der Thatsachen zu Grunde legt, ein verschiedenes ist. Welches ist aber dieses Princip? Es scheint mir beachtenswerth, dass man sich durchgehends \u00fcber diese Frage keine hinreichend klare Rechenschaft gegeben hat. Entweder wird sie v\u00f6llig mit Stillschweigen \u00fcbergangen: so im allgemeinen von den Vertretern der Young-Helmholtz\u2019sehen Theorie; oder man bezieht sich ganz allgemein auf das Princip des Parallelismus des Physischen und Psychischen, wie Hering, ein Princip, welches doch selbst erst der n\u00e4heren Definition bedarf, um bestimmtere Anwendungen auf den vorliegenden Fall zuzulassen. Unter diesen Umst\u00e4nden scheint es zun\u00e4chst angemessen, das einer jeden Theorie zu Grunde gelegte Princip aus ihr selbst zu entnehmen, ohne R\u00fccksicht darauf, ob und wie es von den Vertretern derselben formulirt worden ist.\nNun besteht der gemeinsame Charakter aller oben genannten Theorien darin, dass sie irgend eine Art von Correspondenz zwischen der Empfindung und dem physiologischen Erregungsvorgang voraussetzen. Denn der Ausgangspunkt f\u00fcr alle ist ja die Construction der Farbentafel. Eine solche aber l\u00e4sst sich, sobald man nicht etwa blo\u00df \u00fcber die subjective Verwandtschaft der Farben, sondern auch in irgend einer Weise \u00fcber ihr Verh\u00e4ltniss zum objectiven Lichteindruck Rechenschaft geben will, nicht anders als mittelst einer solchen Voraussetzung ausf\u00fchren. Demnach kann die Verschiedenheit des leitenden Princips nur noch darin bestehen, dass man \u00fcber Art oder Umfang der Correspondenz zwischen Erregung und Empfindung verschiedene Annahmen macht. In der That ist es von diesem Gesichtspunkte aus nicht schwer die fundamentalen Unterschiede aufzufinden, die, zumeist unausgesprochen, zwischen den Voraussetzungen der verschiedenen Theorien bestehen.\nF\u00fcr die Young-Helmholtz\u2019sche Theorie sind die Erscheinungen der Farbenmischung ausschlie\u00dflich ma\u00dfgebend. Sie nimmt drei Grundempfindungen und folgeweise drei physiologische Grund-\n\u00bb","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n317\nprocesse in der Netzhaut an, weil es drei objective Farben gibt, mittelst deren man alle Lichtempfindungen erzeugen kann. Denjenigen drei Farben, mittelst deren diese Mischung am vollkommensten m\u00f6glich ist, l\u00e4sst sie die drei realiter existirenden Grundprocesse entsprechen. Genau so wie aus den objectiven drei Grundfarben die verschiedenen Lichtempfindungen sich hervorbringen lassen, mischen sich auch die physiologischen Netzhautvorg\u00e4nge. So ist das spektrale Gelb stets im Auge aus roth und gr\u00fcn gemischt. Wei\u00df ist, wie es immer entstanden sein m\u00f6ge, stets aus den drei Grundprocessen gemischt u. s. w. Demnach kann allgemein eine bestimmte Lichtqualit\u00e4t zwar physikalisch auf verschiedene, physiologisch aber immer nur auf eine und dieselbe Weise, n\u00e4mlich in derjenigen Form entstehen, in der dieselbe mittelst der drei Grundfarben hervorgebracht werden kann. Wie man sieht, l\u00e4sst sich dem Correspondenzprincip, welches dieser Thorie zu Grunde liegt, der allgemeine Ausdruck geben : Allen Farbenmischungen, welche gleiche subjective Empfindungen hervorbringen, entsprechen auch gleiche objective Netz-hautprocesse.\nDass dieser Satz richtig ist, geht in der That aus den Erscheinungen der Farbenmischung mindestens mit der allergr\u00f6\u00dften Wahrscheinlichkeit hervor. Er l\u00e4sst sich als die Grundvoraussetzung betrachten, auf welche das Grassmann\u2019sehe Gesetz hinausf\u00fchrt, dass \u00bbgleich aussehende Farben gemischt gleich aussehende Mischungen gehen\u00ab, ein Gesetz, dessen empirische G\u00fcltigkeit noch neuerlich theils von J. v. Kries, theils von Hering gepr\u00fcft und best\u00e4tigt worden ist1). Dagegen ist jenes Princip offenbar noch nicht zureichend, um sofort die Dreifarbentheorie daraus abzuleiten, sondern es w\u00fcrde die Annahme von vier oder selbst beliebig vielen Grundprocessen ebenfalls damit vertr\u00e4glich sein, da sich auch mit der Voraussetzung anderer Componenten Annahmen verbinden lassen, welche jenem Princip Gen\u00fcge leisten. Als weitere Bestimmungss\u00e4tze kommen daher noch zwei, ein positiver und ein negativer, hinzu. Der erste lautet: \u00bbDie Zahl der Grundprocesse entspricht der kleinsten Zahl von Farben, welche zur Construction einer Mischungstafel gen\u00fcgen.\u00ab Der zweite w\u00fcrde \u2014 vorausgesetzt dass man ihn ausspr\u00e4che \u2014 lauten :\n1) v. Kries und Brauneck, Archiv f. Physiol. 1885, S. 79. Hering, Ueber Newton\u2019s Gesetz der Farbenmischung, S. 82.","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nW. Wundt.\n\u00bbZwischen den subjectiven Eigenschaften der Empfin-dungsgemische und den objectiven der gemischten \u00bbSe 11 \u2014 pro cesse existirt keine Correspondenz\u00ab. So sind Gelb, Blau, Wei\u00df in der Empfindung einfach, alsNetzhautprocesse aber zusammengesetzt, und demgem\u00e4\u00df lassen sich jene Empfindungen nicht nur nicht zerlegen in die Empfindungen, die ihren objectiven Netzhautcompo-nenten entsprechen, sondern sie zeigen auch nicht die geringste Aehn-lichkeit mit den letzteren.\nGegen den ersten dieser beiden H\u00fclfss\u00e4tze l\u00e4sst sich nun an und f\u00fcr sich nicht viel einwenden. Er ist das \u00bbPrincipium simplicitatis\u00ab angewandt auf ein specielles Problem. .Freilich l\u00e4sst sich demselben aber in diesem Fall schon um deswillen keiii allzu gro\u00dfer Werth beimessen , weil der Vorzug der drei angenommenen Grundfarben vor je drei anderen, die hinreichend weit von einander entfernt im Spektrum liegen, kein absoluter sondern nur ein relativer ist. Es ist schon von Helmholtz zugestanden worden, dass es \u00fcberhaupt keine drei Com-ponenten gibt, aus denen sich alle Farben in spektraler S\u00e4ttigung erzeugen lassen. Nach den sp\u00e4teren Versuchen von J. J. M\u00fcller sollen zwar, wenn man die Young\u2019sehen Farben Roth, Gr\u00fcn und Violett w\u00e4hlt, die Uehergangst\u00f6ne zwischen Roth und Gelb und zwischen Cyanblau und Violett durch Mischung in spektraler S\u00e4ttigung erzeugt werden k\u00f6nnen ; auch innerhalb dieser Grenzen kann jedoch der Satz nur f\u00fcr Farben, die einander sehr nahe liegen, als hinreichend sicher gelten, dagegen erh\u00e4lt man bei den Uebergangst\u00f6nen zwischen Gelb und Gr\u00fcn und zwischen Gr\u00fcn und Blau selbst bei der Mischung wenig verschiedener Wellenl\u00e4ngen immer nur wei\u00dfliche Farben. Es ist daher n\u00f6thig anzunehmen, dass die drei Netzhautprocesse nicht den Spektralfarben selbst entsprechen, sondern dass die drei Grundfarben auf einer idealen Farbentafel liegen, welche die Tafel der Spektralfarben in sich schlie\u00dft. Wenn man sich diese z. B. auf der Curve HG Vangeordnet denkt (Fig. 1), so w\u00fcrde ein Dreieck It G y V als ideale Farbentafel anzunehmen sein. Wendet man nun auf die Construction dieser Farbentafel die New ton\u2019sehe Schwerpunktsconstruction an, indem man die einzelnen Farben in spektraler S\u00e4ttigung als Gewichte wirkend denkt und in den gemeinsamen Schwerpunkt je zweier einander gegen\u00fcberliegender Complement\u00e4rfarben das Wei\u00df (TV) verlegt, so enth\u00e4lt die von der Curve RGV umschlossene Fl\u00e4che alle realen Farbenempfin-","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n319\nd\u00fcngen nebst ihren Ueberg\u00e4ngen zu Wei\u00df ; der Theil der Dreiecksfl\u00e4che aber, welcher au\u00dferhalb der Curve liegt, ist imagin\u00e4r. Da nun um die Fl\u00e4che RGV noch beliebig viele andere Dreiecke construirt werden k\u00f6nnen, wie Rt Gb1Bl, P2 Gb2B-2 u. s. w., so ist nach dieser Construction die Auswahl der Grundempfindungen \u00fcberhaupt willk\u00fcrlich: dem ersten dieser Systeme w\u00fcrden z. B. Roth, Gelb und Blau, dem zweiten Purpur, Gelb und Blau als Grundfarben entsprechen. Der Vorzug, welchen Roth, Gr\u00fcn und Violett vor anderen \u00e4hnlichen Com-\nFig. 1.\nbinationen besitzen, besteht allein darin, dass der imagin\u00e4re Theil der Farbenfl\u00e4che hierbei relativ am kleinsten ausf\u00e4llt. Dieser Vorzug kann dann aber viel einfacher, als aus der Existenz von gerade drei diesen Farben entsprechenden Fundamentalprocessen, aus dem Umstande erkl\u00e4rt werden, dass eben Roth und Violett die Endfarben des Spektrums sind, wodurch nothwendig dasjenige Dreieck, welches ihre Verbindungslinie zur Basis hat, den kleinsten Fl\u00e4cheuraum einnehmen muss.\nWeit gr\u00f6\u00dfere Bedenken erregt jedoch der zweite H\u00fclfssatz der Dreifarbentheorie, und zwar deshalb, weil er mit dem Frincip, auf","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nW. Wundt.\nwelchem die ganze Theorie aufgebaut ist, nur schwer in Einklang gebracht werden kann. Nach diesem Princip entsprechen gleichen sub-jectiven Effecten der Farbenmischung gleiche objective Netzhautpro-cesse; nach jenem H\u00fclfssatz dagegen entsprechen die subjectiven Effecte und die objectiven Eigenschaften der gemischten Nervenpro-cesse einander nicht. W\u00e4hrend also auf der einen Seite, da wo es sich um die Erschlie\u00dfung der Fundamentalprocesse handelt, lediglich der subjective Effect als Ma\u00dfstab des unbekannten physiologischen Vorganges dient, wird auf der anderen Seite, da wo das Verh\u00e4ltniss beliebiger anderer Farben- oder Lichtempfindungen zu den entsprechenden Netzhautprocessen in Frage steht, jener subjective Effect v\u00f6llig ignorirt. Es ist klar, dass solche Principien der Correspondenz und der Nichtcorrespondenz nur dann neben einander bestehen k\u00f6nnen, wenn man annimmt, die Erregungsvorg\u00e4nge, die aus je zwei Fundamentalprocessen resultiren, seien im allgemeinen von den Fundamentalprocessen selbst verschieden, so dass sie wieder Nervenpro-cesse eigenth\u00fcmlicher Art mit eigenth\u00fcmlichen subjectiven Effecten constituiren. Mit diesem Zugest\u00e4ndniss verliert aber die Dreifarbentheorie ganz ihren specifischen Charakter. Denn es sind ja nun nicht mehr blo\u00df drei, sondern mehrere verschiedene Sehprocesse, die sie voraussetzt, und jene drei unterscheiden sich nur durch den Umstand, dass sie nur durch einfaches Licht, nicht durch Mischung hervorgebracht werden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend die anderen theils, wie z. B. Blau und Gelb, auf beide Weise, theils, wie das Wei\u00df und die wei\u00dflichen Farben, nur auf dem letzteren Wege entstehen. Mit anderen Worten : an die Stelle der Dreifarbentheorie tritt wieder die einfache Construction der Farbentafel aus drei Componenten, ohne dass jedoch irgend eine Correspondenz dieser Componenten mit den physiologischen Netzhautprocessen statuirt wird.\nWesentlich anders verh\u00e4lt es sich mit der Vierfarbentheorie Hering\u2019s. Ihr gilt die Correspondenz zwischen Netzhautprocess und Empfindung nicht blo\u00df als eine beschr\u00e4nkte, blo\u00df f\u00fcr die Grundfarben g\u00fcltige, f\u00fcr alle durch Mischung der letzteren herbeizuf\u00fchrenden Effecte aber nicht mehr g\u00fcltige, sondern als eine schlechthin absolute. Sobald zwei Lichtempfindungen qualitativ verschieden sind, beruhen sie auch auf specifisch verschiedenen Netzhautprocessen ; sobald sie f\u00fcr die Empfindung gemischt sind, sind auch die Netzhautprocesse ge-","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n321\nmischt, die ihnen entsprechen. Hering st\u00fctzt sich hierbei ausdr\u00fccklich auf die \u00bbunserer ganzen Psychophysik zu Grunde liegende Annahme eines Parallelismus zwischen Physischem und Psychischem \u00ab, und er f\u00fchrt hierbei zustimmend den Satz Mach\u2019s an: \u00bbJedem Psychischen entspricht ein Physisches und umgekehrt\u00ab1). Uehrigens kommt im vorliegenden Fall nur die erste H\u00e4lfte dieses Satzes zur Anwendung, die zweite besteht \u00fcberhaupt in einer unzul\u00e4ssigen Umkehrung. Es ist, um bei unserem Beispiel zu bleiben, vollkommen denkbar, dass verschiedene Netzhautprocesse \u00fcbereinstimmende Empfindungen hervorbringen, weil m\u00f6glicherweise die centralen Vorg\u00e4nge, welche die unmittelbaren psychophysischen Zwischenglieder abgeben, keine Verschiedenheit aufweisen. So ist es z. B. sehr wohl m\u00f6glich, dass kleinen Intensit\u00e4tsunterschieden des Lichtes auch Unterschiede der Netzhauterregung entsprechen, dass wir aber gleichwohl diese Unterschiede subjectiv nicht wahrnehmen, weil die die centraleren Vorg\u00e4nge der Apperception begleitenden physiologischen Processe jene peripherischen Unterschiede nicht zur Geltung gelangen lassen. Das N\u00e4mliche ist nat\u00fcrlich auch bei Qualit\u00e4tsunterschieden denkbar. Uehrigens folgt diese Nichtumkehrbarkeit des Correspondenzprincips einfach schon aus der Thatsache, dass zwar jeder Empfindung ein physischer Process, keineswegs aber jedem physischen Process eine Empfindung entspricht. Der erste Theil des Mach\u2019sehen Satzes ist darum eine wohlbegr\u00fcndete Erfahrungsannahme, der zweite eine auf dem Boden hylozoistischer Metaphysik entstandene, nirgends in der Erfahrung zu best\u00e4tigende Behauptung.\nDoch selbst in jener beschr\u00e4nkteren Form ist das Princip der Corresponded immer noch viel zu allgemeinen Inhalts, als dass es zureichende Anhaltspunkte zum Aufbau einer physiologischen Theorie darb\u00f6te. Bei der v\u00f6lligen Unvergleichbarkeit der Empfindungen mit den physiologischen Sehprocessen ist es f\u00fcr uns schlechterdings unm\u00f6glich zu beurtheilen, welches Ma\u00df objectiver Verschiedenheit durch eine bestimmte subjective Differenz gefordert werde. Wer wollte sich z. B. anheischig machen apodiktisch zu behaupten, heim Gelb sei ganz bestimmt eine qualitative Differenz erreicht, hei der man eine Beimengung der rothen Netzhauterregung nicht mehr voraussetzen k\u00f6nne,\n1) Hering, Zur Lehre von Lichtsinne, S. 76 f.","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nW, Wundt.\nbeim Orange sei aber eine solche noch anzunehmen? Wir werden hier doch immer nur sagen k\u00f6nnen, in der Reihe der Farben gebe es von Roth bis Gelb alle m\u00f6glichen stetigen Ueberg\u00e4nge, und in diesen komme auch das Orange vor. Aber wenn Jemand das Orange ebenfalls als eine selbst\u00e4ndige Farbe gelten lassen wollte, so w\u00fcrde dem eben so wenig absolut zu widersprechen sein, als wenn ein Anderer etwa in dem Gelb noch eine Verwandtschaft mit dem Roth erblickte. Es ist wahr, die Namen der Farben Roth, Gelb, Gr\u00fcn und Blau haben sich allein in der vorwissenschaftlichen Sprache ausgebildet, aber diese zun\u00e4chst von praktischen R\u00fccksichten abh\u00e4ngige Thatsache kann doch nichts \u00fcber die Analyse der Empfindungen oder vollends \u00fcber die Existenz der Netzhautprocesse entscheiden. Sonst w\u00fcrde man schlie\u00dflich auch den vier Hauptfarben wieder einen verschiedenen Werth zuerkennen m\u00fcssen, da bekanntlich z. B. das Blau in den meisten Sprachen sp\u00e4ter benannt worden ist als Roth oder Gr\u00fcn. Die bekannte Hypothese \u00fcber eine allm\u00e4hliche Entwickelung des Farbensinns in culturhistorischer Zeit, die man auf diese sprachliche Thatsache st\u00fctzte, kann aber heute wohl als zureichend widerlegt gelten.\nMit der erw\u00e4hnten Unsicherheit h\u00e4ngt noch eine andere zusammen. Ist das Orange eine Mischung aus Roth und Gelb, oder ist es eine Zwischenfarbe zwischen beiden, ein qualitativer Uebergang \u00e4hnlicher nur verminderter Art, wie das Gelb ein solcher zwischen dem Roth und dem Gr\u00fcn ist? Hering behauptet das erstere. In bestimmten Farben will er zwei Componenten empfinden, in anderen nicht. Hier bemerkt man deutlich, wie sehr der Einfluss der Mischungsversuche auch auf die Vierfarbentheorie her\u00fcberwirkt. Zwar die Annahme, dass aus der Mischung gegebener Componenten etwas v\u00f6llig Disparates entstehen k\u00f6nne, weist sie ab. Aber sobald die qualitativen Unterschiede geringer erscheinen, sollen auch hier die Empfindungen und die Netzhautprocesse ebenso sich mischen, wie man objectiv Wellenl\u00e4ngen mischen kann, obgleich man doch wohl bezweifeln darf, ob z. B. Orange im Vergleich mit Roth und mit Gelb wirklich in der Empfindung zusammengesetzt sei.\nHiernach unterscheidet sich das Correspondenzprincip, welches die Grundlage der Vierfarbentheorie bildet, wesentlich dadurch von dem entsprechenden Grundprincip der Dreifarbentheorie, dass es sich nicht blo\u00df auf die subjectiven Effecte der Farbenmischungen","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"323\nDie Empfindung des Lichts und der Farben.\nsondern auf den subjectiven Eindruck der Lichtqualit\u00e4t \u00fcberhaupt bezieht, und dass es daher auch nicht die subjective Gleichheit verschiedener objectiver Einwirkungen, sondern ganz allgemein die subjective Verschiedenheit der Empfindungen, gleichg\u00fcltig ob die physikalischen Reize gleich oder verschieden sein m\u00f6gen, zum Ma\u00dfstab der Beurtheilung der unbekannten Netzhautprocesse nimmt. Demgem\u00e4\u00df lautet hier das Corre-spondenzprincip: \u00bbVerschiedene Qualit\u00e4ten der Lichtempfindung entsprechen verschiedenen Formen des Netz-hautprocesses\u00ab. Es ist aber bereits darauf hingewiesen worden, dass auch dieses Princip wegen der Unbestimmtheit des Begriffs des \u00bbVerschiedenen\u00ab nicht zureicht, um irgend eine Theorie darauf aufzubauen. Unausgesprochen kommen daher auch hier wieder verschiedene Hiilfss\u00e4tze hinzu. Der erste derselben lautet: \u00bbFundamental verschieden sind solche Lichtqualit\u00e4ten , die in der Sprache einen generisch verschiedenen Ausdruck erhaltenhaben\u00ab. Dieser Satz liefert die vier Hauptfarben, Roth, Gelb, Gr\u00fcn und Blau, und die zwei Qualit\u00e4ten des Farblosen, Wei\u00df und Schwarz. Der zweite Satz lautet: \u00bbJede Lichtqualit\u00e4t, welche nicht fundamentaler Artist, besteht aus einer Mischung je zweier einander n\u00e4chstgelegener Fundamentalqualit\u00e4ten\u00ab. Diese beiden S\u00e4tze sind aber noch nicht im Stande gerade \u00fcber das Rechenschaft zu geben, wovon die Dreifarbentheorie ihrerseits hei der Aufstellung ihrer Pr\u00e4missen ausgegangen war, n\u00e4mlich \u00fcber die Ergebnisse der Mischung complement\u00e4rer Farbenpaare. Es tritt daher noch als ein dritter H\u00fclfssatz der folgende hinzu : \u00bbJe zwei fundamentale Lichtqualit\u00e4ten verhalten sich zu einander antagonistisch, so dass sie in geeigneten Mengen gemischt einander aufheben\u00ab. Dass der erste und zweite dieser Il\u00fclfss\u00e4tze einigerma\u00dfen willk\u00fcrlich sind, weil die sprachliche Unterscheidung kein hinreichend sicheres Kriterium f\u00fcr die Trennung von Fundamental- und Mischfarben abgeben kann, und weil die Auffassung der Uebergangsfarben als gemischter, also nicht einfacher sondern zusammengesetzter Empfindungen bestreitbar ist, haben wir oben gesehen. Der Schwerpunkt der Theorie f\u00e4llt daher in das zuletzt for-mulirte Compensationsprincip, in welchem zugleich ebenso sehr der Zusammenhang mit der Dreifarbentheorie wie ihr Unterschied von","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nW. Wundt.\nderselben zu Tage tritt. In der That sind beide Theorien dadurch einander nahe verbunden, dass sie beide alsMischungs- oder Com-ponententheorien bezeichnet werden k\u00f6nnen\u00ab1). Aber w\u00e4hrend die Dreifarbentheorie ausschlie\u00dflich auf die physikalischen Mischungsverh\u00e4ltnisse der Farben R\u00fccksicht nimmt, will die Vierfarbentheorie zugleich \u00fcber die qualitativen Eigenschaften der Fundamentalfarben sowohl wie ihrer Mischungseffecte Rechenschaft geben : sie vereinigt also in sich die Eigenschaften einer Mischungs- und einer Qualit\u00e4tentheorie.\nDer wesentliche Punkt, in welchem die dritte der oben aufgez\u00e4hlten Theorien, die von der Construction des Farbenkreises ausgeht, und die wir kurz die Stufentheorie nennen wollen, von der Drei-wie von der Vierfarbentheorie abweicht, besteht nun darin, dass dieselbe \u00fcberhaupt die Correspondenz physikalischer Grundfarben und physiologischer Grundprocesse der Empfindung leugnet. Ma\u00dfgebend hierf\u00fcr ist einerseits die Bemerkung, dass die Zahl und Qualit\u00e4t der physikalischen Componenten, aus denen sich alle Lichtqualit\u00e4ten erzeugen lassen, keineswegs eindeutig bestimmt ist, sondern dass hier viele Systeme m\u00f6glich sind, und anderseits die That-sache, dass es unter allen diesen Systemen kein einziges gibt, welches der Bedingung wirklicher, nicht blo\u00df imagin\u00e4rer Grundfarben gen\u00fcgt. Hiernach macht diese Theorie von dem Princip der Correspondenz in uneingeschr\u00e4nkter Weise Gebrauch: \u00bbJeder qualitativen oder quantitativen Differenz der Lichtempfindung entspricht eine qualitative oder quantitative Differenz des Sehpro-cesses\u00ab. Die Annahme einer Mischung verschiedenartiger Processe wird nicht ausgeschlossen, aber sie wird beschr\u00e4nkt au. denjenigen Fall, in welchem die Untersuchung der Mischungseffecte die Componenten wirklich als selbst\u00e4ndige nachzuweisen vermag. Dies trifft aber mit Sicherheit nur inBezug auf das Verh\u00e4ltniss der verschiedenen Farbenempfindungen zur Empfindung des Farblosen zu, weil hier bei der Ausgleichung solcher Farbeneindr\u00fccke , die zu einander com-plement\u00e4r sind, das Farblose als Restph\u00e4nomen \u00fcbrig bleibt. Inwieweit eine \u00e4hnliche Annahme auch in Bezug auf das Verh\u00e4ltniss der beiden Qualit\u00e4ten des Farblosen, des Wei\u00df und des Schwarz, zul\u00e4ssig\n1) Vergl. J. von Kries, Die Gesichtsempfindungen und ihre Analyse. Leipzig 1882. S. 18.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\t325\nist, bleibe vorl\u00e4ufig dahingestellt} wir werden auf diese Frage sp\u00e4ter zur\u00fcckkommen.\nSomit geht auch diese Theorie auf die Vorstellung zur\u00fcck, dass die Aufhebung von complement\u00e4ren Farben zu Wei\u00df als antagonistische, nicht als resultirende Wirkung zu deuten sei. Aber diese Auffassung steht nicht blo\u00df mit den an sich durch die Existenz des Farbenkreises nahegelegten Vorstellungen im Einklang, sondern sie wird speciell auch durch die sp\u00e4ter zu er\u00f6rternde Abh\u00e4ngigkeit der S\u00e4ttigung von der Lichtst\u00e4rke der Farben wesentlich unterst\u00fctzt. Denn diese Abh\u00e4ngigkeit weist darauf hin, dass der Process der farblosen Empfindung an und f\u00fcr sich jeden Sehprocess begleitet. Wenn dies der Fall ist, so k\u00f6nnen die Empfindungen Wei\u00df und Schwarz nicht blo\u00dfe Resultanten verschiedenartiger anderer Seh-processe sein, sondern es ist das Auftreten des Farblosen von selbst gegeben, wenn andere nebenhergehende Processe sich auf heben, ohne dass jene Annahme eines unbekannten resultirenden Vorgangs erforderlich w\u00e4re.\nGanz anders steht es in dieser Beziehung mit den verschiedenen Qualit\u00e4ten, die in der Reihe der Farben auf einander folgen. Hier besteht der einzige Anhaltspunkt zur Annahme gemischter Sehprocesse darin, dass Wellenl\u00e4ngen, xlie wenig verschieden sind, mit einander gemischt Farben ergeben, die auch in der Reihe der einfachen Farben zwischen den Componenten in der Mitte liegen. Welche Farben dann aber als Repr\u00e4sentanten einfacher Componenten gew\u00e4hlt werden sollen, daf\u00fcr fehlt es uns an jedem Anhaltspunkt, und auch \u00fcber die Zahl derselben l\u00e4sst sich gar nichts aussagen, wenn man nicht der unsicheren F\u00fch xmg der zuf\u00e4llig vorhandenen und noch dazu in den verschiedenen Sprachen wechselnden Benennungen der Farben sich \u00fcberlassen will. G\u00e4be es keine Complement\u00e4rfarben, d. h. Farben, deren Mischung nicht eine zwischenliegende Farbe, sondern Auf hebung jeder Farbenempfindung herbeif\u00fchrt, so w\u00fcrde man vielleicht vom Standpunkte der Componententheorien aus, dem \u00bbPrincipium simplici-tatis\u00ab zufolge, auf blo\u00df zwei Grundfarben, welche dann zugleich die Anfangs- und Endfarbe des Spektrums sein m\u00fcssten, Anspruch erheben, \u00e4hnlich wie in der That Mach die Hypothese aufgestellt hat, alle Tonempfindungen seien aus nur zwei specifischen Qualit\u00e4ten, der des h\u00f6chsten und der des tiefsten Tons, gemischt. Zwei Nervenfasern,","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nW. Wundt.