Open Access
{"created":"2022-01-31T12:24:06.141168+00:00","id":"lit730","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 5: 327-380","fulltext":[{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\nYon\nW. Wundt.\nVorbemerkung.\nDie folgenden Ausf\u00fchrungen bilden ein Capitel aus dem die Naturphilosophie behandelnden Abschnitte eines demn\u00e4chst erscheinenden gr\u00f6\u00dferen Werkes \u00fcber das System der Philosophie. Ich \u00fcbergehe dieselben einstweilen der Oeffentlichkeit, in der Hoffnung, dass die hier versuchte Behandlung des Entwicklungsproblems auch losgel\u00f6st von dem Ganzen, zu dem sie geh\u00f6rt, denjenigen Lesern nicht ganz unwillkommen sein werde, welche den neueren Verhandlungen \u00fcber diese Fragen mit Aufmerksamkeit gefolgt sind. Die L\u00fccken meiner Darstellung und die K\u00fcrze mancher Ausf\u00fchrung wird man, wie ich hoffe, mit R\u00fccksicht auf diese Zugeh\u00f6rigkeit zu einem .gr\u00f6\u00dferen Ganzen entschuldigen. So musste hier vor allem eine eingehende Begr\u00fcndung des allgemeinen Standpunktes, von welchem die Untersuchung ausgeht, unterbleiben, da sie theils in dem die Erkenntnistheorie behandelnden Abschnitt, theils in den an anderer Stelle gef\u00fchrten allgemeinen Untersuchungen \u00fcber den Causal- und Zweckbegriff zu finden ist. Aus demselben Grunde wird die Er\u00f6rterung der mit dem Problem des Lebens zusammenh\u00e4ngenden kosmologischen Fragen sowie die W\u00fcrdigung der allgemeinen Anschauungen des Mechanismus, Vitalismus, Hylozoismus und Animismus hier als bekannt vorausgesetzt. Endlich brauche ich kaum noch hervorzuhehen, dass der philosophische Charakter des Werkes, welchem dieses Capitel entnommen ist, zu einem Verzicht Wundt, Philos. Studien. V.\t23","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nW. Wundt.\nauf die breitere Ausf\u00fchrung der thats\u00e4chlichen Unterlagen der Probleme sowie auf die eingehende Kritik der verschiedenen Einzeltheorien n\u00f6thigte. Da die Werke, die diese Thatsachen und Theorien behandeln, allgemein zug\u00e4nglich und weit verbreitet sind, so darf ich wohl annehmen, dass man die in dieser Beziehung vorhandenen L\u00fccken nicht allzu st\u00f6rend empfinden werde.\n1. Stabilit\u00e4t und Entwicklung der Lebensformen.\nUrzeugung.\nDie Principien der Stabilit\u00e4t und der Entwicklung, welche, das erste durch das zweite beschr\u00e4nkt, der Betrachtung des kosmischen Geschehens zu Grunde gelegt werden k\u00f6nnen, bilden f\u00fcr die Auffassung des organischen Lebens um so mehr die allgemeinsten Gesichtspunkte, denen sich alles einzelne unter ordnet, als mindestens das umfassendere dieser Principien, das der Entwicklung, in seinen kosmologischen Anwendungen nur in der Uebertragung eines den Lebensvorg\u00e4ngen entnommenen Begriffs auf deren universelle Bedingungen seine Rechtfertigung findet. Indem nun aber in den Erscheinungen des Lebens Stabilit\u00e4t wie Entwicklung r\u00e4umlich und zeitlich in engere Grenzen eingeschlossen werden, gewinnen hier beide nicht nur einen bestimmteren empirischen Inhalt, sondern es kehrt auch ihr \u00e4u\u00dferes Yerh\u00e4ltniss sich um. W\u00e4hrend im Verlauf des kosmischen Geschehens vor allem die Stabilit\u00e4t der periodisch wiederkehrenden Vorg\u00e4nge der Beobachtung sich aufdr\u00e4ngt, und der Gedanke der Entwicklung erst auf Zeitfernen anwendbar wird, die der unmittelbaren Erfahrung g\u00e4nzlich entzogen sind, bieten die Lebenserscheinungen \u00fcberall das Schauspiel eines ununterbrochenen Flusses der Entwicklung, aus welchem immer nur enger begrenzte Zust\u00e4nde als ann\u00e4hernd stabile herausgel\u00f6st werden k\u00f6nnen. Von der Annahme einer absoluten Stabilit\u00e4t, wie sie auf kosmologischem Gebiete mit scheinbar gutem Grunde lange Zeit festgehalten wurde, konnte daher in der Anwendung auf das individuelle Leben \u00fcberhaupt niemals die Rede sein. Erst die Gattungen und Arten schienen eine zureichende Dauer zu besitzen, um sie, wenn auch beschr\u00e4nkt durch die allgemeinen Bedingungen des organischen","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n329\nLebens auf der Erde, dem Stabilit\u00e4tsprincip unterwerfen zu k\u00f6nnen. Selbst in dieser Begrenzung ist aber die Annahme einer Constanz der Arten heute allgemein aufgegeben. Sie hat das Schicksal des kosmologischen Stabilit\u00e4tsprincips getheilt, weil bei ihr die Gr\u00fcnde zu einer Berichtigung durch das Entwicklungsgesetz noch zwingender sind als bei diesem. Abgesehen von der Unm\u00f6glichkeit, eine einmalige und pl\u00f6tzliche Entstehung der h\u00f6heren Organismen auf nat\u00fcrlichem Wege anzunehmen, bietet in diesem Fall die Erfahrung selbst \u00fcberall gewichtige Zeugnisse einer allm\u00e4hlichen Umwandlung der Lebensformen unter dem Einfl\u00fcsse \u00e4u\u00dferer und innerer Bedingungen; und die Leihe der lebenden Wesen zeigt eine zwar nicht l\u00fcckenlose, aber doch mit R\u00fccksicht auf die Existenz ausgestorbener und selbst in ihren Ueberresten untergegangener Arten eine zureichend vollst\u00e4ndige Stufenfolge von Zust\u00e4nden, um die Forderung einer generellen Anwendung des Princips der Entwicklung zu einer unabweisbaren zu machen. Damit ist auch hier die Stabilit\u00e4t zu einer blos relativen geworden, welche immer nur f\u00fcr eine gegebene Entwicklungsstufe und innerhalb der durch die jedesmalige Anwendung des Entwicklungsgesetzes bedingten Grenzen g\u00fcltig bleibt.\nDie Anwendung dieses letzteren selbst ist nun aber schon auf kosmologischem Gebiete keineswegs eine unbeschr\u00e4nkte. Jeder, auch der umfassendste Entwicklungsprocess bleibt in gewisse Grenzen eingeschlossen; und sogar dann, wenn wir \u00fcber die That-sachen der Erfahrung hinaus zu den nicht direct gegebenen, sondern nur durch Schl\u00fcsse oder Hypothesen zu gewinnenden Gr\u00fcnden und Folgen der Erscheinungen weitergehen, m\u00fcssen wir bei bestimmten Anfangs- und Endzust\u00e4nden Halt machen. Ueber diese hinaus ist zwar im allgemeinen ein weiterer Verlauf des Geschehens denkbar und gem\u00e4\u00df der causalen Verbindung aller Erscheinungen gefordert ; aber innerhalb der gegebenen Entwicklungsreihe fehlt es an jedem sicheren Anhaltspunkte daf\u00fcr, welcher qualitative Inhalt f\u00fcr jenen weiteren Fortschritt der Begriffe anzunehmen sei.\nGanz so wie die allgemeine Entwicklung des Kosmos verh\u00e4lt sich nun innerhalb der engeren, wieder durch besondere Bedingungen bestimmten Schranken die Entwicklung des organischen Lebens.\n23*","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nW. Wundt.\nSie hat nothwendig irgend einmal in einer bestimmten Periode der kosmischen Entwicklung ihren Anfang genommen, und sie wird voraussichtlich, wenigstens in dem unserer Beobachtung gegebenen Zusammenhang der Lebenserscheinungen, irgend einmal ihr Ende nehmen, bevor jener Verlauf selber zum Abschl\u00fcsse gekommen ist. Denn alle Folgerungen aus dem gegebenen Zusammenhang der Naturerscheinungen weisen darauf hin, dass unsere Erde dereinst sich in einem Zustande erh\u00f6hter Temperatur befand, welcher organisches Leben ausschloss, und dass sie in einer fernen Zukunft einem anderen Zustande sehr erniedrigter Temperatur entgegengeht, bei welchem nicht minder die Fortdauer des Lebens unm\u00f6glich ist. Alle Versuche, wenigstens f\u00fcr die Zukunft eine Stabilit\u00e4t, wenn nicht der bestehenden Lebensformen, so doch des Lebens im allgemeinen zu sichern, scheitern hier an der Undurchf\u00fchrbarkeit des Stabilit\u00e4tsprincips f\u00fcr das kosmische Geschehen. So bleibt nur in Bezug auf die Frage nach den allgemeinen kosmischen Bedingungen f\u00fcr Entstehung und Untergang des Lebens noch ein gewisser Spielraum abweichender Anschauungen.\nAuf den zweiten Theil dieser Frage l\u00e4sst sich im allgemeinen leicht durch den Hinweis auf die thats\u00e4chlichen Bedingungen antworten, denen wir die Vernichtung des Lebens nachfolgen sehen. Sobald diese im einzelnen fortw\u00e4hrend zur Beobachtung kommenden Einfl\u00fcsse verm\u00f6ge ge\u00e4nderter kosmischer Bedingungen allgemeine geworden sind, wird auch der Untergang des irdischen Lebens als unausbleibliche Folge zu erwarten sein. Um so mehr entzieht sich der erste Theil der obigen Frage einer directen Beantwortung.\n1 Beobachtungen \u00fcber F\u00e4lle einer ersten, nicht durch Fortpflanzung vermittelten Entstehung organischen Lebens stehen uns nicht zu Gebote, so dass wir hier ganz und gar auf Vermuthungen angewiesen bleiben. So begreift es sich denn, dass selbst das allgemeine Problem, ob die Bedingungen zur Entstehung einfacher Lebensformen noch heute auf der Erde vorhanden sind, oder ob sie nur einer l\u00e4ngst entschwundenen Periode unseres Planeten angeh\u00f6ren, noch immer nicht gel\u00f6st ist. Nur so viel l\u00e4sst sich sagen, dass eine unter unsern heutigen Lebensbedingungen fortan stattfindende Urzeugung in hohem Ma\u00dfe unwahrscheinlich ist, insofern keinerlei sicher beobachtete Thatsachen f\u00fcr dieselbe beizubringen, wohl aber","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n331\nzahlreiche, fr\u00fcher als F\u00e4lle von Urzeugung angenommene Erfahrungen \\ auf die Yerhreitung fortpflanzungsf\u00e4higer Keime zur\u00fcckgef\u00fchrt sind. Auch den bekannten Bedingungen der Entstehung organischer Verbindungen lassen sich keinerlei Anhaltspunkte entnehmen, welche zu Gunsten einer noch in der Gegenwart stattfindenden Urzeugung zu deuten w\u00e4ren. So weit bis jetzt die k\u00fcnstliche Synthese organischer Verbindungen gelungen ist, setzt dieselbe Bedingungen voraus, die in der freien Natur gegenw\u00e4rtig nicht mehr Vorkommen, sondern, wie die Gl\u00fchhitze und die Gegenwart stark reducirender Stoffe, nur im Laboratorium des Chemikers herzustellen sind. Zugleich ist es bedeutsam, dass dies Bedingungen sind, die. wie wir aus anderen Gr\u00fcnden annehmen m\u00fcssen, in dem der Entwicklung der Organismen vorausgehenden Zustand unserer Erde vorhanden waren. Da nun die Bildung relativ einfacherer Verbindungen der Entstehung des h\u00f6chst complexen lebensf\u00e4higen Protoplasmamolec\u00fcls vorausgegangen sein wird, so scheint alle Wahrscheinlichkeit daf\u00fcr zu sprechen, dass die erste Entstehung einfachster Lebensformen, aus denen dann die ganze Entwicklung der organischen Welt hervorging, ein sehr allm\u00e4hlicher, in verschiedenen Stufen sich vollziehender Process chemischer Synthese war, der im innigsten Zusammenhang mit der allm\u00e4hlich erfolgenden Aenderung der \u00e4u\u00dferen, namentlich der Temperaturbedingungen vor sich ging. Die Probe auf die Richtigkeit dieser Vermuthung w\u00fcrde freilich erst durch die k\u00fcnstliche Nachahmung jener Bedingungen, also durch die Herstellung einfacher Lebensformen auf dem Wege k\u00fcnstlicher Synthese im Laboratorium gemacht werden k\u00f6nnen. So weit wir auch von der Aussicht auf Verwirklichung dieser Hoffnung entfernt sein m\u00f6gen, an sich unm\u00f6glich ist dieselbe sicherlich nicht. Anderseits wird man aber doch die Schwierigkeit einer solchen directen Entscheidung begreiflich finden, wenn man bedenkt, dass es sich in diesem Fall offenbar nicht blos um die Auffindung einmaliger Ursachen, sondern um die Herstellung einer Kette auf einander folgender Bedingungen handelt, die in allm\u00e4hlichem Fortschritt von der Bildung der einfachsten bis zu derjenigen der verwickeltsten organischen Verbindungen gef\u00fchrt haben.\nMit dem Aufh\u00f6ren der Urzeugung sind nun f\u00fcr die organische","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nW. Wundt.\nWelt andere Bedingungen eingetreten, welche ihre Selbsterhal-tung einerseits auf dem Wege der Fortpflanzung, anderseits mittelst der fortw\u00e4hrenden Aneignung der zum Lehensprocess verwendeten Stoffe und Kr\u00e4fte aus der unorganischen Natur fordern. Es ist bekanntlich der Gaswechsel der gr\u00fcnen Pflanzentheile, der diesen Erfolg herbeif\u00fchrt. Bei ihm vollzieht sich ein allm\u00e4hlicher Reductionsprocess, hei welchem die einfachen N\u00e4hrstoffe der Atmosph\u00e4re, Kohlens\u00e4ure und Wasser, zerlegt und in complexe organische Verbindungen \u00fcbergef\u00fchrt werden, die sich ihrerseits wieder mit den auf anderen Wegen zugef\u00fchrten stickstoffhaltigen N\u00e4hrstoffen zu den Protoplasmamolec\u00fclen verbinden. Durch diese Bildung organischer Stoffe in der chlorophyllhaltigen Pflanze, welche theils durch die Pflanze selbst, theils durch das Thier wieder zerst\u00f6rt werden, hat nun das Stabilit\u00e4tsprincip eine neue Form der Geltung f\u00fcr den Bestand der gegenw\u00e4rtigen organischen Welt gefunden. Indem der Lehensprocess des Thieres und der Pflanze die Stoffe wieder erzeugt, welche die letztere bei ihrer organisirenden Function verwendet, und indem hei dieser der zur Unterhaltung der Verbrennungsvorg\u00e4nge im Pflanzen- und Thierleih dienende Sauerstoff frei wird, ist im allgemeinen die M\u00f6glichkeit geboten, dass ohne Aenderung der \u00e4u\u00dferen Lehensbedingungen die Organismen einen Stoffkreislauf unterhalten, welcher die einem jeden lebenden Wesen erforderlichen Stoffe immer wieder neu schafft. Freilich aber ist nicht zu vergessen, dass dieser Gleichgewichtszustand nur die Bedeutung einer idealen Voraussetzung hat, welche ebensowohl wegen der Aenderungen der \u00e4u\u00dferen Lebensbedingungen wie infolge der durch die Fortpflanzungsvorg\u00e4nge entstehenden Verschiebungen der Mengeverh\u00e4ltnisse der verschiedenen Lebewesen in der Wirklichkeit niemals vollst\u00e4ndig erf\u00fcllt sein wird. In der That braucht jene Voraussetzung schon deshalb nicht erf\u00fcllt zu sein, weil die anorganische Natur mannigfache (Quellen zur Erzeugung jener pflanzlichen N\u00e4hrstoffe darbietet, aus denen die chlorophyllhaltigen Theile organische Substanzen zusammensetzen. Diese M\u00f6glichkeit einer Ueberproduction der Protoplasmabestandtheile ist nat\u00fcrlich um so mehr geeignet, den Bestand der organischen Welt, wenigstens so lange die gegenw\u00e4rtigen Lebensbedingungen andauern, zu sichern.