\num die ganze F\u00fclle der T\u00f6ne und Kl\u00e4nge zu h\u00f6ren, was will man mehr, um mit den kleinsten Mitteln so viel als m\u00f6glich zu leisten ?l) Wie man sich bei der Aufstellung dieser Hypothese nicht darum gek\u00fcmmert hat, dass ein Ton von mittlerer H\u00f6he uns keineswegs als die Mischung eines tiefen und eines hohen Tones erscheint, ebenso w\u00fcrde man sich ja auch daran, dass Both und Violett gemischt niemals Gr\u00fcn, Gelb oder Blau gehen, nicht zu sto\u00dfen brauchen. Aber schlie\u00dflich sind die That-sachen doch m\u00e4chtiger als die theoretischen Vorurtheile. Da es eine wohlbekannte Farbe gibt, welche durch Mischung von Roth und Violett erzeugt werden kann, und welche die Eigenschaft hat beiden Com-ponenten \u00e4hnlicher zu sein als jede andere Farbe, n\u00e4mlich das Purpur, so w\u00fcrde man doch wohl in diesem Falle vor einer solchen \u00e4u\u00dfersten Vereinfachung zur\u00fcckschrecken. Hiervon abgesehen, w\u00fcrde jedoch beim Lichtsinn die Existenz der Complement\u00e4rfarben eine so weitgehende Reduction der Energien nicht gestatten. Denn diese Thatsache schlie\u00dft die Forderung in sich, dass von einer gegebenen Fundamentalfarhe an bis zur Erreichung der ihr complement\u00e4ren mindestens noch eine Fundamentalfarhe zu finden sei, womit \u00fcbrigens selbstverst\u00e4ndlich nicht ausgeschlossen ist, dass sogar deren unbestimmt viele in dem Intervall existiren. Es wird also darauf ankommen, oh sich thats\u00e4ch-liche Anhaltspunkte f\u00fcr die Auswahl einzelner Farben von fundamentaler Bedeutung ergehen oder nicht, und namentlich oh es m\u00f6glich ist solche zu finden, die zur Erzeugung aller m\u00f6glichen Farbeneffecte zureichen. Nach der Dreifarhentheorie erf\u00fcllen die drei Grundfarben, nach der Vierfarhentheorie erf\u00fcllen die zwei Farhenpaare Roth und Gr\u00fcn, Gelb und Blau diese Bedingung, Ohne Zweifel ist diese Frage f\u00fcr die Wahl der Theorie entscheidend, und sie wird daher noch n\u00e4her zu pr\u00fcfen sein.\nZuweilen begegnet man \u00fcbrigens der Bemerkung, die Zur\u00fcckf\u00fchrung der Lichtreizung auf einen photochemischen Vorgang sei von vornherein, auch abgesehen von einer solchen empirischen Best\u00e4tigung, f\u00fcr die Bevorzugung einer Componententheorie im Sinne einer eng begrenzten Zahl einfacher Sehprocesse entscheidend, und es k\u00f6nne daher f\u00fcglich \u00fcberhaupt nur von einer Wahl zwischen einer der Componenten-theorien die Rede sein. Dennes sei wohl denkbar, dassmehrere chemische Zersetzungsprocesse neben einander durch Licht verschiedener Wellen-\n1) E. Mach, Beitr\u00e4ge zur Analyse der Empfindungen. Jena 1886. S. 121.","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n327\nl\u00e4nge in der Netzhaut ausgel\u00f6st w\u00fcrden. Es sei aber nicht annehmbar, dass die chemische Zersetzung eine stetige Function der Wellenl\u00e4nge sei !). Wir werden auf diesen Punkt noch ausf\u00fchrlicher zur\u00fcckkommen. Hier sei nur im allgemeinen bemerkt, dass wir \u00fcber die photochemischen Sehprocesse schlechterdings nur etwas wissen, insofern uns unsere Empfindungen R\u00fcckschl\u00fcsse auf deren Beschaffenheit gestatten. Nach allem was uns sonst \u00fcber photochemische Vorg\u00e4nge bekannt ist, ist es eben so gut m\u00f6glich, dass verschiedene Farben den Zersetzungen verschiedener chemisch zersetzbarer Substanzen, wie dass sie verschiedenen Zersetzungsformen einer und derselben Substanz entsprechen. Ferner k\u00f6nnen die chemischen Processe, aus denen verschiedene Farbeneffecte hervorgehen, qualitativ oder quantitativ verschieden sein. Ohne Zweifel wird man von vornherein geneigt sein, die geringeren Unterschiede auf blo\u00df quantitative, die gr\u00f6\u00dferen auf qualitative Differenzen zur\u00fcckzuf\u00fchren. Die Stufentheorie oder Intervalltheorie behauptet nun keineswegs die Unrichtigkeit dieser Anschauung, sondern sie behauptet nur, dass unsere empirische Kennt-niss der Sehprocesse nicht zureicht, um \u00fcber das Verh\u00e4ltniss dieser beiden Arten der Ver\u00e4nderung irgend etwas auszusagen, dass aber die in der Drei- und der Vierfarbentheorie gemachten Annahmen nicht richtig sein k\u00f6nnen, weil die Resultate der subjectiven Analyse des Sehprocesses, auf die wir bis dahin allein angewiesen sind, ihnen widersprechen. Vielmehr ist dieser subjectiven Analyse die reine Farbenempfindung als ein stetig ver\u00e4nderlicher Vorgang gegeben, der in bestimmte einzelne einfache Componenten nicht weiter zerlegt werden kann. Wohl aber gibt uns die subjective Analyse bez\u00fcglich des Verh\u00e4ltnisses der einzelnen Stufen der Farbenreizung zu einander gewisse Erfahrungen an die Hand, die f\u00fcr die Auffassung der entsprechenden Sehprocesse entscheidend sind. Aus diesen Erfahrungen ergeben sich einige H\u00fclfss\u00e4tze, welche auch hier dem allgemeinen Correspon-denzprincip erg\u00e4nzend zur Seite treten.\nDer erste dieser H\u00fclfss\u00e4tze lautet: \u00bbDie Farbenerregung bildet einen Kreisprocess, insofern die Wirkungen der k\u00fcrzesten den je nigen der l\u00e4ngsten W e 11 enl\u00e4n gen wieder \u00e4hnlich werden\u00ab. Ein zweiter sagt aus : \u00bbInnerh alb des K reis-\n1) VergL J. v. Kries, Die Gesichtsempfindungen S. 159. Wundt, Philos. Studien. IV.\n22","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nW. Wundt.\nprocesses der Farbenerregung bilden je zwei maximal von einander verschiedene Erregungsvorg\u00e4nge compen-satorische Reizungen\u00ab. Jedes der in diesen beiden S\u00e4tzen ausgesprochenen Merkmale charakterisirt die Farbenerregung als eine periodische Function der Wellenl\u00e4nge. Nach diesem f\u00fcr sie ma\u00dfgebenden empirischen Gesichtspunkte kann daher die Intervalltheorie auch als eine Periodicit\u00e4tstheorie von denComponententheorien unterschieden werden*). Es bedarf \u00fcbrigens kaum der Bemerkung, dass die obigen H\u00fclfss\u00e4tze im wesentlichen nichts anderes sind als diejenigen physiologischen Umdeutungen der Resultate der unmittelbaren Vergleichung der Empfindungen sowie der Farbenmischung, welche sich auf Grundlage des allgemeinen Correspondenzprincips ergeben.\nII. Die Dreifarbentheorie.\nDer Pr\u00fcfstein einer jeden Theorie hleibt schlie\u00dflich die Ueberein-' Stimmung mit der Erfahrung. Die sch\u00f6nste und ansprechendste Theorie muss verworfen werden, wenn sie diesem Erfordemissenichtnachkommt, wenn sie also entweder nur einzelne Erscheinungen begreiflich macht, \u00fcber andere aber keine Rechenschaft gibt, oder auch wenn sie zwar mit einem Theil der Thatsachen \u00fcbereinstimmt, mit einem andern aber in Widerspruch tritt. Insbesondere darf daher auch der beherzigens-werthe Grundsatz, dass die Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnde nicht \u00fcber Geb\u00fchr zu vermehren seien, nicht in sein Gegentheil umgewandelt werden, indem man dieselben unter das erforderliche Ma\u00df herabsetzt. Einfachheit ist ein gro\u00dfer Vorzug einer Theorie, aber die V ollst\u00e4ndigk eit bleibt doch der begehrenswerthere. Die Young-Helmholtz\u2019sche Theorie\n1) Der Ausdruck Stufentheorie ist von J. v. Kries zuerst f\u00fcr die dem physiologischen Process der Tonempfindungen in der Regel zu Grunde gelegten Vorstellungen angewandt worden. Da die f\u00fcr die Farbenempfindungen gemachten Annahmen in dem hier wesentlichen Punkte, dass eine stufenweise Ver\u00e4nderung vorausgesetzt wird, welche in der Empfindung als stetige Ver\u00e4nderung erscheint, mit jenen Vorstellungen \u00fcbereinstimmt, so habe ich diese Bezeichnung hier adoptirt. Dagegen halte ich die von J. v. Kries (a. a. O. S. 18 u. 159) vorgeschlagenen Ausdr\u00fccke Qualit\u00e4ten-oder Stetigkeitstheorie f\u00fcr weniger angemessen. Denn die Theorie weist zwar auf die stetigen Ueberg\u00e4nge der Empfindungsqualit\u00e4ten hin, legt aber vielmehr darauf Gewicht, dass diese Ueberg\u00e4nge in ihrer Gesammtheit als ein periodischer Process sich darstellen, und sie nimmt nicht an, dass der photochemische Vorgang der Farbenerregung selbst ein stetiger Vorgang sei.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n329\nder den drei Grundfarben entsprechenden fundamentalen Sehprocesse ist zweifellos die einfachste unter allen. Aber der Kreis der Erscheinungen, \u00fcber den sie Rechenschaft gibt, ist auch der beschr\u00e4nkteste.\nAls die haupts\u00e4chlichsten Thatsachen, welchen jede Farbentheorie zu gen\u00fcgen hat, werden n\u00e4mlich die folgenden betrachtet werden k\u00f6nnen : 1) die M\u00f6glichkeit der Erzeugung aller Farben aus gewissen, ann\u00e4hernd mindestens aus drei Grundfarben ; 2) die Mischung je zweier einander naheliegender Farben zur zwischenliegenden Spektralfarbe ; 3) die Aufhebung von je zwei bestimmten einander ferner liegenden Farben zu Wei\u00df ; 4) die Verwandtschaft der Anfangs- und Endfarbe des Spektrums; 5) die Abh\u00e4ngigkeit derFarbens\u00e4ttigung vonder Lichtst\u00e4rke; 6) die Erscheinungen der partiellen und der totalen Farbenblindheit.\nUnter allen diesen Forderungen gen\u00fcgt die Dreifarbentheorie nur der ersten und allenfalls der zweiten , und auch dies gelingt ihr nur, indem sie mindestens einer der drei Grundfarben, dem Gr\u00fcn, einen imagin\u00e4ren Werth gibt. Da nun bei einer Beschr\u00e4nkung der Untersuchung auf die physikalische Seite des Mischungsgesetzes \u00fcberhaupt nur das erste Postulat in Betracht kommt, so ist es nat\u00fcrlich, dass bis in die neueste Zeit alle diejenigen Arbeiten, in denen nur dieser physikalische Gesichtspunkt Ber\u00fccksichtigung fand, bei der Dreifarbentheorie stehen geblieben sind. Eben darum pflegen aber auch in solchen Arbeiten die \u00fcbrigen Forderungen nicht einmal erw\u00e4hnt zu werden, abgesehen von der Farhenblindheit, bei der aber wieder nicht der subjective Erfolg, sondern nur die objective Erzeugung der Mischungstafel in Betracht gezogen wrird '). Aus dieser Nichtber\u00fccksichtigung der sub-jectiven Effecte der Farbenerregungen und ihrer Beziehungen ergibt sich dann von selbst, dass auch der Verwandtschaft der beiden Endfarben des Spektrums keine weitere Beachtung geschenkt, und dass die Verbindung der Complement\u00e4rfarben zu Wei\u00df sowie \u00fcberhaupt das Auftreten des Farblosen so zu sagen als ein gleichg\u00fcltiger Nebeneffect gewisser Farbenmischungen angesehen wird.\nDennoch tritt diese Empfindung des Farblosen unter einer Bedingung auf, welche auch die physikalischen Verh\u00e4ltnisse der Lichterregung so innig ber\u00fchrt, dass sie nicht h\u00e4tte unbeachtet bleiben\n1) Vergl. namentlich K\u00f6nig und Dieterici, Die Grundempfindungen und ihre Intensit\u00e4tsvertheilung im Spektrum. Sitzungsbericht der Berliner Akademie vom 29. Juli 1886.\n22*","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nW. Wundt.\nsollen. Es ist dies die Abh\u00e4ngigkeit der Farbens\u00e4ttigung von der L ichtst\u00e4rke. Dass Lichtst\u00e4rke, S\u00e4ttigung und Farbenton nicht als drei von einander unabh\u00e4ngige Variable gelten k\u00f6nnen, ist zwar schon von Helmholtz erkannt worden, und er hat dies aus der Y o un g\u2019sehen Hypothese mittelst der H\u00fclfsannahme zu erkl\u00e4ren gesucht, dass jede Farbe die dreierlei Endorgane, nur jedesmal in verschiedenem Grade errege, und dass dabei au\u00dferdem die Abh\u00e4ngigkeit der Reizung von der Lichtintensit\u00e4t f\u00fcr jedes Endorgan eine verschiedene sei. Aber es ist charakteristisch, dass er auf diede Weise die gleichsinnige Aenderung des Farbentons bei zunehmender und bei abnehmender Lichtst\u00e4rke doch nicht eigentlich physiologisch, sondern nur psych ologisch zu deuten wei\u00df. Die Unterscheidung des Farbentons solln\u00e4mlich darauf beruhen, \u00bbdassdas Verh\u00e4ltniss der Lichtmengen, welchejedenvondiesenNerven (denroth-, gr\u00fcn-, und violettempfindenden) erregen, durch V ergleichung ihrer Empfindungsst\u00e4rke \u25a0wahrgenommen wird\u00ab. \u00bbNun haben wir gesehen\u00ab, f\u00e4hrt er fort, \u00bbdass das Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltniss zweier Lichtmengen sich bei einer gewissen mittleren Helligkeit am besten vergleichen l\u00e4sst, daher auch die Unterscheidung der Farbent\u00f6ne bei mittlerer Helligkeit am genauesten sein muss. Die Anwendung dieser Betrachtung auf sehr lichtstarke Farben wird aus dem bisher gesagten schon klar sein. Wenn bei gemischten Farben alledrei Nervenarten dem Maximum ihrer Erregung nahe sind, wird nothwendig jede Farbe sich dem Wei\u00df immer mehr n\u00e4hern m\u00fcssen. Nehmen wir im Gegentheil an, dass die violettempfindenden Nerven in den schw\u00e4chsten wahrnehmbaren Grad von Erregung versetzt seien , so wird nicht unterschieden werden k\u00f6nnen , ob daneben noch ein etwas geringerer Grad von Erregung der beiden anderen Nerven vorhanden sei, ob also die Farbe des Lichts reinem Violett oder Indigblau oder Purpur oder bl\u00e4ulichem Wei\u00df entspreche, und somit wird also auch bei ganz schwachem Licht die Unterscheidung des Farbentons unvollkommen sein\u00ab1).\nWollte man sich diese psychologische Erkl\u00e4rung physiologisch umdeuten, so w\u00fcrde dies offenbar nur geschehen k\u00f6nnen, indem man ann\u00e4hme, dass sich die drei Nervenprocesse irgendwie zu einer Resultanten vereinigen, die der Empfindung des Farblosen entspricht, eine Ann ahme, die in der That von D o n d e r s bei der von ihm vorgeschlagenen\n1) Helmholtz, Physiologische Optik, S. 320 f.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n331\nModification derDreifarbentheoricgemachtworden ist1). Hierdurchw\u00fcrde sich nun wohl erkl\u00e4ren lassen, dass Strahlen von einer Wellenl\u00e4nge hei einem gewissen Maximum der Lichtst\u00e4rke alle Endorgane gleichm\u00e4\u00dfig, n\u00e4mlich maximal erregen, und sojene Resultante desFarblosen ausl\u00f6sen. Es bleibt aber unbegreiflich, wie das n\u00e4mliche auch hei den schw\u00e4chsten Erregungen geschehen kann. Wollte man annehmen, dass durch die schw\u00e4chsten Lichtreize wiederum in allen F\u00e4llen die s\u00e4mmtlichen Endorgane ann\u00e4hernd gleichf\u00f6rmig erregt w\u00fcrden, so w\u00e4re das doch eine allzu sehr ad hoc gemachte Hypothese, die in unsern sonstigen Erfahrungen \u00fcber specifische Sinneserregungen keinerlei St\u00fctze findet. So bleibt also die psychologische Hiilfsannahme der schwierigen Unterscheidung schwacher Empfindungen allein \u00fcbrig. Aber die Empfindung eines dunkeln Farbentons oder selbst die des Schwarzen ist doch keineswegs eine schwer zu unterscheidende Empfindung. Nach dem Princip der (Korrespondenz zwischen psychischer und physischer Seite der Empfindungen ist darum hier ebenso gut wie bei den Maximalerregungen eine physiologische Basis der Empfindung gefordert.\nAls eine Art von Beweis f\u00fcr die Existenz der Young\u2019schen Grundfarben hat man ferner den verschiedenen Erfolg der Erm\u00fcdungserscheinungen nach monochromatischer Reizung angef\u00fchrt. Wenn im Auge durch Einwirkung gr\u00fcnblauen Lichtes ein rothes Nachbild erzeugt wird, so erscheint das spektrale Roth ges\u00e4ttigter als f\u00fcr das uner-m\u00fcdete Auge ; ebenso erscheint umgekehrt, wenn man durch Roth erm\u00fcdet , das spektrale Gr\u00fcnblau ges\u00e4ttigter als im unerm\u00fcdeten Zustand. Dieser Erfolg beweist nat\u00fcrlich an und f\u00fcr sich nur, dass mit jeder Farbenerregung zugleich eine farblose Erregung verbunden ist, und da jede Theorie in irgend einer Weise diese Voraussetzung macht, so liegt darin keine Instanz weder f\u00fcr noch gegen irgend eine Theorie. Es ist nun aber folgender bemerkenswerthe Unterschied zu beobachten. Auf der rotherm\u00fcdeten Stelle sieht reines Wei\u00df vollkommen ges\u00e4ttigt gr\u00fcnblau aus, fast ebenso wie spektrales Gr\u00fcnblau; auf der durch Gr\u00fcnblau erm\u00fcdeten Stelle dagegen erscheint das Wei\u00df nur wie ein sehr wei\u00dfliches Roth, und geringe Zumischung von Wei\u00df gen\u00fcgt, um es ganz verschwinden zu machen. Aehnliche Versuche ergeben f\u00fcr Blau eine etwas gr\u00f6\u00dfere S\u00e4ttigung als f\u00fcr Gelb. Daraus schlie\u00dft\n1) Bonders, Archiv f\u00fcr Ophthalmologie, XXVII, 1, S. 173.","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nW. Wundt.\nv. Kries, \u00bbdass von allen Theilen des Spektrums Roth einer physiologisch ges\u00e4ttigten Farbe am n\u00e4chsten steht, Blau und Gelb weniger ges\u00e4ttigt sind, und Gr\u00fcn am wei\u00dflichsten ist\u00ab *) , eine Folgerung, welche direct die in Fig. 1 (S. 319) gegebene Construction des imagin\u00e4ren Dreiecks der Grundempfindungen R V zu best\u00e4tigen scheint. Hier ist aber unrechtm\u00e4\u00dfiger Weise der am Gr\u00fcnblau beobachtete Effect auf das spektrale Gr\u00fcn \u00fcbertragen worden. Gr\u00fcnblau und Gelbgriin sehen schon im Spektrum nach meiner Empfindung weniger ges\u00e4ttigt aus als Gr\u00fcn, ebenso wie Gelb wei\u00dflicher aussieht als Blau. Dem entspricht auch der Erfolg der Erm\u00fcdung. Das Purpur, welches als Nachbild von spektralem Gr\u00fcn entsteht, finde ich ges\u00e4ttigter als das Roth, welches als Nachbild von Gr\u00fcnblau entsteht. Das widerspricht aber geradezu der Construction des Farbendreiecks (Fig. 1), nach der umgekehrt das Nachbild des spektralen Gr\u00fcn noch weniger ges\u00e4ttigt sein sollte als das von Gr\u00fcnblau. Der wahre Verlauf der S\u00e4ttigungsstufen des Spektrums ist der, dass die S\u00e4ttigung im Roth maximal ist, dann abnimmt, im Gr\u00fcn wieder etwas ansteigt, hierauf abermals abnimmt, um im Indigblau und Violett ein zweites Maximum zu erreichen. Dieser Verlauf weist auf entsprechende relative Intensit\u00e4tsunterschiede der farblosen und der farbigen Erregung hin, und er verleiht allerdings den drei Farben Roth, Gr\u00fcn und Violett eine Art ausgezeichneter Stellung, auf deren Ursachen wir unten noch zur\u00fcckkommen werden; aber mit der Dreifarbentheorie ist gerade dieses Verhalten unvereinbar.\nAls besonders bedeutsame Zeugnisse f\u00fcr die Young\u2019sche Theorie haben endlich bis in die neueste Zeit die Erscheinungen der partiellen Farhenblindheit gegolten. Manche Physiologen scheinen in ihnen noch heute directe Best\u00e4tigungen f\u00fcr die Existenz der drei Endorgane zu erblicken. Nachdem zu der anf\u00e4nglich allein bekannten Rothblindheitund der in einem gewissen Stadium der Santoninwirkung zu beobachtenden Violettblindheit noch die Gr\u00fcnhlindheit hinzugetreten war, schien dieser Beweis vollst\u00e4ndig erbracht zu sein. Die Thatsache, dass die Farbenblinden das Wei\u00df und au\u00dferdem meist noch gewisse dem normalen Auge farbig erscheinende Lichtqualit\u00e4ten Wei\u00df nennen, legte man sich wieder psychologisch zurecht. So be-\n1) J. v. Kriea a. a. O., S. 114 f.","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n333\nmerkt Br\u00fccke in einer 1879 erschienenen Abhandlung: \u00bbMan denke sich einen absolut Gr\u00fcnblinden, einen Menschen, hei dem die gr\u00fcn-empfindenden Centraltheile nicht vorhanden oder absolut functionsunf\u00e4hig sind. Er haut seine ganze Farbenwelt aus zwei Grundempfindungen , Roth und Violettblau, auf. Purpur einer gewissen Nuance wird der Patient nicht vom Wei\u00df, beziehungsweise vom Grau unterscheiden k\u00f6nnen, weil es f\u00fcr ihn die Farbe des dominirenden Lichtes zur\u00fcckgibt, wie Wei\u00df oder Grau. Da er die Empfindung Gr\u00fcn nicht hat, so werden Spektralgr\u00fcn und anderes Gr\u00fcn ihn nur insoweit affi-ciren, als sie rothempfindende und violettblauempfindende Elemente erregen .... Es ist dabei von ziemlich untergeordneter Bedeutung, wie er die einzelnen Regionen des Spektrums, und wie er einzelne ihm dargebotene Pigmente benennt ; denn seine Benennungen sind angelernt aus einer Nomenclatur, welche f\u00fcr sein Farbensystem durchaus nicht passt\u00ab u. s. w. Daran schlie\u00dfen sich Betrachtungen \u00fcber solche Wesen, die m\u00f6glicher Weise mehr Sehstoffe oder Sehnervenarten besitzen als wir. \u00bbWie sich dieser Gr\u00fcnblinde zu uns verh\u00e4lt, so w\u00fcrden wir uns zu Wesen verhalten, die eine vierte au\u00dferhalb unseres Systems stehende Grundfarbe h\u00e4tten. Wir w\u00fcrden diese Farbe und ihre Wirkung auf die anderen Farbenempfindungen nicht vorstellen k\u00f6nnen, weil man eine Empfindung nicht vorstellen kann, die man nie gehabt hat, und f\u00fcr deren Vorstellung sich auch kein Surrogat aus anderen Vorstellungen bilefen l\u00e4sst\u00ab1). Die Analogie dieser vierfarbigen mit den bekannten vierdimensionalen Wesen der hypereuklidischen Geometrie springt in die Augen. In der That, gerade so wie die letztere die drei Raumdimensionen als zuf\u00e4llig an einander gef\u00fcgte Theile ansieht, die beliebig vermehrt oder vermindert werden k\u00f6nnten, so betrachtet auch die Dreifarbentheorie die drei Grundfarben nicht, wozu sie berechtigt w\u00e4re, als eine Abstraction aus den Thatsachen der Farbenmischung, sondern als ein System wirklicher und unabh\u00e4ngig von einander exi-stirende Ermpfindungen.\nDoch verlassen wir diese Betrachtungen \u00fcber imagin\u00e4re Empfindungssysteme, durch welche man sich auch hier seltsamer Weise die wirklichen Empfindungen zu verdeutlichen glaubte , und fassen wir die Thatsachen selber in\u2019s Auge. Gl\u00fccklicher Weise stehen sie\nI) Br\u00fccke, Sitzungsbericht der Wiener Akademie. LXXX, 3. Juli 1879,","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nW. Wundt.\nuns heute in sehr viel reicherem Ma\u00dfe zu Gebote, als zur Zeit, da Helmholtz und Maxwell aus den ersten gr\u00fcndlichen Untersuchungen Farbenblinder ihre best\u00e4tigenden Schl\u00fcsse f\u00fcr die Young\u2019sehe Theorie zogen. Namentlich aber haben durch die Zu-h\u00fclfenahme der spektroskopischen Untersuchung die Methoden eine wesentliche Vervollkommnung erfahren. Ich bin nun \u00fcberzeugt, Niemand, der die Thatsachen pr\u00fcft, ohne sie von vornherein nach einer feststehenden Theorie umdeuten zu wollen, wird sich hier dem Eindruck entziehen k\u00f6nnen, dass, wie sehr auch einzelne F\u00e4lle dem Bilde der sogenannten \u00bbtypischen\u00ab Roth- oder Gr\u00fcnblindheit sich n\u00e4hern m\u00f6gen, doch die Erfahrungen in ihrer Gesammtheit mit der Young-Helmholtz\u2019sehen Theorie unvereinbar sind. Nichts ist in dieser Beziehung \u00fcberzeugender als das eigene Zugest\u00e4ndniss solcher Forscher, die von den Voraussetzungen jener Theorie ausgegangen und bem\u00fcht gewesen sind, ihre Ergebnisse nach den Forderungen derselben zu interpretiren. So gelangt Donders auf Grund seiner mit gro\u00dfer Sorgfalt gef\u00fchrten Untersuchung Farbenblinder zu dem Schluss, \u00bbdass man kein Recht hat, die bei den verschiedenen Formen von Farbenblindheit fehlenden Farben als die fundamentalen Farben des normalen Systems zu betrachten\u00ab4). Wenn man aber dazu nicht berechtigt ist, wie soll dann \u00fcberhaupt die Farbenblindheit noch als Beleg daf\u00fcr dienen, dass es schlechthin nur drei Fundamentalfarben gibt? Die einzige Thatsache, die als St\u00fctze der Dreifarbentheorie bleibt, ist eben die, dass beim Farbenblinden ebenso ann\u00e4hernd mittelst, zweier Grundfarben alle physikalischen Lichteindr\u00fccke sich ersetzen lassen, wie beim Farbent\u00fcchtigen ann\u00e4hernd, nicht vollst\u00e4ndig, drei dazu ausreichen. Dass Zust\u00e4nde, die sich einigerma\u00dfen als Roth- und als Gr\u00fcnblindheit charakterisiren lassen, besonders h\u00e4ufig Vorkommen, h\u00e4ngt dann sichtlich mit der Erfahrung zusammen, dass relative Unempfindlichkeit f\u00fcr die k\u00fcrzeren Wellenl\u00e4ngen sehr selten vorkommt. Diese Erfahrung selbst wird aber auch durch die Dreifarbentheorie nicht im mindesten aufgekl\u00e4rt. Denn sie wei\u00df uns nicht zu sagen, warum die violetten Endorgane nicht ebenso oft fehlen k\u00f6nnen, wie die rothen oder gr\u00fcnen. Sollte diese gr\u00f6\u00dfere Frequenz der sogenannten Roth- und Gr\u00fcnblindheit als Argument f\u00fcr die Theorie Verwendung\nlj Donders, Ueber Farbensysteme, Archiv f\u00fcr Ophthalm. XXVII, 1, S. 212.","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n335\nfinden k\u00f6nnen, so m\u00fcsste aber unbedingt die fehlende Grundfarbe stets mit einer im normalen Auge nachzuweisenden zusammenfallen. Nat\u00fcrlich kann man unter Zugrundelegung eines imagin\u00e4ren Farbendreiecks auch hier alle m\u00f6glichen F\u00e4lle auf zwei Grundfarben und ihre Combinationen, also auf eine ideale Rotblindheit, eine ideale Gr\u00fcnblindheit und auf ein partielles Vorkommen beider Zust\u00e4nde mit beliebiger Verbindung derselben, zur\u00fcckf\u00fchren. Dies trifft aber wieder f\u00fcr jedes andere ideale System zu, das die s\u00e4mmtlichen realen Empfindungen in sich schlie\u00dft, und es ist daher selbstverst\u00e4ndlich, dass damit die Erscheinungen der partiellen Farbenblindheit jene beweisende Kraft einb\u00fc\u00dfen, welche man ihnen beilegte.\nEin der Theorie in ihrer urspr\u00fcnglichen Gestalt wesentlicher Be-standtheil wird aber namentlich durch die Erfahrungen \u00fcber einseitige Farbenblindheit widerlegt, denen sich die Beobachtungen \u00fcber umschriebene Farbenblindheit in Folge pathologischer Affectionen der Retina anreihen. Jener wesentliche Bestandteil der Young-Helm h o 11 z \u2019sehen Theorie ist die Lehre von der Relativit\u00e4t des Farblosen. Der Rothblinde soll das Wei\u00df gr\u00fcnblau, der Griin-blinde soll es purpur empfinden, ohne sich freilich dieser Eigenth\u00fcm-lichkeit bewusst zu werden, da er seine Benennungen der Farben nach denen des Normalsichtigen einrichtet. In den s\u00e4mmtlichen F\u00e4llen von einseitiger Farbenblindheit, die bis jetzt zur Beobachtung gelangten, hat sich das gerade Gegenteil dieser Behauptung herausgestellt. In allen diesen F\u00e4llen, in denen das Individuum selbst die unmittelbare subjective Vergleichung des abnormen Empfindungssystems mit einem normalen vornehmen konnte, ergab es sich, dass das farbenblinde Auge das Wei\u00df genau ebenso wie das normale empfindet. Besonders belehrend ist in dieser Beziehung derFall, welchen von Hippel beobachtet hat, teils weil derselbe am sorgf\u00e4ltigsten untersucht ist, theils weil das Auge sonst von normaler Beschaffenheit war.1) Beide Augen, das normale und das farbenblinde, sahen das Wei\u00df vollkommen \u00fcbereinstimmend ; dem letzteren erschien es nur ein wenig lichtschw\u00e4cher. Auch die einzelnen Farben waren aber durchaus nicht in der Weise ver\u00e4ndert, wie dies nach der Mischung aus drei Grundempfindungen bei einem \u00bbRothblinden\u00ab, welcher \u00bbty-\n1) von Hippel, Archiv f\u00fcr Ophthalm., XXVI, 2, S. 176, und XXVII, 3, S. 47.","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nW. Wundt.\npischen\u00ab Form der Fall am n\u00e4chsten kam, erwartet werden musste. Das reine Gelb erschien nicht nach dem Gr\u00fcn, das reine Blau nicht nach dem Violett verschoben, sondern die gelben Natriumlinien, die blauen Indium- und C\u00e4siumlinien erschienen dem farbenblinden Auge genau ebenso wie dem normalen. Ebenso wichen nur die Nachbilder rother und gr\u00fcner Eindr\u00fccke von der Norm ab, indem beide hellblau erschienen, statt im einen Falle hellgr\u00fcn, im anderen hellrosa. Auch von Hippel kommt daher zu dem Resultat, dass sich dieser Fall in keiner Weise mit der Dreifarhentheorie in Einklang bringen lasse.\nEine interessante Erg\u00e4nzung erfahren diese Beobachtungen \u00fcber einseitige Farbenhlindheit durch die schon in der \u00e4lteren Literatur erw\u00e4hnten, doch erst in neuerer Zeit genauer untersuchten F\u00e4lle totaler Farbenhlindheit. Freilich scheint es sich hier \u00fcberall um F\u00e4lle zu handeln, die mit noch anderweitigen Abnormit\u00e4ten des Auges, wie starker Myopie, verminderter Sehsch\u00e4rfe u. dergl., verbunden sind. Ganz besonders gilt dies von jenen relativ h\u00e4ufiger zur Beobachtung gelangenden F\u00e4llen, in denen die Farbenblindheit eine erworbene, durch Krankheitsprocesse der Chorioidea und Retina entstanden ist. Dennoch bieten gerade sie wieder ein besonderes Interesse dar, weil dabei meist die totale Farbenblindheit auf ein Auge oder sogar auf eine begrenzte Netzhautregion in einem einzigen Auge beschr\u00e4nkt ist, und daher wieder die subjective Vergleichung der abnormen mit den normalen Empfindungen m\u00f6glich wird. Ich bin in der Lage, \u00fcber die Resultate solcher Vergleichung aus eigener Erfahrung Rechenschaft gehen zu k\u00f6nnen. Wahrscheinlich in Folge subjectiv-optischer Versuche, die ich vorzugsweise mit dem rechten Auge auszuf\u00fchren pflegte, litt ich vor einigen Jahren an einer circumscripten Chorioideoretinitis desselben, die als Folge eine etwas verminderte Sehsch\u00e4rfe, insbesondere aber in einem Umkreis von etwa 10 Winkelgraden eine fast v\u00f6llige Aufhebung der Farbenempfindlichkeit zur\u00fcckgelassen hat. W\u00e4hrend ich noch kleine Druckschrift, mit Anstrengung bis zu J\u00e4ger Nr. 1, mit dem kranken Auge zu lesen vermag, und in der Peripherie der Netzhaut die Verh\u00e4ltnisse \u00fcberhaupt normal geblieben sind, erscheinen mir in der angegebenen Region sehr ges\u00e4ttigte Farben wei\u00dflich, aber in ihrem richtigen Farbenton, weniger ges\u00e4ttigte sehe ich vollkommen farblos, ich vermag sie von wei\u00dfen oder rein grauen von derselben Lichtst\u00e4rke nicht zu .unterscheiden. Das linke Auge ist, abgesehen von einer Kurzsichtig-","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n337\nkeit von etwa und einem geringgradigen horizontalen Astigmatismus ( nV)) vollkommen normal. Das rechte (kranke) Auge ist etwas kurzsichtiger (I), aber nicht astigmatisch. An der untern Grenze der farbenblinden Stelle findet sich au\u00dferdem eine kleine blinde Region von etwa 4\u00b0 im Durchmesser, welche die bekannten Erscheinungen des Mariotte\u2019schen Flecks in gr\u00f6\u00dfter Deutlichkeit zeigt. Ich bin demnach im Stande, die Empfindungen der .farbenblinden Stelle sowohl mit den normalen Empfindungen des anderen Auges wie mit den ebenfalls normalen dicht benachbarter Stellen des n\u00e4mlichen Auges vergleichen zu k\u00f6nnen. Es kann aber nach dieser subjectiven Vergleichung kein Zweifel sein, dass erstens die Farbenempfindlichkeit f\u00fcr alle Farben, soweit sich dies bestimmen l\u00e4sst, gleichm\u00e4\u00dfig herabgesetzt ist, und dass zweitens an die Stelle der aufgehobenen Perception eines Farbentons niemals ein anderer Farbenton, sondern stets die Empfindung des Farblosen tritt.\nDass diese Thatsache mit der Dreifarbentheorie in ihrer urspr\u00fcnglichen Gestalt unvereinbar ist, ist vollkommen evident. Wenn, wie diese annimmt, jede Lichtempfindung aus drei Componenten entsteht, so k\u00f6nnte immer nur entweder die Empfindlichkeit aller Componenten gleichf\u00f6rmig herabgesetzt sein : dann w\u00fcrde monochromatische Reizung st\u00e4rkere Erregung einer Fasergattung, also Farbenempfindung hervorbringen m\u00fcssen ; oder es k\u00f6nnte die Reizbarkeit bestimmter Sehsubstanzenaufgehobenbeziehungsweise herabgesetzt sein: dann m\u00fcsste selbst das farblose Licht farbig erscheinen, es w\u00fcrde also im Gegensatz zur wirklichen Beobachtung \u00fcberhaupt keinerlei Licht mehr farblos aussehen. Uebrigens ist klar, dass die erw\u00e4hnten Erscheinungen \u00fcberhaupt mit jeder Componententheorie, sofern dieselbe auf eine eng begrenzte Zahl von Grundempfindungen alle Farbenwirkung zur\u00fcckf\u00fchren will, schwer vereinbar ist. Denn dass in einem solchen Fall gerade alle Farbencomponenten gleichm\u00e4\u00dfig in ihrer Wirksamkeit aufgehoben werden, erscheint mindestens sehr unwahrscheinlich. Vielmehr scheinen diese St\u00f6rungen darauf hinzuweisen, dass die Farbenempfindung auf einem zusammengeh\u00f6rigen, und nur die Em-pfindungdes Farblosen auf einem davon specifisch verschiedenen eigen-th\u00fcmlichen Processe beruht.\nDieser durch die Erscheinungen der einseitigen und der circum-scripten pathologischen Farbenblindheit nahe gelegten Forderung einer","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nW. Wundt.\nTrennung der Substrate f\u00fcr die Empfindung des Farblos e n u n d d e r F a r b e n haben nun in der That auch einige Vertreter der Dreifarbentheorie Folge gegeben, indem sie in entsprechendem Sinne die urspr\u00fcngliche Form der Y oung-Helmholtz sehen lheorie modificirten. SohatDonders zuerst die Voraussetzungen dieser Theorie zu retten gesucht, indem er die drei Componenten als f\u00fcr die Netzhaut g\u00fcltig annahm, zugleich aber f\u00fcr die centralen S eh Sph\u00e4ren Modificationen der peripherischen Processe forderte, so zwar dass \u00fcbereinstimmende peripherische in differente centrale Processe sich sollten aufl\u00f6sen k\u00f6nnenJ). Die allgemeine M\u00f6glichkeit hierzu erblickt D o n d e r s darin, dass die specifisch verschiedenen Processe in der Netzhaut doch wieder in gleichartige Vorg\u00e4nge in den Nervenfasern sich umsetzten, worauf dann die eigentliche Qualit\u00e4t der Empfindung erst durch den centralen Process bestimmt werde, w\u00e4hrend der Netzhautvorgang nur \u00fcber das unmittelbare Verh\u00e4ltniss zu den objectiven Reizen, wie es im Mischungsgesetz seinen Ausdruck finde, Aufschluss gebe. In Anbetracht des Umstandes nun, dass wir \u00fcber die Netzhautprocesse objectiv sehr wenig, \u00fcber die Vorg\u00e4nge in den sogenannten Sehcentren aber absolut gar nichts wissen, dass wir also \u00fcber alles was hier und was dort geschieht schlechterdings nur aus unsern subjectiven Lichtempfindungen R\u00fcckschl\u00fcsse machen k\u00f6nnen, scheint mir eine hypothetische Sonderung dieser Art, welche bestimmte Eigenschaften der Empfindung auf Rechnung der Netzhaut, andere aber auf Rechnung der Sehcentren setzt, vollkommen in der Luft zu schweben. Es w\u00e4re vielleicht am besten, wenn man, um jede solche absolut unbeweisbare Voraussetzung \u00fcber den Ort bestimmter Theile des Sehprocesses zu vermeiden , sich fortan des unbestimmten von Johannes M\u00fcller gebrauchten Ausdrucks \u00bbSehsinnssubstanz\u00ab bediente. Da er etwas schwerf\u00e4llig ist, so wird manimmerhin im gleichen Sinne die \u00bbNetzhaut\u00ab oder das \u00bbSehorgan\u00ab einf\u00fchren k\u00f6nnen. Aber es wird dabei doch stets hinzuzuf\u00fcgen sein, dass man hier lediglich irgend einen Hauptort des Sehprocesses herausgegriffen hat, ohne damit entscheiden zu wollen, dass derselbe wirklich der haupts\u00e4chlich oder gar der einzig betheiligte bei der Gestaltung der Empfindungsqualit\u00e4t sei. Ich bemerke daher, dass, wo im vorangehenden oder folgenden in diesem Zusammenhang von der\n1) Donders, Archiv f\u00fcr Ophthalm. XXVII, 1, S. 176 ff. XXX, 1, S. 40.","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n339\n\u00bbNetzhaut\u00ab und von \u00bbNetzhautprocessen\u00ab die Rede ist, diese Ausdr\u00fccke durchaus nur in dem angegebenen allgemeinen Sinn zu verstehen sind.\nAuf eine Differenzirung der Erregungen innerhalb der Sehcentren meint nun Don ders die Stellung der vierPrincipalfarben Roth, Gelb, Gr\u00fcn und Blau, denen er subjectiv eine \u00e4hnliche Bedeutung wie Hering anweist, zur\u00fcckf\u00fchren zu sollen1). Ob er auch die Unterscheidung des Farblosen als einen solchen erst in den Sehcentren zu Stande kommenden Process ansieht, ist mir nicht ganz klar geworden. Wenn er sagt, die Empfindung der einfachen Farben beruhe auf \u00bbpartiellen Dissociationen der Molec\u00fcle\u00ab, die des Wei\u00df auf einer \u00bbtotalen Dissociation\u00ab, so k\u00f6nnte man sich dies wohl als eine Art resultirender Wirkung denken, die schon in der Netzhaut zu Stande komme. Immerhin scheint es, dass Don ders die Umsetzung dieser hypothetischen \u00bbtotalen Dissociation\u00ab in einen specifisch verschiedenen Empfindungs-process doch erst in die Sehcentren verlegt, denn er betont ausdr\u00fccklich, dieser Process sei nicht als eine \u00bbMischung\u00ab, sondern als eine \u00bbVerschmelzung\u00ab zu denken, einAusdruck, der auf einen Vorgang centraler Art hinzuweisen scheint. Besonders scheint dies auch aus den Schlussworten seiner Abhandlung hervorzugehen, wo er seine fr\u00fcher ausgesprochene Ansicht, wonach hei jeder der drei Energien eine simultane Production von Wei\u00df anzunehmen sei, dahin interpretirt, \u00bbdass sich die speciellen Energien in den Sehsph\u00e4ren noch nicht vollkommen aus der urspr\u00fcnglichen neutralen differenzirt h\u00e4tten. In ihrer reinen Ausbildung , wie die Theorie von Young diese unterstellt, k\u00f6nnte man dann das System der Zukunft sehen\u00ab2). Diese Worte sind auch noch in anderer Beziehung von Interesse. DieThatsache, dass dieY oung\u2019sche Hypothese zur Erkl\u00e4rung der Erscheinungen ungen\u00fcgend ist, wird hier nicht aus der Unvollkommenheit dieser Hypothese, sondern aus der Unvollkommenheit des menschlichen Sehorgans abgeleitet, und es wird daher in Aussicht gestellt, dass sich die Hypothese dereinst hei den Menschen der Zukunft besser bew\u00e4hrt finden werde.\nBestimmter als Donders hat J. von Kries die Ansicht zur Geltung gebracht, dass die Unterscheidung von Hell und Dunkel und demgem\u00e4\u00df die Empfindung des Farblosen ein centraler Process sei, w\u00e4hrend die Farbenempfindungen in peripheren Netzhautvorg\u00e4ngen\n1)\ta. a. O. XXVII S. 175 und XXX S. 34.\n2]\ta. a. O. XXVII S. 222 f.","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nW. Wundt.\nihre Grundlage haben sollen. Oh auch die letzteren im Sinne der Hering\u2019schen Principalfarben noch einmal centrale Ver\u00e4nderungen erfahren, l\u00e4sst von Kries dahingestellt. So bleibt ihm als allgemeinster Ausdruck f\u00fcr die Untersuchungsergebnisse : \u00bb1) Zusammensetzung eines peripheren Vorgangs aus drei Componenten\u00ab, und \u00bb2) eine centrale Gliederung der Vorg\u00e4nge, bei welcher die Helldunkelreihe sich von den Farbigkeitsbestimmungen aussondert und diese vielleicht in die Rothgr\u00fcnreihe und Gelbblaureihe sich theilen\u00ab1). Neben der gew\u00f6hnlichen \u00bbpartiellen und totalen Farbenblindheit\u00ab sind es namentlich auch die noch wenig aufgekl\u00e4rten Erscheinungen der hypnotischen Farbenblindheit, die von Kries f\u00fcr seine Ansicht anf\u00fchrt.\nNun wird nicht zu bestreiten sein, dass diese und manche andere Sehst\u00f6rungen aus centralen Ursachen f\u00fcr eine jenseits der Netzhaut selbst von irgend welchen Centralgebietenausgehende Beeinflussung der Licht- und Farbenempfindungen sprechen. Aber nimmermehr l\u00e4sst sich daraus ein sicherer Anhaltspunkt entnehmen, um irgend welche Elemente der Empfindung als nur central, andere als peripherisch und central bedingte darzuthun, wie es hier geschieht. Denn es ist (abgesehen vielleicht von den Traum- und Erinnerungsbildern) niemals m\u00f6glich eine Empfindung zu beobachten, welche ohne Betheiligung des einen oder andern der beiden Factoren, des peripheren oder des centralen, zu Stande k\u00e4me; und es ist zwar m\u00f6glich Einwirkungen hervorzubringen, von denen man vermuthen darf, dass sie nur auf das Centralorgan wirken, es stehen uns aber niemals solche Einfl\u00fcsse zu Gebote, welche mit Sicherheit blo\u00df peripherische Modi-ficationen der Erregung erzeugen, weil wir nie wissen k\u00f6nnen, inwieweit eine Ver\u00e4nderung des Netzhautprocesses nicht auch den centralen Process ver\u00e4ndert. Wenn aber mehr oder weniger bindende Wahrscheinlichkeitsgr\u00fcnde in\u2019s Feld gef\u00fchrt werden sollen, so spricht, wie mir scheint. die gr\u00f6\u00dfte Wahrscheinlichkeit daf\u00fcr, dass die Empfindung des Farblosen schon in bestimmten Netzhautprocessen pr\u00e4-formirt ist. Die Opticusfasern selbst sind bekanntlich durch Licht nicht erregbar. Sobald an irgend einer Stelle der Retina die erregbaren Schichten entfernt sind, so bleibt daher nicht etwa die Unterscheidung von Hell und Dunkel \u00fcbrig, sondern an der betreffenden\n1) von Kries, Die Gesichtsempfindungen und ihre Analyse, S. 164.","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n341\nStelle entsteht ein blinder Fleck. Bei der totalen Farbenblindheit scheint nnn die Netzhaut in erheblicher Weise alterirt zu sein, und namentlich hei der circumscripten pathologischen Farbenblindheit ist dies sicher nachgewiesen; aber, damit \u00fcberhaupt Wei\u00df und Schwarz unterschieden werden, m\u00fcssen stets lichtempfindliche Netzhautelemente erhalten bleiben. Ist es daher nicht im h\u00f6chsten Grade wahrscheinlich, dass eben diese restiren-den Elemente die peripheren Tr\u00e4ger der Unterscheidung von Licht und Dunkel sind, w\u00e4hrend die hinweggefallenen den Process der Farbenempfindung einleiten? In der That, es scheint mir alle Aussicht dazu vorhanden zu sein, dass uns die totale Farbenhlindheit einmal die M\u00f6glichkeit er\u00f6ffnet, die Elemente, welche der Empfindung des Farblosen dienen, von jenen zu trennen, in denen sich der Process der Farbenempfindung entwickelt. Hier handelt es sich um eine greifbare Aufgabe, weil eben die Erscheinungen direct auf verschiedenartige Processe, die wahrscheinlich sogar an verschiedene morphologische Elemente gebunden sind, hinweisen, w\u00e4hrend die Aufsuchung der drei Young-IIelmholtz\u2019schen Sehfasem oder Sehstoffe wohl immerein ebenso utopisches Unternehmen bleiben wird, als wenn man die peripolaren elektromotorischen Molek\u00fcle duBois-Reymond\u2019s in den Muskeln und Nerven mikroskopisch nachweisen wollte. Zwischen Annahmen, die durch die Erfahrung gefordert werden, und Annahmen, die blo\u00df der erleichternden Zusammenfassung gewisser Erscheinungen dienen, liegt eben eine weite Kluft. Gleichwohl ist man immer wieder geneigt diese Kluft nicht zu beachten.\nAn der Unm\u00f6glichkeit einer Ableitung der farblosen Empfindungen ist die Dreifarhentheorie gescheitert. Die totale Farbenblindheit hat diese Unm\u00f6glichkeit nicht zuerst, aber sie hat dieselbe doch in der einleuchtendsten Form vor die Augen gestellt. Die Versuche, dieser misslichen Lage durch eine Zur\u00fcckschiebung auf ein centraleres Sehgebiet zu entgehen, sind nicht im Stande den Sturz der Theorie aufzuhalten. Solchen Rettungsversuchen ist es daher immer noch weit vorzuziehen, wenn man, wie es in einigen neueren Arbeiten geschieht, die Young\u2019sche Hypothese als Ausdruck der Erscheinungen der Farbenmischung heiheh\u00e4lt, im \u00fcbrigen aber derselben einen erkl\u00e4renden Werth nicht beilegt1).\n1) Vergl. z. B. A. K\u00f6nig, Arch. f. Ophthalra. XXX, 2, S. 156.","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nW. Wundt.\nIII. Die Vierfarbentheorie.\nDie Vierfarbentheorie He ring\u2019s hat einen subjectiven und einen objectiven Ausgangspunkt. Subjectiv wird denjenigen Lichtempfindungen, die uns nicht als Mischungen anderer erscheinen, in Bezug auf den entsprechenden physiologischen Process ein specifi-scher Werth zugeschrieben: hiernach betrachtet Hering Wei\u00df und Schwarz, au\u00dferdem Roth, Gelb, Gr\u00fcn und Blau als solche specifische Empfindungen. Objectiv ist die Existenz der Complement\u00e4rfarben f\u00fcr die Auffassung der Sehprocesse ma\u00dfgebend : als complement\u00e4r betrachtet aber Hering nicht blo\u00df die complement\u00e4r en Farbenpaare, sondern auch Wei\u00df und Schwarz. Diese beiden Gesichtspunkte werden dann schlie\u00dflich mit einander verbunden, indem als antagonistische Urfarbenpaare Roth und Gr\u00fcn, Blau und Gelb angesehen werden, denen als drittes Wei\u00df und Schwarz vollst\u00e4ndig analog sein soll. Aus diesen Voraussetzungen gestaltet sich schlie\u00dflich die hypothetische Annahme dreier physiologischer Sehstoffe, des schwarz-wei\u00dfen, roth-gr\u00fcnen und gelb-blauen, und die Zur\u00fcckf\u00fchrung der Urcomple-ment\u00e4rpaare auf antagonistische Processe in denselben, die hypothetisch als Assimilations- und Dissimilationsprocesse gedeutet werden.\nFassen wir zun\u00e4chst die subjective Seite dieser Theorie ins Auge, so w\u00fcsste ich gegen die Anerkennung des Farblosen als einer eigent\u00fcmlichen und nicht aus einer Mischung der Farben abzuleitenden Form des Empfindens nichts einzuwenden. Auch findet ja diese Scheidung, wie wir sahen, in den Erscheinungen der totalen, der circumscripten pathologischen sowie der einseitigen partiellen Farbenblindheit eine sehr bedeutsame St\u00fctze. Fragw\u00fcrdig dagegen erscheint schon die Trennung des Farblosen in zwei specifisch verschiedene, wenn auch an das n\u00e4mliche Substrat gebundene Empfindungen, die des Wei\u00dfen und Schwarzen. Mindestens wird man dieselben nicht zu jenen Empfindungen rechnen d\u00fcrfen, die als gegens\u00e4tzliche Reihen auftreten, welche man durch auf und unter einer Abscissenlinie liegende Werthe einer Function darstellen kann, wie Kalt und Warm oder Lust und Schmerz; sondern zu jenen, hei denen die Ver\u00e4nderungen auf einer Seite liegen und Gegens\u00e4tze nur durch m\u00f6glichste Entfernung der verglichenen Werthe von einander entstehen, wie z. B.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n343\nhohe und tiefe T\u00f6ne. Anderseits l\u00e4sst sich aber die Reihe der farblosen Empfindungen doch auch hiermit keineswegs in vollst\u00e4ndige Parallele bringen; denn ein Ton l\u00e4sst sich an Intensit\u00e4t verst\u00e4rken, ohne darum seine Stelle auf der qualitativen Tonlinie wesentlich zu ver\u00e4ndern, die Lichtintensit\u00e4t des Wei\u00df l\u00e4sst sich aber nicht vermindern , ohne dass dies als gleichbedeutend mit der Ann\u00e4herung an Schwarz von uns empfunden w\u00fcrde, und ebenso umgekehrt die Vermehrung der Lichtintensit\u00e4t des Schwarz als Ann\u00e4herung an Wei\u00df. Hiernach lassen sich schon in der unmittelbaren Empfindung das Schwarz und das Wei\u00df offenbar nicht im selben Sinne wie Roth und Gr\u00fcn oder Blau und Gelb einander gegen\u00fcber stellen. Dies verr\u00e4th sich deutlich darin, dass dieUebergangst\u00f6ne zwischen den Endpunkten der Reihe hier und dort ein v\u00f6llig verschiedenes Verhalten darbieten. Das Grau, welches im einen Fall den Uebergang bildet, wird, wie Hering selbst zugibt, als eine Zwischenstufe zwischen den Empfindungen Wei\u00df und Schwarz empfunden ; es scheint beide Endglieder in stetig abgestuftem Mengenverh\u00e4ltniss in sich zu enthalten. Mit den Zwischenstufen zwischen Roth und Gr\u00fcn oder gar zwischen Gelb und Blau verh\u00e4lt es sich v\u00f6llig anders. Erstens gibt es hier jedesmal f\u00fcr die reine Empfindung zwei Ueberg\u00e4nge : einen durch die Farbenreihe und einen durch die verminderten S\u00e4ttigungsstufen. Zweitens f\u00fchrt jeder dieser Ueberg\u00e4nge durch eine Empfindung, die f\u00fcr uns subjectiv von den Endgliedern v\u00f6llig verschieden ist und in keiner Weise als Empfindungs\u00fcbergang oder als Mischung derselben erscheint: in der Farbenreihe f\u00fchrt der Uebergang von Roth zu Gr\u00fcn durch Gelb, von Gelb zu Blau durch Gr\u00fcn ; in der Abstufung der S\u00e4ttigungen gehen beide Wege \u00fcber das Wei\u00df. Gewiss kann also nicht geleugnet werden, dass wir subjectiv geneigt sind Schwarz und Wei\u00df nicht nur als quantitative, sondern auch als qualitative Gegens\u00e4tze aufzufassen, und dass wir sogar das Grau in eine gewisse Analogie bringen mit den farbigen Pigmenten. Unterst\u00fctzend wirkt dabei jedenfalls, dass die Stufenreihe zwischen der Empfindung, die wir eben noch Schwarz, und derjenigen, die wir gew\u00f6hnlich Wei\u00df nennen, innerhalb m\u00e4\u00dfiger Intensit\u00e4tsgrenzen liegt, -wo die st\u00e4rkere Erregung durch das intensivere Licht nicht unangenehm empfunden wird. Auch d\u00fcrfte die Verbindung dieser verschiedenen Empfindungen mit den Vorstellungen bestimmter Objecte die vorwiegend qualitative Aus-Wundt, Philos. Studien. IY.