\nDie Thatsache, dass die einfachsten Lebewesen in ihrer Func-","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n333\ntionsform wie in der Richtung ihres Stoffwechsels einfachste Thiere sind, beweist aber schon die Nothwendigkeit einer dem gegenw\u00e4rtigen relativen Stabilit\u00e4tszustande vorangehenden Periode der Urzeugung : und zugleich macht es diese Thatsache wahrscheinlich, dass die Entstehung der chlorophyllhaltigen Organismen als ein Process der Compensation aufzufassen ist, der, in der Zeit des allm\u00e4hlichen Erl\u00f6schens der Urzeugung auftretend, in seiner urspr\u00fcnglichen Entwicklung wahrscheinlich an in der Urzeit vorhandene und jetzt verschwundene Eigenschaften der irdischen Atmosph\u00e4re gebunden war. Es mag sein, dass die seltenen F\u00e4lle, in denen bei einfachen Protozoen von im \u00fcbrigen thierischer Func-tionsweise Chlorophyllbildung beobachtet wird, vereinzelte Zeugen jener Uebergangsperiode sind, in der durch die n\u00e4mlichen \u00e4u\u00dferen Lebensbedingungen, welche die Erhaltung der organischen Welt in der bisherigen Porm unm\u00f6glich machten, zugleich das Auftreten des wichtigsten organischen Fermentk\u00f6rpers die Bedingung f\u00fcr eine vollkommenere Fortdauer des Lebens unter den neu eintretenden Bedingungen geschaffen hat. Dass sich dann weiterhin die Chlorophyllbildung allm\u00e4hlich auf diejenigen Lebensformen beschr\u00e4nkte, welche fr\u00fch aus der animalischen Functions weise in einen relativ starren, vorzugsweise den \u00e4u\u00dferen Lebenseinfl\u00fcssen unterworfenen Zustand \u00fcbergingen, ist im allgemeinen wohl begreiflich. Ist doch bei den Thieren infolge der ungleich gr\u00f6\u00dferen Erzeugung von W\u00e4rme und mechanischer Arbeit die zersetzende Richtung des Stoffwechsels eine so vorwaltende, dass es zur Ausbildung eines vornehmlich der chemischen Reduction und Synthese dienenden Lebensprocesses nicht kommen kann. So m\u00f6gen denn diese Bedingungen wechselseitig in einander eingegriffen haben: die Chlorophyllbildung verhinderte die Ausbildung animalischer Functionen, und diese wiederum machte die Chlorophyllerzeugung unm\u00f6glich. Gleichwohl setzt die letztere immer auch noch beg\u00fcnstigende \u00e4u\u00dfere Bedingungen voraus. Mangelt doch in der Classe der Pilze, die sonst in ihren Wachsthums- und Organisationsverh\u00e4ltnissen vollst\u00e4ndig den Pflanzen gleichen, augenscheinlich deshalb die Chlorophyllathmung, weil sie den \u00e4u\u00dferen Lebensverh\u00e4ltnissen dieser WeSen, welche die organische Nahrung bereits in zureichend vorbereiteter Form aufnehmen, widersprechen w\u00fcrde.","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nW. Wundt.\n2. Lebensvorg\u00e4nge des Elementarorganismus.\nEs bezeichnet den Standpunkt der Physiologie im engeren Sinne im Unterschied von dem der Entwicklungsgeschichte, dass die erstere das organische Leben unter der Voraussetzung eines relativen Gleichgewichtszustandes, also auf Grund der Annahme des Stabilit\u00e4tsprincips, die letztere dasselbe in Bezug auf den zeitlichen Wechsel der Lebensformen, also vom Standpunkte des Ent-wicklungsprincips aus betrachtet. Auf diese Weise erg\u00e4nzen sich beide; die physiologischen Probleme aber sind die einfacheren, obgleich freilich diese Einfachheit nur durch eine absichtliche Beschr\u00e4nkung der Fragestellungen gewonnen wird.\nGem\u00e4\u00df dieser Arbeitstheilung besteht die n\u00e4chste Aufgabe der Physiologie in der Ermittelung der Stabilit\u00e4tsbedingungen eines Elementarorganismus, d. h. einer einfachen frei lebenden oder auch in einen gr\u00f6\u00dferen organischen Zusammenhang als Bestand-theil eingehenden Zelle. Da die Substanzen, welche den Leib der Organismen bilden, h\u00f6chst zersetzbar und demzufolge in fortw\u00e4hrender innerer Zersetzung begriffen sind, so kann hier ein stabiler Zustand nur entstehen, wenn zwischen dem Elementarorganismus und seiner Umgebung ein fortw\u00e4hrender Stoffaustausch stattfindet, bei welchem die Spaltungsproducte des Zellenleibes eine Zersetzung der umgebenden N\u00e4hrfl\u00fcssigkeit einleiten, durch die sich einerseits die verloren gegangenen Theilmolec\u00fcle wieder ersetzen, anderseits aber Verbindungen entstehen, die als Excretionsstoffe dauernd entfernt werden. F\u00fcr die Erkenntniss dieser Vorg\u00e4nge sind wir, da uns dieselben bis jetzt nur in ihrem \u00e4u\u00dferen Verlaufe einigerma\u00dfen zug\u00e4nglich sind, im wesentlichen auf chemische Analogien, d. h. auf die Vergleichung mit andern, bekannteren chemischen Vorg\u00e4ngen angewiesen, die einen \u00e4hnlichen Verlauf darbieten.\nDie nachher zu besprechenden Erscheinungen des Wachsthums und der Entwicklung legen nun die Annahme nahe, dass der ganze Elementarorganismus ein einziges Eiwei\u00dfmolec\u00fcl darstelle, dessen complexe Beschaffenheit sich nicht nur an seiner Gr\u00f6\u00dfe sondern auch daran zu erkennen gibt, dass die Theile eines solchen Mole-c\u00fcls, sobald die primitivste formlose Stufe \u00fcberschritten ist, zugleich morphologisch sich differenziren, indem nun nicht blos das ganze","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n335\nMolec\u00fcl sondern selbst bestimmte Partialmolec\u00fcle eine durch optische H\u00fclfsmittel erkennbare Lagerung und Gr\u00f6\u00dfe erreichen. Derartige Scheidungen sind namentlich im Kern, Kernk\u00f6rper, aber auch in gewissen Anordnungen des Protoplasmas erkennbar. F\u00fcr den Stoffwechsel d\u00fcrfen wir ihnen muthma\u00dflich die Bedeutung beilegen, dass nicht alle Zellbestandtheile gleich intensiv an der Zersetzung und Wiederherstellung des Gesammtmolec\u00fcls theilnehmen. Bezeichnen wir symbolisch den ganzen Elementarorganismus als chemisches Molec\u00fcl betrachtet mit KPMso m\u00f6gen die Atomgruppen M solche sein, die bei dem gew\u00f6hnlichen Stoffwechselaustausch allein hetheiligt sind, w\u00e4hrend die Gruppen P erst dann angegriffen werden, wenn die Stabilit\u00e4t in der einen oder anderen Weise, durch beginnenden Untergang oder durch eintretendes Wachsthum, gest\u00f6rt, wird, und endlich die Gruppen K immer erst dann sich zersetzen, wenn der Elementarorganismus entweder untergeht oder auf die nachher zu besprechende Weise einer Spaltung anheimf\u00e4llt, welche eine neue Entwicklung einleitet. Von einer Stabilit\u00e4t kann demnach schon beim Elementarorganismus nur insofern die Rede sein, als die Zusammensetzung desselben w\u00e4hrend einer-gewissen Zeit constant hleibt Diese Constanz selbst ist aber nur das Resultat von fortw\u00e4hrend stattfindenden Zersetzungs- und Verbindungsvorg\u00e4ngen, Organisirungen und Desorganisirungen. Darum liegt es schon in der Natur dieser Stabilit\u00e4t, dass sie in doppelter Weise aufgehoben werden kann: einmal, indem die organisirende, und sodann, indem die desorganisirende Seite der Vorg\u00e4nge zum Uebergewichte gelangt. Im ersteren Falle entsteht Wachsthum und im Gefolge desselben Zeugung neuer Elementarorganismen, im zweiten tritt der Tod als Ergebniss der Selbstzersetzung der f\u00fcr die Fortdauer des Gleichgewichtszustandes unerl\u00e4sslichen Grund-bestandtheile des organischen Gesammtmolec\u00fcls ein.\nDie erste dieser Abweichungen von der Stabilit\u00e4t l\u00e4sst sich, wenn wir wieder von der Vorstellung ausgehen, dass der Elementarorganismus ein einziges zugleich morphologisch und chemisch differenzirtes Eiwei\u00dfmolec\u00fcl sei, der bekannten Bildungsweise polymerer Verbindungen unterordnen. Die Entstehung solcher Verbindungen beruht allgemein auf dem Hinzutritt bestimmter Partialmolec\u00fcle zu anderen von gleicher Zusammensetzung, die in demselben","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nW. Wundt.\nGesammtmolec\u00fcl enthalten sind. Wie die Erhaltung des Gleichgewichtszustandes , so ist auch diese Zunahme das Resultat eines Wechsels von Zersetzungen und Verbindungen. So w\u00fcrden, wenn wir wieder mit K, P und M Theilmolec\u00fcle von verschiedener Bedeutung bezeichnen, KPPM, KPPPM u. s. w. polymer zu der relativ einfacheren Verbindung KPM sein. Je gr\u00f6\u00dfer die Zahl der Molec\u00fcle P ist, welche die Verbindung bereits enth\u00e4lt, um so weniger werden durch den Hinzutritt weiterer Theilchen P ihre Eigenschaften ver\u00e4ndert. KPPPM unterscheidet sich also von KPPM weniger als dieses von KPM, und so fort in steigendem Ma\u00dfe. Nun ist das morphologisch differenzirte Gesammtmolec\u00fcl des Elementarorganismus jedenfalls an und f\u00fcr sich schon sehr zusammengesetzt. Nehmen wir also im Sinne der obigen Voraussetzungen an, dass die Polymerisirung desselben auf der Bildung neuer Molec\u00fcle P beruhe, so l\u00e4sst sich der urspr\u00fcngliche Zustand durch das Symbol KPnM bezeichnen, w\u00e4hrend der Wachsthumsprocess auf einer suc-cessiven Ueberf\u00fchrung in KPn + x M, KPn + 2 M u. s. w. beruht. M wird hierbei, wie oben, als die zun\u00e4chst an den Zersetzungen betheiligte Eiwei\u00dfmasse betrachtet. Aus ihren Wechselwirkungen mit dem \u00e4u\u00dferen N\u00e4hrmaterial gehen in diesem Fall neue Molec\u00fcle P hervor, durch deren Hinzutritt die chemischen Eigenschaften des Gesammtmolec\u00fcls nicht wesentlich ge\u00e4ndert werden, abgesehen davon, dass der Zusammenhalt der Theilmolec\u00fcle allm\u00e4hlich ein loserer wird.\nDurch den letzteren Erfolg wird nun aber ein neuer Vorgang vorbereitet, der vom chemischen Standpunkte aus als Spaltung des Gesammtmolec\u00fcls in zwei oder mehr selbst\u00e4ndige Molec\u00fcle aufgefasst werden muss, worauf dann f\u00fcr diese abermals eine Zeitlang Stabilit\u00e4t ein tritt, und hieran der n\u00e4mliche Wechsel von Wachsthum und Spaltung sich anschlie\u00dfen kann. Dieser Spaltungsprocess wird, wie wir annehmen, dadurch eingeleitet, dass die Molec\u00fcle K, die bis dahin stabil geblieben waren, in die Zersetzungsvorg\u00e4nge hineingerissen werden. Sprechen die morphologischen Thatsachen daf\u00fcr, dass diese am l\u00e4ngsten stabil bleibenden Theilmolec\u00fcle in den Kerngebilden der Zelle enthalten sind, so ist weiterhin aus den bei der Zelltheilung ein tretenden morphologischen Vorg\u00e4ngen zu schlie\u00dfen, dass die Kerngebilde selbst regelm\u00e4\u00dfig wieder aus zwei","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n337\nMolec\u00fclgruppen bestehen, deren wechselseitige Affinit\u00e4ten durch die vom Protoplasma aus eingeleitete Zersetzung actuell werden. Hierauf tritt dann eine mit der Bildung von Excretionsstoffen verbundene wechselseitige Zersetzung und im Gefolge derselben eine neue Kernbildung ein, w\u00e4hrend zugleich im Laufe dieser an den Kem-molec\u00fclen ablaufenden Vorg\u00e4nge dieselben dem Gesammtmolec\u00fcl gegen\u00fcber die Rolle eines Spaltungsfermentes spielen. Das Resultat dieser Spaltung ist so die Neuentstehung mehrerer, zumeist zweier Elementarorganismen aus dem Material des untergegangenen. Der Vorgang der Zeugung in seiner urspr\u00fcnglichsten Gestalt f\u00e4llt daher mit dem Untergang des zeugenden Wesens zusammen. Gleichzeitig aber gehen Bestandteile des untergehenden Elementarorganismus in die neu entstehenden \u00fcber. So ist der Tod zugleich ein Wiederaufleben des Untergehenden. Dies berechtigt jedoch ebenso wenig von einer ewigen Dauer des Lebens auf dieser ersten Stufe der Entwicklung zu reden, als man sich veranlagt sehen wird, einer chemischen Verbindung, die infolge einer regelm\u00e4\u00dfigen Reihenfolge von Zersetzungen immer wieder Verbindungen von gleicher Zusammensetzung entstehen l\u00e4sst, Unverg\u00e4nglichkeit zuzuschreiben. In der That ist vom chemischen Standpunkte aus die Zeugung in ihrer urspr\u00fcnglichen Gestalt nur ein specieller Fall einer chemischen Spaltung, aus welcher neue Verbindungen hervorgehen, die der urspr\u00fcnglichen gleichen, die aber schon deshalb mit derselben nicht substantiell identisch sein k\u00f6nnen, weil der Spaltung selbst Aufnahme und Ausscheidung von Stoffen als nothwendige Bedingungen vorausgingen. Insbesondere ist, wie die morphologische Beobachtung lehrt, die Neubildung des Lebens regelm\u00e4\u00dfig an den vorherigen Untergang der w\u00e4hrend des station\u00e4ren individuellen Lebens allein, wie es scheint, stabil bleibenden Bestandtheile der Kerngebilde gebunden b.\n1) Die Erscheinungen des Wachsthums sind schon von Pfl\u00fcger (in seinem Archiv X S. 251, XI S. 222) dem chemischen Gesichtspunkt der Bildung polymerer Verbindungen subsumirt worden. Die Auffassung, die Zellentheilung sei auch in chemischer Beziehung als ein Spaltungsprocess aufzufassen, habe ich zuerst im zweiten Bande meiner Logik (S. 464) n\u00e4her ausgef\u00fchrt. Die oben ber\u00fchrte Ansicht, dass, abgesehen von zuf\u00e4lligen \u00e4u\u00dferen St\u00f6rungen, der Begriff des Todes f\u00fcr den Elementarorganismus nicht zutreffe, vertritt A. Weismann","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nW. Wundt.\n3. Dreifache Interpretation der Lehenserscheinungen.\nMit dem Zeugungsact des Elementarorganismus treten die Lehenserscheinungen in ein Stadium, in welchem sich mit den bis dahin allein ma\u00dfgebenden chemischen Gesichtspunkten tlieils physikalisch-physiologische, theils psycho-physische Begriffe verbinden, Physikalisch ist der Spaltungsvorgang eine Bewegungserscheinung, welche zum ersten Mal den physiologischen Process einer Contraction des Protoplasmas vor Augen f\u00fchrt. Durch die letztere wird die mechanische Scheidung der Spaltungsproducte vermittelt, m\u00f6gen dieselben nun zu vollst\u00e4ndig isolirten Elementarorganismen werden oder mit einander verbunden bleiben und so die erste Anlage eines zusammengesetzten Organismus bilden. Diese Contraction unterscheidet sich in keinem wesentlichen Merkmal von den sp\u00e4terhin als H\u00fclfsmittel anderweitiger physiologischer Leistungen auftretenden und im zusammengesetzten Organismus all-\n(Die Dauer des Lebens, Jena 1882). Im Gegens\u00e4tze zu ihm leitet A. Goette den Tod aus der durch den Zeugungsact hervorgebrachten Ersch\u00f6pfung ab. (Ueber den Ursprung des Todes. Hamburg und Leipzig 1883.) Den Tod der h\u00f6heren Organismen erkl\u00e4ren beide Forscher aus dem Selectionsprincip. Er soll sich im Kampf um\u2019s Dasein als die f\u00fcr die Species n\u00fctzlichste Einrichtung erwiesen haben. Aber wenn im allgemeinen im Kampfe um\u2019s Dasein die kr\u00e4ftigeren Individuen obsiegen, so ist es ein seltsamer Widerspruch, dass in diesem Fall die mit der letalen Anlage begabten Wesen zugleich die st\u00e4rkeren gewesen sein m\u00fcssten. Gewiss ist urspr\u00fcnglich der Untergang des Elementarorganismus, wie noch jetzt in vielen F\u00e4llen der Tod der Zelle, an den Fortpflanzungsact gekn\u00fcpft. Aber es ist doch nicht einzusehen, warum nicht von Anfang an mit dem Eintritt der Spaltungsvorg\u00e4nge zugleich Ver\u00e4nderungen in der Constitution der Molec\u00fcle entstehen, welche der Wiederholung jener Vorg\u00e4nge ein bestimmtes Ziel setzen. Vielmehr ist es ersichtlich, dass die geschlechtliche Zeugung Bedingungen herbeif\u00fchrt, durch welche dieselbe der monogenen Fortpflanzung gerade in dieser Beziehung \u00fcberlegen ist. Nun kann ein zusammengesetzter Organismus als ein Aggregat von Elementarorganismen betrachtet werden, die s\u00e4mmtlich zun\u00e4chst aus einer Reihe von monogenen Fortpflanzungen hervorgegangen, damit also den mit dem Chemismus der Spaltungsvorg\u00e4nge von Anfang an verbundenen Bedingungen der Ersch\u00f6pfung unterworfen sind. Es ist zwar richtig, dass, wie Goette bemerkt, der Tod der Elementartheile und der Tod des Individuums verschiedene Vorg\u00e4nge sind; beide sind aber doch nicht in dem Sinne von einander unabh\u00e4ngig, dass jene Eigenschaft der Ersch\u00f6pfbarkeit, die allen Elementen zukommt, und die in der Abnahme der Regenerationsf\u00e4higkeit einen so deutlichen Ausdruck findet, nicht eben deshalb schon, und abgesehen von allen in diesem Falle v\u00f6llig unerweisbaren Selectionseinfl\u00fcssen, dem ganzen Organismus zukommen m\u00fcsste.","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n339\nm\u00e4hlich an bestimmte einzelne Zellen \u00fcbergehenden Reizbewegungen des Protoplasmas. Nun f\u00fchren wir jede solche Contraction auf einen entweder von au\u00dfen einwirkenden oder im Protoplasma selbst entstehenden Reiz zur\u00fcck, welcher, indem er die Bewegung erzeugt, zugleich eine Zersetzung einleitet, durch die er selbst beseitigt wird '). Der Reiz kann daher nur in der Bildung einer Substanz bestehen, -welche in dem Protoplasma eine von Bewegung begleitete Umlagerung bewirkt, worauf dann die so hervorgebrachte chemische Zersetzung ihrerseits wieder die Zerst\u00f6rung der reizenden Substanz und auf diese Weise einen neuen Gleichgewichtszustand herbeif\u00fchrt. So weist dieser physikalisch-physiologische 'Vorgang seinerseits auf chemische Bedingungen hin, und die Annahme ist geboten, dass der vorhin vom rein chemischen Standpunkte aus als Spaltungsferment bezeichnete Stoff zugleich physiologisch betrachtet der chemische Reiz sei, welcher die zur mechanischen Trennung f\u00fchrende Contraction ausl\u00f6st. Da aber weiterhin die Contraction des Protoplasmas auf den sp\u00e4teren Entwicklungsstufen deutlich den Charakter eines psychophysischen Vorganges an sich tr\u00e4gt, d. h. einer physiologischen Leistung, welche zugleich von psychischen Vorg\u00e4ngen begleitet ist, so verlangt der Grundsatz der Continuit\u00e4t aller Entwicklung, dass dieser Charakter auch schon jenem primitiven Spaltungs- und Contractions Vorgang nicht fehle : er wird in diesem Sinne als ein einfacher, von Empfindung und Gef\u00fchl ~h eingeleiteter und begleiteter Willensact zu deuten sein.\nDiese drei Gesichtspunkte, der chemische, der physiologische und der psychologische, geben nun, jeder in anderer und doch alle in \u00fcbereinstimmender Weise, von einer wichtigen Grundeigenschaft der Lebensfunctionen, die schon auf dieser fr\u00fchesten Stufe zum Ausdruck gelangt, Rechenschaft: von der Periodicit\u00e4t derselben. Jeder chemische Vorgang ist bestimmten Gesetzen des zeitlichen Verlaufs unterworfen, mag dieser Verlauf, wie bei den meisten einfacheren Processen, ein relativ schneller oder, wie im vorliegenden Fall, ein langsamer, zahlreiche Zwischenglieder einschlie\u00dfender sein. Im allgemeinen wird der Spaltungsprocess ein-\n1) Mit R\u00fccksicht auf den periodischen Verlauf der Reizungsvorg\u00e4nge hat schon W. His die Analogie zwischen ihnen und den Entwicklungserscheinungen hervorgehoben. (Unsere K\u00f6rperform. Leipzig 1875. S. 155.)","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nW. Wundt.\ntreten, wenn durch die vorangegangenen Molecularvorg\u00e4nge die Vorbedingungen dazu gegeben sind, und dieser Zeitpunkt wird, sonst gleiche Bedingungen vorausgesetzt, immer wieder nach gleichen Intervallen sich wiederholen. Fassen wir denselben Vorgang als Protoplasmacontraction auf, so ordnet er sich den zeitlichen Bedingungen der physiologischen Beizungserscheinungen unter. Auch diese bieten in der Regel einen periodischen Verlauf dar, indem innerhalb der aufeinander folgenden qualitativ gleichen Vorg\u00e4nge jedesmal f\u00fcr die Acte der Anh\u00e4ufung der reizenden Stoffe, des Verlaufs der Reizung und der Zerst\u00f6rung des Reizes gleich viel Zeit verbraucht wird. Die n\u00e4mliche Betrachtung kehrt endlich wieder, wenn wir die vorausgesetzte psychische Seite des Vorgangs in\u2019s Auge fassen: dann gliedert sich derselbe wie jeder Willensact in ein erstes Stadium vorbereitender Gef\u00fchlsspannung, in ein zweites der wachsenden und in ein letztes der abnehmenden Willensenergie, welche Stadien wiederum, wenn die Bedingungen der Willensacte die n\u00e4mlichen bleiben, in \u00fcbereinstimmender Folge sich wiederholen werden.\nAuf diese Weise ordnen sich die einfachen Lebenserscheinungen eines Elementarorganismus jedem der Gesichtspunkte unter, die wir, von der allgemeinen Auffassung des Lebens ausgehend, auf sie an wenden m\u00f6gen. Zugleich stehen die so geforderten Anschauungen unter einander im engsten Zusammenhang. Der regelm\u00e4\u00dfige Kr\u00e4ftewechsel, der sich der physiologischen Betrachtung darbietet, ist das unmittelbare Erzeugniss chemischer Vorg\u00e4nge, und der Wechsel von Gef\u00fchls- und Willenserregungen, den die psychologische Betrachtung voraussetzen muss, entspricht der allgemeinen Correlation physischer und psychischer Processe. Wegen dieses Zusammenhanges der drei Standpunkte muss es nun aber auch da, wo die Anwendung des einen oder andern auf Schwierigkeiten st\u00f6\u00dft, die aus der Unm\u00f6glichkeit des directen Nachweises der entsprechenden Elementarprocesse entspringen, gestattet sein, sich vorl\u00e4ufig oder selbst dauernd nur der \u00fcbrig bleibenden oder sogar nur eines derselben zu bedienen. So verdr\u00e4ngt die physiologische die chemische Betrachtungsweise nothwendig dann, wenn uns nur die \u00e4u\u00dferen Erscheinungen eines Kr\u00e4ftewechsels gegeben sind, dessen chemische Bedingungen zun\u00e4chst noch unbekannt","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n341\nbleiben. Die psychologische wird zumeist in solchen F\u00e4llen ganz ohne Anwendung bleiben, wo die einzelnen Vorg\u00e4nge keine weiteren Folgewirkungen psychischer Art erkennen lassen, mit denen sie, den allgemeinen Principien psychischer Causalit\u00e4t gem\u00e4\u00df, eine Reihe von Motiven und Zwecken bilden. Umgekehrt dagegen wird die psychophysische Interpretation immer dann vor den beiden anderen in den Vordergrund treten, wenn ein umfassenderer Zusammenhang von Lebensvorg\u00e4ngen einen psychologisch zu deutenden Zweckzusammenhang erkennen l\u00e4sst, w\u00e4hrend uns die physiologischen und chemischen Zwischenglieder, welche die \u00e4u\u00dfere causale Verbindung der einzelnen Theile dieses Zusammenhanges hersteilen, v\u00f6llig entgehen. Somit kommt jene dreifache Interpretation der Lebensvorg\u00e4nge im allgemeinen dergestalt zur Anwendung, dass bei den einfachsten, in der Verbindung der unmittelbar auf einander folgenden Lebensacte der Beobachtung zug\u00e4nglichen Erscheinungen der physiologische und der chemische Standpunkt, sei es einer allein sei es beide in ihrer Verbindung, \u00fcberwiegen, wogegen bei umfassenderen, \u00fcber gr\u00f6\u00dfere Zusammenh\u00e4nge sich erstreckenden Entwicklungen die H\u00fclfe der psychologischen Erkl\u00e4rung in vielen F\u00e4llen unerl\u00e4sslich wird. Kaum bedarf es \u00fcberdies der Bemerkung , dass die physiologische und die chemische Betrachtung wieder in engerer Verbindung mit einander stehen, insofern beide sich auf die physische Seite des Lebens beziehen, welche physiologisch vom Gesichtspunkt des stattfindenden Kr\u00e4ftewechsels, chemisch von dem des Stoffwechsels aus untersucht wird. Wo der letztere bekannt ist, da ergeben sich aus ihm ohne weiteres auch die leitenden Principien f\u00fcr die Beurtheilung des ersteren; dagegen ist uns nicht selten der Kr\u00e4ftewechsel in seinem allgemeinen Zusammenhang zug\u00e4nglich, ohne dass die begleitenden chemischen Verbindungs- und Zersetzungserscheinungen zureichend bekannt w\u00e4ren. Nur diese L\u00fccken in unserer Kenntniss des vitalen Chemismus bedingen es, dass eine rein physiologische Interpretation erg\u00e4nzend eintreten muss. Je mehr daher diese L\u00fccken verschwinden, um so mehr wird eine beide Seiten gleichzeitig umfassende physiologisch-chemische Erkl\u00e4rung gefordert.\nAnders verh\u00e4lt es sich mit dem psychischen Inhalt der Lebensvorg\u00e4nge. Er bildet einen Causalzusammenhang f\u00fcr sich, der","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nW. Wundt.\nzwar nach dem Princip des psychophysischen Parallelismus immer mit entsprechenden Gliedern der physiologisch-chemischen Causal-reihe verbunden, aber wegen der Ungleichartigkeit der hier und dort stattfindenden Begriffe ebenso wenig aus jenen abzuleiten ist, wie aus ihm selber die Glieder der physischen Causalit\u00e4t zu gewinnen sind. Hier bleiben daher fortan die physische und die psychische Interpretation zwei getrennte Aufgaben, die zu einander in Beziehung gesetzt, niemals aber zu einer Einheit verbunden werden k\u00f6nnen. In der Anwendung verr\u00e4th sich diese Incongruenz beider Auffassungen insbesondere auch an denjenigen Eigenschaften des psychischen Geschehens, welche hier das Verh\u00e4ltniss wechselseitiger Stellvertretung voraussichtlich zu einem bleibenden machen. Das psychische Sein wird f\u00fcr uns \u00fcberall erst da nachweisbar, wo die einzelnen psychischen Acte einen umfassenden Zusammenhang zu bilden anfangen, welcher Lebens\u00e4u\u00dferungen m\u00f6glich macht, die den Handlungen unseres eigenen Bewusstseins einigerma\u00dfen \u00e4hnlich sind. Ehe diese Stufe erreicht wird, ist das psychische Sein zwar ein nothwendiges Postulat f\u00fcr die Begreiflichkeit der that-s\u00e4chlichen psychischen Entwicklungen, aber es ist selbst nicht nachweisbar: alle Lebensvorg\u00e4nge, die sich unterhalb dieser Stufe vollziehen, sind daher blos einer physiologisch-chemischen Interpretation zug\u00e4nglich. Umgekehrt dagegen bringt es der objectiv-teleologische Charakter aller psychischen Causalit\u00e4t mit sich, dass es bei ihr m\u00f6glich wird, Beziehungen zwischen weit von einander abliegenden Thatsachen aufzufinden, deren Zwischenglieder unserer Nachweisung v\u00f6llig entgehen, so dass die, physiologisch-chemische Erkl\u00e4rung, f\u00fcr welche die stetige Verbindung nach Grund und Folge die Regel ist, ihre H\u00fclfe versagt. So kommt es, dass im allgemeinen nur gewisse, in der IVlitte zwischen diesen Grenzf\u00e4llen liegende Erscheinungs\u2014 reihen beiden Interpretationsweisen zug\u00e4nglich sind, w\u00e4hrend sonst die Gebiete derselben derart auseinanderfallen, dass das physiologische Verst\u00e4ndniss der Lebensvorg\u00e4nge gew\u00f6hnlich da aufh\u00f6rt, wo das psychologische beginnt, und umgekehrt.