\t23","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nW. Wundt.\npr\u00e4gung derselben beg\u00fcnstigt haben. Ich glaube von der Bedeutung, welche eine solche feste Bindung gewisser Lichtst\u00e4rken an gewisse Objecte besitzen kann, k\u00f6nnen wir uns eine ungef\u00e4hre Vorstellung machen, wenn wir die Folgen erw\u00e4gen, die es f\u00fcr unsere Beurtheilung der Schallempfindungen haben m\u00fcsste, wenn Schallst\u00e4rken nicht, wie es thats\u00e4chlich der Fall ist, immer nur an sichtlich ver\u00e4nderliche Vorg\u00e4nge in der Natur, sondern wenn sie ebenfalls in constanter Weise an Gegenst\u00e4nde gebunden w\u00e4ren. Wir w\u00fcrden dann eben die Schallst\u00e4rke mit zur qualitativen Natur des K\u00f6rpers rechnen, und dies w\u00fcrde uns vielleicht veranlassen sie ebenso wie die Lichtbeschaffenheit als eine blo\u00df qualitative Eigenschaft desselben aufzufassen.\nNeben Schwarz und Wei\u00df betrachtet Hering Roth und Gr\u00fcn, Gelb und Blau als Fundamentalempfindungen; alle anderen Farben sollen Mischungen derselben sein. Als Grund dieser Bevorzugung wird die unmittelbare subjective Beschaffenheit jener Farben angef\u00fchrt , und diese scheint ihrerseits in der so viel fr\u00fcheren sprachlichen Fixirung der Bezeichnungen der vier Fundamentalfarben eine gewisse St\u00fctze zu finden. Gleichwohl wird man diesem Zeugniss der Sprache hier kein allzu gro\u00dfes Gewicht beilegen d\u00fcrfen. Unsere Benennungen haben sich zun\u00e4chst nicht nach der subjectiven Vergleichung der Empfindungen sondern nach dem praktischen Bed\u00fcrfniss der Unterscheidung der Gegenst\u00e4nde gebildet. Darum hat noch die neuere Optik eine F\u00fclle von Farbenbezeichnungen geschaffen, da sie ein Interesse daran hatte gewisse Farbent\u00f6ne zu benennen, die in der Sprache des gew\u00f6hnlichen Lebens mit andern zusammengeworfen werden, wie Orange, Indigo, Violett. Die Optik ist aber ihrerseits wieder durch die moderne F\u00e4rbereiindustrie weit \u00fcbertroffen worden. Namen sind also hier schlechterdings nicht beweisend. Das Bed\u00fcrfniss der Unterscheidung unserer subjectiven Empfindungen hat bei ihnen immer erst in zweiter Linie mitzureden, insofern n\u00e4mlich als zur Unterscheidung verschiedenfarbiger Objecte allerdings auch eine Unterscheidung der Empfindungen erforderlich ist. Es bleibt daher nichts \u00fcbrig, als von diesen objectiven Zeugnissen zun\u00e4chst ganz zu abstra-hiren und sich lediglich auf die subjective Auffassung der Empfindungen selbst zu verlassen, wie sie etwa bei der Auffassung der Farben des Spektrums oder einer Reihe ihnen entsprechend ausgew\u00e4hlter Pigmente sich darbietet.","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n345\nNun begegnet man freilich der Behauptung, eben diese unmittelbare Empfindung sei es, die den Farben Roth, Gr\u00fcn, Gelb und Blau einen Vorzug einr\u00e4ume. Diese Hauptfarben sollen unter sich v\u00f6llig unvergleichbar sein, w\u00e4hrend alle anderen nur als Uebergangst\u00f6ne zwischen ihnen erscheinen. Ich bin geneigt, diese Angabe in den zwei Behauptungen, die sie einschlie\u00dft, zu bestreiten. Erstens: es ist nicht richtig, dass die vier Farben Roth, Gelb, Gr\u00fcn und Blau so v\u00f6llig unvergleichbar sind, dass nicht auch sie nach dem blo\u00dfen Empfindungseindruck in eine Reihe sich ordnen ; und zweitens : es ist nicht ausgemacht, dass nur die genannten vier Farben die Bedeutung sogenannter Principalfarhen besitzen, vielmehr k\u00f6nnten je nach Umst\u00e4nden auch mehr oder weniger oder andere gew\u00e4hlt werden ; thats\u00e4chlich aber verdanken die genannten ihre nicht zu bestreitende wirkliche Bevorzugung nicht der subjectiven Empfindung sondern der F\u00e4rbung gewisser Objecte, die in unserer Erfahrung eine herrschende Rolle spielen.\nIch will zun\u00e4chst versuchen, f\u00fcr den ersten dieser S\u00e4tze einige Belege beizubringen. Wenn wir \u00fcber die wirkliche Verwandtschaft oder Verschiedenheit der subjectiven Farbenempfindungen Auskunft erlangen wollen, so wird es offenbar am zweckm\u00e4\u00dfigsten sein an das Urtheil solcher Individuen zu appelliren, welchen nicht nur die physikalische und physiologische Optik v\u00f6llig unbekannt ist, sondern welche auch noch niemals ein Spektrum gesehen, oder selbst nur den Regenbogen aufmerksam beobachtet haben, im \u00fcbrigen aber nat\u00fcrlich farbent\u00fcchtige Augen besitzen. Ich habe mich \u00fcberzeugt, dass bei meinen beiden Kindern von 8 und von 10 Jahren diese Bedingungen zutreffen, und ihnen dann in einer Reihe von Versuchen verschiedene farbige Papiere vorgelegt und sie aufgefordert, dieselben nach ihrer Aehnlichkeit in eine Reihe zu ordnen. Ich w\u00e4hlte zun\u00e4chst f\u00fcr je einen Versuch nur drei oder vier Pigmente, z.B. Violett Roth Gelb, oder Roth Gr\u00fcn Blau, oder Gr\u00fcnblau Gelb Roth u. s. w., also, wie man an diesen Beispielen sieht, bald m\u00f6glichst entfernte, bald einander n\u00e4herstehende Farben. Der Erfolg zeigte nun, dass, wie von vornherein zu erwarten war, solche Farben, die nach allgemeiner Ansicht einander \u00e4hnlich erscheinen, auch stets neben einander geordnet wurden, also z.B. Violett und Blau, Violett und Roth, Orange und Roth u. dergl. Aber es ergab sich auch, was, wie ich gestehe, mir selbst einigerma\u00dfen \u00fcberraschend war, dass selbst fernerstehende Farben, namentlich die\n23*","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nW. Wundt.\nsogenannten Principalfarben, in der weitaus \u00fcberwiegenden Zahl der F\u00e4lle in der ihnen im Farbenkreis zukommenden Ordnung gelegt wurden. Insbesondere wurde ein reines Gelb als n\u00e4chstverwandt dem spektralen Roth empfunden, wenn etwa noch Blau und Gr\u00fcn in Frage kamen. Gr\u00fcn erschien dem Blau verwandter als dem Roth. Blau dagegen wurde bald neben Roth bald neben Gr\u00fcn geordnet. Die vier Hauptfarben wurden von dem einen der beiden Kinder in der Reihenfolge Blau Roth Gelb Gr\u00fcn, von dem andern in der ihr im Farbenkreis \u00e4quivalenten Blau Gr\u00fcn Gelb Roth neben einander gelegt. In merkw\u00fcrdigem Gegensatz zu dieser durchweg richtigen Anordnung der Pigmente stand es, dass die Kinder in Verlegenheit geriethen und schlie\u00dflich gr\u00f6\u00dfere Fehler begingen, als ich ihnen die Hauptfarben sarnint ihren Uebergangst\u00f6nen, im Ganzen acht Pigmente, au\u00dfer den zuletzt genannten noch Gr\u00fcngelb Gr\u00fcnblau Violett und Orange vorlegte. Hiernach war es kein Zweifel, dass in diesem Falle blo\u00df die schwerer zu \u00fcbersehende Zahl anzuordnender Elemente, welche f\u00fcr das Fassungsverm\u00f6gen der Kinder die Uebersicht erschwerte, an den begangenen Fehlern die Schuld trug. In geradem Gegens\u00e4tze hierzu legte eine erwachsene Person, die weder ein Spektrum gesehen hatte, noch sich an die Anordnung der Regenbogenfarben erinnerte, die acht Farben vollkommen richtig, w\u00e4hrend sie bei blo\u00df drei oder vier Hauptfarben gelegentlich unsicher war. Diese Beobachtungen scheinen mir entschieden daf\u00fcr zu sprechen, dass nicht blo\u00df zwischen den Hauptfarben und ihren n\u00e4chstgelegenen Uebergangsfarben qualitative Beziehungen existiren, sondern dass diese auch noch zwischen den Hauptfarben selbst vorhanden sind, indem solche, die einander im Farbenkreis benachbart sind, einander \u00e4hnlicher erscheinen, als solche, die durch eine andere Hauptfarbe getrennt werden.\nWird eine solche relative Aehnlichkeit zwischen benachbarten Principalfarben einmal zugegeben, so ist nun aber auch die ganze Unterscheidung zwischen Haupt- und Uebergangsfarben in Frage gestellt. Da Roth und Orange, Orange und Gelb einander \u00e4hnlicher sind als Roth und Gelb, so muss nothwendig Orange als Zwischenstufe zwischen Roth und Gelb erscheinen. Aber an sich wird es mit ebenso wenig oder mit ebensoviel Recht als Mischung von Roth und Gelb anzusehen sein, als man etwa im Gelb eine Mischung von Roth und Gr\u00fcn sehen kann. Hier handelt es sich eben lediglich um eine gr\u00f6\u00dfere, dort um eine","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n347\nkleinere Stufe in einer Reihe stetiger Ueberg\u00e4nge, ganz ebenso wie der halbe Ton jedem der ganzen T\u00f6ne, zwischen denen er liegt, n\u00e4her ist, als diese T\u00f6ne einander unter sich sind. Ich kann mich aber auch nicht davon \u00fcberzeugen, dass z. B. Orange oder Violett an und f\u00fcr sich und ohne dass wir durch die Vorstellung gewisser Hauptfarben bereits pr\u00e4occupirt werden, einen weniger einfachen Charakter besitzen als Blau oder Gelb. Ich kann mir ohne Schwierigkeit die sogenannten Uebergangsfarben als Hauptfarben und umgekehrt diese als Ueber-gangsfarben vorstellen. So empfinden wir z. B. Violett und Orange ebenso einfach und ebenso verschieden wie Blau und Roth. W\u00e4ren wir daher gewohnt, die ersteren als Hauptfarben aufzufassen, so w\u00fcrde uns Roth als Uebergangsfarbe zwischen ihnen erscheinen, und wir w\u00fcrden vielleicht geneigt sein, in ihm eine Mischung aus Violett und Orange zu erblicken.\nNun kann es freilich nicht das Werk des Zufalls sein, dass sich bei allen V\u00f6lkern, so viel wir wissen, gerade Roth, Gelb, Gr\u00fcn und Blau schon in der sprachlichen Bezeichnung einen \u00e4u\u00dferen Vorzug errungen haben, sondern diese Erscheinung weist auf bestimmte psychologische Motive zur\u00fcck. Zwei Fragen dr\u00e4ngen sich hier auf. Zun\u00e4chst: durch welche Bedingungen ist gerade die Vierzahl der Hauptfarben beg\u00fcnstigt worden? Sodann: wie kommt es, dass jene vier bestimmten Hauptfarben vor allen anderen den Vorzug fanden?\nKaum ist die erste dieser Fragen von der zweiten gesondert zu behandeln. Immerhin l\u00e4sst sich wohl im allgemeinen darauf hin-weisen, dass, sobald einmal die Farben als ein geschlossenes, in sich zur\u00fccklaufendes System gegeben sind, immer eine bestimmte Zahl von Qualit\u00e4ten aufzufinden sein muss, welche einerseits einander hinreichend ferne liegen, damit ihre Verschiedenheit gr\u00f6\u00dfer erscheine als ihre Verwandtschaft, anderseits hinreichend nahe, damit die zwischenliegenden Abstufungen eine Verwandtschaft nach beiden Richtungen deutlich erkennen lassen. Oh jedoch die Vierzahl die einzig m\u00f6gliche ist, zu der man nach diesem subjectiven Ma\u00dfstab kommen muss, dies darf nach den oben angef\u00fchrten Versuchen wohl bezweifelt werden. So w\u00fcrden z. B. Roth, Gr\u00fcn und Blau sehr wohl als Principalfarben statuirt werden k\u00f6nnen, da Gelb nach seinem subjectiven Eindruck immer, wie wir gesehen haben, zwischen Roth und Gr\u00fcn geordnet wird. Ebenso w\u00fcrden sich aber, wenn man verlangte,","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nW. Wundt.\ndass in den Uebergangsfarben die Hauptfarben, zwischen denen sie liegen, noch deutlicher zu sehen sind, sechs Hauptfarben, z. B. Roth, Orange, Gelb, Gr\u00fcn, Cyanblau, Violett, vertheidigen lassen. Da ich nicht finden kann, dass z. B. das Verh\u00e4ltniss zwischen Roth und Orange und das zwischen Roth und Gelb anders als quantitativ verschieden ist, so w\u00fcrde ich auch die beiden Proportionen Roth : Orange=Orange : Gelb und Roth : Gelb\u2014Gelb :Gr\u00fcn nach meiner subjectiven Empfindung ohne Widerrede gelten lassen ; gegen die Proportion Roth : Gelb=Roth : Gr\u00fcn w\u00fcrde ich aber Verwahrung einlegen, weil mir das Gelb dem Roth verwandter erscheint als das Gr\u00fcn, und wir haben vorhin gesehen, dass sich Individuen, die von Farbentheorien nichts wissen, und die nicht einmal von der Folge der Regenbogenfarben eine Kenntniss besitzen, in dieser Beziehung nicht anders verhalten.\nNach allem dem kann man, wie ich glaube, nicht anerkennen, dass die Vierzahl der Hauptfarben in unserer Empfindung selbst unab\u00e4nderlich pr\u00e4formirt sei. Ebenso wenig wird es aber als eine unmittelbare Empfindungsthatsache gelten k\u00f6nnen, dass, wenn einmal der Vierzahl der Vorzug gegeben wurde, nun gerade Roth, Gelb, Gr\u00fcn und Blau gew\u00e4hlt werden mussten. Ich sehe nicht ein, warum mir nicht, wenn ich von allen Vorurtheilen der conventioneilen Ueber-lieferung abstrahire, Purpur und Orange als prim\u00e4re Farbenqualit\u00e4ten erscheinen sollten. Dann w\u00fcrden aber Roth und Gelb zu Uebergangsfarben werden. Das n\u00e4mliche gilt von dem Verh\u00e4ltniss der sonstigen Haupt- und Uebergangsfarben zu einander. Welche Glieder in der ganzen Reihe der Farbenempfindungen wir als Hauptfarben w\u00e4hlen wollen, ist Sache der Convention und Gewohnheit, nicht der urspr\u00fcnglichen Empfindung. Nur insofern spielt diese eine gewisse Rolle, als selbstverst\u00e4ndlich, nachdem einmal gewisse Hauptfarben gew\u00e4hlt sind , die anderen in angemessenen Abst\u00e4nden von ihnen bestimmt werden m\u00fcssen. Wie gro\u00df hier in der That die Macht hergebrachter Anschauungen ist, das lehrt uns noch immer das Beispiel mancher Maler, die aller physikalischen und physiologischen Optik zum Trotz das Gr\u00fcn auch subjectiv f\u00fcr eine Mischfarbe erkl\u00e4ren, weil es aus gelben und blauen Pigmenten hergestellt werden kann. Ja kein anderer als der eifrigste Vertreter der Urspr\u00fcnglichkeit der vier Hauptfarben, Hering selbst, unterst\u00fctzt durch sein eigenes Beispiel die Ansicht von der Relativit\u00e4t derselben. Was er Roth und Gr\u00fcn nennt ist nicht identisch","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n349\nmit dem, was Andere Roth und Gr\u00fcn nennen, sondern, da nach ihm beide complement\u00e4r sind, was f\u00fcr das spektrale Roth und Gr\u00fcn im gew\u00f6hnlichen Sinne nicht gilt, so n\u00e4hert er sein Roth dem Purpur und verlegt sein Gr\u00fcn in ein Gebiet, das Andere bereits Gr\u00fcnblau nennen *). Wenn Hering ferner als eine besonders charakteristische Eigenschaft der vier Principalfarben die hervorhebt, dass \u00bbeinerseits Roth und Gr\u00fcn, anderseits Gelb und Blau nie gleichzeitig in einer Farbe deutlich bemerkbar seien\u00ab, so k\u00f6nnte man dasselbe auch von vier beliebigen andern passend gew\u00e4hlten Farben sagen: z. B. Violett und Gelbgr\u00fcn, Orange und Cyanblau u. dergl. Denn es l\u00e4sst sich \u00fcberhaupt zu jeder Farbe eine finden, die in ihrer Qualit\u00e4t hinreichend entfernt ist, um niemals mit ihr gemischt Vorkommen zu k\u00f6nnen. Will man diese Eigenschaft mit andern subjectiven Eigenth\u00fcmlichkeiten der Farbenreihe in Verbindung bringen, so liegt es nahe hier an das Zur\u00fccklaufen der Farbenreihe zu denken, welches solche maximale Unterschiede, die sich nach beiden Seiten vermindern, von selbst mit sich f\u00fchren muss.\nWenn ich hiernach die Wahl beliebiger anderer Hauptfarben und sogar einer andern Zahl als der Vierzahl derselben als in abstracto vollkommen m\u00f6glich behaupte, so will dies \u00fcbrigens keineswegs sagen, dass unter den Lebensbedingungen, unter denen wir uns befinden, die Wahl irgend einer andern Combination auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich hatte. Wohl aber glaube ich, dass es nicht die subjectiven Eigenschaften der Empfindung sind, die jene Wahl bestimmt haben, sondern dass dieselbe aus den objectiven Bedingungen, unter denen sich unsere Farbenunterscheidung entwickelte, mit Nothwendigkeit hervorgehen musste. Machen wir einmal die paradoxe Annahme, es gebe in dem Auge eine \u00bbSehsinnsubstanz\u00ab, welche durch keinerlei Art objectiven Lichtes und \u00fcberhaupt in keinerlei Weise erregt werden k\u00f6nnte, so w\u00fcrden wir nie in die Lage kommen , der entsprechenden Lichtempfindung irgend eine Stelle in dem System unserer Empfindungen anzuweisen, weil uns dieselbe eben nie und nirgends gegeben w\u00e4re Demgem\u00e4\u00df werden wir ganz gewiss f\u00fcr unsere realen Farbenempfindungen annehmen d\u00fcrfen, dass diejenigen Farben, die allverbreitet in der Natur Vorkommen, auch in unserer Empfindung eine dominirende Rolle spielen, und dass\n1) Hering, Zur Lehre vom Lichtsinn, S. 108. Kuhnt undHering, Ueber farbige Lichtinduction, Arch, f\u00fcr Ophthalm. XXVII, 3, S. 4 f,","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nW. Wundt.\nsie es namentlich sind, nach denen sich unsere Farbenbezeichnungen gebildet haben. Sind auf diese Weise erst einige Principalfarben gegeben, so sind damit aber auch die andern schon mitbestimmt, als diejenigen die sich in zureichender Entfernung von den ersteren befinden m\u00fcssen, um mit ihnen zusammen die Haupttypen des ganzen Systems der Farbenempfindungen abgeben zu k\u00f6nnen. Eventuell werden wir also wieder prim\u00e4re und secund\u00e4re Hauptfarben unterscheiden k\u00f6nnen, wobei aber nat\u00fcrlich die Feststellung der letzteren durch ihr eigenes Vorkommen in der Natur unterst\u00fctzt werden m\u00fcsste. Au\u00dferdem ist durch die Erscheinungen des Contrastes mit jeder Farbe subjectiv auch ihre Gegenfarbe gegeben, und zwar in einer dem objectiven Vorkommen ganz \u00e4quivalenten Weise, da die inducirte Contrastfarbe ebenso objectivirt wird wie die inducirende Farbe selbst.\nNun gibt es, abgesehen vom Wei\u00df und Schwarz, zwei Lichtqualit\u00e4ten , die in der Natur vor allen andern eine bevorzugte Holle spielen: das Blau des Himmels und das Gr\u00fcn der Vegetation. Neben ihnen nimmt noch das Roth des Blutes einen vielleicht mehr durch seinen intensiven Gef\u00fchlswerth als durch extensive Verbreitung ausgezeichneten Rang ein. Jener Gef\u00fchlswerth selbst, den f\u00fcr uns heute schon der unmittelbare Anblick der Farbe hervorruft, mag theils in der unmittelbaren Empfindung theils aber in den unbewusst fortwirkenden Affecten, die mit dem Anblick des Blutes in Beziehung stehen, seinen Grund haben. Auch das Gelb geh\u00f6rt, als Farbe der herbstlichen Vegetation, des W\u00fcsten- und D\u00fcnensandes u. s. w., zu den verbreitetsten F\u00e4rbungen in der Natur. Au\u00dferdem erscheint es uns durch seinen Contrast zum Blau des Himmels als die Farbe der Gestirne. Zwischen den Schilderungen, die der Dichter und der Physiker vom Sonnenlicht geben, besteht ein merkw\u00fcrdiger und, so viel ich wei\u00df, bis jetzt nicht einmal beachteter Widerspruch. Der Physik\u00ebr nennt die Sonne wei\u00df, der Dichter redet von ihren \u00bbgoldenen Strahlen\u00ab, w\u00e4hrend er im Gegens\u00e4tze dazu wohl auch den Mond den \u00bbsilbernen\u00ab nennt. Physikalisch sind nat\u00fcrlich Sonnen- und Mondlicht gleich zusammengesetzt, und ihr Intensit\u00e4tsunterschied erkl\u00e4rt nicht die unzweifelhafte Verschiedenheit des Farbentons, den die dichterische Schilderung in vollkommener Uebereinstimmung mit der Empfindung ihnen zuschreibt. Wohl aber erkl\u00e4rt sich diese unmittelbar durch den Contrast zur Farbe des Himmels. Der Mond hebt sich vom schwarzen","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n351\nNachthimmel ann\u00e4hernd wei\u00df ah, die Sonne aber erscheint um so goldener das hei\u00dft gelber, je tiefer blau der Himmel ist. Nur am wei\u00dflich bew\u00f6lkten. Himmel nimmt auch sie eine wei\u00dfliche F\u00e4rbung an. Diese Thatsachen machen, wie ich glaube, die bevorzugte Stellung, welche wir den Farben Roth, Gelb, Gr\u00fcn und Blau in dem System unserer Lichtempfindungen anweisen, vollkommen begreiflich. Sobald sich aber einmal diese vier verm\u00f6ge jener objectiven Bedingungen die Stellung von Hauptfarben errungen hatten, musste den \u00fcbrigen verm\u00f6ge der stetigen und in sich geschlossenen Beschaffenheit des Farbensystems von selbst die Rolle von Uebergangsfarben zufallen, wobei zugleich jede Uebergangsfarbe, da sie nach beiden Richtungen in Farbent\u00f6ne, die ihr \u00e4hnlich sind, \u00fcbergeht, eventuell als Mischfarbe gedeutet werden kann.\nIndem die Vierfarbentheorie bei dem subjectiven Eindruck nicht stehen bleibt, sondern die Ergebnisse der Farbenmischung, die f\u00fcr die Dreifarbentheorie im wesentlichen allein ma\u00dfgebend gewesen waren, ebenfalls mit herheizieht, verwandelt nun auch sie sich in eine Dreicomponententheori e. Sie f\u00fchrt diejenigen Hauptfarben, die mit einander Wei\u00df bilden, auf antagonistische Processe (Assimilationen und Dissimilationen) je eines einzigen Sehstoffs zur\u00fcck, denen sie den Gegensatz von Schwarz und Wei\u00df analog setzt. So erh\u00e4lt sie zwei farbige Sehstoffe, den roth-gr\u00fcnen und gelb-blauen, und einen farblosen, den schwarz-wei\u00dfen. Das Wei\u00df entsteht durch Dissimilation, Zersetzung, das Schwarz durch die w\u00e4hrend der Ruhe eintretende ausgleichende Assimilation. Welche von den vier Farben Assimilations- und Dissimilationsfarben sind, bleibt unbestimmt.\nAbgesehen von dem, wie schon fr\u00fcher bemerkt, wahrscheinlich richtigen Gesichtspunkt, dass sie das Verh\u00e4ltniss der Complement\u00e4r-farben als ein antagonistisches auffasst, leidet dieser Bestandtheil der Theorie an zwei schweren M\u00e4ngeln. Erstens muss er, wie schon angedeutet, um den Einklang zwischen dem psychologischen Begriff der Hauptfarhen und dem physiologischen der Complement\u00e4rfarben herzustellen, die ersteren willk\u00fcrlich verschieben. Es geschieht dies, damit die Dissonanz nicht allzugro\u00df werde, bei beiden in entgegengesetztem Sinne : das Roth wird etwas in die Region des Purpur und das Gr\u00fcn in die des Gr\u00fcnblau vorger\u00fcckt. Zur Rechtfertigung dieses Verfahrens wird behauptet, das spektrale Roth sei gelblich \u2014 eine","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nW. Wundt.\nBehauptung, die allerdings dann, aber auch nur dann zutreffend ist, wenn man einen durch Zumischung von Violett zum spektralen Roth gewonnenen Farbenton roth nennt. Wer sich aber gew\u00f6hnt hat das spektrale Roth roth zu nennen, wird umgekehrt in dem Roth Herings eine schwache Beimischung von Violett oder Blau erkennen. Dieses Verfahren beruht also auf einer willk\u00fcrlich und sichtlich blo\u00df zu den Zwecken der aufgestellten Hypothese vorgenommenen Aenderung der allgemeing\u00fcltigen Farbenbezeichnungen. Aehnlich ist auch hei dem zweiten Farbenpaar eine Verschiebung n\u00f6thig: bleibt hier das Gelb an seiner Stelle, so wird nicht das gew\u00f6hnlich so genannte reine Blau sondern ein bereits dem Indigblau zugeh\u00f6render Farbenton blau genannt. Hieraus ergibt sich, dass die vier Hauptfarben nur dann gleichzeitig als Grundfarben verwendet werden k\u00f6nnen, wenn man den Namen Roth, Gr\u00fcn und Blau eine andere Bedeutung beilegt, als sie gew\u00f6hnlich besitzen, und wenn man \u00fcberdies eine Farbe, welche physikalisch eine Mischfarbe aus Roth und etwas Violett ist, physiologisch allein als reines Roth gelten l\u00e4sst.\nEin zweiter sofort sich aufdr\u00e4ngender Mangel der Theorie besteht in der bedenklichen Analogie, die sie zwischen dem Verh\u00e4ltniss der Com-plement\u00e4rfarben zu einander und dem des Schwarz zum Wei\u00df statuirt. Die Analogie ist zun\u00e4chst den Nachbilder- und Contrastph\u00e4nomenen entnommen und wird dann auf die Mischungserscheinungen \u00fcbertragen. Bei den Nachbildern und dem Contrast ist sie in der That zutreffend. Das Nachbild eines gelben Objects erscheint blau, das eines wei\u00dfen schwarz ; im Contrast zu Gelb sieht eine graue Fl\u00e4che blau, im Contrast zu Schwarz sieht sie wei\u00df aus. Scheinbar l\u00e4sst sich dem nun noch als dritte Analogie anreihen ; durch Mischung von Gelb und Blau erh\u00e4lt man Grau, durch Mischung von Wei\u00df und Schwarz erh\u00e4lt man ebenfalls Grau. Aber diese letzte Analogie ist selbst im Sinne der Theorie eine fehlerhafte : Gelb und Blau verbinden sich ja nach dieser deshalb zu Grau, weil sie sich aufheben, so dass nur die alle Farbenempfindung begleitende farblose Erregung zur\u00fcckbleibt; Schwarz und Wei\u00df aber geben Grau, weil sie sich mischen. Im Grau sollen daher nach Hering das Wei\u00df und Schwarz gerade so neben einander empfunden werden wie im Gelbgr\u00fcn das Gelb und Gr\u00fcn ; das Grau dagegen enth\u00e4lt, wie er zugesteht, keine der antagonistischen Farbenempfindungen.\nDie Nachbilderscheinungen und der simultane Contrast sind zwar","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n353\nvon Hering in eine Verbindung mit seiner Theorie gesetzt worden, als eigentliche Beweisgr\u00fcnde f\u00fcr dieselbe sind sie aber doch nicht zu betrachten. Man kann He rings Ausf\u00fchrungen gegen die Ableitung des simultanen Contrastes aus \u00bbUrtheilst\u00e4uschungen\u00ab vollkommen beipflichten, ohne darum seinen eigenen positiven Aufstellungen sich anzuschlie\u00dfen. Insbesondere steht die Parallele, in welche er den Contrast zu den Nachbildern setzt, sowie \u00fcberhaupt seine ganze Theorie des Contrastes in schroffem Widerstreit mit der Erfahrung. Nach dieser Theorie, welche in der Nachbarschaft eines jeden Dissimilationsreizes eine gesteigerte Assimilation voraussetzt, m\u00fcsste allgemein die St\u00e4rke des Contrastes mit der St\u00e4rke der Reizung zunehmen. Das ist aber nachweislich nicht der Fall. Vielmehr erreicht der Contrast schon bei einer sehr m\u00e4\u00dfigen Reizst\u00e4rke ein Maximum, wenn man nur das Verh\u00e4ltniss der contrastirenden Lichtst\u00e4rken oder S\u00e4ttigungen geeignet w\u00e4hlt. Dies gilt ganz in derselben Weise f\u00fcr den Farbencon-trast wie f\u00fcr den zwischen Schwarz und Wei\u00df \u2019). Auch die Einw\u00fcrfe Herings gegen die Ableitung der Nachbilderscheinungen aus der Erm\u00fcdung sind hier nicht ma\u00dfgebend. Es braucht kaum bemerkt zu werden, dass diese Ableitung, die ja viel \u00e4lter ist als die Neubelebung der Young\u2019schen Theorie durch Helmholtz, in keiner Weise an die letztere gebunden ist. Dagegen kann das Nachbild unm\u00f6glich auf eine mit dem simultanen Contrast wesentlich \u00fcbereinstimmende Quelle zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, da es sich hinsichtlich der St\u00e4rke der zu seiner Hervorrufung g\u00fcnstigsten Reize ganz abweichend verh\u00e4lt: je st\u00e4rker die prim\u00e4re Erregung, um so intensiver ist im allgemeinen das Nachbild. Dieser Umstand macht noch immer seine Auffassung als partielle Erm\u00fcdungserscheinung zu der wahrscheinlichsten. Die s\u00e4mmt-lichen von Hering sorgf\u00e4ltig verzeichneten Begleiterscheinungen, die sich dieser Deutung nicht f\u00fcgen, lassen sich vollst\u00e4ndig auf simultanen Contrast zur\u00fcckf\u00fchren, der nat\u00fcrlich auch hier niemals ausgeschlossen werden kann. 1 2)\nDie weitere Ausf\u00fchrung dieses Punktes muss jedoch einem andern Orte Vorbehalten bleiben. Sie kann hier unterlassen werden, weil, wie bemerkt, Herings Contrast- und Nachbildertheorie keine nothwendi-\n1)\tVergl. in Bezug auf Farbencontrast Schmerler, diese Stud. I, S. 379, in Bezug auf farblosen Lichtcontrast Lehmann, ebend. Ill, S. 497.\n2)\tVergl. Hering, Zur Lehre von Lichtsinn, S. 43 ff.","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nW. Wundt.\ngen Bestandteile seiner Farbentheorie sind. Man k\u00f6nnte die erstere annehmen und die letztere verwerfen und ebenso umgekehrt.\nDagegen kann auch diese Theorie sich schlie\u00dflich der Forderung nicht entziehen, dass sie \u00fcber die Erscheinungen der Farbenblindheit irgendwie Rechenschaft zu geben suche. Dies leistet sie nun allerdings in Bezug auf eine Form derselben, die totale, in erw\u00fcnschter Weise. Ist der Process der farblosen Empfindung ein spe-cifischer, die Farbenerregung immer begleitender und daher nach dem Wegfall derselben zur\u00fcckbleibender Vorgang, so ist ja damit ohne weiteres die M\u00f6glichkeit einer solchen totalen Farbenblindheit gegeben. Wie im normalen Auge bei der Compensation antagonistischer Farbenprocesse das Farblose als Restph\u00e4nomen zur\u00fcckbleibt, so wird dies dauernd der Fall sein, wenn verm\u00f6ge irgend welcher Bedingungen die farbigen Sehstoffe urspr\u00fcnglich fehlen oder durch pathologische Processe verloren gegangen sind. Anders steht es mit der partiellen Farhenblindheit. Hier fordert die Her in g\u2019sche Theorie, da sie den Zustand nur auf den Mangel des einen der beiden farbigen Sehstoffe zur\u00fcckf\u00fchren kann, unvermeidlich in jedem Fall gleichzeitige Blindheit f\u00fcr je zwei antagonistische Farben. Jede Rothblindheit muss also zugleich Gr\u00fcnblindheit sein. Es ist unm\u00f6glich, dass hier zwei differente Classen Farbenblinder, die Rothblinden und die Gr\u00fcnblinden, existiren. Dies gibt auch H ering zu, und er leugnet demzufolge, dass jene F\u00e4lle wirklich verschieden sind. Nun kann es aber nicht zweifelhaft sein, dass die Majorit\u00e4t Derjenigen, die \u00fcberhaupt eine gr\u00f6\u00dfere Zahl Farbenblinder zu untersuchen Gelegenheit hatten, und insbesondere Alle, die zu solcher Untersuchung nicht blo\u00df Pigmente und ihre Mischungen, sondern das Spektrum anwandten, mit der Behauptung Herings im Widerspruch stehen. Die Untersuchungen von Donders, v. Kries, K\u00fcster, A. K\u00f6nig u. A. lassen keinen Zweifel, dass es sich hier um wohl zu unterscheidende F\u00e4lle handelt. In der That, wenn die herk\u00f6mmliche Unterscheidung der Roth- und der Gr\u00fcnblinden nicht ganz zutreffend ist, so ist sie es nicht deshalb, weil hier geschieden wird, was zusammengeh\u00f6rt, sondern eher weil in dieser allgemeinen Unterscheidung die feineren Unterschiede der einzelnen F\u00e4lle verdeckt werden, Unterschiede, die es, wie oben erw\u00e4hnt, \u00fcberhaupt fraglich erscheinen lassen, ob diese Erscheinungen mit irgend einer der bekannten Componententheorien vereinbar sind.","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n355\nBlicken wir hiernach nochmals zur\u00fcck auf die fr\u00fcher formulirten sechs fundamentalen Thatsachen, \u00fcber welche jede Lichttheorie Rechenschaft zu geben hat (S. 329), so gen\u00fcgt die Vierfarbentheorie den beiden ersten, der Erzeugung aller Farben aus gewissen Grundfarben und der Mischung naheliegender Farbent\u00f6ne zu Uebergangsfarben, ungef\u00e4hr ebenso wie die Dreifarbentheorie. Einen Vorzug vor dieser hat sie dadurch, dass sie \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit der Farbens\u00e4ttigung von der Lichtst\u00e4rke Rechenschaft zu geben vermag; dagegen kann sie sich mit den \u00fcbrigen Thatsachen theils nur gezwungen in Einklang setzen, theils widerstreitet sie ihnen, theils ignorirt sie dieselben. So vermag sie die antagonistische Wirkung je zweier Complement\u00e4rfarben nur zu erkl\u00e4ren, indem sie den Principalfarben Roth, Gr\u00fcn und Blau eine andere Nuance gibt, also sie aus ihrer wirklichen Stellung im Spektrum entfernt, was besonders bei dem Roth auff\u00e4llig ist, weil dieses auf solche Weise zu einer Mischfarbe wird. Mit den Erscheinungen der totalen Farbenblindheit steht sie zwar im Einklang, setzt sich aber daf\u00fcr mit denjenigen\u2019 der partiellen in einen noch schrofferen Widerstreit als die Dreifarbentheorie. Endlich die subjective Verwandtschaft der beiden Endfarben des Spektrums l\u00e4sst auch sie v\u00f6llig unbeachtet.\nIV. Die Stufentheorie.\nGeht man, um die Mannigfaltigkeit der Licht- und Farbenempfindungen zu ordnen, zun\u00e4chst von der subjectiven Natur unserer Empfindungen aus, und abstrahirt man von allem was wir \u00fcber die objectiven Ursachen dieser Empfindungen wissen oder vermuthen, so wird man ohne weiteres die Reihe der farblosen und der farbigen Empfindungen als zwei zwar durch Ueberg\u00e4nge verbundene aber doch verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig am meisten zu scheidende Classen einander gegen\u00fcberstellen. Jede dieser Reihen bietet sich sofort als eine stetige Mannigfaltigkeit dar ; vom dunkelsten Schwarz gelangen wir durch beliebig klein zu w\u00e4hlende Zwischenstufen zum hellsten Wei\u00df, ebenso von jeder Farbe zu jeder andern von ihr beliebig weit entfernten. Aber die Farbenreihe zeigt gegen\u00fcber der farblosen zwei wesentliche Unterschiede: bei der letzteren gelangen wir, je weiter wir von einem gegebenen Punkte ausgehen, zu immer verschiedeneren Empfindungen; bei der ersteren erreichen wir ein Maximum des Unterschieds, worauf","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nW. Wundt.\nsich dieses bei weiterem Fortschritt wieder vermindert, um schlie\u00dflich zur selben Empfindungsqualit\u00e4t zur\u00fcckzuf\u00fchren. Sodann ist der Fortschritt in der farblosen Reihe an Ver\u00e4nderungen der Intensit\u00e4t der Empfindung unerl\u00e4sslich gebunden : wir k\u00f6nnen nicht vom Schwarz zum Wei\u00df vorw\u00e4rtsgehen, ohne die Intensit\u00e4t der Empfindung gleichzeitig wachsen zu lassen, nicht vom Wei\u00df zum Schwarz, ohne sie abnehmen zu lassen; in der Farbenreihe k\u00f6nnen solche begleitende Ver\u00e4nderungen der Intensit\u00e4t fehlen oder mit demselben Uebergang in entgegengesetzter Richtung verbunden sein ; es ist daher m\u00f6glich bei constant bleibender Intensit\u00e4t, vorausgesetzt dass diese nicht nach oben oder unten gewisse Grenzwerthe erreicht, die ganze Farbenreihe zu durchlaufen.\nDer erste dieser Unterschiede findet seinen angemessenen Ausdruck darin, dass man sich die farblose Reihe in einer Geraden, die Farbenreihe aber in einer geschlossenen Curve, also etwa in einer Kreislinie angeordnet denkt. Diese Kreislinie wird zur Kreisfl\u00e4che, wenn man die Ueberg\u00e4nge zwischen der farblosen und der farbigen Reihe hinzunimmt; die so genannten verminderten S\u00e4ttigungsgrade der Farben liegen dann zwischen dem der farblosen Reihe angeh\u00f6rigen Mittelpunkt und der die Peripherie bil .enden Reihe der ges\u00e4ttigten Farben, wobei zugleich die Thatsache, duss mit verminderter S\u00e4ttigung die Mannigfaltigkeit der Farbenstufen stetig abnimmt und zuletzt beim Uebergang in Wei\u00df ganz verschwindet, in dieser Construction ihren Ausdruck findet: je geringer der S\u00e4ttigungsgrad, um so kleiner wird ja der Radius des Kreises, den man sich coi.centrisch zum \u00e4u\u00dfersten Kreis der ges\u00e4ttigten Farben gelegt denken kann.\nW\u00fcrden nun die farbige und die farblose Reihe zwei von einander unabh\u00e4ngige Empfindungssysteme darstellen, zwischen denen nur beliebige Mischungen m\u00f6glich w\u00e4ren, so m\u00fcsste ein derartiger Uebergang vom Farbenkreis zur geradlinigen Mannigfaltigkeit der schwarzwei\u00dfen Empfindungen bei jedem Punkte der letzteren in derselben Weise m\u00f6glich sein : alle Mischungssysteme zusammen w\u00fcrden dann durch einen k\u00f6rperlichen Cylinder dargestellt werden, dessen Umh\u00fcllung \u00fcberall dem Kreis der ges\u00e4ttigten Farben, und dessen Achse der Geraden der farblosen Empfindungen entspr\u00e4che. Diese Construction ist aber unm\u00f6glich. Wie vielmehr der Fortschritt in der farblosen","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindling des Lichts und der Farben,\n357\nReihe immer zugleich eine Ver\u00e4nderung in der Empfindungsintensit\u00e4t einschlie\u00dft, so ver\u00e4ndert sich umgekehrt mit der Intensit\u00e4t einer Farbenempfindung zugleich deren S\u00e4ttigungsgrad, und zwar geschieht dies in solcher Weise, dass von einer bestimmten mittleren Intensit\u00e4t an sowohl mit abnehmender wie mit zunehmender Intensit\u00e4t die S\u00e4ttigung ahnimmt. Die erste dieser Abnahmen erscheint zugleich als eine Mischung mit Schwarz, die andere als eine Mischung mit Wei\u00df. Daraus folgt von seihst, dass in beiden F\u00e4llen zugleich die Mannigfaltigkeit der IJebergangst\u00f6ne zwischen der farbigen und der farblosen Empfindung sich stetig vermindert. Statt jenes Cylinders m\u00fcsste man also zur Darstellung der wirklichen Ueherg\u00e4nge zwischen den beiden Empfindungsclassen etwa einen Doppelkegel w\u00e4hlen, dessen beide H\u00e4lften sich mit ihrer Basis ber\u00fchren, oder, was damit principiell zusammenf\u00e4llt, eine Kugel, auf deren Aequator sich die ges\u00e4ttigten Farben befinden, w\u00e4hrend der eine der Pole dem hellsten Wei\u00df, der andere dem tiefsten Schwarz entspricht.\nDiese Beziehungen zwischen Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t des Lichteindrucks dr\u00e4ngen schon der rein subjectiven Betrachtung sich auf. Die Kenntniss der ohjectiven Bedingungen hat eigentlich mehr dazu beigetragen sie zu verdunkel\u2019 als sie klarer zu stellen, da sie immer wieder dazu verf\u00fchrt hat, einerseits die S\u00e4ttigung einer Farbe als eine blo\u00dfe Function der Mischung mit Wei\u00df aufzufassen, w\u00e4hrend sie doch gleichzeitig Function der Lichtintensit\u00e4t ist, anderseits aber Schwarz und Wei\u00df als blo\u00dfe Intensit\u00e4tsunterschiede anzusehen, w\u00e4hrend sie doch immer zugleich Qualit\u00e4tsunterschiede sind. Wo man angesichts des subjectiven Eindrucks dieser Gegens\u00e4tze sich weigerte, diese vorgebliche Consequenz der physikalischen Lichttheorie suhjectiv gelten zu lassen, da verfiel man dann freilich zumeist in den entgegengesetzten Fehler, beide als h 1 o\u00dfe Qualit\u00e4tsgegens\u00e4tze zu betrachten, wie dies dereinst Goethe und theilweise noch Hering begegnet ist. Darin liegt aber gerade eine wichtige Eigenth\u00fcmlichkeit der Gesichtsempfindungen, dass hei ihnen jede Aenderung der Intensit\u00e4t zugleich eine Aenderung der Qualit\u00e4t mit sich f\u00fchrt. Dagegen ist es bemerkenswerth, dass die Umkehrung dieses Satzes nur f\u00fcr die farblosen Empfindungen, nicht aber f\u00fcr die Farbenempfindungen gilt. Bei jenen bedeutet zugleich jede Qualit\u00e4ts\u00e4nderung eine Intensit\u00e4ts\u00e4nderung: man kann, wie schon bemerkt, nicht Wei\u00df in Schwarz","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nW. Wundt.\nnoch Schwarz in Wei\u00df \u00fcberf\u00fchren ohne gleichzeitige Aenderung der Intensit\u00e4t der Empfindung.\nDiese wechselseitige Gebundenheit der Qualit\u00e4ts- an die Intensit\u00e4ts\u00e4nderung des Farblosen ist nun f\u00fcr die physiologische Auffassung ma\u00dfgebend. Mit der Anerkennung derselben sind zun\u00e4chst alle diejenigen Ansichten ausgeschlossen, welche die farblosen Empfindungen als eine blo\u00df intensiv abgestufte Reihe anerkennen. Diese Ansichten selbst sind aber wieder in z w e i Formen, einer \u00e4lteren und einer neueren aufgetreten. Nach der ersten ist das Dunkle oder Schwarze \u00bbnichts positives sondern der Ausdruck der Ruhe gewisser oder aller Theile der Nervenhaut des Auges1).\u00ab Dass diese noch heute namentlich bei Physikern verbreitete Vorstellung falsch ist, erhellt ohne weiteres daraus, dass Nicht-Sehen und Dunkel-Sehen zwei sehr verschiedene Dinge sind. Der Blinde, dessen Netzhaut functionsunf\u00e4higgeworden, sieht nicht; sein Empfindungszustand ist aber v\u00f6llig verschieden von dem des Sehenden, der sich im Finstern befindet. Wenn man von der \u00bbNacht\u00ab des Blinden redet, so ist das eine Redeform, die daher r\u00fchrt, dass er allerdings eine Eigenschaft mit dem, der sich im Finstern befindet, gemein hat, die Eigenschaft, dass er die Gegenst\u00e4nde nicht unterscheiden kann und daher \u00e4hnliche unsicher tastende Bewegungen ausf\u00fchrt. Hierauf beschr\u00e4nkt sich aber auch ganz und gar die Uebereinstimmung. Wie sehr sich in der That Nicht-Sehen und Dunkel-Sehen unterscheiden, davon \u00fcberzeugt man sich am schlagendsten, wenn man einen Menschen, der auf einem Auge erblindet ist, mit einem andern vergleicht, der sein eines Auge zugebunden oder sonstwie gegen Licht abgeschlossen hat. Der Letztere ist in der unangenehmsten Weise in seinem Sehen gest\u00f6rt, weil sich fortw\u00e4hrend die Lichtempfindung in dem freien Auge mit der Dunkelempfindung des verschlossenen Auges mischt. Der einseitig Erblindete dagegen ist so wenig gest\u00f6rt, dass F\u00e4lle solcher einseitigen Erblindung Vorkommen, bei denen der Betroffene erst durch einen Zufall, wenn er etwa einmal das normale Auge allein schlie\u00dft, bemerkt, dass er blind ist.\nNach der zweiten Ansicht ist das Schwarz zwar eine positive Empfindung ; aber diese ist von der Empfindung Wei\u00df nicht qualitativ\n1) J. M\u00fcller, Handbuch der Physiologie des Menschen, II, S. 296.","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n359\nsondern nur quantitativ verschieden. Die geringste Intensit\u00e4t der farblosen Empfindung nennen wir Schwarz. Diese soll nicht blo\u00df hei schwacher Lichtst\u00e4rke der \u00e4u\u00dferen Objecte sondern auch im absoluten Finstern vorhanden sein, verm\u00f6ge des sogenannten \u00bbEigenlichtes der Netzhaut\u00ab, worunter man die durch innere Reize des Nervenapparates entstehenden schwachen Lichtempfindungen versteht, in Folge deren das Auge immer \u00bb\u00fcber der Schwelle\u00ab sei. Diese Ansicht ist noch jetzt unter den Physiologen die gel\u00e4ufige1). Sie beruht, ganz wie die Young-Helmholtz\u2019sche Theorie, auf einer unmittelbaren Uebertragung der physikalischen Verh\u00e4ltnisse auf den physiologischen Vorgang. Da ob-jectiv wei\u00dfes Licht bei schwacher Intensit\u00e4t die Empfindung des Schwarz gibt, so wird geschlossen, dass diese Empfindung selbst nichts anderes als eine geringere Intensit\u00e4tsstufe der Empfindung Wei\u00df sei. Dieser Schluss ist nat\u00fcrlich nicht ohne weiteres bindend. Die M\u00f6glichkeit, dass bei schwacher objectiver Lichtreizung nicht blo\u00df quantitativ sondern auch qualitativ andere Processe in der Netzhaut vorhanden sind, ist an und f\u00fcr sich nicht ausgeschlossen, namentlich aber angesichts der Thatsache, dass die Empfindung des Schwarz selbst hei sorgf\u00e4ltigstem Abschluss des \u00e4u\u00dferen Lichtes und dann sogar in besonders ausgepr\u00e4gter Weise vorhanden ist, nicht einmal unwahrscheinlich. Warum sollte es nicht vielmehr h\u00f6chst plausibel erscheinen, dass die Processe, welche bei Abschluss \u00e4u\u00dferen Lichtes Empfindungen anregen, an sich seihst und darum auch in ihren Empfindungserfolgen von den Effecten der Lichtreizung abweichen? Wie es sich auch mit dieser Frage verhalten m\u00f6ge, auf keinen Fall liegt hier irgend ein Grund a priori vor, der uns n\u00f6thigte in diesem Falle von dem sonst in der Empfindungslehre gebotenen Grunds\u00e4tze des Parallelismus physischer und psychischer Vorg\u00e4nge abzugehen. Dass aber subjectiv betrachtet Schwarz und Wei\u00df nicht blo\u00df intensive Unterschiede ausdriicken, \u00e4hnlicher Art etwa wie ein schwacher Ton und ein starker Ton, daran kann f\u00fcglich kein Zweifel obwalten. Auch legen alle auf den subjectiven Charakter der Empfindungen gegr\u00fcndeten Farbentheorien von Aristoteles bis auf Goethe hierf\u00fcr ein nicht zu missachtendes Zeugniss ah.\nEs ist darum als ein Verdienst Hering\u2019s anzuerkennen, dass er auf diesen qualitativen Unterschied der Empfindungen Wei\u00df und Schwarz\n1) Vergl. Helmholtz, Physiol. Optik, S. 313. Fechner, Psychophysik, I, S. 166 ff.\nWundt, Philos. Studien. IV.\n24","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nW. Wundt.\nwieder energisch hingewiesen hat. Aber wenn er diesen Unterschied in einen Gegensatz verwandelt, der schon unmittelbar in der sub-jectiven Empfindung gelegen sei, so ist die Existenz dieses Gegensatzes wieder eine fragw\u00fcrdige. Auch die Berufung auf die Gegens\u00e4tze der Temperaturempfindung ist hier nach unserer heutigen Kenntniss der Bedingungen der letzteren zweifelhaft geworden. Da nach den Untersuchungen von Magnus Blix und von Goldscheider1) W\u00e4rme und K\u00e4lte an verschiedene Endorgane gebunden scheinen, von denen die einen durch Temperaturen \u00fcber der Eigenw\u00e4rme der Haut, die andern durch solche unter derselben erregbar sind, so ist es eine selbstverst\u00e4ndliche Folge dieser physiologischen Bedingungen, dass niemals beide Empfindungen gleichzeitig entstehen k\u00f6nnen. Es braucht daher auch gar kein urspr\u00fcnglicher Gegensatz der Empfindungen seihst angenommen zu werden, um begreiflich zu machen, dass wir geneigt sind sie als Gegens\u00e4tze aufzufassen. Sind wir doch, wo nur immer bestimmte objective Bedingungen es mit sich bringen, dass irgend eine Empfindung eine andere ganz oder auch nur theilweise ausschlie\u00dft, bereit beide nun als Gegens\u00e4tze anzusehen. So werden innerhalb des Geschmacksgebiets in der Regel Sauer und S\u00fc\u00df als Gegens\u00e4tze betrachtet, offenbar blo\u00df deshalb weil das S\u00fc\u00dfe einen unangenehm sauren Eindruck erm\u00e4\u00dfigt, ohne dass es ihn ganz zu beseitigen braucht ; denn in diesem Fall ist ja, was bei den Temperaturempfindungen nicht stattfindet, eine Mischempfindung m\u00f6glich. So bestreite ich denn \u00fcberhaupt, dass es in irgend einem Sinnesgebiet zwei Empfindungen gibt, die nach ihrer urspr\u00fcnglichen Qualit\u00e4t contr\u00e4re Gegens\u00e4tze darstellen. Vielmehr ist der Gegensatz entweder dadurch entstanden, dass beide Qualit\u00e4ten verm\u00f6ge bestimmter objectiver Bedingungen sich in irgend einem Grade ausschlie\u00dfen bez. verdr\u00e4ngen, oder er beruht nur auf einer Uebertragung der entgegengesetzten Gef\u00fchle der Lust und Unlust, welche durch die Empfindungen angeregt werden, auf die Empfindungen selbst.\nUnverkennbar bilden nun mit R\u00fccksicht auf diese Entstehungsbedingungen Kalt und Warm noch einen vollkommeneren Gegensatz als Schwarz und Wei\u00df. Jene k\u00f6nnen an einer bestimmten Hautstelle im allgemeinen nicht gleichzeitig existiren; Schwarz und Wei\u00df aber\n1) Magnus Blix, Zeitschr. f\u00fcr Biologie, XX, S. 141, XXI, S. 145. Goldscheider, Archiv f\u00fcr Physiologie, 1885, Supplem. S. 1 ff.","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n361\nk\u00f6nnen sick ebensogut mischen wie S\u00fc\u00df und Sauer : solche Mischempfindungen bilden eben das Grau in seinen verschiedenen Abstufungen. Ja noch in einer andern Beziehung ist hier der Gegensatz ein unvollkommener : das Schwarz bildet nicht blo\u00df zu Wei\u00df einen Gegensatz, sondern auch zu jeder Art farbiger Lichtempfindung. Das Verh\u00e4ltniss ist in beiden F\u00e4llen ein v\u00f6llig \u00fcbereinstimmendes : das Schwarz selbst verdr\u00e4ngt jede Farbenempfindung, aber es ist doch zugleich mit jeder Farbe mischbar und bildet so die schw\u00e4rzlichen Farbent\u00f6ne. Wenn unter allen diesen Gegens\u00e4tzen der des Schwarzen und Wei\u00dfen einen gewissen Vorzug errungen hat, so erkl\u00e4rt sich das wohl aus der \u00fcberwiegenden Bedeutung, welche die Uebergangsstufen durch die fortw\u00e4hrenden Intensit\u00e4ts\u00e4nderungen des gemischten wei\u00dfen Sonnenlichtes in Folge der Reflexion und Absorption an farblosen Objecten gewonnen haben. Insbesondere spielt hier das Grau der Wolke wahrscheinlich eine ebenso entscheidende Rolle, wie bei der Ausbildung der Hauptfarben das Blau des Himmels. In der Wolkenbildung herrscht eine Mannigfaltigkeit von Lichtt\u00f6nen, welche alle Abstufungenumfasst, von dem lichten Wei\u00df der sonnbegl\u00e4nzten Mittagswolke bis zum tiefen Schwarz der sturmdrohenden Gewitterwolke. So w\u00fcrde sich auch diese Aussonderung der farblosen Empfindungen und ihre Einordnung zwischen Gegens\u00e4tzen schwerlich gebildet haben , ohne in bestimmten gleichf\u00f6rmig wieder kehrenden N aturanschauungen ihre Unterlage zu finden. Kein Naturschauspiel bietet so sehr wie das Gewitter Gelegenheit dar, fr\u00fche schon die Vorstellung der stetigen Ueberg\u00e4nge der beiden Empfindungsclassen und ihrer Qualit\u00e4ten zu bilden : zuerst dieAb-stufungen von Wei\u00df zu Schwarz, die zuweilen in ihren verschiedensten Uebergangst\u00f6nen gleichzeitig am Himmel stehen, und dann die prachtvolle Entwickelung der Farbenreihe in der Erscheinung des Regenbogens.\nIst nun schon die Umwandlung der Qualit\u00e4ten des Wei\u00df und Schwarz in urspr\u00fcngliche Gegens\u00e4tze der Empfindung eine h\u00f6chst fragw\u00fcrdige, so ist aber vollends die Gleichstellung dieser Gegens\u00e4tze mit denen der complement\u00e4ren oder antagonistischen Farben nicht durchzuf\u00fchren. Der Grundfehler liegt hier darin, dass ein zwar, wie wir soeben gesehen haben, h\u00f6chst wahrscheinlich unter bestimmten objectiven Bedingungen entstandener, aber an und f\u00fcr sich doch rein subjectiver Gegensatz in Parallele gebracht wird mit einem Gegensatz des physikalischen Verhaltens, von dem unsere Empfindung\n24*","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nW. Wundt.