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n343\n4. Entwicklung der zusammengesetzten Lebensformen.\nGeschlechtliche Zeugung.\nVerfolgen wir von den hier festgestellten Gesichtspunkten aus die weitere Entwicklung des Elementarorganismus, so kann zun\u00e4chst die oben betrachtete einfachste Stufe nach zwei verschiedenen Richtungen sich fortbilden. Bei der ersten bleiben die aus dem Spaltungsprocess hervorgegangenen neuen Elementarorganismen vereinigt, so dass Zellenverb\u00e4nde von mehr oder minder gro\u00dfer Ausdehnung entstehen. Die zweite f\u00fchrt zu einer Differenzirung, welche physiologisch als Arbeitstheilung, chemisch als Ausbildung von Theilmolec\u00fclen mit selbst\u00e4ndigen Affinit\u00e4tswirkungen, psycho- i logisch als Vervollkommnung der urspr\u00fcnglichen primitiven Willens-handlungen durch Anpassung der Substrate an ihren Zweck auf- j gefasst werden kann. Diese erste functioneile Differenzirung besteht n\u00e4mlich in der Sonderung contractiler H\u00fcllen von der \u00fcbrigen Leibesmasse, w'oran als weiterer Act nicht selten die Entwicklung-besonderer contractiler Organe, Cilien, Ruderf\u00fc\u00dfe als Anhangsgebilde der H\u00fclle, in einzelnen F\u00e4llen auch contractiler Blasen im Innern des Leibes, sich anschlie\u00dft. Die so gebildeten beiden Entwicklungsformen, die wir als die vegetative und die animalische unterscheiden wollen, weisen nun schon durch ihre Entstehungsweise darauf hin, dass die erstere vorwiegend unter dem Einfluss \u00e4u\u00dferer, die zweite unter dem innerer Ursachen zu Stande kommt, wobei aber doch weder dort bestimmte innere noch hier bestimmte \u00e4u\u00dfere Bedingungen fehlen werden. So d\u00fcrfte bei der vegetativen Lebensform der bleibende Zusammenhang der einzelnen Zellen durch innere Molecularattractionen vermittelt werden, deren Entstehung mit dem beginnenden Theilungsprocess zusammenf\u00e4llt, w\u00e4hrend die Wachsthumsrichtung der einzelnen Theile und infolge dessen die Gestalt des sich bildenden Zellverbandes zun\u00e4chst von den \u00e4u\u00dferen Einfl\u00fcssen der Schwere, des Lichtes, der umgebenden Assimilationsstoffe u. s. w. abh\u00e4ngt. Bei der auf der Stufe des Elementarorganismus verbleibenden animalischen Entwicklungsform dagegen wird die den Spaltungsvorgang begleitende Contraction bleibende Molecularverschiebungen hervorbringen, die ihrerseits erst unter dem beg\u00fcnstigenden Einfl\u00fcsse \u00e4u\u00dferer Bedingungen zu jener\nWundt, Philos. Studien. V.\t\u2018>4","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nW. Wundt.\nfortschreitenden Differenzirung der Theile f\u00fchren kann, welche zur Entstehung besonderer motorischer Gebilde erforderlich ist. Bleibt die bis dahin erfolgte Scheidung der Lebensformen eine definitive, so repr\u00e4sentirt sie zugleich die einfachsten Gattungen der Lebewesen in ihrem scharf ausgepr\u00e4gten functioneilen Gegens\u00e4tze. Als vor\u00fcbergehende Bildungen sind sie aber zugleich die Ausgangspunkte f\u00fcr die Entwicklung der h\u00f6heren Organismen.\nSichtlich ist nun diese Entwicklung innig gebunden an einen f\u00fcr die Erhaltung und Vervollkommnung des organischen Lebens ungemein wichtigen und in die fr\u00fchesten Anf\u00e4nge desselben zur\u00fcckreichenden Vorgang, an die geschlechtliche Zeugung. Ihre erste Spur ist wahrscheinlich in der r\u00e4umlichen Scheidung der beiden Kerngebilde zu finden, deren Verbindung und Zersetzung den Spaltungsprocess der Zelle einleitet. Daran schlie\u00dft sich als erste Form einer Zeugung durch Vereinigung getrennter, aber noch nicht sexuell verschiedener Individuen die Conjugation, bei welcher ein \u00e4hnlicher Attractionsvorgang, wie er bei der einfachen Zelltheilung innerhalb der einzelnen Zelle stattfindet, zwischen den Kerngebilden selbst\u00e4ndiger Elementarorganismen einzutreten scheint. Im Anschl\u00fcsse an die oben entwickelten Vorstellungen wird dem Conjugationsact wieder eine dreifache Deutung zu geben sein. Chemisch eine Affinit\u00e4tswirkung, die in noch betr\u00e4chtlichere r\u00e4umliche Entfernungen wirkt als die Kernattraction in der Einzelzelle, bezeichnet er physiologisch eine wechselseitige, von starker Protoplasmabewegung gefolgte Reizung, psychologisch einen einfachen Gef\u00fchls- und Willensact, der in seiner Wechselbestimmung zwischen zwei getrennten Individuen als erste elementare Aeu\u00dferung eines noch nicht sexuell differenzirten Triebes der Vereinigung, somit als Vorl\u00e4ufer des Geschlechtstriebes gedeutet werden kann.\nPhysiologisch hat dieser Vorgang den Erfolg, dass er das organische Wesen zu neuen Combinationen von Lebens\u00e4u\u00dferungen bef\u00e4higt, deren seine Erzeuger entbehrten, und dass er daher auf diesem Wege ein wichtiges Moment weiterer Entwicklung wird. Diese Wirkung der doppelseitigen Zeugung begreift sich im allgemeinen aus der Mischung der Eigenschaften der Erzeuger in ihren Nachkommen. Denn in den so entstandenen Mischungen werden stets leichter als bei der monogenen Zeugung Eigenschaften Vorkommen,","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n345\ndie den vorhandenen Lehensbedingungen am besten entsprechen. Das n\u00e4mliche gilt f\u00fcr die psychischen Eigenschaften, die Gef\u00fchls-und Willensth\u00e4tigkeiten, die \u00fcbrigens an sich schon durch die Entstehung von Gattungstrieben, deren erste Spur sich hier zu regen beginnt, eine ungemein wichtige, alle fernere Entwicklung bestimmende Erweiterung erfahren. Abgesehen von diesen functioneilen Vortheilen scheinen aber noch andere, an die chemische Stoffmischung als solche gebundene Folgen die amphigone Zeugung zu beg\u00fcnstigen, wie namentlich die bei den h\u00f6heren Pflanzen ausf\u00fchrbare Vergleichung der beiden, hier neben einander m\u00f6glichen, Fortpflanzungsformen durch Stecklinge und durch befruchtete Keimzellen beweist. Bei der ungemein verwickelten Zusammensetzung des Elementarorganismus ist es wohl denkbar, dass einzelne Theil-molec\u00fcle im Laufe der monogenen Fortpflanzungen allm\u00e4hlich irresistenter werden als andere, so dass der Spaltungsprocess zu einer schlie\u00dflichen Ersch\u00f6pfung der chemischen Affinit\u00e4tsenergie des Ge-sammtmolec\u00fcls f\u00fchrt. Hier k\u00f6nnen nun bei der doppelseitigen Zeugung die restitutionsf\u00e4bigen Molec\u00fcle sich erg\u00e4nzen, und sie werden dies um so leichter thun, je mehr die andern vorm\u00f6ge ihrer Irresistenz aus dem organischen Stoffwechsel auszuscheiden geneigt sind.\nBei der geschlechtlichen Zeugung tritt zu diesen Bedingungen noch die Ausbildung verschieden organisirter Geschlechtsindividuen hinzu. Ist auch die allgemeine Anlage zur Entstehung der Geschlechtsdifferenz in den differenten Kerngebilden des Elementarorganismus , dem Nucleus und Nucleolus, bereits gegeben, so ist doch die Entwicklung sexueller Unterschiede der Individuen \u00fcberall erst ein Ergebniss zusammengesetzter Organisation. Da aber bis zu den h\u00f6chsten Stufen des Thierreichs der Organismus fortan zweigeschlechtlich angelegt bleibt, so ist auch hier noch der Zusammenhang mit jener urspr\u00fcnglichen Form amphigoner Zeugung erkennbar. Die Entstehung der sexuellen Differenzirung kann demnach kaum anders als so gedacht werden, dass bei der Ausbildung des zusammengesetzten Organismus die Entwicklungen der Sexual-producte wechselseitig hemmend auf einander wirkten, worauf dann die nachher zu er\u00f6rternden Einfl\u00fcsse der Vererbung die so begonnene Scheidung der Individuen befestigten und verst\u00e4rkten. Alle die Bedingungen aber, welche schon bei den primitiven Formen der\n24*","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nW. Wundt.\namphigonen Zeugung zur Befestigung des chemischen Lebenspro-cesses beitrugen, mussten sich nun bei der sexuellen Differenzirung in h\u00f6herem Ma\u00dfe geltend machen. Hierauf weist namentlich auch die Beobachtung hin, dass erst mit dem Auftreten zweigeschlechtlicher Fortpflanzung ein gr\u00f6\u00dferer Spielraum individueller Variabilit\u00e4t bemerkbar wird, wodurch die schnellere Ausbildung n\u00fctzlicher ebenso wie das Verschwinden nutzlos gewordener Gattungscharaktere beg\u00fcnstigt werden muss1).\nAbgesehen von dem zu Grunde liegenden Chemismus, der in diesem Falle allzu verwickelt ist, als dass er auch nur mittelst zureichender Analogien sich verdeutlichen lie\u00dfe, kommen hier von physiologischer Seite die Arbeitstheilung, von psychologischer die Differenzirung der Triebe als wichtige H\u00fclfsmomente zur Geltung. Die Geschlechtsdifierenz ist die erste Form der Arbeitstheilung, welche \u00fcber das Einzelwesen hinausreicht. Sie ist so das Vorbild f\u00fcr alle jene weiteren functioneilen Unterscheidungen, die schon im Thierreich zu wechselseitigem Schutz und zu besserer Ausn\u00fctzung der Lebenshedingungen beitragen, damit aber regelm\u00e4\u00dfig auch die allgemeine Leistungsf\u00e4higkeit der Art erh\u00f6hen und sie widerstandsf\u00e4higer machen gegen st\u00f6rende Einfl\u00fcsse. Psycholo-logisch bildet endlich die Entwicklung des urspr\u00fcnglichen Vereinigungstriebes zum Geschlechtstrieb eine der wichtigsten Stufen in der allgemeinen Triebentwicklung, welche wiederum im Thierreich in die Ausbildung des Willens wie der Intelligenz gewaltig eingreift, so dass man wohl sagen darf: die geistige Ausbildung der h\u00f6heren Thiere, mit ihr aber nothwendig zugleich die ganze Eigent\u00fcmlichkeit ihrer physischen Entwicklung w\u00fcrde f\u00fcr uns ohne die Geschlechtsdifierenz unbegreiflich bleiben. F\u00fcr die allgemeine W\u00fcrdigung der Entwicklungsvorg\u00e4nge ist es jedoch ein wichtiger Gesichtspunkt, dass die sexuelle Zeugung, so wenig wie irgend eine andere Grundfunction, ein absolut neuer Vorgang ist, sondern dass zu ihr sichtlich schon in der primitivsten Form des Zeugungsactes insofern die Vorbereitung gegeben ist, als jede Zellentheilung an die Wechselwirkung verschiedener Kerngebilde gebunden erscheint. Betrachtet man diese als die Urformen der geschlechtlich\n1) Man vergl. hierzu A. Weismann, Die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung. Jena 1888. S. 34 ff.","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n347\ndifferenzirten Keimelemente, so f\u00e4llt in der That der Ursprung der geschlechtlichen Zeugung mit dem der Zeugung \u00fcberhaupt zusammen, da die geschlechtliche Differenzirung der Individuen, ein so wichtiger Vorgang f\u00fcr die Vervollkommnung der organischen Welt sie auch sein mag, doch immer nur als eine Stufe in der Ausbildung der Geschlechtsdifferenz angesehen werden kann, deren wahrer Anfang mit der Entstehung differenter Keimstoffe gegeben ist.\n\u00ca>. Verbindung der Theile im zusammengesetzten Organismus.\nVon den beiden primitiven Organisationsstufen, die wir oben als die vegetative und die animalische bezeichneten, bildet die letztere wieder den Ausgangspunkt zweier Entwicklungsreihen. Bei der ersten geht der Elementarorganismus, nachdem er einige Zeit zumeist in thier\u00e4hnlichem Zustande frei beweglich gelebt hat, sp\u00e4ter in die sprossende Form \u00fcber, um sich so ebenfalls zu einem pflanzlichen Organismus zu entwickeln. Bei der zweiten unterliegt der Elementarorganismus einem wiederholten Spaltungsprocess, an dessen Ende derselbe in eine aus zahlreichen Zellen bestehende Kugel umgewandelt ist. Dieser Process der \u00bbEifurchung\u00ab bildet den Anfang f\u00fcr die gesammte Entwicklung der h\u00f6heren Pflanzen und der zusammengesetzten Thiere. Zugleich mit einer fortgesetzten Vermehrung der Elemente vollzieht sich hier ein Process functio-neller Differenzirung, welcher aus dem urspr\u00fcnglich gleichartigen Zellenmaterial die verschiedenen Gewebe und Organe hervorgehen l\u00e4sst. Dieser Entwicklungsprocess bietet zahllose Einzelprobleme dar, an deren L\u00f6sung bei dem heutigen Stand unserer Kenntnisse noch nicht gedacht werden kann. Zun\u00e4chst aber ist es eine Frage, die wenigstens eine provisorische Beantwortung erheischt, da erst mit H\u00fclfe derselben f\u00fcr die Behandlung aller andern Aufgaben eine Grundlage zu gewinnen ist. Diese Frage bezieht sich auf die Bedingungen des bei der Entwicklung aller zusammengesetzten Organismen sich ausbildenden bleibenden Zusammenhangs der Theile. Erst wenn dieser Zusammenhang erkl\u00e4rt ist, kann auch die fernere Frage nach dem Grund der Differenzirung der Gewebe und Organe sowie nach den Ursachen der Befestigung","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nW. Wundt.\nund H\u00e4ufung der im Laufe der Entwicklung erworbenenEigenschaften mit einiger Aussicht auf Erfolg in Angriff genommen werden.\nUnter den neueren Entwicklungstheoretikern hat besonders N\u00e4geli auf die Noth Wendigkeit der Annahme einer Verbindungssubstanz f\u00fcr die Zellenmassen des zusammengesetzten Organismus und auf die Bedeutung hingewiesen, welche dieselbe f\u00fcr die Organisationsform und ihre Erhaltung infolge der Vererbung besitzen m\u00fcsse. An die Annahme dieser Substanz, die wir als \u00bbHoloplasma\u00ab bezeichnen wollen, hat dieser Forscher vitalistische Vorstellungen gekn\u00fcpft, denen wir uns hier aus Gr\u00fcnden, die aus der an anderer Stelle gegebenen Kritik des Vitalismus im allgemeinen erhellen werden, nicht anschlie\u00dfen k\u00f6nnen i). Hiervon abgesehen hat aber, wie mir scheint, die Annahme einer den Zusammenhang der Organe und Zellverb\u00e4nde vermittelnden Ger\u00fcstsubstanz des organischen K\u00f6rpers ihre volle Berechtigung. Ist dies der Fall, so entsteht nun die Aufgabe, jenem Begriff in \u00e4hnlicher Weise eine physiologisch-chemische Deutung zu geben, wie wir solches in Bezug auf den einzelnen Elementarorganismus und seine Bestandtheile versucht haben. Hier sind nun zwei Forderungen festzuhalten : erstens m\u00fcssen die Theile des Holoplasmas unter sich in einem nirgends unterbrochenen Zusammenhang stehen ; und zweitens m\u00fcssen sie an jedem Ort des K\u00f6rpers mit den dort befindlichen Elementartheilen, den Zellen und den andern aus Zellen hervorgegangenen geformten Elementen, verbunden sein. Beide Verbindungen k\u00f6nnen nach dem fr\u00fcher bemerkten als chemische Affinit\u00e4tswirkungen betrachtet werden. Das Holoplasma denken wir uns demnach als eine intercellulare chemische Verbindung, welche ,durch freie Affinit\u00e4ten mit den umgebenden Zellen verkettet ist, w\u00e4hrend zugleich andere freie Affinit\u00e4ten desselben benachbarte Theile des Holoplasmas mit einander verbinden. Denken wir uns, wie fr\u00fcher, den Elementarorganismus als Gesammt-molec\u00fcl, so kann demnach bei dem Spaltungsprocess desselben ein\n1) N\u00e4geli (Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammung. M\u00fcnchen\n1884) bedient sich des Ausdrucks \u00bbIdioplasma\u00ab. Ich vermeide denselben, theils um von vornherein der Verwechselung mit den teleologischen Vorstellungen der N\u00e4geli\u2019schen Abstammungslehre vorzubeugen, theils um in dem Namen Holoplasma die Bedeutung dieser Plasmaform f\u00fcr den ganzen Organismus, im Gegens\u00e4tze zu dem der einzelnen Zelle angeh\u00f6rigen Protoplasma, anzudeuten.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n349\ndoppeltes sich ereignen: l) die Spaltung ist eine vollst\u00e4ndige, so dass zwischen den Spaltungsproducten selbst keine Affinit\u00e4t \u00fcbrig bleibt; 2) die Spaltung ist eine unvollst\u00e4ndige, indem zwar der gr\u00f6\u00dfte Theil der Masse in die Spaltungsproducte \u00fcbergeht, aber ein kleiner theils zerst\u00f6rt und als Excretionsproduct entfernt wird, theils eine Zwischensubstanz bildet, welche durch freie Affinit\u00e4ten an die entstandenen Spaltungsproducte gebunden ist und so indirect diese mit einander verkettet. Setzt sich der Process der Spaltung fort, so wird dann das neu entstehende Holo-plasma au\u00dfer mit den ihm benachbarten Zellen auch mit den fr\u00fcher vorhandenen Holoplasmatheilen durch freie Affinit\u00e4ten verbunden, und es wird so allm\u00e4hlich eine gr\u00f6\u00dfere Zellenmasse zu einem System verkettet werden. Im ersten der oben unterschiedenen F\u00e4lle bleiben die entstandenen Spaltungsproducte selbst\u00e4ndige Elementarorganismen: der Formenkreis des Protozoon wird nicht \u00fcberschritten. Im zweiten Fall bildet sich ein zusammengesetzter Organismus, ein Metazoon. Das letztere ist daher vom chemischen Standpunkte aus als eine gewaltige Ansammlung von ungemein zusammengesetzten Molec\u00fclen aufzufassen, die zugleich die Eigenschaften von Formelementen besitzen, und zwischen denen sich eine Ger\u00fcstsubstanz befindet, die aus ungeformten Molec\u00fclen besteht, welche \u00fcberall sowohl mit den eingelagerten Zellen wie mit den benachbarten Molec\u00fclen der Ger\u00fcstsubstanz selber durch freie Affinit\u00e4ten verbunden sind.\nNehmen wir nun an, in diesem System eines Metazoon sei ein vollkommenes Gleichgewicht chemischer Affinit\u00e4tswirkungen vorhanden, so wird das letztere zun\u00e4chst dadurch gest\u00f6rt werden k\u00f6nnen, dass durch \u00e4u\u00dfere gewaltsame Einwirkungen irgend welche Elemente losgetrennt werden. Die Folge wird sein, dass an der betreffenden Stelle die freien Affinit\u00e4ten des Holoplasmas nicht mehr ges\u00e4ttigt sind. Hierdurch wird eine zersetzende Wirkung auf die vorhandenen Zellen ausge\u00fcbt: diese werden theils zerfallen, theils, indem ihre Assimilationsenergie sich steigert, Spaltungsprocesse erfahren, so lange bis wieder ein neuer Gleichgewichtszustand eingetreten ist, der entweder, indem die neu gebildeten Elemente f\u00fcr die verloren gegangenen eintreten, vollst\u00e4ndig dem fr\u00fcheren gleicht, oder infolge von Ver\u00e4nderungen, die auch das Holoplasma er-","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nW. Wundt.\nfahren, eine bleibende Verk\u00fcmmerung zur Folge hat. Den ersten dieser F\u00e4lle nennen wir Regeneration, den zweiten Vernarbung. Je leichter die Spaltungsfermente der Zellen erregt werden, um so leichter wird Regeneration eintreten. \u00dcebrigens ist zwischen beiden F\u00e4llen nur ein gradweiser Unterschied: Vernarbung ist unzureichende Regeneration. So lange die Lebenseigenschaften des Organismus nicht v\u00f6llig zerst\u00f6rt sind, bleibt immer auch in irgend einem Grade sein Regenerationsverm\u00f6gen bestehen.\nAber jener ideale Gleichgewichtszustand seihst ist in jedem Augenblick nur ann\u00e4hernd verwirklicht. Die Selbstzersetzung der Elemente, welche den Lebensprocess begleitet, dauert stets auch dann noch fort, wenn durch irgend welche Bedingungen der vollst\u00e4ndige Wiederersatz der verloren gegangenen Bestandtheile unm\u00f6glich wird. Auf diese Weise gehen in die Excrete nicht hlos die regelm\u00e4\u00dfigen StofFwechselerzeugnisse der Gewebe, sondern auch abgesto\u00dfene Gewehstheile, die bleibend verloren werden, \u00fcber. Endlich aber k\u00f6nnen Elementartheile dadurch, dass sie selbst von vornherein starke Spaltungsfermente in sich enthalten, die eine rasche Vermehrung derselben bedingen, zu selbst\u00e4ndigen Wachs-thumsproducten sich entwickeln und so die Affinit\u00e4t zu den sie urspr\u00fcnglich mit dem Gesammtorganismus verkettenden Theilen des Holoplasmas verlieren. Dies erfolgt normaler Weise bei den Zeugungsproducten, in krankhafter Art bei gewissen Geschwulstbildungen, welche in die Selbstzersetzung, der sie infolge ihrer \u00fcberm\u00e4\u00dfigen Wucherung anheimfallen, meist auch die normalen Gewebselemente, mit denen sie in Verbindung stehen, hineinziehen.\n6. Problem der organischen Variabilit\u00e4t. Differen-zirung der Organe und Functionen.\nAlle diese Entwicklungen greifen im allgemeinen bereits auf Stufen der Organisation hin\u00fcber, zu deren Verst\u00e4ndniss weitere Voraussetzungen erforderlich sind. Die Organisationsform, welche durch die Entstehung des Holoplasmas mit den ihm zugeschriebenen Eigenschaften begreiflich gemacht werden soll, ist zun\u00e4chst ein Metazoon einfachster Art, wie es etwa in dem functionell noch nicht differenzirten Ei der Pflanzen und Thiere nach Zur\u00fccklegung","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n351\nder ersten Stadien der Theilung vorliegt. Mag es nun auch sein, dass in einzelnen F\u00e4llen mit der Bildung eines solchen Zellenaggregates, abgesehen von der schlie\u00dflichen Entstehung von Fortpflanzungszellen, die Organisation sich ersch\u00f6pft hat, so f\u00fchrt doch die allgemeine Richtung der Entwicklung \u00fcber diese primitive Stufe hinaus, indem sich mit der fortgesetzten Theilung der Zellen eine immer weitergehende Diflerenzirung derselben verbindet, als deren Ergebniss schlie\u00dflich die in der zusammengesetzten Organisation mit gro\u00dfer Regelm\u00e4\u00dfigkeit und doch f\u00fcr die verschiedenen Lebensformen wieder in bestimmt unterschiedener Weise durchgef\u00fchrte Scheidung der Organe zur\u00fcckbleibt. Die Entwicklungsgeschichte eines jeden Individuums erinnert daran, dass diese Scheidung eine aus dem Zustande urspr\u00fcnglicher functioneller und morphologischer Gleichartigkeit heraus gewordene ist, und sie mahnt so an die unabweisliche Aufgabe, \u00fcber die M\u00f6glichkeit der Entstehung einer solchen tiefgreifenden Arbeitstheilung Rechenschaft zu geben. Die Frage, wie diese Diflerenzirung der Organe sich bei der Entwicklung eines jeden Einzelwesens immer wieder in der n\u00e4mlichen Weise in verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig kurzer Zeit wiederholen kann, muss hier vorl\u00e4ufig zur\u00fccktreten. Das n\u00e4chste Problem besteht darin begreiflich zu machen, wie, die Festhaltung der einmal erworbenen Eigenschaften vorausgesetzt, \u00fcberhaupt im Laufe zahlloser Generationen derartige Ver\u00e4nderungen und ver\u00e4nderte Anordnungen der Theile entstehen konnten.\nNach zwei Richtungen gehen die Antworten auf diese Frage, die man allgemein als das Problem der organischen Variabilit\u00e4t bezeichnen kann, aus einander. Bald sucht man in inneren, bald in \u00e4u\u00dferen Ursachen die Bedingungen jener Ver\u00e4nderungen. Hier sind es die Lebenseinfl\u00fcsse der Umgebung, Luft und Licht, Klima und Ern\u00e4hrung, welchen man die ver\u00e4ndernde Wirkung zuschreibt; dort sind es innere Entwicklungsbedingungen, sei es eine in der Organisation von Anfang an wirkende zweckth\u00e4tige Kraft, sei es die eigene Function der Theile, welche eine zweckm\u00e4\u00dfige Umbildung bewirken. Eine klarere Auspr\u00e4gung haben diese Gegens\u00e4tze vornehmlich in den Theorien von Lamarck und Darwin erhalten. Beide waren bem\u00fcht, \u00fcber die Beschaffenheit der die Umbildung erzeugenden Ursachen Rechenschaft zu geben, indem","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nW. Wundt.\nsie von bekannten Erfahrungstatsachen ausgingen, Lamarck von der Vervollkommnung der Organe durch Uebung, Darwin von den Einfl\u00fcssen des Wettbewerbs verschiedener Individuen und Arten um die allgemeinen Lebensbedingungen. Da die Thatsachen, die f\u00fcr Lamarck\u2019s Princip in\u2019s Feld zu f\u00fchren sind, immer nur sehr begrenzte Ver\u00e4nderungen umfassen, so lie\u00df er sich leider verf\u00fchren, die L\u00fccken durch k\u00fchne Speculationen auszuf\u00fcllen, denen man mit Recht entgegenhalten konnte, dass die abzuleitenden Erfolge eigentlich schon vorhanden sein m\u00fcssen, wenn die angenommenen Bedingungen in Wirksamkeit treten, wie das so deutlich aus dem Beispiel der Giraffe erhellt, deren Hals sich deshalb verl\u00e4ngert haben soll, weil sie gewohnt sei von den Bl\u00e4ttern hoher B\u00e4ume zu fressen. Gegen\u00fcber dieser willk\u00fcrlichen Umkehrung der tats\u00e4chlich gegebenen Causalbeziehungen bot die Darwin\u2019 sehe Hypothese ein so unvergleichlich viel gr\u00f6\u00dferes Material unterst\u00fctzender Beobachtungen dar, dass, wie man auch \u00fcber die allgemeine Tragweite derselben denken mochte, mindestens die von ihr angenommenen Bedingungen der Ver\u00e4nderung organischer Formen als tats\u00e4chlich erwiesene angesehen werden durften. So wird es denn begreiflich, dass man \u00fcber dem imponirenden Eindruck dieser tats\u00e4chlichen Beweisgr\u00fcnde zumeist \u00fcbersah, wie das Verh\u00e4ltniss zwischen Voraussetzungen und Thatsachen gleichwohl auch hier im wesentlichen kein anderes war als dort. Die Ab\u00e4nderung und Vervollkommnung der Arten soll nach Darwin \u00fcberall durch die Auslese des N\u00fctzlichen im Kampfe um\u2019s Dasein zu Stande kommen, indem regelm\u00e4\u00dfig diejenigen Lebensformen am meisten Aussicht haben am Leben zu bleiben und ihre Eigenschaften auf ihre Nachkommen zu vererben, die den Lebensbedingungen der Umgebung am meisten angepasst sind. So entgehen solche Thiere den Nachstellungen ihrer Feinde am besten, deren F\u00e4rbung und Zeichnung der Umgebung am \u00e4hnlichsten ist. So sind unter den bl\u00fcthen-besuchenden Insecten diejenigen am meisten beg\u00fcnstigt, deren Saugorgane die zur Gewinnung des Honigs aus den Bl\u00fcthentheilen zweckm\u00e4\u00dfigste Beschaffenheit besitzen ; und unter den Bl\u00fcthen sind wieder jene am g\u00fcnstigsten gestellt, welche durch Farbe oder Geruch am meisten die Insecten anlocken, damit diese durch unabsichtliche Uebertragung des Pollenstaubes von einer Bl\u00fcthe zur an-","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n353\neiern die Fortpflanzung unterst\u00fctzen, u. s. w. Gewiss werden alle solche Einfl\u00fcsse der Anpassung zur Erhaltung und Verst\u00e4rkung gewisser Eigenschaften beitragen, nachdem diese letzteren erst in einem gewissen Grade vorhanden sind. Von welchen Bedingungen aber die erste Entstehung der Eigenschaften abh\u00e4ngt, die sich im Kampfe um\u2019s Dasein n\u00fctzlich erweisen, das bleibt g\u00e4nzlich dahingestellt. Somit kann auch das Princip der Auslese im Wettbewerb um die Bedingungen der Existenz und der Fortpflanzung nur ein mehr oder weniger wirksames H\u00fclfsmornent der Artentwicklung sein, nimmermehr die letzte Bedingung derselben.