\nschlechterdings nichts wei\u00df, und zu dessen Bildung sie durch die all-gemeing\u00fcltigen ohjectiven Bedingungen niemals angeregt wird, sondern der erst dem experimentirenden Physiker oder Physiologen sich herausstellt. Ja sogar von diesem ist der Begriff jenes Gegensatzes eigentlich erst auf Grund bestimmter theoretischer Vorstellungen angenommen worden. Wir alle, selbst diejenigen, die sich niemals mit physiologischer Optik besch\u00e4ftigten, haben uns verm\u00f6ge der nat\u00fcrlichen Bedingungen des Sehens gew\u00f6hnt Schwarz und Wei\u00df als Gegens\u00e4tze aufzufassen. Kein Mensch aber, au\u00dfer Hering selber und den Anh\u00e4ngern seiner Theorie, hat jemals Gelb und Blau als Gegens\u00e4tze angesehen. Sie sind verschiedene Qualit\u00e4ten, ebenso wie Gelb und Gr\u00fcn oder Both und Blau verschiedene Qualit\u00e4ten sind. Es mag sein, und ich glaube es selber, dass jene mit gr\u00f6\u00dften qualitativen Unterschieden zusammenfallen. Aber darin liegt noch kein Grund, diese Unterschiede zu Gegens\u00e4tzen zu erheben.\nHering hat darum auch hier ein subjectives Kriterium zu H\u00fclfe genommen, welches an und f\u00fcr sich vollkommen willk\u00fcrlich und in seiner Anwendung zweifelhaft ist, ihn aber \u00fcberdies in einen totalen Widerspruch mit den \u00fcber die Gegens\u00e4tze des Farblosen auf Grund der unmittelbaren Empfindung gemachten Voraussetzungen hineintreibt. Es ist dies das Kriterium, dass diejenigen Empfindungen, welche sich antagonistisch verhalten, niemals mit einander gemischt Vorkommen k\u00f6nnen. Denn neben einander liegende Hauptfarben bilden nach Hering durch Mischung die Uebergangsfarben, gegen\u00fcberliegende aber heben sich auf. So k\u00f6nnen Both und Gelb zu Orange sich mischen, aber Both und Gr\u00fcn k\u00f6nnen sich niemals mischen. Ich habe schon darauf hingewiesen, wie zweifelhaft in Bezug auf ihre subjective Grundlage diese Mischungstheorie ist. Der wirkliche That-bestand ist lediglich der: wir wissen, dass wir durch objective Mischung von Both und Gelb Orange erhalten k\u00f6nnen, und sub-jectiv empfinden wir Orange den Farben, zwischen denen es liegt, verwandter als allen anderen. Nun ist das erstere als eine blo\u00df physikalische Thatsache f\u00fcr die subjective Auffassung der Empfindungen gar nicht ma\u00dfgebend; das zweite aber ist eine einfache Consequenz aus der stetigen Abstufung der Farbenreihe: Diese bringt es mit sich, dass die von einander entferntesten Farben am verschiedensten sind, keineswegs dass sie Gegens\u00e4tze sind. Da also der Gegensatz","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n363\nder antagonistischen Farben lediglich ein objectiver ist, der von Schwarz und Wei\u00df verm\u00f6ge der angef\u00fchrten Bedingungen aber von uns als ein subj ectiver aufgefasst wird, so kann es nun auch schlie\u00dflich nicht befremden, dass sich diese beiden Arten von Gegens\u00e4tzen in den Effecten ihres Zusammenwirkens v\u00f6llig verschieden verhalten : die antagonistischen Farbenempfindungen heben sich auf, Schwarz und Wei\u00df aber vermischen sich zu einer mittleren Empfindung, dem Grau, welches mindestens mit demselben Rechte als eine subjective Mischung aus Schwarz und Wei\u00df angesehen werden kann, wie das Orange eine subjective Mischung aus Itoth und Gelb ist.\nF\u00fcr die wirkliche Bedeutung des Schwarz f\u00e4llt nun vor allem die Thatsache ins Gewicht, dass dasselbe als die constante Empfindung des Sehorgans betrachtet werden muss. Dies ist ja eine nicht zu bestreitende Eigenschaft der Netzhaut, dass es f\u00fcr dieselbe, so lange sie \u00fcberhaupt leistungsf\u00e4hig ist, keinen Zustand der Empfindungslosigkeit, also keinen Moment absoluten Mangels physiologischer Erregung gibt. Die Erregung, welche nach dem Hinwegfall aller \u00e4u\u00dferen Lichterregung oder ihr \u00e4quivalent wirkender mechanischer, elektrischer und sonstiger Sinnesreize zur\u00fcckbleibt, ist eben jene Erregung, welche sub-jectiv der Empfindung des Schwarz entspricht. Es ist durchaus unzul\u00e4ssig, diese Erregung mit jenen durch innere Druckreize von wechselnder Beschaffenheit bedingten Lichterregungen zusammenzuwerfen, welche als \u00bbLichtstaub des dunkeln Gesichtsfeldes\u00ab und \u00e4hnliche Ph\u00e4nomene bekannt sind. Alle diese Erscheinungen sind farbig oder wei\u00df und unterscheiden sich eben dadurch qualitativ durchaus von dem Dunkel oder Schwarz der nicht durch \u00e4u\u00dfere Reize erregten Netzhaut. Die inneren Lichtreize der genannten Art k\u00f6nnen sich in der mannigfaltigsten Weise mit dem Schwarz des dunkeln Gesichtsfeldes verbinden, aber sie werden doch immer allererst dadurch wahrgenommen, dass sie sich von diesem Schwarz unterscheiden. Hierdurch werden wir dazu gedr\u00e4ngt, das Schwarz als diejenige Empfindung aufzufassen, welche die Netzhaut durch einen in ihr stattfindenden eigent\u00fcmlichen Erregungsvorgang dann vermittelt, wenn sie von allen \u00e4u\u00dferen Lichtreizen oder ihnen \u00e4quivalent wirkenden Reizungsvorg\u00e4ngen im Inneren des Auges frei ist. Dass diese Empfindung des Schwarz keineswegs in einem Mangel von Empfindung besteht, ist oben er\u00f6rtert worden. Dass sie mit den so ge-","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nVV. Wundt.\nnannten subjectivenLichtph\u00e4nomenen, wie sie vonPurkinje und Andern beschrieben sind, nicht gleichen Ursprungsist, erhellt theils aus ihrem qualitativen Unterschied, da wie gesagt diese Ph\u00e4nomene immer farbig oder wei\u00df sind, theils aus ihrer r\u00e4umlichen Verbreitung : das Schwarz der durch kein \u00e4u\u00dferes Licht gereizten Netzhaut erf\u00fcllt stets das ganze Gesichtsfeld, die subjectiven Lichtph\u00e4nomene dagegen sind an Ausdehnung beschr\u00e4nkt, zumeist au\u00dferdem wechselnd; sie documentiren sich so \u00fcberall als Erscheinungen, die zu dem gleichf\u00f6rmig das Gesichtsfeld erf\u00fcllenden Schwarz hinzutreten und sich mit ihm mischen, nichts aber weist darauf hin, dass sie demselben irgendwie gleichartig w\u00e4ren. Hiernach haben wir allen Grund anzunehmen , dass das Schwarz eine Empfindung ist, welche inneren Netzhautprocessen entspricht, die fortw\u00e4hrend und unabh\u00e4ngig von jeder \u00e4u\u00dferen, sei es au\u00dfer dem Auge sei es in demselben entspringenden \u00dfeizeinwirkung stattfinden. Diese innere Netzhauterregung, wie sie in ihrer physiologischen Natur von jeder \u00e4u\u00dferen Reizung verschieden ist, ist nun auch von einer Empfindung specifischer Art begleitet: dies ist eben die Empfindung des Schwarz, die an sich von der Empfindung Wei\u00df ebenso qualitativ abweicht wie von jeder beliebigen Farbenempfindung, welche aber mit jeder durch \u00e4u\u00dfere Netzhautreize verursachten Empfindung sich mischen kann. Es mag sein, dass dieseinnereNetzhauterregung vondemErn\u00e4hrungsprocess der lichtempfindlichen Elemente herr\u00fchrt, dass sie also eine trophische Erregung der Netzhautelemente darstellt. Man k\u00f6nnte vielleicht ver-muthen, dass die Bildung des Sehpurpur ein Process sei, der mit dem dauernden inneren Erregungsvorgang Zusammenh\u00e4nge, da die Entstehungsbedingungen dieser Substanz in der That mit denjenigen zusammenzufallen scheinen, welche wir f\u00fcr das Auftreten der Empfindung des Schwarz kennen. Aber es soll hier von allen derartigen Hypothesen abgesehen werden, da wir nun einmal bei dem heutigen Stand unserer Kenntniss der physiologischen Netzhautprocesse \u00fcberall auf Schl\u00fcsse aus der subjectiven Beschaffenheit der Empfindungen angewiesen sind, es aber bedenklich erscheint f\u00fcr einen einzelnen Vorgang ein physiologisches Substrat zu suchen, ehe man f\u00fcr die gro\u00dfe Zahl der \u00fcbrigen ein solches zu finden wei\u00df.\nDie Empfindung des Schwarz ist nun aber nicht blo\u00df insofern eine Dauerempfindung, als sie zur\u00fcckbleibt, wenn alle andern Er-","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n365\nregungsformen beseitigt werden, sondern auch in dem Sinne, dass sie als eine alle andernbegleitende Empfindung, also auch der entsprechende innere Erregungsprocess der Netzhaut als ein alle andern Erregungsprocesse begleitender Vorgang angesehen werden muss. Bei dem Grau und den schw\u00e4rzlichen Farben werden wir geneigt sein dies ohne weiteres zuzugeben : erscheinen sie doch unmittelbar als Mischungen einer bestimmten Reizempfindung mit der Empfindung des Dunkeln oder Schwarzen. Aber auch bei den Eindr\u00fccken, denen, so lange man sie isolirt betrachtet, kein Schwarz beigemischt erscheint, ergibt sich das n\u00e4mliche, sobald wir Eindr\u00fccke von verschiedener Lichtst\u00e4rke vergleichen: dann erscheint der lichtschw\u00e4chere Eindruck immer dunkler als der lichtst\u00e4rkere, d. h. es scheint ihm mehr von der Dauerempfindung des Schwarz beigemischt zu sein als diesem. Das \u00e4hnliche zeigt sich, wenn wir diesen st\u00e4rkeren Eindruck wieder mit einem st\u00e4rkeren vergleichen u. s. w. Es erkl\u00e4rt sich so unmittelbar die merkw\u00fcrdige Eigenschaft des Gesichtssinns, dassbeiihmjede Abnahme der Intensit\u00e4t einer Empfindung zugleich mit einer qualitativen Aenderung verbunden ist. Diese kann sich bei m\u00e4\u00dfigeren Intensit\u00e4tsabstufungen sogar so \u00fcberwiegend unserer Aufmerksamkeit aufdr\u00e4ngen, dass wir dieselben eigentlich nur als qualitative Aenderungen auffassen: Gelb und Braun, Hellgr\u00fcn und Dunkelgr\u00fcn, selbst Wei\u00df und Schwarz erscheinen uns so in erster Linie als qualitative und erst, wenn die Abstufung des Lichtes bedeutender wird, zugleich als quantitative Unterschiede. Diese gew\u00f6hnliche Beurtheilung der Licht- und Farbenabstufungen hat ihr gutes Recht darin, dass wirklich hier \u00fcberall qualitative Ver\u00e4nderungen vorliegen, die unter den gew\u00f6hnlichen Bedingungen des Sehens zumeist viel mehr unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen als die gleichzeitigen Intensit\u00e4tsunterschiede.\nOb die dauernde innere Erregung der Netzhaut, welche in der Empfindung des Schwarz ihren Ausdruck findet, ein unter allen Umst\u00e4nden ann\u00e4hernd constanter Vorgang ist, oder ob in demselben ebenfalls, wie in allen sonstigen Erregungen, Intensit\u00e4tsschwankungen Vorkommen, ist eine nicht mit Sicherheit zu beantwortende Frage. Man k\u00f6nnte f\u00fcr das Stattfinden solcher Schwankungen einerseits die allm\u00e4hlichen Adaptationsvorg\u00e4nge beim Aufenthalt im Dunkeln, anderseits die Nachbild- und Contrasterscheinungen bei farblosen Lichtein-","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nW. Wundt.\ndr\u00fccken herbeiziehen. Aber was die Adaptationserscheinungenbetrifft, so,weisen dieselben nicht sowohl auf eine Zunahme der Schwarzempfindung im Dunkeln als vielmehr auf eine allm\u00e4hliche Abnahme der immer in der Netzhaut persistirenden Lichterregungen hin. So lange die Lichterregung f\u00fcr die meisten Theile des Sehfeldes so gro\u00df ist, dass die schwachen Lichtunterschiede der Objecte im nahezu verdunkelten Raum dagegen verschwinden, unterscheiden wir die letzteren nat\u00fcr-lich nicht; wir thun dies aber in dem Augenblick, wo die Nachwirkungen der \u00e4u\u00dferen Lichterregungen so weit gesunken sind, dass die Unterschiedsempfindlichkeit der Netzhaut zureicht jene kleinsten Differenzen der Lichtst\u00e4rke wahrzunehmen. Ebenso n\u00f6thigen die Nachbild- und Constrasterscheinungen nicht unbedingt zur Annahme quantitativer Unterschiede der inneren Netzhauterregung. Das negative Nachbild eines wei\u00df en Objectes ist schwarz, weil an der gereizten Stelle eine relativ geringere Erregbarkeit f\u00fcr \u00e4u\u00dferes Licht zur\u00fcck bleibt, wodurch die innere Netzhauterregung, das Schwarz, zum Uebergewichte gelangt. Der Contrast mit der Umgehung verst\u00e4rkt dann noch diesen Unterschied. Umgekehrt ist das negative Nachbild eines schwarzen Objectes wei\u00df, weil ein solches Nachbild immer nur unter Bedingungen entstehen kann, welche zugleich Contrast mit sich f\u00fchren, so dass in diesem Fall lediglich die un-erm\u00fcdete Stelle im Verh\u00e4ltniss zu einer vor\u00fcbergehend minder erregbar gewordenen wei\u00df erscheint. Von dem Contrasthabe ich an andern Orten ausgef\u00fchrt, dass seine Erscheinungen auf centrale Bedingungen hin-weisen, da dieselben aus den bekannten Eigenschaften der Reizbarkeit von Sinnessubstanzen nicht, wohl aber aus allgemeinen Eigenschaften der centralen Apperception erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen. Hiernach reicht die Annahme, dass die Dauererregung der Netzhaut ein Vorgang von c o n-stanter Gr\u00f6\u00dfe sei, f\u00fcr die Erkl\u00e4rung aller Erscheinungen aus. Wenn, wie wahrscheinlich ist, Schwankungen desselben stattfinden, die den Schwankungen der trophischen Processe parallel gehen, so sind dieselben wenigstens von keinem entscheidenden Einfl\u00fcsse auf die Verh\u00e4ltnisse der Lichtempfindung. Als eine bedeutsame Eigenschaft, die mit den Bedingungen dieses Erregungsvorgangs zusammenh\u00e4ngt, wird aber vor allem die anzusehen sein, dass derselbe der einzige Erregungsvorgang ist, welcher keine Erm\u00fcdung der Netzhaut herbeif\u00fchrt. Nur unter dieser Bedingung kann ja \u00fcberhaupt derselbe als ein dauernder Zustand von ann\u00e4hernd constanter Gr\u00f6\u00dfe Vorkommen.","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"367\nDie Empfindung des Lichts und der Farben.\nDurch diese Bedingung wird nun zugleich die Annahme zur\u00fcckgewiesen, dass Schwarz und Wei\u00df in analogem Sinne einander gegen\u00fcberstehen wie irgend zwei durch \u00e4u\u00dfere Reize hervorgerufene Empfindungen, also z. B. wie Kalt und Warm oder wie Blau und Gelb. Es gibt Intensit\u00e4tsstufen der K\u00e4lte so gut wie der W\u00e4rme, S\u00e4ttigungsund Intensit\u00e4tsgrade des Blau so gut wie des Gelb. Aber es gibt keine selbst\u00e4ndigen Intensit\u00e4tsgrade des Schwarz. Man kann von einem dunkleren Schwarz nicht sagen, es sei eine intensivere Empfindung als ein helleres, sondern man wird umgekehrt stets auch nach der subjectiven Empfindung das dunklere Schwarz als ein solches von geringerer Helligkeit, das hellere als ein solches von gr\u00f6\u00dferer Helligkeit d. h. mit gr\u00f6\u00dferer Zumischung von Wei\u00df ansehen. Daraus geht hervor, dass Schwarz und Wei\u00df weder in dem objectiven Sinne wie Gelb und Blau noch in jenem subjectiven wie Kalt und Warm als antagonistische Empfindungen bezeichnet werden k\u00f6nnen. Denn das in beiden F\u00e4llen vorhandene Wachsthum der Empfindung von einem bestimmten Nullpunkte aus nach entgegengesetzter Richtung mangelt hier v\u00f6llig. Der Nullpunkt der farblosen Empfindungen liegt vielmehr bei dem dunkelsten Schwarz, welches in jeder einzelnen Vergleichung immer nur relativ bestimmt werden kann, als diejenige Empfindung einer Reihe, welche unter allen die dunkelste ist. Von hier aus ver\u00e4ndert sich durch stetige Zunahme von Wei\u00df und gleichzeitige Intensit\u00e4tszunahme die Empfindung schlechthin nur in einer Richtung. Hierin findet die oben bemerkte merkw\u00fcrdige Eigenschaft der Schwarz-Wei\u00df-Reihe, dass bei ihr jede intensive Aenderung zugleich eine qualitative Aenderung bedeutet, so zwar, dass m ihr nicht zwei verschiedene Intensit\u00e4ten Vorkommen k\u00f6nnen, die qualitativ gleich, und nicht zwei verschiedene Qualit\u00e4ten, die intensiv gleich sind, ihre unmittelbare Erkl\u00e4rung.\nFassen wir das Ergebniss dieser Betrachtungen kurz zusammen, so l\u00e4sst sich demnach nach ihnen das System der farblosen Empfindungen als ein Mischsystem aus zwei Qualit\u00e4ten auffassen, aus demabsolutenSchwarz, welches, der Dauererregung der Netzhaut entsprechend, an Intensit\u00e4t constant bleibt, und dem W e i \u00df , welches, von wechselnden \u00e4u\u00dferen Lichterregungen herr\u00fchrend, durch seine ver\u00e4nderliche Intensit\u00e4t in dem Zusammenwirken mit jener Dauererregung die verschiedenen Stufen des Grau und Wei\u00df hervorbringt.","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nW. Wundt.\nDiese Erregungen des Wei\u00df und des Schwarz sind nun aber nicht blo\u00df bei jeder Lichtreizung, der wir die Qualit\u00e4t des Farblosen beilegen, vorhanden, sondern sie begleiten beide auch jede Farbenerregung. Der unmittelbare Beweis hierf\u00fcr liegt in den Ver\u00e4nderungen der S\u00e4ttigung, welche eine Farbe sowohl bei Abnahme wie bei Zunahme der Lichtst\u00e4rke erf\u00e4hrt. Bei der ersteren wird die Farbe schw\u00e4rzlich, bei der letzteren wird sie wei\u00dflich. Da aber au\u00dferdem jede Farbe, der wir an und f\u00fcr sich diese Qualit\u00e4t des Schw\u00e4rzlichen oder des Wei\u00dflichen nicht zuschreiben w\u00fcrden, dieselbe gewinnt, sobald wir sie mit dem n\u00e4mlichen Farhenton von gr\u00f6\u00dferer oder geringerer Lichtintensit\u00e4t vergleichen, so folgt daraus, dass es \u00fcberhaupt keine Farbenreizung gibt, bei welcher diese Miterregung der beiden farblosen Empfindungen nicht vorhanden w\u00e4re. Auch die Erscheinungen hei totaler Farbenblindheit best\u00e4tigen diese Folgerung; denn bei ihr erzeugt eine noch so ges\u00e4ttigte Farbe immer die farblose Empfindung. Die Existenz dieses letzteren Zustandes beweist zugleich, wie dies fr\u00fcher schon er\u00f6rtert wurde, dass bereits in der Netzhaut die Farbenempfindung an andersartige Processe gebunden sein muss als die farblosen Empfindungen.\nSchlie\u00dflich erhebt sich nun aber die Frage : Sind auch f\u00fcr die verschiedenen Farbenempfindungen wieder mehrere von einander bestimmt isolirbare Processe vorauszusetzen, oder handelt es sich hier um einen einzigen, jedoch mit der Schwingungsdauer in sehr kleinen Abstufungen ver\u00e4nderlichen, beziehungsweise durch unsere analytischen H\u00fclfsmittel nicht in bestimmte einzelne Componenten aufzul\u00f6senden Vorgang?\nAuf Grund der Mischungserscheinungen hat zun\u00e4chst die Dreifarbentheorie diese Alternative im ersteren Sinne beantwortet, indem sie diejenige Minimalzahl einfacher Farben, aus denen sich am ann\u00e4herndsten alle anderen zusammensetzen lassen, als die drei Grundempfindungen postulirte. Die Unhaltbarkeit dieser Annahme wurde zwar oben ausf\u00fchrlich nachgewiesen. Doch bleibt f\u00fcr jede Theorie die Frage zu erledigen, wie es, abgesehen von allen Voraussetzungen \u00fcber etwaige Componenten der Farbenempfindung, begreiflich sei, dass in dieser Beziehung unverkennbar grade Roth, Gr\u00fcn und Violett eine bevorzugte Rolle spielen. Hier ist nun vor allem auf die Thatsache hinzuweisen, dass die genannten Farben nach den hierin \u00fcbereinstimmen-","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n369\nden, nach verschiedenen Methoden ausgef\u00fchrten Untersuchungen von Dob row olsky, sowie von K\u00f6nig und Dieter ici1) eine ausgezeichnete Stellung einnehmen. Im Roth und im Violett, an den beiden Enden des Spektums, ist n\u00e4mlich die Unterschiedsempfindlichkeit ein Minimum; ein relatives Minimum ist aber au\u00dferdem im Gr\u00fcn vorhanden. Wir k\u00f6nnen uns daher nach den genannten Versuchen den Gang der Unterschiedsempfindlichkeit hei zunehmender Geschwindigkeit der Lichtwellen schematisch durch die Fig. 2 veranschaulicht denken. Nun besteht, wie wir gesehen haben, die B edeutung der drei Yo u ng\u2019schen Grundfarben keineswegs darin, dass man mittelst ihrer alle Farben t\u00f6ne in absolut gr\u00f6\u00dfter, z. B. spektraler S\u00e4ttigung hervorbringen kann, sondern nur darin, dass sie die relativ g\u00fcnstigsten im Vergleich mit irgend drei anders gew\u00e4hlten Componenten sind (siehe oben S. 319). Mischung zweier Spektralfarben erzeugt, wie allseitig anerkannt wird, immer nur dann eine mittlere Farbe, die von der Spektralfarbe selbst nicht oder doch kaum zu unterscheiden ist, wenn die Componenten einander sehr nahe gew\u00e4hlt werden. Allgemein aber sind die durch Mischung erzeugten Farben immer wei\u00dflicher als die reinen Farben. Nun ist es an und f\u00fcr sich einleuchtend, dass solche Mischproducte den zwischenliegenden Farben da am \u00e4hnlichsten sein werden, wo die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr die Componenten an und f\u00fcr sich schon gering ist. Das ist aber im h\u00f6chsten Ma\u00dfe bei Roth und Violett der Fall, in geringerem beim Gr\u00fcn, daher auch die in der N\u00e4he des Gr\u00fcn gelegenen Farbent\u00f6ne unvollkommener durch Mischung erzeugt werden k\u00f6nnen. Dazu kommt, dass, wie fr\u00fcher bereits bemerkt, Roth und Violett als Endfarhen des Spektrums, sowie in Folge ihrer maximalen S\u00e4ttigung, d. h. des relativen Zur\u00fccktretens der farblosen Erregung, eine bevorzugte Stellung einnehmen, daher denn auch durch sie allein diejenige Farbe, die im Spektrum fehlt, das Purpur, in gr\u00f6\u00dfter S\u00e4ttigung erzeugt werden kann. Zu Roth und Violett ist aber Gr\u00fcn als dritte Grundfarbe von selbst gegeben.\n1) Dobrowolsky, Arch. f. Ophthalm., XVIII, I, S.66ff. K\u00f6nig und Die-t erici, Ebend. XXX, 2, S. 171 ff.\nHlo/stt' Violett\nRoth, delh\nFig. 2.","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nW. Wundt.\nDiese Verh\u00e4ltnisse machen es begreiflich, dass auch die Vierfarbentheorie trotz der gr\u00f6\u00dferen Componentenzahl, die sie statuirt, von den Mischungserscheinungen im wesentlichen nicht besser Rechenschaft geben kann. Sind auch zwischen den angenommenen Grundfarben Roth und Gelb die Ueberg\u00e4nge in nahezu vollkommener S\u00e4ttigung herzustellen, so ist dies doch nicht mehr zwischen Gelb und Gr\u00fcn, Gr\u00fcn und Blau, namentlich aber nicht zwischen Blau und Roth m\u00f6glich, da man durch Mischung beider keineswegs ein spektrales Violett und ein vollkommen ges\u00e4ttigtes Purpur erhalten kann.\nNeben der Farbenmischung bilden die Erscheinungen der Farbenblindheit die wichtigste Instanz zur Beantwortung der aufgestellten Frage. Dass hier die Existenz der to ta len Farbenblindheit in unzweifelhafter Weise eine schon in der Netzhaut vorgebildete Selbst\u00e4ndigkeit der Processe der farblosen Lichtempfindung beweist, haben wir gesehen. Analoge Anhaltspunkte zur Scheidung der Farbenempfindung in verschiedene Componenten haben die Beobachtungen \u00fcber partielle Farbenblindheit aber nicht ergeben. Keine der beiden Componententheorien leistet hier den thats\u00e4chlichen Anforderungen gen\u00fcge. Die Vierfarbentheorie widerspricht der Selbst\u00e4ndigkeit der Formen der sogenannten Roth- und Gr\u00fcnblindheit, die Dreifarbentheorie der Thatsache, dass das farbenblinde Auge Wei\u00df nicht anders als das farbent\u00fcchtige empfindet. Beide k\u00f6nnen die Zwischenformen , die zwischen Roth- und Gr\u00fcnblindheit Vorkommen, nur gezwungen erkl\u00e4ren. So bleibt als einziger Ertrag dieser Beobachtungen neben jener Selbst\u00e4ndigkeit der farblosen Empfindungsprocesse der \u00fcbrig, dass einerseits die Unempfindlichkeit f\u00fcr die gr\u00f6\u00dferen Wellenl\u00e4ngen weitaus am h\u00e4ufigsten vorkommt, und dass anderseits diejenigen unter den Farben geringerer Brechbarkeit, die f\u00fcr die Construction der Mischungstafel die g\u00fcnstigsten sind, auch h\u00e4ufiger als andere in dem Spektrum des Farbenblinden zu fehlen scheinen. Dies kann aber selbstverst\u00e4ndlich mit den n\u00e4mlichen Bedingungen wie dort Zusammenh\u00e4ngen. Vor allem erscheint dann die h\u00e4ufigste Form, die Rothblindheit, einfach als relative Unempfindlichkeit f\u00fcr die l\u00e4ngsten Lichtwellen, wie sie denn auch h\u00e4ufig mit Verk\u00fcrzung des Spektrums verbunden ist. Die Gr\u00fcnblindheit, die an sich in Bezug auf die Lage der unempfindlichen Stelle des Spektrums eine variablere Erscheinung ist, trifft im allgemeinen mit jener Mitte des Spektrums","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n371\nzusammen, die schon im normalen Auge einerseits durch ges\u00e4ttigten Ton der Empfindung gegen\u00fcber den Nachbarfarben, anderseits durch geringere Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Wellenl\u00e4ngen ausgezeichnet ist. Es ist zu vermuthen, dass diese beiden Eigenschaften in einem gewissen Zusammenh\u00e4nge mit einander stehen. Starke S\u00e4ttigung einer Spektralfarbe weist auf relative Intensit\u00e4t des zu Grunde liegenden photochemischen Processes hin. Geringe Unterschiedsempfindlichkeit der Wellenl\u00e4nge beweist, dass in relativ gro\u00dfem Umfang der photochemische Vorgang in ann\u00e4hernd gleichf\u00f6rmiger Weise erregt wird. Beide Eigenschaften zusammen verrathen also, dass der betreffende Vorgang ein intensiv und extensiv relativ dominirender ist. Denken wir uns nun, es sei eine Reihe von Processen A, B, C, D, E, F, G\ngegeben, von denenjeder einzelne in Folge irgend welcher Abweichungen ausfallen k\u00f6nne, so wird, wenn irgend einer dieser Processe, z. B. 1), eine intensiv und extensiv gr\u00f6\u00dfere Rolle spielt, sein Ausfallen viel mehr empfunden werden, als das irgend eines anderen Coder E, auch wenn das letztere ebenso h\u00e4ufig Vorkommen sollte. Dieser eine Umstand w\u00fcrde, nachdem einmal das h\u00e4ufigere' Vorkommen des Mangels gewisser Stufen der Empfindungen innerhalb der Reihe der l\u00e4ngeren Wellen feststeht, vollkommen gen\u00fcgen, um zun\u00e4chst das Uebergewicht der Rothblinden und dann in zweiter Linie das der Gr\u00fcnhlinden zu erkl\u00e4ren.\nEs bleibt nun noch schlie\u00dflich ein Argument allgemeinerer Art \u00fcbrig, welches zwar nicht zu Gunsten einer bestimmten Theorie, aber doch zu Gunsten der Annahme einer eng begrenzten Anzahl von Farben-componenten und in diesem Sinne also f\u00fcr die Drei- oder Vierfarbentheorie ins Feld gef\u00fchrt worden ist : es ist dies die Analogie mit den sonstigen photochemischen Wirkungen \u00fcberhaupt. \u00bbWir sehen(f, so fasst v. Kries diese Gesichtspunkte zusammen, \u00bbdass das Licht eine chemische Wirkung auszu\u00fcben im Stande ist, und dass ein Stoff, welcher wirklich durch Licht ver\u00e4ndert wird, in gewissen Theilen des Auges enthalten ist. Niemand wird in Abrede stellen, dass hierdurch die Existenz einer Anzahl von Sehstoffen d. h. Stoffen, die \u25a0 durch Licht irgend einer chemischen Ver\u00e4nderung unterliegen, in hohem Grade wahrscheinlich wird\u00ab. Diese Annahme f\u00fchrt uns aber \u00bbunweigerlich zu der Folgerung, dass die n\u00e4chste Umsetzung des objectiven","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nW. Wundt.\nLichtes in einer beschr\u00e4nkten Anzahl von Componenten zu suchen ist, sie zwingt uns f\u00fcr das erste Stadium physiologischerVorg\u00e4nge zur Adop-tirung einer Componenten- im Gegensatz zu einer Stetigkeitstheorie. Der Grund hierf\u00fcr ist leicht einzusehen. Die chemischen Stoffe sind bestimmte, so zu sagen individuell verschiedene, und es gibt zwischen ihnen keine stetigen Ueberg\u00e4nge sondern nur Vermischungen. Ebenso ist auch jeder chemische Process ein bestimmter, f\u00fcr den es keine andere Ver\u00e4nderung als gr\u00f6\u00dfere oder geringere Intensit\u00e4t gibt\u00ab ').\nIn dieser Argumentation sind zun\u00e4chst zwei Bestandteile auseinanderzuhalten : ein erster, welcher eine Mehrheit lichtempfindlicher S ehst o ff e, und ein zweiter, welcher eine Mehrheit discontinuirlicher, nicht stetig in einander \u00fcbergehender Sehprocesse annimmt. Die erste dieser Annahmen ist, wenn unter den Sehstoffen nicht etwa erst die durch die Lichtreizung entstehenden Producte verstanden werden, wo sie einfachmit der zweiten Annahme zusammenfallen w\u00fcrde, sondern wenn, wie es augenscheinlich der Fall ist, pr \u00e4formirte Sehstoflfe von verschiedener Beschaffenheit gemeint sind, entschieden unrichtig. Es ist vollkommen denkbar, dass alle photochemischen Sehprocesse an einer und derselben Substanz vor sich gehen, welche durch die verschiedenen Lichtarten nur in verschiedenerWeise zersetzt wird. Sonstige chemische Analogien sind f\u00fcr die eine Voraussetzung ebenso zur Hand wie f\u00fcr die andere. Die Anilinfarhstoffe z. B. k\u00f6nnen alle aus einer und derselben Substanz gewonnen werden. Im Auge selbst kennen wir mit Sicherheit nur eine photochemisch zersetzbare und zugleich durch Farbenwirkungen ausgezeichnete Substanz, den Sehpurpur. Die M\u00f6glichkeit ist nicht ausgeschlossen, \u2014 obgleich ich das keineswegs als eine irgend der zureichenden Begr\u00fcndung zug\u00e4ngliche Hypothese hinstellen m\u00f6chte \u2014 dass die Bleichung des Sehpurpurs aus einer Menge verschiedenartiger, mit der Lichtbeschaffenheit wechselnder Processe besteht, die alle an einer und derselben Substanz vor sich gehen. Wollte man das mit der Annahme verbinden, dass die Erzeugung des Sehpurpurs umgekehrt jener Dauererregung entspricht, welche wir als Schwarz empfinden, so w\u00fcrde durch eine solche Hypothese vielleicht ganz ansprechend zugleich der Gegensatz veranschaulicht, in welchem sich das Schwarz nicht nur zum Wei\u00df sondern auch zu allen Farbenempfindungen\n1) J. v. Kries, Die Gesichtsempfindungen und ihre Analyse, S. 158.","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n373\nbefindet. Aber da ich es, wie oben bemerkt, f\u00fcr zweifelhaft halte, ob dieser Gegensatz ein urspr\u00fcnglicher ist, und \u00fcberhaupt der Zusammenhang des Sehpurpurs mit dem Process der Lichtreizung noch allzu unbekannt ist, so mag alles dies dahingestellt bleiben. Nur das eine kann man, wie ich glaube , mit Bestimmtheit behaupten : die objec-tiven Thatsachen geben f\u00fcr die Annahme einer Mehrheit von Sehstoffen gar keinen Anhaltspunkt, sondern sie scheinen viel eher f\u00fcr verschiedene Zersetzungsprocesse an einer einzigen h\u00f6chst complex zusammengesetzten lichtempfindlichen Substanz zu sprechen. Unter allen Umst\u00e4nden aber w\u00e4re es daher wohl zweckm\u00e4\u00dfiger, bei dem heutigen Stand unserer objectiven Kenntnisse \u00fcberhaupt nicht von Sehstoffen sondern lediglich von Sehprocessen zu reden.\nDass es nun derartiger Sehprocesse mehrere geben m\u00fcsse, und dass dieselben, insofern sie photochemische Wirkungen sind, nicht in einer wirklich stetigen Abstufung eines einzigen Vorgangs bestehen k\u00f6nnen, das ist nach unserer ganzen Kenntniss \u00fcber die Natur chemischer Vorg\u00e4nge allerdings zweifellos. Insofern ist also gegen den zweiten Theil der obigen Voraussetzung nichtseinzuwenden. Wie soll man aber aus diesem allgemeinen Gesichtspunkte nun sofort auch schlie\u00dfen k\u00f6nnen, dass die Zahl der Sehprocesse eine auf drei oder vier beschr\u00e4nkte sei ? A priori liegt dazu doch nicht der allergeringste Grund vor. Es bleiben also nur die weiteren namentlich der Farbenmischung entnommenen Gr\u00fcnde, welche f\u00fcr die Dreizahl der Compo-nenten sprechen sollen. Nun erhalten wir aber, wie bemerkt, durch Mischung von drei Componenten niemals ges\u00e4ttigte Farben. W\u00e4re es daher nicht mindestens ebenso berechtigt, wenn man, statt jene Minimalzahl von Componenten anzunehmen, die eben noch ann\u00e4hernd zureicht alle Farhent\u00f6ne in verminderter S\u00e4ttigung hervorzubringen, vielmehr die Forderung aufstellte, so viel Componenten anzunehmen, als erforderlich sind, umalleFarbeninvollkom-mener, also mindestens in spektraler S\u00e4ttigung zu erzeugen ? Es ist schwer zu sagen, wie viele Mischungsbestandtheile man unter dieser Bedingung erhalten w\u00fcrde. Da Orange aus Roth und Gelb ziemlich ges\u00e4ttigt erhalten werden kann, so w\u00fcrden f\u00fcr den Anfang der Farbenreihe vielleicht diese beiden gen\u00fcgen. Zwischen Gelb und Gr\u00fcn m\u00fcsste aber mindestens noch eine Componente im Gelbgr\u00fcn , ebenso zwischen Gr\u00fcn und Blau eine solche im Gr\u00fcnblau und","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nW. Wundt.\nschlie\u00dflich, da die aus Violett und Cyanblau hergestellte Mischung kaum ganz dem spektralen Indigblau gleicht, wahrscheinlich in dem letzteren auch noch eine Componente angenommen werden. Mindestens acht Mischungselemente w\u00e4ren also vorauszusetzep, um der oben aufgestellten Bedingung zu gen\u00fcgen; und auch dann w\u00fcrde noch das Bedenken entstehen, dass m\u00f6glicher Weise nur unsere Unterschiedsempfindlichkeit zu gering sei, um die doch noch vorhandenen S\u00e4ttigungsunterschiede wahrzunehmen. Jedenfalls w\u00fcrde man gewiss sein k\u00f6nnen, dass eine noch gr\u00f6\u00dfere Zahl von Componenten der Aufgabe auch noch besser entsprechen w\u00fcrde.\nDie wirkliche Sachlage ist also die folgende. Gem\u00e4\u00df der Thatsache, dass je zwei einander nahe liegende Farben gemischt eine Farbe hervorbringen, die auch im Spektrum zwischen beiden gelegen ist, werden wir immer mittelst irgend welcher willk\u00fcrlich ausgew\u00e4hlter Componenten alle Spektralfarben hervorbringen k\u00f6nnen, falls wir nur diese Componenten hinreichend zahlreich nehmen ; wie gro\u00df aber diese Zahl genommen werden m\u00fcsse, daf\u00fcr fehlen uns alle Anhaltspunkte, \u2014 nur so viel ist gewiss, dass drei oder vier Componenten bei weitem nicht ausreichen, um alle Farbent\u00f6ne in spektraler S\u00e4ttigung zu erzeugen. Wie die Zahl der Mischungselemente unbestimmbar, so ist aber auch die Auswahl ihrer Qualit\u00e4t eine vollkommen willk\u00fcrliche. Wir k\u00f6nnen aus Purpur und Orange ebenso vollkommen Roth wie aus Roth und Gelb Orange erzeugen. Da die Bevorzugung der Hauptfarben, wie wir allen Grund haben anzunehmen, nicht in der urspr\u00fcnglichen Empfindung, sondern in gewissen Bedingungen der objectiven Wahrnehmung ihre Quelle hat, so erscheint es ganz gleichg\u00fcltig, wie wir jene unbestimmbare Anzahl von Componenten \u00fcber den Farbenkreis vertheilt denken. Es bleibt uns auf diese Weise nur \u00fcbrig, die Farbenreizung als einen Process anzusehen, der in f\u00fcr uns unmerklichen oder mindestens unbestimmbaren Abstufungen mit der Wellenl\u00e4nge sich ver\u00e4ndert und so die stetige Ver\u00e4nderung der Farbenempfindung hervorbringt. Da die Lichterregung muthma\u00dflich ein photochemischer Vorgang ist, so k\u00f6nnen wir allerdings nicht annehmen, dass die elementaren Processe, aus denen sich die Farbenreizung zusammensetzen mag, selbst stetig ver\u00e4nderliche Vorg\u00e4nge seien, sondern sie werden, wie alle chemischen Zersetzungs- und Verbindungsvorg\u00e4nge, in irgend welchen sprungweisen Abstufungen erfolgen. Wie wenige oder wie","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n375\nviele solcher Abstufungen, d. h. letzter elementarer Farbenprocesse m\u00f6glich sind, bleibt aber dahingestellt; und namentlich wenn man annimmt, dass alle diese Processe an einer und derselben erregbaren Substanz vor sich gehen \u2014 eine Annahme, die, wie wir sehen werden, die gr\u00f6\u00dfere Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich hat \u2014 so kann die Zahl dieser Processe ebenso gut drei\u00dfig oder vierzig wie drei oder vier sein. Insbesondere aber ist vorauszusetzen, dass der Vorgang durch die quantitative Vertheilung der elementaren Processe noch mehr einem stetigen sich ann\u00e4hert. Gerade die Mischungserscheinungen f\u00fchren zu der Annahme, dass jede einfache Farbenerregung eine Vielheit elementarer Processe erzeugt, wie dies ja auch von den eigentlichen Componententheorien statuirt wird. Es ist dabei allerdings nichtn\u00f6thig, wie es von Seiten der letzteren geschieht, f\u00fcr jede Lichtreizung alle Elementarprocesse in Mitleidenschaft zu setzen, sondern es gen\u00fcgt anzunehmen , dass jede Farbenreizung erstens immer zugleich den Process der farblosen Erregung und zweitens die den benachbarten Farbenreizen entsprechenden elementaren Processe ausl\u00f6st. Es wird sich dann mit jeder Aenderung der Wellenl\u00e4nge theils die quantitative Vertheilung elementarer Processe, theilsaber, und namentlich bei gr\u00f6\u00dferem Wechsel, die qualitative Beschaffenheit derselben ver\u00e4ndern. Nat\u00fcrlich ist aber unter der letzteren streng genommen wieder nur ein quantitatives Verh\u00e4ltniss zu verstehen. M\u00f6glicher Weise bestehenja die verschiedenen elementaren Processe in der Bildung von Zersetzungsproducten, die sich \u00e4hnlich wie die Glieder einer homologen Reihe zu einander verhalten.\nWenn die Stufentheorie die Farbenerregung als einen zusammenh\u00e4ngenden Process ansieht, so behauptet sie demnach keineswegs, dass derselbe nicht in letzter Instanz aus gewissen elementareren Processen zusammengesetzt sei. Sie behauptet nur, dass uns bis dahin die Anhaltspunkte mangeln, dieselben aufzufinden oder Hypothesen \u00fcber ihre Zahl und Vertheilung aufzustellen. Die einzigen Voraussetzungen, welche wir nach den Resultaten der subjectiven Analyse in dieser Beziehung machen k\u00f6nnen, sind vielmehr die folgenden: 1) Die elementaren Processe m\u00fcssen sich qualitativ und quantitativ mit der Wellenl\u00e4nge derart \u00e4ndern, dass die Abstufungen klein genug sind, um in der Empfindung als stetige Ueberg\u00e4nge zu erscheinen. 2) Sie m\u00fcssen zusammen einen einzigen Kreisprocess bilden, indem die Farbenerregungen der kleinsten denen der gr\u00f6\u00dften Wellenl\u00e4ngen wie-Wundt, Philos. Studien. IV.\t25","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nVV. Wundt.\nder \u00e4hnlich werden. 3) Innerhalb dieses Kreisprocesses verhalten sich je zwei auch nach ihren Empfindungserfolgen m\u00f6glichst verschiedene Vorg\u00e4nge zu einander antagonistisch, beide heben einander auf, so dass nur die begleitende farblose Erregung zur\u00fcckbleibt.\nIndem die Stufentheorie die stetigen Ueberg\u00e4nge der Farbenempfindung betont, macht sie also darauf aufmerksam, dass die vorausgesetzten elementaren Erregungsprocesse die Ableitung der wirklichen Ueberg\u00e4nge erm\u00f6glichen m\u00fcssen; sie behauptet aber nicht, dass diese Erregungsprocesse selbst ein einziger stetig ver\u00e4nderlicher Vorgang seien. Sie denkt sich vielmehr das Verh\u00e4ltniss der Empfindung zu den photochemischen Erregungsprocessen einigerma\u00dfen analog dem Verh\u00e4ltniss unserer continuirlichen Raumanschauung zu den lichtempfindlichen Elementen der Retina, welche dieselbe vermitteln helfen. Diese Elemente, die St\u00e4bchen und Zapfen, bilden keine stetig ausgedehnte Mannigfaltigkeit, sondern eine Menge discreter Punkte, welche durch gr\u00f6\u00dfere oder kleinere unempfindliche Gebiete von einander getrennt sind. Zur Auffassung des Raumes ist es demnach nicht n\u00f6thig. dass die Empfindung selbst eine stetig ausgedehnte sei ; aber wir haben doch allen Grund zu vermuthen, dass durch die verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig dichte Anordnung der Netzhautelemente die Stetigkeit der Raumauschauung wesentlich unterst\u00fctzt wird. Aehnlich werden wir annehmen d\u00fcrfen, dass die elementaren Processe, welche den ganzen Kreisprocess der Farbenempfindung zusammensetzen, an Zahl und Abstufung nicht allzu beschr\u00e4nkt seien ; mindestens m\u00fcssen sie gro\u00df genug sein, um die s\u00e4mmt-lichen reinen Farbenempfindungen in ihrer vollen S\u00e4ttigung aus ihnen ableiten zu k\u00f6nnen. '\nEin weiterer wesentlicher Gesichtspunkt unserer Theorie besteht darin, dass sie die Existenz antagonistischer Componenten mit der Auffassung des ganzen Vorgangs der Farbenempfindungen als eines Kreisprocesses in Verbindung bringt. Der letztere schlie\u00dft zwar an und f\u00fcr sich nur die Voraussetzung ein, dass jeder Farbe eine andere von maximalem Unterschied gegen\u00fcbersteht; mehr lehrt in der That auch die subjective Empfindung nicht: in ihr sind Purpur und Gr\u00fcn, Gelb und Indigblau maximal verschieden, aber sie bilden keine Gegens\u00e4tze. Immerhin entspricht es dem allgemeinen psychophysischen Parallelprincip, dass, wenn die physiologischen Vorg\u00e4nge solche Gegens\u00e4tze ihrer Wirkung darbieten, diese mit den maximalen","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n377\nUnterschieden der correspondirenden Empfindungen Zusammentreffen. In der Existenz des Kreisprocesses liegt es ferner eingeschlossen, dass solche gegens\u00e4tzliche Wirkungen nicht blo\u00df einzelnen Farben zukommen, sondern dass zu j eder Farbe eine ihren Farbeneffect com-pensirende Gegenfarbe gefunden werden kann. Zugleich macht es diese Thatsache wahrscheinlich, dass der physiologische Process der Farbenerregung in einer Stufenfolge chemischer Vorg\u00e4nge besteht, die unter sich wieder regelm\u00e4\u00dfige Verh\u00e4ltnisse darbieten.\nWenn wir hier die Wirkungen der so genannten Complement\u00e4r-farben als gegens\u00e4tzliche bezeichnet und in diesem Sinne den Ausdruck antagonistische Farben adoptirt haben, so soll nun aber damit durchaus nicht gesagt sein, dass die physiologischen Pro-cesse selbst an sich gegens\u00e4tzlicher Natur seien, also z. B. einerseits in der Verbindung gewisser Molecule, anderseits in der Trennung derselben oder, um mit Her ing zu reden, dort in einer Assimilation, hier in einer Dissimilation bestehen. Physiologisch hat diese Annahme gar keine Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich. Alles spricht vielmehr daf\u00fcr, dass jede Farbenerregung mit einem Zersetzungsvorgang, also nach physiologischem Sprachgebrauch mit einer Dissimilation, verbunden sei, und dass nur die Beschaffenheit dieser Zersetzungen mit der Beschaffenheit der einwirkenden Farbe wechselt. Sobald man einmal den Gegensatz der Wi r k u n g der Farbenprocesse in diese selber verlegte, glaubte man nat\u00fcrlich diesen Gegensatz auch da zu erkennen, wo die Farbenerregungen nicht zusammen sondern unabh\u00e4ngig von einander einwirken, worauf dann nach dem psychophysischen Parallelprincip der n\u00e4mliche Gegensatz in die Empfindungen verlegt wurde. Man kann aber auch umgekehrt schlie\u00dfen: da die Empfindungen nur Unterschiede, keine Gegens\u00e4tze darbieten, so werden nach jenem Princip auch die physiologischen Processe blo\u00df als differente, nicht als gegens\u00e4tzliche aufzufassen sein. Erst indem zwei antagonistische Farbenerregungen Zusammenwirken, heben sie sich auf. Dies braucht aber nicht dadurch zu geschehen, dass sich etwa beide wie zwei entgegengesetzt gerichtete Bewegungen verhalten, die sich mit einander in\u2019s Gleichgewicht setzen, sondern es erkl\u00e4rt sich am einfachsten und am meisten conform mit dem was wir sonst \u00fcber die Compensation chemischer Wirkungen wissen, wenn wir annehmen, dass bei jeder einzelnen F\u00e4rben-erregung bestimmte Zersetzungsproducte den Empfin-\n25*","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nW. Wundt.\ndungsvorgang erregen, und dass zwei Erregungen dann sich zu einander antagonistisch verhalten, wenn die durch sie entstehenden Zersetzungsproducte in statu na-scendi, d. h. ehe sie noch den entsprechenden Erregungsvorgang selbst ausl\u00f6sen, einander neutralisiren. Denken wir uns, um die Sache zu veranschaulichen, der Process jeder einfachen Farbenerregung bestehe in der Bildung eines gef\u00e4rbten Zer-setzungsproductes, so w\u00fcrden zwei Farbenerregungen dann zu einander antagonistisch sein, wenn die entstandenen Zersetzungsproducte wieder gegenseitig zersetzend auf einander einwirkten und dabei sofort farblose Verbindungen erzeugten. Nat\u00fcrlich soll dies nur ein verdeutlichendes Bild sein, und will ich keineswegs behaupten, dass die Farbenerregung aus der Bildung farbiger Zersetzungsproducte in der Netzhaut zu erkl\u00e4ren sei. Dagegen betrachte ich es als einen unerl\u00e4sslichen Bestandtheil einer jeden Earbentheorie, dass sie die gegens\u00e4tzliche Wirkung der Complement\u00e4rfarben nicht in die Processe der ' Farbenerregung selbst verlegt, sondern in Processe, die ihnen vorausgehen. In dem Wei\u00df sind nicht die Componenten, aus denen es sich zusammensetzt, verloren gegangen, sondern diese Componenten sind \u00fcberhaupt nicht zu Stande gekommen. Einmal entspricht diese Voraussetzung allein dem Postulat, dass unsere Lichtempfindungen ein deutige Bewusstseinsacte sind, d. h. dass einer bestimmten Empfindung immer ein bestimmter physiologischer Erregungsprocess entspricht; w\u00fcrden die Farbenerregungen selbst erst sich compensiren, so w\u00fcrde aber dem Wei\u00df , das aus Roth und Gr\u00fcnblau, dem, das aus Orange und Blau gemischt ist u. s. w., jedesmal ein anderer Erregungsvorgang zu Grunde liegen. Sodann wird die obige Voraussetzung durch die Erfahrungen \u00fcber die Effecte der Farbenmischung sowie \u00fcber die Erfolge der Erm\u00fcdung gefordert. In letzterer Beziehung habe ich schon vor l\u00e4ngerer Zeit hervorgehoben, dass insbesondere auch die Erfahrungen \u00fcber die Erm\u00fcdung durch monochromatische Beleuchtung mit denjenigen Componententheorien, welche das Wei\u00df aus der Mischung verschiedener Farbenerregungen hervorgehen lassen, nicht vereinbar sind. Durch rothes und gelbes Licht z. B. wird die Netzhaut viel st\u00e4rker als durch wei\u00dfes erm\u00fcdet, obgleich doch in dem letzteren jene Farben enthalten sind1).\n1) Physiologische Psychologie, 1, Aufl. (1873) S. 403.","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n379\nDurch diese Voraussetzung, welche den Antagonismus der Com-plement\u00e4rfarben nicht in die Farbenprocesse selbst verlegt, sondern in Wirkungen, die ihnen vorausgehen, und aus denen sie ihrerseits erst entspringen, wird nun auch sofort ein Einwand beseitigt, der gegen die antagonistische Theorie Hering\u2019s, anscheinend nicht ganz mit Unrecht, erhoben wurde. J. vonKries hat n\u00e4mlich darauf aufmerksam gemacht, dass die Annahmen Hering\u2019s in Widerspruch zu ge-rathen scheinen mit dem allgemein durch die Erfahrung bew\u00e4hrten Satz, wonach eine Lichtempfindung, wie sie auch durch Mischung einfacher Farben entstanden sein mag, selbst in Mischungen immer dieselbe Wirkung aus\u00fcbt, und wonach diese Constanz der Wirkung zugleich unabh\u00e4ngig ist von den wechselnden Erregungszust\u00e4nden des Sehorgans, indem zwei gleich erscheinende Lichter unter allen Umst\u00e4nden gleich erscheinen1). Bringt man z. B. mittelst zweier rotiren-der Scheiben Wei\u00df hervor, das eine Mal durch Mischung aus Purpur und Gr\u00fcn, das andere Mal aus Gelb und Blau, und entwirft man dann das gr\u00fcne Nachbild eines purpurrothen Objectes abwechselnd auf beide Scheiben, so sieht dasselbe jedesmal gleich aus. Es erscheint also nicht etwa auf dem aus Roth-Gr\u00fcn erzeugten Wei\u00df in ges\u00e4ttigterem Farbenton als auf dem aus Blau-Gelb erzeugten, obgleich man dies nach der Hering\u2019schen Theorie erwarten k\u00f6nnte, da durch die vorangegangene Einwirkung die rothe Erregbarkeit ab- und die gr\u00fcne zugenommen hat. Diese Folgerung hat nun allerdings Hering selbst nicht anerkannt2), und in der That w\u00fcrde sie mit der unbedingten Forderung des psycho-physischen Parallelprincips, von welchem er ausgeht, an und f\u00fcr sich unvertr\u00e4glich sein. Immerhin liegt hier eine gewisse Schwierigkeit vor, welche nur durch eine H\u00fclfsannahme zu beseitigen ist, deren Wahrscheinlichkeit bestritten werden kann, durch die Annahme n\u00e4mlich, dass die Processe der Assimilation oder Dissimilation ihrer Gr\u00f6\u00dfe nach unabh\u00e4ngig seien von den etwa unmittelbar vorher stattgefundenen Processen gleicher Art.\nF\u00fcr die Stufentheorie verschwindet die ganze Schwierigkeit, da dieselbe die verschiedenen Farbenprocesse nicht in verschiedene Sehstoffe verlegt, die unabh\u00e4ngig von einander ersch\u00f6pft werden k\u00f6nnten,\n1)\tJ. v. Kries, Archiv f\u00fcr Physiologie, 1878, S. 503 ff. Ebend. 1887, S. 113 ff.\n2)\tHering, Ueber Newton\u2019s Gesetz der Farbenmischung, S. 35 ff. und S. 78.