\nEs hei\u00dft auf die L\u00f6sung des hier vorliegenden Problems verzichten, wrenn man, wie es noch in neuerer Zeit von hervorragenden Biologen geschehen ist. einfach die Tendenz zur Um\u00e4nderung, zur fortschreitenden Arbeitstheilung und Vervollkommnung als eine urspr\u00fcngliche Eigenschaft der organischen Substanz betrachtet. Denn es werden damit lediglich die Thatsachen selbst, um deren Deutung es sich handelt, zu einem Allgemeinbegriff vereinigt, dem man dann willk\u00fcrlich eine causale Bedeutung beilegt, ganz so wie dies bei den falschen Zweckbegriflen des \u00e4lteren Vitalismus und der psychologischen Verm\u00f6genstheorie geschehen war. Die gelegentliche Versicherung, dass man sich dieses Vervollkommnungs-princip als ein streng \u00bbmechanisches\u00ab zu denken habe, \u00e4ndert hieran durchaus nichts. Denn mechanisch in der wahren Bedeutung des Wortes k\u00f6nnte es doch nur dann sein, wenn es als der Ge-sammtausdruck einer Reihe von Vorg\u00e4ngen nachzuweisen w\u00e4re, die man auf die allgemeing\u00fcltigen mechanischen Principien zur\u00fcckf\u00fchren kann. Wenn hieran \u00fcberhaupt zu denken w\u00e4re, so w\u00fcrde es offenbar geboten sein, diese mechanische Analyse wirklich vorzunehmen, statt sich mit einem durch seine Unbestimmtheit v\u00f6llig inhaltsleeren Totalbegriff zu begn\u00fcgen. In Wahrheit ist aber, von allen Schwierigkeiten abgesehen, auf dem hier eingenommenen Standpunkte der Erfolg einer auch nur auf die allgemeinsten Zusammenh\u00e4nge sich beschr\u00e4nkenden mechanischen Interpretation schon um deswillen v\u00f6llig aussichtslos, weil hier ebenso einseitig die inneren wie hei der Darwinschen Annahme die \u00e4u\u00dferen Einfl\u00fcsse in den Vordergrund gestellt sind.\nNun beruhen alle Lebensvorg\u00e4nge auf einer fortw\u00e4hrenden","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nW. Wundt.\nWechselwirkung innerer und \u00e4u\u00dferer Bedingungen. Auch die Entstehung der Lebensformen, dieser wichtigste aller Lebensvorg\u00e4nge, kann sich jener allgemeinen Regel unm\u00f6glich entziehen. Wohl liegt hier in der weit \u00fcberwiegenden Bedeutung, welche bei der individuellen Entwicklungsgeschichte den in dem Einzelwesen urspr\u00fcnglich vorhandenen Anlagen zukommt, leicht die Verf\u00fchrung, auch hei der ; ersten Entstehung der Artformen einen \u00e4hnlichen Einfluss urspr\u00fcnglicher Entwicklungstriebe vorauszusetzen. Aber dabei vermengt man das Problem der organischen Variabilit\u00e4t mit dem der Vererbung. Die individuelle Entwicklungsgeschichte ist in ihren wesentlichsten Z\u00fcgen ein Product der letzteren. Darum durchl\u00e4uft der zusammengesetzte Organismus eine Reihe von Stufen, die \u2014 man denke nur an das Kiemenstadium des h\u00f6heren Wirbelthierembryo \u2014 den \u00e4u\u00dferen Lebensbedingungen schlechterdings nicht mehr entsprechen. In der Stufenfolge der organischen Arten, welche stets zugleich relativ beharrende Zust\u00e4nde darstellen, die eine allgemeine Anpassung an die \u00e4u\u00dferen Lebensbedingungen fordern, ist ein derartiger Widerspruch zwischen den letzteren und der Organisationsform h\u00f6chstens in Bezug auf untergeordnete und gleichg\u00fcltig gewordene Reste fr\u00fcherer Stufen m\u00f6glich; im ganzen aber bietet jede organische Form von dauerndem Best\u00e4nde Lebenseigenschaften dar, die ebensowohl den \u00e4u\u00dferen Bedingungen ihrer Existenz wie dem durch die vorangegangenen Entwicklungen erreichten inneren Zustande entsprechen. Wo die \u00e4u\u00dferen und inneren Bedingungen gleich sind, kann nat\u00fcrlich auch die weitere Ver\u00e4nderung nur in \u00fcbereinstimmender Weise erfolgen. Da dies aber vielfach nicht zutrifft, so wird es im allgemeinen begreiflich, dass die n\u00e4mlichen Lebenseinfl\u00fcsse sogar bei \u00e4hnlichen Formen verschiedene Ab\u00e4nderungen hervorbringen, oder dass in anderen F\u00e4llen abweichende Einfl\u00fcsse \u00fcbereinstimmende Wirkungen \u00e4u\u00dfern k\u00f6nnen. Gerade darum aber wird daran festzuhalten sein, dass jede organische Form gleichzeitig das Erzeugniss \u00e4u\u00dferer und innerer, in fortw\u00e4hrender Wechselbeziehung stehender Bedingungen ist.\nBegreiflicher Weise sind unter diesen Bedingungen die \u00e4u\u00dferen zumeist am leichtesten nachweisbar. Ver\u00e4nderungen derselben, die von entsprechenden Abweichungen der organischen Entwicklung gefolgt sind, lassen sich verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig leicht mittelst der Beob-","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n355\nachtung und zuweilen sogar mit H\u00fclfe absichtlicher experimenteller Einwirkungen verfolgen. So wird das Wachsthum der Pflanzenzellen durch Schwere, Licht und W\u00e4rme, Zufuhr von Wasser und Salzen quantitativ wie qualitativ, namentlich aber in den f\u00fcr die Ausbildung der pflanzlichen Formen haupts\u00e4chlich bestimmenden Wachsthumsrichtungen nachweisbar beeinflusst. Nicht minder sind auf die Hautf\u00e4rbungen sowie auf manche tiefer greifende Organisationsverh\u00e4ltnisse der Thiere Licht, W\u00e4rme und umgebendes Medium von Einfluss. Einen der auffallendsten Belege hierf\u00fcr bildet die F\u00e4higkeit gewisser Kiemenmolche, je nach Umst\u00e4nden sich zu Land- oder Wasserthieren zu entwickeln und demgem\u00e4\u00df entweder die Kiemenathmung beizubehalten oder zur Lungenathmung \u00fcberzugehen, Umwandlungen, die, abgesehen von der entsprechenden Metamorphose der Athmungsorgane, immer zugleich mit correlati-tiven Aenderungen anderer Theile verbunden sind *). Dieses Beispiel zeigt au\u00dferdem, wie in solchen F\u00e4llen die \u00e4u\u00dferen mit inneren Einfl\u00fcssen sich verbinden. Unm\u00f6glich k\u00f6nnte das kiemen-athmende Thier durch die Versetzung auf das Trockene zur Lungenathmung \u00fcbergehen, oder umgekehrt das bereits zur letzteren entwickelte Thier durch das fortdauernde Leben im Wasser bei der Kiemenathmung festgehalten werden, wenn nicht die unter dem Einfluss einfacher Triebe und Willenshandlungen stehenden Organe in beiden F\u00e4llen in verschiedener Weise zur Th\u00e4tigkeit veranlasst w\u00fcrden. Die Organe, die nicht in Function treten, verk\u00fcmmern, und diejenigen, welche functionell ge\u00fcbt werden, bilden sich aus und vervollkommnen sich. Zu jeder Function geh\u00f6ren so die Wirkung \u00e4u\u00dferer Lebensbedingungen und die Selbstth\u00e4tigkeit der Organe. F\u00e4llt jene hinweg, so h\u00f6rt diese auf, weil der Reiz fehlt, der die zur Th\u00e4tigkeit der Organe erforderlichen Triebe anregt. Werden umgekehrt aus irgend welchen inneren Ursachen die Triebe unterdr\u00fcckt, oder werden die Functionen gehemmt, so bleiben die Lebensreize wirkungslos. Nun wird es freilich nur in seltenen 1 alien Vorkommen, dass die Lebensbedingungen schon w\u00e4hrend einer individuellen Lebensgeschichte, wie in dem obigen Beispiel, gleich-\n1) Marie von Chauvin, Ztschr. f. Wiss. Zool. XLI, S. 385. Weitere Beispiele \u00e4u\u00dferer Lebenseinfl\u00fcsse vergl. bei Eimer, Die Entstehung der Arten, I. S. 84 ff.","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nW. Wundt.\nsam die Wahl zwischen zwei abweichenden Organisationsformen offen lassen. Dies ist nur m\u00f6glich bei Lebensformen, die sich noch einigerma\u00dfen in einer Art labilen Gleichgewichts auf der von ihnen erreichten Entwicklungsstufe befinden, so dass es nur geringer Einwirkungen bedarf, um sie entweder vor dem eben erreichten Stadium zur\u00fcckzuhalten oder in dasselbe \u00fcberzuf\u00fchren. In weitaus der Mehrzahl der F\u00e4lle ist der Einfluss der vererbten und bereits sicher befestigten Organisation zu gewaltig, als dass die Entwicklung anders als auf Kosten des Lebens selber sich hemmen lie\u00dfe. Aber die Erw\u00e4gung, die f\u00fcr andere Voraussetzungen in so weit reichendem Ma\u00dfe in\u2019s Feld gef\u00fchrt worden ist, dass im allgemeinen kleine Einfl\u00fcsse im Lauf einer langen Zeit, wenn sie stetig in der n\u00e4mlichen Richtung fortwirken, schlie\u00dflich gro\u00dfe Ver\u00e4nderungen herbeif\u00fchren k\u00f6nnen, sie wird f\u00fcr die hier vorausgesetzte Wechselwirkung \u00e4u\u00dferer Lebensbedingungen und innerer Ursachen um so zutreffender sein, als diese Wechselwirkung in den allgemein gel\u00e4ufigen Vorg\u00e4ngen der individuellen Uebung ihr einfaches Vorbild findet. Gewiss ist es wahr, wenn man gegen die Stetigkeit aller organischen Umbildungen eingewandt hat, zwischen gewissen Lehenszust\u00e4nden, wie z. B. zwischen dem des Land- und des Wasserthiers, sei nur ein Entweder-oder m\u00f6glich, und ein vollkommen stetiger Uebergang sei daher in solchen F\u00e4llen undenkbar. Aber dass ein Zwischenzustand m\u00f6glich ist, in welchem eine gegebene Lebensform beide Eigenschaften in sich vereinigt, das zeigen ja deutlich die angef\u00fchrten Erfahrungen; und aus einem solchen Zwischenzustand kann nun relativ stetig durch die Nicht\u00fcbung des rudiment\u00e4r werdenden Organs der Uebergang in die neue, vollkommenere Organisationsform erfolgen.\nJene Wechselwirkung \u00e4u\u00dferer Lebensreize und functioneller Uebung der Organe ist nur in besonderen F\u00e4llen von solcher Art, dass sich die Functions\u00e4u\u00dferung unmittelbar auf Triebe, d. h. auf mit Gef\u00fchlen verbundene einfache Willensacte beziehen l\u00e4sst. Doch wie f\u00fcr die einfachsten Lebensvorg\u00e4nge das Princip der dreifachen Interpretation anwendbar ist, so f\u00fchrt auch die Ausbildung neuer Wachsthumsrichtungen oder neuer Organanlagen stets wieder auf jene primitiven Vorg\u00e4nge der Zellentheilung zur\u00fcck, die wir hypothetisch ebensowohl als chemische Spaltungsprocesse, angeregt durch","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n357\nbestimmte \u00e4u\u00dfere Einwirkungen, wie als contractile Reizungserschei-nungen, wie endlich als Triebph\u00e4nomene deuten k\u00f6nnen. Bei der Ausbildung der so gewonnenen Anlagen kommen aber in der Regel weitere unterst\u00fctzende Einfl\u00fcsse hinzu, durch welche der ganze Vorgang eine verwickeltere Gestalt gewinnt, so dass nun bald die eine bald die andere Interpretationsweise in den Vordergrund tritt. So m\u00fcssen sich bei den durch Schwere und Licht bedingten Wachsthum srichtungen der Pflanzen diese physikalischen Agentien in ihrem Einfl\u00fcsse auf die Fl\u00fcssigkeitsstr\u00f6mungen innerhalb der Pflanzenzellen vorzugsweise der Beachtung aufdr\u00e4ngen, weil sie diejenigen Vorg\u00e4nge sind, welche die eintretenden Zellentheilungen nicht nur vorbereiten, sondern auch in den nicht mehr theilungsf\u00e4higen, relativ starr gewordenen Zellen fortan wirksam bleiben und so den neuen Sprossen das zu ihrer Vermehrung erforderliche N\u00e4hrmaterial zuf\u00fchren. Immerhin, ohne jenen nach unserer Auffassung psychophysischen Vorgang der Contraction und Spaltung zeugungsf\u00e4higer Zellen w\u00fcrde dieses ganze Spiel physikalisch-chemischer Vorg\u00e4nge nicht m\u00f6glich sein. So sehr daher die Pflanze in ihrer bleibenden Bildung den vorwaltenden Einfluss \u00e4u\u00dferer Lebensbedingungen erkennen l\u00e4sst, wie denn in ihr das psychophysische Substrat des Lebens nur noch auf eine gegen die Masse des Organismus zumeist verschwindende Zahl von Elementen beschr\u00e4nkt bleibt, so f\u00fchren doch alle anderen Theile in gewissem Sinne nur ein abgeleitetes Leben, da die Functionsweise jener primitiven Elemente der ganzen Organisation von Anfang an ihren zweckvollen Charakter verleiht, und da sie es ist, die fortan bei allen bedeutsameren Umbildungen als wesentlich bestimmender Factor auftritt.\nAugenscheinlich beruht nun die wesentliche Verschiedenheit der bleibenden Thierformen von den nur in ihren Anf\u00e4ngen thier\u00e4hnlichen Bildungen der Pflanze darauf, dass die psychophysische Functionsweise bei allen einen thierischen Organismus bildenden Elementartheilen ungleich l\u00e4nger, bei vielen derselben w\u00e4hrend der ganzen Dauer des Lebens erhalten bleibt. Als die n\u00e4chste allgemeine Folge hieraus ergibt es sich, dass in dem Zusammenwirken \u00e4u\u00dferer Lebensbedingungen und functioneller Uebung die letztere einen weit gr\u00f6\u00dferen Einfluss aus\u00fcbt, \u2014 so sehr, dass, wie allgemein das Ver-h\u00e4ltniss von Reiz und Erregung erkennen l\u00e4sst, die \u00e4u\u00dfere Bedin-","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nW. Wundt.\ngung immer mehr in die Rolle eines blos veranlassenden Momentes zur\u00fccktritt, und das volle Verst\u00e4ndnis der eintretenden Erfolge erst aus der Analyse der Functionen zu gewinnen ist. Bei der Ableitung der einzelnen organischen Formen wiederholt sich hier nur was bereits f\u00fcr das ungleich leichtere Problem der Functionsanalyse der bleibenden Organe anerkannte Geltung besitzt. Um die Wirkungen zu verstehen, die ein Reiz auf den Nerven, den Muskel oder auf ein Sinnesorgan aus\u00fcbt, bed\u00fcrfen wir vor allem der eingehenden Kenntniss der Eigenschaften dieser Organe, neben welchen die physikalische Natur des Reizes nur insoweit in Betracht kommt, als sie zur Beurtheilung der hei dem ReizungsVorgang stattfindenden Transformation der Processe erforderlich ist. Aehnlich ist hei der Entwicklung der thierischen Organe allgemein die Beschaffenheit der verschiedenen in \u00e4u\u00dferen physikalischen und chemischen Einwirkungen gegebenen Lehensreize unerl\u00e4ssliche Vorbedingung f\u00fcr die Entstehung und die allgemeine Richtung der ein tretenden Differenzirungen. Die Eigenth\u00fcmlichkeit der letzteren wird aber doch nur aus der Function der Theile selber verst\u00e4ndlich. Ein durch Licht reizbares Organ z. B. kann nat\u00fcrlich nur da sich ausbilden, wo Licht auf den lebenden K\u00f6rper einwirkt, also an der \"Oberfl\u00e4che desselben, und es muss nothwendig so sich entwickeln, dass die Lichteinwirkung auf bestimmte Elementartheile einen quantitativ wie qualitativ allm\u00e4hlich zunehmenden Einfluss gewinnt. Die Art, wie das geschieht, wird aber doch ganz und gar von den Lebenseigenschaften der Theile und von der F\u00e4higkeit ihrer functionellen Anpassung an gewisse Reize bestimmt sein.