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nW. Wundt.\nsondern sie auf eine Reihe homologer Processe in einer und derselben Substanz zur\u00fcckfuhrt, die aber als actuelle Erregungsprocesse immer erst dann angesprochen werden k\u00f6nnen, wenn sie auch eine wirkliche Empfindung herbeifuhren. In der Mischung rother und gr\u00fcner Strahlen existiren keineswegs, wie dies v. Kries voraussetzt, die Erregungsprocesse des Roth und des Gr\u00fcn neben einander; sollten sie dies, so w\u00fcrde nach dem psychophysischen Parallelprincip auch eine Coexi-stenz der Empfindungen Roth und Gr\u00fcn zu erwarten sein. Vielmehr compensiren sich die Processe, noch ehe sie die entsprechenden Farhenerregungen ausl\u00f6sen. Es kann daher auch keine Rede davon sein, dass das Auge in Folge irgend welcher vorangegangener Stimmungs\u00e4nderungen durch das aus Purpur und Gr\u00fcn gemischte Wei\u00df anders als durch das aus Blau und Gelb gemischte afficirt werde. Diese beiden Wei\u00df sind eben vollkommen identische Erregungsvorg\u00e4nge. Die Farhenerregungen, die den Componenten entsprechen, sind gar nicht zu Stande gekommen; sie k\u00f6nnen sich daher ebenso wenig mit irgend einer anderen Erregung summiren, wie sie die spe-cifischen Symptome der Farbenerm\u00fcdung herbeif\u00fchren k\u00f6nnen.\nDies ist nun aber gerade ein schwacher Punkt der Young\u2019sehen Theorie, welche das Wei\u00df als blo\u00dfes Mischproduct der drei Grundfarben ansieht, dass nach ihr hei jeder Farbenerregung auch die quantitativen Erfolge der Farhenerm\u00fcdung sich summiren m\u00fcssten. Jeder kann sich leicht \u00fcberzeugen, dass er in kurzer Zeit durch eine Brille mit gelben oder hochrothen Gl\u00e4sern das Auge in ungleich st\u00e4rkerem Grade erm\u00fcdet als ohne dieselbe, obgleich auch in dem Tageslicht die durch die Brille ausgesonderten gelben oder rothen Strahlen enthalten sind. Die S\u00e4tze, dass gleich aussehende Lichter gemischt immer auch gleich aussehende Mischungen geben, dass zwei gleiche Lichter hei den verschiedensten Stimmungen des Sehorgans einander gleich bleiben, und dass endlich auch der Erregungs- und Erm\u00fcdungseinfluss zweier Lichter der gleiche bleibt, so lange sie gleich aussehen, \u2014 diese drei Erfahrungss\u00e4tze stehen in vollkommenem Einklang mit der Voraussetzung, dass die antagonistischen Wirkungen der Farben nicht zwischen den Farbenerregungen selbst sondern zwischen denjenigen Processen stattfinden, welche den Farbenerregungen vorausgehen. Zugleich aber ergeben sich jene S\u00e4tze als unmittelbare Consequenzen des psycho-physisch en Parallelgesetzes, welches bis dahin \u00fcberall die Grund-\ni","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n381\nl\u00e4ge der Lichtempfindungstheorie bildet. Die Young \u2019sehe Hypothese l\u00e4sst sich zwar mit den beiden ersten jener S\u00e4tze vereinigen, weil die Construction aus drei Componenten am einfachsten eine Aequi-valenz der verschiedenen Erzeugungsformen des Wei\u00df herbeizuf\u00fchren vermag; \u00fcber den dritten Satz gibt sie aber keine Rechenschaft, wie dies bei dem auf die physikalische Seite der Vorg\u00e4nge beschr\u00e4nkten Gebrauch, den sie von dem Parallelprincip macht, auch vollkommen begreiflich ist.\nDie Grundz\u00fcge der oben entwickelten Theorie k\u00f6nnen wir nunmehr in folgende S\u00e4tze zusammenfassen :\n1)\tAbgesehen von jeder \u00e4u\u00dferen Lichtreizung und von allen dieser \u00e4quivalent wirkenden inneren Reizen, wie Druck, Elektricit\u00e4t u. dergl., befindet sich die Netzhaut in dem Zustande einer inneren Dauererregung, welche als constant vorausgesetzt werden kann. Ihr entspricht die Empfindung des Schwarz, welche theils die Lichtreize begleitet und dann den qualitativen Eindruck des gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Dunkels bestimmt, theils bei dem Wegfall anderer Reize allein zur\u00fcckbleibt.\n2)\tDurch jede \u00e4u\u00dfere Netzhauterregung werden zwei verschiedene Reizungsvorg\u00e4nge ausgel\u00f6st, eine chromatische und eine achromatische Reizung. Beide Erregungen bestehen bei jeder Reizung durch einfarbiges Licht neben einander, folgen aber bei wachsender Reizst\u00e4rke verschiedenen Gesetzen, indem die achromatische schon bei schw\u00e4cheren Reizen beginnt und zun\u00e4chst die chromatische an Intensit\u00e4t \u00fcbertrifft. Bei mittleren Lichtreizen nimmt sodann die relative St\u00e4rke der chromatischen Erregung zu, um bei den intensivsten Reizen abermals der achromatischen das Uebergewicht zu lassen.\n3)\tDie achromatische Erregung besteht in einem gleichf\u00f6rmigen photochemischen Vorgang, dessen Intensit\u00e4t bei einfarbigen Lichtreizen theils in der soeben angegebenen Weise von der objectiven Lichtst\u00e4rke theils von der Wellenl\u00e4nge abh\u00e4ngig ist, indem er im Gelb ein Maximum erreicht und von da an gegen beide Enden des Spektrums sinkt.\n4)\tDie chromatische Erregung besteht in einem polyformen photochemischen Vorgang, der mit der Wellenl\u00e4nge in unmerklichen Abstufungen ver\u00e4nderlich ist, indem er zugleich eine per io di sehe","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nW. Wundt.\nFunction der Wellenl\u00e4nge darstellt, a) Dass dieser photochemische Vorgang keinwirklich stetiger Process sei, wie nach der stetigen V er-\u00e4nderlichkeit der Empfindung vermuthet werden k\u00f6nnte, darauf weist, abgesehen von allgemeinen chemischen Gesichtspunkten, die Thatsache hin, dass zwei wenig von einander verschiedene Wellenl\u00e4ngen gemischt stets eine Farbenerregung erzeugen, die der durch die zwischenliegende Wellenl\u00e4nge erzeugten gleich ist. Da aber die Componenten einander sehr nahe gew\u00e4hlt werden m\u00fcssen, wenn ihr Mischproduct einen ges\u00e4ttigten Farbenton ergeben soll, so sind die Abstufungen despolyformen photochemischen Processes wahrscheinlich sehr zahlreich; jedenfalls kann ihre Zahl nicht bestimmt werden, b) Die Periodicit\u00e4t des Vorgangs der Farbenreizung erhellt daraus, dass die \u00e4u\u00dfersten Unterschiede der Wellenl\u00e4nge einander \u00e4hnliche Wirkungen hervorbringen, w\u00e4hrend die Wirkungen gewisser zwischenliegender Unterschiede, denen zugleich maximale Unterschiede der Empfindung entsprechen, in der Weise einander antagonistisch sind, dass sie sich, analog wie entgegengesetzte Phasen eines Bewegungsvorganges, vollst\u00e4ndig compen-siren k\u00f6nnen. Die gesammte Mannigfaltigkeit der Farbenerregungen bildet somit einen Kreisprocess, in welchem jedem einzelnen Erregungsvorgang ein anderer von antagonistischer Wirkung gegen\u00fcbersteht. Diese antagonistische Wirkung erfolgt jedoch nicht zwischen den Farbenerregungen selbst sondern zwischen den dieselben vorbereitenden photochemischen Processen, so dass in allen F\u00e4llen nach erfolgter Gegenwirkung blo\u00df eine farblose Lichterregung zur\u00fcckbleibt.\n5)\tJeder photochemische Erregungsvorgang \u00fcberdauert eine gewisse Zeit die Reizung und ersch\u00f6pft die Erregbarkeit der Sinnessubstanz f\u00fcr den stattgefundenen Reiz. Aus der unmittelbaren Nachwirkung der Reizung erkl\u00e4rt sich das positive und gleichfarbige, aus der Ersch\u00f6pfung das negative und complement\u00e4re Nachbild. Simultane Con-trastwirkungen k\u00f6nnen diese Effecte des Verlaufes der Erregungsvorg\u00e4nge in der peripherischen Sinnessubstanz, namentlich bei den negativen und complement\u00e4ren Nachbildern, unterst\u00fctzen.\n6)\tDer simultane Contrast ist, sofern durch die Bedingungen der Beobachtung gleichzeitige Nachbilderscheinungen (sogenannter suc-cessiver Contrast) ausgeschieden werden, kein aus der Erregung der peripherischen Sinnessubstanz entspringendes, sondern ein centrales","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n383\nPh\u00e4nomen. Dies bezeugt theils seine Unabh\u00e4ngigkeit von der St\u00e4rke der Reize (durch die er sich wesentlich von den Nachbildern unterscheidet) , theils seine Abh\u00e4ngigkeit von centralen Processen, die wir psychologisch als Acte der Vergleichung definiren, theils endlich finden farblosen Contrast die hiermit zusammenh\u00e4ngende Beziehung zum W e b e r \u2019 sehen Gesetzel).\nDie in Fig. 3 gegebene Darstellung erl\u00e4utert die unter Nr. 2 und 4 entwickelte Abh\u00e4ngigkeit der beiden Erregungs Vorg\u00e4nge, des uniformen und des polyformen, von der Lichtst\u00e4rke. Die der Empfindung\ndes Schwarz entsprechende innere Dauererregung der Netzhaut konnte hierbei au\u00dfer Betracht bleiben, da sie als eine bei allen Reizen constante vorausgesetzt wird. Die wachsenden Gr\u00f6\u00dfen der Schwingungsamplitude bei irgend einer monochromatischen Reizung werden durch die auf a x aufgetragenen Abscissen versinnlicht. Wir setzen der\n1) Die n\u00e4here Begr\u00fcndung der beiden letzten S\u00e4tze \u00fcber das Wesen der Nachbilderscheinungen und des Contrastes muss hier unterbleiben. Bez\u00fcglich des Contrastes findet man dieselbe in den Arbeiten von Bruno Schmerler (Philos. Studien I, S. 379), Alfr. Lehmann (ebend. Ill, S. 497) und Hj almar Neiglick (ebend. IV, S. 28), sowie in der demn\u00e4chst erscheinenden 3. Aufl. meiner Grundz\u00fcge der physiologischen Psychologie, Band I, Cap. IX, Nr. 4.","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nW. Wundt.\nEinfachheit wegen voraus, die achromatische Erregung wachse von der Reizschwelle b an proportional der Lichtst\u00e4rke, sie werde also durch die Gerade b w dargestellt. Dann liegt zun\u00e4chst, da die schw\u00e4chsten Reize nur farblose Erregung verursachen, die Schwelle der chromatischen Reizung hei einer etwas gr\u00f6\u00dferen Lichtst\u00e4rke c. Von da an wird das weitere Wachsthum der chromatischen Reizung durch die Curve c r dargestellt, die anfangs sehr schnell ansteigt, dann aber bald einem Maximum zustrebt, von dem an sie, bei fortan wachsender achromatischer Reizung, etwa der Abscissenlinie parallel bleibt. Die Abh\u00e4ngigkeit der S\u00e4ttigung von der Reizst\u00e4rke findet demzufolge in der unterbrochen gezeichneten Curve c m s ihren Ausdruck, welche von Null ansteigt, bei m ihren H\u00f6hepunkt erreicht, von wo an sie wieder sinkt, um bei den gr\u00f6\u00dften Lichtst\u00e4rken abermals dem Werthe Null nahezukommen. Denkt man sich nun weiterhin die Abscissenlinie a x als die Axe einesPolarcoordinatensystemsim Raume, indem man sich die Ebene a y x um a x als Axe gedreht denkt, und l\u00e4sst man die Drehungswinkel mit den Wellenl\u00e4ngen des monochromatischen Lichtes nach einem solchen Gesetze zunehmen, dass die antagonistisch wirkenden Farben je um 180\u00b0 von einander entfernt sind, so erh\u00e4lt man zwei Scharen von Curven b w und c r, die nach der Drehung um 360\u00b0 zwei Kegeloberfl\u00e4chen bilden w\u00fcrden, deren verticale Durchschnitte das Dreieck b w w' und das Curvenpaar c r r' darstellen. Auf dem zur Axe a x senkrechten Durchschnitt wird der zu b w w geh\u00f6rige Kegel nur gleichf\u00f6rmig farbloses Licht, und zwar wegen der Vermischung mit der con-stanten Dauererregung der Netzhaut bei w v:' das hellste, bei b das dunkelste Wei\u00df (resp. Schwarz) enthalten, der Gleichf\u00f6rmigkeit der achromatischen Reizung entsprechend ; der Kegel c r r dagegen wird auf seinem Querschnitt ein Farbenkreis sein, in welchem complemen-t\u00e4re Farben je an entgegengesetzten Enden eines Durchmessers liegen, und der demnach durch die zu Gr\u00fcn complement\u00e4re Mischfarbe Purpur erst zu 360\u00b0 erg\u00e4nzt wird. Angenommen z. B., b w und er bezeichneten die beiden Componenten der Reizung durch rothes Licht, so w\u00fcrden bw' und er'die entsprechenden Componenten f\u00fcr Gr\u00fcnblau bedeuten. Wirken .beide in gleicher St\u00e4rke, so werden nun b w und b w' als gleichartige Componenten sich verst\u00e4rken, c r und c r' aber als antagonistische sich aufheben, so dass blo\u00df die farblose Erregung zur\u00fcckbleibt.","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n385\nHalten wir diese Voraussetzungen mit den fr\u00fcher (S. 329) hervorgehobenen allgemeinen Thatsachen zusammen, \u00fcber welche jede Theorie Bechenschaft zu gehen hat, so springt die Uebereinstimmung sofort in die Augen. Die M\u00f6glichkeit, alle Farben ann\u00e4hernd aus drei Grundfarben abzuleiten, ergibt sich unmittelbar daraus, dass der Vorgang der Farbenerregung ein Kreisprocessist. Da das Dreieck die einfachste Figur ist, welche um einen Kreis beschrieben werden kann, so ist es die einfachste Form einer m\u00f6glichen Farbentafel; da aber bei ihm, ebenso wie bei jeder andern um den Kreis beschriebenen geradlinigen Figur, gewisse Theile au\u00dferhalb der Kreisfl\u00e4che liegen, so schlie\u00dft die Construction zugleich die Voraussetzung ein, dass die hierbei anzunehmenden Grundfarben nur einen imagin\u00e4ren Werth besitzen. Die M\u00f6glichkeit der Mischung zweier einander naheliegender Farben zur zwischenliegenden Spektralfarbe ist eine Folge der Ver\u00e4nderlichkeit der elementaren Farbenprocesse in relativ kleinen Abstufungen, einer Eigenschaft, die sich subjectiv an der Stetigkeit der Farben\u00e4nderungen zu erkennen gibt. Die Aufhebung antagonistischer Farben zu Wei\u00df sowie die Verwandtschaft der Anfangs- und Endfarbe des Spektrums stellen sich als mit einander zusammenh\u00e4ngende Folgen aus der periodischen Natur der Farbenerregung dar, w\u00e4hrend die erste Thatsache zugleich in der jede Farbenerregung begleitenden farblosen Beizung begr\u00fcndet liegt. Die letztere Voraussetzung erkl\u00e4rt ferner die Abh\u00e4ngigkeit der Farbens\u00e4ttigung von der Lichtst\u00e4rke, wobei als weiteres Moment die alle Lichterregungen begleitende Dauererregung der Netzhaut, die in der bald relativen bald absoluten Empfindung des Dunkeln ihren Ausdruck findet, in Betracht kommt. Aus dem Verh\u00e4ltniss dieser constanten Dauererregung zu der an Intensit\u00e4t wechselnden Lichterregung erkl\u00e4rt es sich einerseits, dass jede Aende-rung der farblosen Empfindungen gleichzeitig als eine Intensit\u00e4ts- und als eine Qualit\u00e4ts\u00e4nderung erscheint, und wird anderseits die Thatsache verst\u00e4ndlich, dass farblose wie farbige Erregungen bei Abnahme der Intensit\u00e4t in dem Schwanz als dem gemeinsamen Nullpunkt aller Empfindungen sich vereinigen. Die Existenz der totalen Farbenblindheit ergibt sich als eine einfache Folge aus der Unabh\u00e4ngigkeit des farblosen und des farbigen Erregungsprocesses. Die partielle Farbenblindheit erkl\u00e4rt sich aus Abweichungen in der Constitution der farbenempfindlichen Sehsubstanz, verm\u00f6ge deren gewisse Strahlen ihre photo-","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nW. Wundt.\nchemische Wirksamkeit einh\u00fc\u00dfen. Dass dies vorzugsweise bei den weniger brechbaren Strahlen der Fall ist, muss als eine urspr\u00fcngliche Eigenschaft jener Sehsubstanz angesehen werden. Die \u00fcberwiegende Unempfid lichkeit f\u00fcr rothe und dann in zweiter Linie auch f\u00fcr gr\u00fcne Strahlen h\u00e4ngt mit dem intensiven und extensiven Uebergewicht der Farbenerregungen in diesen Theilen des Spektrums zusammen, das subjectiv einerseits in der gr\u00f6\u00dferen S\u00e4ttigung dieser Farben, anderseits in der verminderten Unterschiedsempfindlichkeit seinen Ausdruck findet. Uebrigens verbietet es die relative Variabilit\u00e4t der partiellen Farbenblindheit dieselbe nur auf zwei bestimmt abgegrenzte Formen zur\u00fcckzuf\u00fchren ; vielmehr verr\u00e4th sich auch in dieser Ver\u00e4nderlichkeit der Zusammenhang der elementaren Farbenprocesse durch unmerkliche Zwischenstufen.\nMan wird finden, diese Theorie sei verwickelter als jede der beiden andern, an deren Stelle sie zu treten sucht, und ich bin weit entfernt dies leugnen zu wollen. Aber die Einfachheit einer Theorie ist, wie ich im Eingang bemerkt habe, nicht der einzige und nicht einmal der vornehmste Ma\u00dfstab ihrer Brauchbarkeit. Erst wenn unter verschiedenen Theorien, welche die Erscheinungen gleich guund vollst\u00e4ndig erkl\u00e4ren, eine durch gr\u00f6\u00dfere Einfachheit sich auszeichnet, verdient diese vor den \u00fcbrigen den Vorzug. Die Drei- und die Vierfarbentheorie gehen, wie ich gezeigt, \u00fcber manche Thatsachen gar keine Rechenschaft, mit andern gerathen sie sogar in Widerspruch. Wenn man an eine Theorie der Lichtempfindungen die Forderung stellt, dass sie alle bekannten Erscheinungen in einen begreiflichen Zusammenhang bringe, so scheint mir die vorgelegte die einfachste zu sein, welche vorl\u00e4ufig m\u00f6glich ist. Wir d\u00fcrfen ja nicht vergessen, dass bei dem gegenw\u00e4rtigen Stand unserer Kenntnisse \u00fcber die physiologischen Sehprocesse eine Lichtempfindungstheorie vor allem einen heuristischen Werth besitzt. Keine Theorie kann darauf Anspruch erheben wollen, die Empfindungsprocesse selbst in ihrer wirklichen Beschaffenheit aufzuzeigen. Wenn die Drei- und die Vierfarhentheorie dies gelegentlich zu leisten vermeinten, so befanden sie sich im Irrthum. Wir kennen einerseits die physikalischen Vorg\u00e4nge, welche den Empfin-dungsprocess anregen, anderseits die psychologischen Endeffecte dieser Vorg\u00e4nge , die Empfindungen ; gerade das physiologische Mittelglied, auf das sich unsere hypothetischen Voraussetzungen beziehen, entgeht","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n387\nuns v\u00f6llig, abgesehen von den sp\u00e4rlichen Andeutungen, die wir etwa der allgemeinen Natur photochemischer Processe entnehmen k\u00f6nnen. So bleibt es denn die Aufgabe einer Theorie, die Voraussetzungen \u00fcber diese unbekannten Vorg\u00e4nge so zu w\u00e4hlen, dass'sie die Thatsachen der Empfindung und ihren Zusammenhang mit den physikalischen Reizen in einen m\u00f6glichst \u00fcbersichtlichen Ausdruck zusammenfassen. Die Theorie darf daher nimmermehr solche Annahmen mit aufnehmen, welche sich als \u00fcberfl\u00fcssiger Ballast erweisen; sie darf sich aber ebenso wenig auf Annahmen beschr\u00e4nken, die blo\u00df einer einzelnen Gruppe von Thatsachen entnommen sind und andere an sich ebenso wichtige unbeachtet lassen. Thut sie das letztere, so verfehlt sie damit die eigentliche Aufgabe der Theorie, welche eben darin besteht: die s\u00e4mmt-lichen bekannten Thatsachen des Gebietes in den einfachsten Ausdruck zusammenzufassen.\nDie theoretischen Vorstellungen der neueren Optik \u00fcber die Beziehung der Farbenempfindungen zu dem \u00e4u\u00dferen Lichte sind bekanntlich von der Analogie zwischen Farben und T\u00f6nen ausgegangen. Diese Analogie hat sich von den Zeiten Newton\u2019s an bis in unsere Tage noch immer als ein tr\u00fcgerisches Bild erwiesen, von welcher Seite man ihr auch nachzukommen suchte. Wie bereits Newton\u2019s Vergleichung der Breite der spektralen Farbenb\u00e4nder mit den Saitenl\u00e4ngen der T\u00f6ne der phrygischen Tonleiter auf einem Zufall beruhte, der mit der Erkenntniss der verschiedenen Dispersionskraft der Medien sofort als solcher erkannt werden musste, so haben bei der Wiederholung derartiger Versuche zuf\u00e4llige und wohl noch \u00f6fter geflissentlich herbeigef\u00fchrte Uebereinstim-mungen die Hauptrolle gespielt. Dennoch gibt es e i n e n Punkt in diesen Bestrebungen, dessen thats\u00e4chliche Wahrheit nicht bestritten werden kann, und den die neueren Farbentheorien mehr als billig aus dem Auge verloren haben : er besteht in der oben mehrfach betonten, ganz unverkennbaren subjectiven Verwandtschaft der Anfangs- und Endfarbe des Spektrums, welche auf eine entsprechende Verwandtschaft der obj ectiven physiologischen Vorg\u00e4nge hinweist. Ob diese Thatsache, wie vom Standpunkte jener Licht- und Tonanalogien aus geglaubt wurde, mit der nahezu doppelten Schwingungszahl der violetten gegen\u00fcber den rothen Strahlen zusammenh\u00e4ngt, mag hier ganz und gar dahingestellt bleiben ; ein solcher Zusammenhang ist vielleicht nicht einmal wahrscheinlich. Aber die Thatsache ist an sich, wie ich meine. im h\u00f6chsten Ma\u00dfe be-","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nW. Wundt.\nmerkenswerte, weil sie von vornherein auf eine Periodicit\u00e4t der Processe der Farbenerregung hinweist. Darum schlie\u00dft dieser Thatsache die weitere des Antagonismus maximal verschiedener Farben als eine sehr bedeutsame Erg\u00e4nzung sich an. Denn nun stellt die Periodicit\u00e4t der Farbenerregungen n\u00e4her als eine solche sich dar, die von irgend einem Erregungsprocesse aus stets durch einen gegens\u00e4tzlichen Process wieder zu ihrem Ausgangspunkte zur\u00fcckf\u00fchrt. Wie man auch diese Thatsachen deuten m\u00f6ge, sie sind da, und sie dr\u00e4ngen sich in dem ganzen Erscheinungscomplex der Gesichtsempfindungen so sehr in den Vordergrund, dass es kaum zul\u00e4ssig erscheint, den einen wesentlichen Bestandteil dieser Periodicit\u00e4t ganz zu ignoriren und dadurch den andern aus dem Zusammenhang zu rei\u00dfen, in den er sichtlich hineingeh\u00f6rt, wie dies von Seiten der gel\u00e4ufigen Farbentheorien geschieht.\nVon einer wohlgef\u00fcgten Anordnung satter Farben wird das Auge nicht weniger gefesselt als das Ohr von dem Reiz harmonischer Tonverbindungen. Dem Eindruck des Sonnenspektrums im verdunkelten Raum w\u00fcsste ich unter allen elementareren \u00e4sthetischen Wirkungen kaum eine zu vergleichen. Es ist hier nicht der Ort auf diese \u00e4sthetische Seite der Frage einzugehen. Aber die Ueberzeugung will ich nicht verschweigen, dass auch f\u00fcr die Probleme, die sich hier dar-hi\u00e9ten, die oben vertretene Auffassung, welche die Farbenempfindungen als einen in sich zusammenh\u00e4ngenden Vorgang betrachtet, dessen Glieder nach einem bestimmten Gesetze unter einander verbunden sind, eine geeignetere Grundlage darbietet als die Compo-nententheorien mit ihrer Mischung der ganzen F\u00fclle der Lichtempfindungen aus einigen zuf\u00e4llig im Auge vereinigten chemischen Ingredienzien. M\u00f6gen jene \u00e4lteren Theorien, welche in der Abstufung der Farben irgend eine Tonleiter wiederzufinden glaubten, geirrt haben, so waren sie doch darin, wie ich meine, auf dem richtigen Wege, dass sie erkannten, ein Ph\u00e4nomen wie die spektrale Abstufung der Farben m\u00fcsse aus einer Reihe unter sich zusammenh\u00e4ngender Vorg\u00e4nge hervorgehen. Aber die Natur ist immer reicher, als menschliche Erfindungskraft sie sich vorstellt. Die Licht- und Farbenwelt w\u00fcrde schwerlich den ihr eigenen unvergleichlichen Reiz besitzen, wenn sich in ihr nur noch einmal in anderer Form die Gesetze der Tonwelt wiederholten. M\u00f6gen sich zwischen beiden immerhin Beziehungen darbieten, wie sie ja schon zwischen den entsprechenden \u00e4u\u00dferen Naturvorg\u00e4ngen","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Die Empfindung des Lichts und der Farben.\n389\nvorhanden sind, die Erscheinungen des Licht- und Farbensinns sind doch wieder so eigenartige, dass sie auf keine andern zur\u00fcckzuf\u00fchren sind. Auch die \u00e4sthetische Auffassung der Farbenwirkungen wird daher nicht von Speculationen \u00fcber Farbenharrnonie und -disharmonie, die von au\u00dfen herangebracht sind, sondern von der Beachtung jener Beziehungen der Verwandtschaft und des Gegensatzes auszugehen haben, durch welche sich die Processe der Farbenerregung als Glieder einer periodischen Reihe von Erregungsprocessen zu erkennen geben, in welcher zu jedem Vorgang nach einem bestimmten Intervall ein ihm entgegengesetzter und dann nach einem weiteren Intervall ein ihm gleichender wiederkehrt. Dabei kann aber hier jeder einzelne Vorgang immer nur eine Periode einer solchen Abwandlung durchlaufen, wodurch die Reihe der Erregungen, im Gegens\u00e4tze zu dem System der Tonerregungen, als eine in sich geschlossene sich darstellt.","page":389}],"identifier":"lit726","issued":"1888","language":"de","pages":"311-389","startpages":"311","title":"Die Empfindung des Lichts und der Farben","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:44:14.184770+00:00"}