\nF\u00fcr das allgemeine Verst\u00e4ndiss der auf dieser Grundlage zu verfolgenden Ver\u00e4nderungen der thierischen Formen ist nun zun\u00e4chst die Thatsache ma\u00dfgebend, dass alle diese Umwandlungen von der \u00fcbereinstimmenden Grundform des Elementarorganismus ausgehen. Wie an dem Elementarorganismus selbst, wo er als bleibende Lebensform andauert, eine Differenzirung der einzelnen Theile eintritt, die durch die \u00e4u\u00dferen Reize angeregt und durch die functionelle Uebung verst\u00e4rkt und befestigt wird, so muss das n\u00e4mliche bei den Theilen des zusammengesetzten Organismus in um so durchgreifenderer Weise erfolgen, je l\u00e4nger dieselben auf ihrer urspr\u00fcnglichen psychophysischen Lebensstufe verbleiben. Einer der","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n359\nwichtigsten Schritte in dieser Ditferenzirung, der allem Anscheine nach eine umfangreichere Arbeitstheilung in dem zusammengesetzten Organismus \u00fcberhaupt erst m\u00f6glich macht, ist die Ausbildung des Nervensystems. Der erste Ansto\u00df zu seiner Bildung liegt wahrscheinlich in der immer weiter fortschreitenden r\u00e4umlichen Sonderung der Sinnes- und der Bewegungszellen, von denen jene an der K\u00f6rperoberfl\u00e4che verbleiben, w\u00e4hrend diese mit zunehmender Organmasse in die Tiefe gedr\u00e4ngt werden, indess zugleich aus den urspr\u00fcnglichen Sinneszellen die Centralzellen des Nervensystems sich aussondern, die auf diese Weise als Mittelglieder zwischen Organe von verschiedenem Functionswerth sich einschalten. Die aus Zellenverl\u00e4ngerungen hervorgehenden Nervenfasern aber stellen ein allgemeines Leitungssystem her, welches, indem es den Zusammenhang der Theile mit den Nervencentren vermittelt, die Gesammtheit der Organe zu einer einzigen functioneilen Einheit verbindet. Dieser physiologischen Einheit muss nach dem Princip der dreifachen Interpretation einerseits ein chemischer Zusammenhang und anderseits eine psychologische Einheit entsprechen. Die erstere gibt sich daran zu erkennen, dass an allen Ern\u00e4hrungs- und BegenerationsVorg\u00e4ngen das Nervensystem wesentlich betheiligt ist: mit dem Hinwegfallen des Nerveneinflusses wird die Ern\u00e4hrung gehemmt; die Neubildung verloren gegangener Organe oder Organ-theile aber ist an die Wiedererzeugung von Nerven gebunden, welche die sich bildenden Elemente mit ihren nerv\u00f6sen Functions-centren und durch diese indirect mit der Gesammtmasse des Organismus in Verbindung setzen. Im Sinne der oben \u00fcber den Zusammenhang der organischen Elemente eingef\u00fchrten Vorstellungen lassen diese Verh\u00e4ltnisse kaum eine andere Deutung zu als die, dass das Holoplasma, das urspr\u00fcnglich gleichf\u00f6rmig zwischen den Elementen des zusammengesetzten Organismus verbreitet ist, mit dem Auftreten des Nervensystems in eine innigere Beziehung zu dem letzteren tritt, indem nun die Nervenelemente die haupts\u00e4chlichsten Zeugungsst\u00e4tten desselben werden. Dies vorausgesetzt werden \u00fcberall die Regenerationen anderer Elemente an die vorherige Erzeugung von Nervensubstanz gebunden sein, da diese letztere jene auf die vorhandenen Elementartheile als Spaltungsferment einwirkende Zwischensubstanz hergibt. Daraus wird es zugleich er-Wundt, Pkilos. Studien. V.\t25","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nW. Wundt.\nkl\u00e4rlich, dass im allgemeinen jede Regeneration von einem noch gebliebenen Organreste ausgehen muss. Denn das durch die Nerven erzeugte Holoplasma kann nur dann wirksam werden, wenn noch Elemente vorhanden sind, deren Vermehrung es durch seine freien Affinit\u00e4tskr\u00e4fte veranlasst.\nDeutlicher als dieser chemische Zusammenhang, den wir that-s\u00e4chlich nur in seinen Wirkungen, in seinen Bedingungen blos hypothetisch zu verfolgen im Stande sind, ist der psychologische Zusammenhang zu erkennen, der jener physiologischen durch das Nervensystem vermittelten Einheit des zusammengesetzten Organismus entspricht. Er findet seinen Ausdruck in dem nun zur Ausbildung gelangten einheitlichen Willen, welcher alle der animalischen Lebenssph\u00e4re angeh\u00f6renden Functionen direct, die \u00fcbrigen organischen Verrichtungen indirect, infolge der Herrschaft die das Nervensystem auch \u00fcber sie aus\u00fcbt, in seine Dienste nimmt. So wenig wie die physiologische Einheit des K\u00f6rpers in irgend einem einzelnen Punkte concentrirt gedacht werden darf, gerade so wenig ist dies mit der Willenseinheit der Fall, sondern sie ist das Resultat eines psychischen Zusammenwirkens der Functionen, welches der physischen Verbindung der Organe genau parallel geht. Dieser einheitliche Wille des Gesammtk\u00f6rpers w\u00fcrde sich darum ohne seine Pr\u00e4formation in dem Elementarwillen des Elementarorganismus ebenso wenig bilden, als die physiologische Einheit des K\u00f6rpers entstehen k\u00f6nnte, ohne nach allen seinen Functionsrichtungen in den physiologischen Eigenschaften der einfachen Zelle schon vorgebildet zu sein. Wie physiologisch der Organismus in Organe sich gliedert, die bis zu einem gewissen Grade selbst\u00e4ndig sind, aber doch durch ihrer aller Verbindung in eine Einheit zusammengefasst werden, so geht auch die Willenseinheit des Gesammtk\u00f6rpers aus der Zusammenfassung einer Summe niederer Willenseinheiten hervor, die zum Theil in den Functionsformen der niederen Centraltheile noch in ihren Spuren zu erkennen sind. Erst der Wille des Gesammtk\u00f6rpers aber fasst alle Sinnes- und Bewegungsfunctionen in eine Einheit zusammen, um zweckm\u00e4\u00dfige Handlungen hervorzubringen, die auf die eigene Organisation zur\u00fcckwirken und dieselbe immer ad\u00e4quater den erstrebten Zwecken gestalten. So l\u00e4sst die Wirksamkeit dieser h\u00f6chsten individuellen","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n361\nWillenseinheit zugleich ein helles Licht fallen auf die objectiv\u00e9 Zweckm\u00e4\u00dfigkeit des lebenden K\u00f6rpers. Vollendet sich doch in ihr was auf den Vorstufen der Willensentwicklung allm\u00e4hlich sich vorbereitet hatte. Jenes von Anfang an alle organischen Bildungen beherrschende Streben, die materiellen Substrate des Lehens zu immer vollkommener werdenden Werkzeugen der Zwecke zu gestalten, die in den Lebensverrichtungen zur Verwirklichung gelangen, bringt der selbstbewusste, zwischen verschiedenen Mitteln nach Zweckmotiven w\u00e4hlende Wille zu einem nicht misszuverstehenden Ausdruck, und er gibt so, da er seihst Vorstufen voraussetzt, aus denen er sich entwickelt hat, in seinem eigenen Einfluss auf das organische Substrat des Lehens einen deutlichen Beweis f\u00fcr die psychophysische Natur der die zweckm\u00e4\u00dfigen Lebensformen hervorbringenden Kr\u00e4fte.\nNun zeigen uns aber gerade die h\u00f6heren selbstbewussten Willenshandlungen, dass nur sehr allm\u00e4hlich und innerhalb absehbarer Zeit stets nur in beschr\u00e4nktem Umfang die Organe, deren sich der Wille zur Ausf\u00fchrung bestimmter Zwecke bedient, diesen Zwecken entsprechend ver\u00e4ndert, und dass so endlich neue Zwecke erm\u00f6glicht werden, die zwar demselben urspr\u00fcnglichen Zweckgebiet angeh\u00f6ren, aber in ihrem qualitativen Inhalt doch von der urspr\u00fcnglichen Zweckform wesentlich abweichen. Innerhalb der engen Grenzen, die so der Natur der Sache nach der directen Nachwei-weisung des Ursprungs der organischen Zweckm\u00e4\u00dfigkeit aus zwecksetzenden Willenstriehen gesteckt sind, k\u00f6nnen immerhin nicht blos die unmittelbar diese Erkl\u00e4rung herausfordernden Einfl\u00fcsse der Uebung, sondern auch jene zahlreichen F\u00e4lle des \u00bbKampfes um\u2019s Dasein\u00ab hierher gerechnet werden, in denen der Wille als der eigentliche Motor des Kampfes erscheint. Insbesondere geh\u00f6ren hierher alle Erscheinungen, hei denen die in der organischen Natur allgemeinen Triebe nach Nahrung und Fortpflanzung einen durch bewusste Gef\u00fchle und Triebe geleiteten Kampf der Individuen und Arten hervorbringen. Sind nun jene beiden Triebe in der weiteren Bedeutung des Wortes schon auf den niedersten Stufen des organischen Lebens als die wichtigsten Factoren aller Entwicklung anzuerkennen, so w\u00fcrde es mit der \u00fcberall ersichtlichen (Kontinuit\u00e4t der Entwicklung im Widerstreit liegen, wollte man annehmen, dass\n25*","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nW. Wundt.\nbei Erscheinungen von so wesentlich \u00fcbereinstimmendem Charakter f\u00fcr verschiedene Stufen der Organisation ganz verschiedene Ursachen anzunehmen seien. Auch wird, sobald wir in dieser Beziehung die Gleichartigkeit der Bedingungen fallen lassen, die Willensentwicklung selbst zu einem R\u00e4thsel : die h\u00f6heren Willenshandlungen k\u00f6nnen dann nicht mehr als Entwicklungsproducte aus einfacheren Th\u00e4tigkeiten derselben Art begriffen werden, sondern sie erscheinen als ein Geschehen, das, durch eine wunderbare Neusch\u00f6pfung entstanden, pl\u00f6tzlich und unvermittelt sich der organischen Materie bem\u00e4chtigt. So ist das genetische Verst\u00e4ndniss der Lebenserscheinungen ebenso an die genetische Auffassung des Willens wie diese an jenes gebunden.\nF\u00fcr die Entwicklung des vom Willen gleichzeitig zum Werkzeug seiner Zwecke und zum H\u00fclfsmittel seiner eigenen Vervollkommnung geschaffenen organischen K\u00f6rpers ist, wie an anderer Stelle auseinandergesetzt wurde, das Princip der Heterogonie der Zwecke von der gr\u00f6\u00dften Bedeutung. Die Verkennung dieses wichtigen Princips, welches die Stetigkeit der Entwicklung wahrt, und doch die unabl\u00e4ssige Entstehung neuer und neuer Lebenserscheinungen begreiflich macht, tr\u00e4gt haupts\u00e4chlich Schuld ebensowohl an der unzureichenden Erkenntniss der wahren Triebkr\u00e4fte des organischen Lebens, wie an den schweren Irrth\u00fcmern, in welche die sonst auf dem richtigen Wege befindlichen \u00e4lteren animistischen Lehren sich verstrickten. Entweder erblickte man hier in der Entwicklung des Lebens ein Handeln nach Zwecken, bei welchem Zweck und Motiv zusammenfielen; oder man verzichtete v\u00f6llig auf einen zwecksetzenden Willen, um sich auf die Annahme willenloser und blos in ihren \u00e4u\u00dferen Effecten zweckm\u00e4\u00dfig scheinender Kr\u00e4fte zur\u00fcckzuziehen. So bildeten die unhaltbaren Anschauungen des Hylozoismus und des Vitalismus die Klippen, an denen der Versuch, der objectiven Zweckm\u00e4\u00dfigkeit des Lebens gerecht zu werden, immer wieder scheiterte. Nur aus dem sch\u00e4dlichen Her\u00fcberwirken der mechanischen Causalit\u00e4tsbegriffe ist dieser Misserfolg zu begreifen. Die unbefangene Auffassung jeder beliebigen zweckbewussten Willenshandlung und ihrer Uebungserfolge h\u00e4tte zureichen sollen, dieses Vorurtheil zu zerstreuen, welches schlie\u00dflich nur dazu f\u00fchren konnte, den objectiven Zweckbegriff, mochte man ihn nun","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n363\nfestlialten oder nicht, f\u00fcr unvereinbar mit jeder wahren Causalit\u00e4t zu halten. In der That w\u00fcrde dieses Ergebniss unvermeidlich sein, wenn der Zweckbegriff \u00fcberhaupt der physikalischen Seite der Erscheinungen urspr\u00fcnglich angeh\u00f6rte. Da aber die organische Natur nur insofern objectiv zweckm\u00e4\u00dfig erscheint, als wir sie ausdr\u00fccklich oder stillschweigend als ein Erzeugnis der in dem organischen Leben wirksam werdenden Willensth\u00e4tigkeiten auffassen, so bleibt es damit vollkommen vereinbar, dass sich vom physiologisch-chemischen Standpunkte aus die Lebenserscheinungen den allgemeinen Gesetzen der Naturcausalit\u00e4t einf\u00fcgen, wie das Princip der dreifachen Interpretation dies verlangt. Vervielf\u00e4ltigung der Zwecke und Wachsthum der geistigen Energie stehen hiermit durchaus nicht im Widerspruch. Denn da dieses Wachsthum nur in der qualitativen Vervollkommnung der organischen Bildungen besteht, so bleibt die quantitative Ma\u00dfbestimmung der physikalisch- f chemischen Energien hiervon vollkommen unber\u00fchrt. Wir sagen von einer Dampfmaschine, sie verwerthe die in der verbrannten Kohle enthaltene latente Energie vollkommener und mannigfaltiger als ein gew\u00f6hnlicher Ofen; eine Maschine mit sinnreichen Einrichtungen der Selbstregulirung stellen wir in unserer Zweckbeurthei-lung wieder \u00fcber einen einfachen Dampfmotor. Gleichwohl bleibt in diesen drei F\u00e4llen, so lange nur das n\u00e4mliche Quantum Kohle zur Verf\u00fcgung steht, die absolute Gr\u00f6\u00dfe der physikalischen Energie unver\u00e4ndert. So ist auch durch allen Fortschritt der organischen Entwicklung die Quantit\u00e4t der Naturkr\u00e4fte ebenso wenig wie die Quantit\u00e4t der Materie vermehrt worden. Aber an Werth haben die Naturkr\u00e4fte und ihre Substrate durch die Entwicklung des organischen Lebens in\u2019s unermessliche zugenommen. Sind doch durch die Entstehung zweckth\u00e4tiger Willenshandlungen und der an sie gebundenen Vorstellungen und Gef\u00fchle Werthbestimmungen \u00fcberhaupt erst m\u00f6glich, zugleich aber nothwendig geworden, so dass nunmehr das nach Zwecken handelnde Bewusstsein die Vorbedingungen seiner eigenen Entstehung, ebenso wie die weiteren Entwicklungen, an denen es theilnimmt, in Bezug auf Inhalt und Umfang der erreichten Lebenszwecke einer allgemeinen Werthbestimmung unterwirft. Indem die Untersuchung des Ursprungs der Lebenserscheinungen \u00fcberall psychophysische Bedingungen als urspr\u00fcnglich ge-","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nW. Wundt.\ngebene vorfindet, gewinnt diese subjective Betrachtung zugleich objective und reale Bedeutung. Jene Zweckm\u00e4\u00dfigkeit der organischen Natur, welche sie zum Werkzeug h\u00f6herer zweckbewusster Willensth\u00e4tigkeiten macht, erweist sich so als eine nothwendige Folge der von Anfang an die fundamentalen Formen des Lebens beherrschenden Willenstriebe. Nur deshalb kann der Wille auf den vollkommeneren Stufen des Lebens sich selbst als den Beherrscher des lebenden K\u00f6rpers entdecken, weil er von Anfang an solche Herrschaft ausge\u00fcbt und auf diese Weise sich allm\u00e4hlich in dem K\u00f6rper, den er zu einer functioneilen Einheit zusammenfasst, das H\u00fclfsmittel zur Bealisirung seiner Zwecke und gleichzeitig durch die Ver\u00e4nderungen, welche jede Zweckleistung zur\u00fcckl\u00e4sst, das Substrat seiner eigenen Weiterentwicklung geschaffen hat.\n7. Problem der Vererbung. Periodicit\u00e4t der Entwicklung.\nDie M\u00f6glichkeit einer solchen Weiterentwicklung ist nun an eine Forderung gebunden, welche in den vorangegangenen Er\u00f6rterungen \u00fcberall stillschweigend vorausgesetzt wurde, deren n\u00e4here Begr\u00fcndung aber noch aussteht. Es ist dies die Forderung, dass die Ver\u00e4nderungen der Organisation, welche durch das Zusammenwirken innerer und \u00e4u\u00dferer Bedingungen hervorgerufen werden, im Wege der Fortpflanzung von einer Generation auf die andere \u00fcbergehen, indem die Vererbung der Eigenschaften jene Continuit\u00e4t der Entwicklung herstellt, verm\u00f6ge deren urspr\u00fcnglich geringf\u00fcgige Unterschiede allm\u00e4hlich gr\u00f6\u00dfer und gr\u00f6\u00dfer werden.\nDie Vererbung ist eine allgemein best\u00e4tigte Thatsache der Beobachtung und als solche ebenso wenig anfechtbar wie die Eigenschaft der organischen Wesen, unter dem Einfluss bestimmter Lebensbedingungen ver\u00e4ndert zu werden. Sie findet nicht blos in der durchg\u00e4ngig vorhandenen Aehnlichkeit der Nachkommen mit ihren Erzeugern ihre allgemeine Best\u00e4tigung, sondern sie erstreckt sich auch auf die besondere zeitliche Aufeinanderfolge, in welcher w\u00e4hrend des individuellen Lebens gewisse Eigenschaften in die Erscheinung treten und einander abl\u00f6sen. In dieser Beziehung scheint nur darin im Laufe vieler Generationen eine Aenderung einzutreten, dass bestimmte Eigenschaften mehr und mehr die Ten-","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n365\ndenz gewinnen bei den Nachkommen zeitlich fr\u00fcher zu erscheinen, als sie hei den Voreltern entstanden waren. Gerade die letztere innerhalb engerer Grenzen durch die Beobachtung nachweisbare Thatsache l\u00e4sst es, sobald man von der Annahme ausgeht, dass die Eigenschaften der zusammengesetzten Organismen s\u00e4mmtlich erst im Laufe der Entwicklung erworben wurden, im allgemeinen schon auf Grund der blo\u00dfen Vererbung begreiflich erscheinen, dass die Lebensgeschichte des Individuums eine abgek\u00fcrzte Wiederholung der muthma\u00dflichen Lebensgeschichte der Art ist, welcher das Individuum angeh\u00f6rt. Nimmt man demgem\u00e4\u00df an, dass die ganze Entwicklungsgeschichte eines Wesens, abgesehen von den w\u00e4hrend des Einzellebens unbedeutenden Erfolgen individueller Ab\u00e4nderung, eine Wirkung der Vererbung sei, so kann nun aber offenbar auch umgekehrt die individuelle Entwicklungsgeschichte benutzt werden, um aus ihr hypothetisch die Lebensgeschichte der Art zu reconstruiren. In der That ist die Annahme, dass alle zusammengesetzten Organismen aus einfachen den heutigen Protozoen gleichenden Formen hervorgegangen seien, vornehmlich durch diesen R\u00fcckschluss entstanden, da die Keim- und Eizellen der h\u00f6heren Pflanzen und Thiere im wesentlichen jenen bleibenden Elementarorganismen gleichen. Als unterst\u00fctzendes Moment hat aber freilich bei dieser Annahme auch die Erw\u00e4gung mitgewirkt, dass unter gewissen in der Natur m\u00f6glichen Bedingungen allein eine Urzeugung einfachster Lebensformen begreiflich ist.\nSo zweifellos jedoch die thats\u00e4chliche Existenz der Vererbung zugegeben werden muss, und so wahrscheinlich, ja nothwendig die Annahme ihres Einflusses auf die organische Entwicklung ist, sofern man in irgend einer Form die Entwicklungstheorie acceptirt, so gro\u00dfe Schwierigkeiten erheben sich, wenn es sich um die Aufgabe handelt, die Thatsachen, die man unter dem Begriff der Vererbung zusammenfasst, unserem Verst\u00e4ndnisse n\u00e4her zu bringen. Auch in diesem Fall bleibt der Versuch, die Erscheinungen nach der Analogie anderer, wohl bekannter physikalisch-chemischer Vorg\u00e4nge zu beurtheilen, vorl\u00e4ufig das einzige H\u00fclfsmittel. Zwei allgemeine Analogien stehen hier zu Gebote. Entweder kann man an die Wirkungen latenter Naturkr\u00e4fte denken und annehmen, jeder organische Keim enthalte bereits in gebundener Form alle aus ihm","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nW. Wundt.\nhervorgehenden Bildungen, so dass es nur der Einwirkung bestimmter Lebensreize bed\u00fcrfe, um dieselben in gesetzm\u00e4\u00dfiger Reihenfolge zur Entwicklung zu bringen. Oder man kann von dem Beispiel der Contactwirkungen ausgehen, indem man den Keimen die F\u00e4higkeit zuschreibt, in anderen organischen Stoffen Vorg\u00e4nge anzuregen , aus denen sich eine Lebensentwicklung von bestimmter Form zusammensetzt. Die \u00e4ltere Physiologie bezeichnete Vorstellungen der ersteren Art als Hypothese der Evolution, solche der zweiten als Hypothese der Epi gene sis. Da nun die von der\nersteren angenommenen latenten Triebkr\u00e4fte des Keimes verm\u00f6ge\n\u00a9\nder ungeheuer verwickelten Beschaffenheit der Lebensbewegungen, die sie anregen, zu anderen Formen latenter Naturkr\u00e4fte keine verst\u00e4ndlichen Beziehungen darhieten, so verfiel die Evolutionshypothese unvermeidlich dem Vitalismus. Die latente Kraft des Keimes sollte in einem von Anfang an in demselben gelegenen Organisationsplan bestehen, welcher dann in der wirklichen Entwicklung zur Ausf\u00fchrung gelange. Indem sich diese Vorstellung mit der weiteren verband, dass in jedem organisationsf\u00e4higen Keim auch bereits die Anlagen f\u00fcr die Entwicklungen sp\u00e4ter kommender Generationen enthalten seien, -f\u00fchrte die Evolutions- zur so genannten Einschachtelungshypothese, nach welcher alle Lebensentwicklungen von Anfang an in Gestalt einer unendlich gro\u00dfen Summe f\u00fcr jede Species verschiedener und in den urspr\u00fcnglich geschaffenen Formen schon enthaltener Keime pr\u00e4formirt sind. So gelangte man zu einer eigenth\u00fcmlichen Pr\u00e4existenzlehre, bei der\u2019 zugleich eine absolute Stabilit\u00e4t der Artformen vorausgesetzt war. Befreundeter stellte sich die epigenetische Hypothese zur Aufgabe einer physikalisch- chemischen Interpretation der Lebensvorg\u00e4nge. Das Schema der Contactw\u00fcrkung, so weit es auch in dieser Anwendung davon entfernt blieb auf sicher bekannte Vorg\u00e4nge zur\u00fcckgef\u00fchrt zu werden, bot doch wenigstens das allgemeine Bild einer Reihe naturgesetzlich einander folgender Ausl\u00f6sungen, f\u00fcr die man sich das Postulat mechanischer Causalit\u00e4t erf\u00fcllt denken konnte. So kommt es, dass der Widerstreit beider Hypothesen im wesentlichen als ein auf das Gebiet der Generationslehre verpflanzter Kampf der physiologischen Grundanschauungen des Vitalismus und Mechanismus gelten kann.","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n367\nDieser Stand der Dinge hat sich in neuerer Zeit insofern ge\u00e4ndert, als die Annahme einer Constanz der Artformen von keiner Seite mehr aufrecht erhalten wird, so dass die Evolutionshypothese in ihrer einstigen Gestalt hinf\u00e4llig geworden ist. Dennoch beginnt sie in etwas ver\u00e4nderter Form in einigen neueren Entwicklungshypothesen wieder aufzuleben. So ist die Annahme, dass alle Vererbung auf einer die Generationen \u00fcberdauernden Continuit\u00e4t des Keimplasmas beruhe, Offenbar eine Modification der vormaligen Einschachtelungstheorie1 2). Indem hier angenommen wird, bei jeder Vermehrung werde ein Theil des Keimplasmas der elterlichen Eizelle nicht zum Aufbau des kindlichen Organismus verbraucht, sondern f\u00fcr die Bildung der Keimzellen der kommenden Generation zur\u00fcckbehalten , ist die Aehnlichkeit der Nachkommen mit ihren Erzeugern wiederum auf eine substantielle Identit\u00e4t zur\u00fcckgef\u00fchrt, welche durch Generationen hindurch alle Individuen des n\u00e4mlichen Ursprungs mit einander verbindet 2). Man muss zugeben, dass in Vorstellungen dieser Art eine begreifliche Reaction gegen jene \u00e4u\u00dferliche Meclianisirung der epigenetischen Theorie gelegen war, wie sie Darwin\u2019s \u00bbprovisorische Hypothese der Pangenesis\u00ab durchgef\u00fchrt hatte. Da nach ihr jeder Theil des Organismus an die Keimzellen Elemente abgibt, welche bei der Entwicklung der letzteren die Theile, von denen sie heTstammen, wieder erzeugen, so erscheint es als eine nothwendige Folgerung aus dieser Voraussetzung, dass Ver\u00e4nderungen, welche die Organe w\u00e4hrend des individuellen Lebens erfahren, ebenso gut sich vererben wie die ihnen urspr\u00fcnglich zukommenden Eigenschaften. Dass dies nicht, zutrifft, steht aber au\u00dfer Zweifel. Erworbene Verst\u00fcmmelungen vererben sich jedenfalls nur in \u00e4u\u00dferst seltenen F\u00e4llen. Die Theorie der Continuit\u00e4t des Keimplasmas geht daher umgekehrt von dem Satze aus, dass\n1)\tA. Weismann, Die Continuit\u00e4t des Keimplasma als Grundlage einer Theorie der Vererbung. Jena 1885.\n2)\tVerwandt ist die Annahme N\u00e4geli\u2019s (Mechanisch - physiologische Abstammungslehre S. 102 ff.). Nur verlegt derselbe die Continuit\u00e4t der Entwicklung in das von ihm als allgemeine Ger\u00fcstsubstanz angenommene Idioplasma und schreibt diesem, neben der Tendenz seine Eigenschaften fortzupflanzen, noch ein Streben der Vervollkommnung zu, das allm\u00e4hlich zur Entstehung neuer Artformen f\u00fchre. Dadurch werden augenscheinlich nur die alten Vorstellungen des Vitalismus der Entwicklungstheorie angepasst.","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nW. Wundt.\nimmer nur die der Keimanlage urspr\u00fcnglich zukommenden, nie aber erworbene Eigenschaften sich vererben k\u00f6nnen. Damit ger\u00e4th sie freilich nicht minder mit der Erfahrung in Widerspruch. Dass Ver\u00e4nderungen, welche w\u00e4hrend des Lebens infolge der oben er\u00f6rterten Wechselwirkungen innerer Ursachen und \u00e4u\u00dferer Lebensbedingungen erworben wurden, auf die Nachkommen \u00fcbergehen, ist unzweifelhaft; und es scheint an und f\u00fcr sich v\u00f6llig unm\u00f6glich, ohne die Vererbung solcher Ver\u00e4nderungen die Anpassung an alle diejenigen Lebensbedingungen zu erkl\u00e4ren, die erst im entwickelten Zustand zur Wirkung gelangen. Auf die Herbeiziehung der bis jetzt fast allein dieses Dunkel einigerma\u00dfen erhellenden psychophysischen Uebungseinfl\u00fcsse vollends m\u00fcsste man g\u00e4nzlich Verzicht leisten, um daf\u00fcr nur die unbestimmte Annahme von Ver\u00e4nderungen des Keimplasmas infolge der Mischung der Zeugungsstoffe einzutauschen. Wie diese Ver\u00e4nderungen aber zu einem zweckm\u00e4\u00dfigen Verh\u00e4ltniss von Function und Lebensbedingung gef\u00fchrt haben, w\u00fcrde wieder nur durch eine wunderbare Anh\u00e4ufung zuf\u00e4lliger Variationen erkl\u00e4rlich werden. Gegen\u00fcber diesem verwegenen Spiel des Zufalls ist vom empirischen Standpunkte aus lediglich an der allein durch die Erfahrung zu erweisenden Voraussetzung festzuhalten, dass die wichtigste Triebfeder f\u00fcr die Vervollko mmnung und Differenzirung der Functionen in der Aus\u00fcbung der Functionen selber und in den bleibenden Wirkungen dieser Uebung gelegen ist. Wenn aber die Resultate der Uebung von Generation zu Generation sich fortpflanzen und befestigen sollen, so muss es eine Vererbung erworbener Eigenschaften geben. In der That ist es augenf\u00e4llig, dass die pl\u00f6tzlich und die allm\u00e4hlich erworbenen Eigenschaften in Bezug auf Vererbungsf\u00e4higkeit durchaus nicht auf gleiche Linie zu stellen sind. Nur die letzteren bewirken, namentlich indem bei ihnen die Wirkungen der Correlation der Theile in\u2019s Spiel kommen, eine Umbildung, welche unter g\u00fcnstigen Bedingungen erhalten bleibt, gem\u00e4\u00df der allgemeinen Erfahrung, dass die im Laufe der generellen wie der individuellen Entwicklung eingetretenen Ver\u00e4nderungen um so beharrlicher sind, je langsamer sie eintraten ').\n1) Mannigfache Zeugnisse f\u00fcr die Vererbung erworbener Eigenschaften sind, abgesehen von den fr\u00fcheren, nicht immer zuverl\u00e4ssigen Beispielen Darwin s","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n369\nSollen nun die Erscheinungen der Vererbung mit anderen besser bekannten Vorg\u00e4ngen in Beziehung gebracht werden, so d\u00fcrfen wir vor allem nicht von der Vorstellung ausgehen, dass, wie man sich ausgedr\u00fcckt hat, die Vererbung ein \u00bbmorphologischer, kein physikalisch-chemischer Vorgang\u00ab sei, sondern wir werden im Gegentheil an der schon den einfachsten Lebenserscheinungen zu Grunde gelegten Voraussetzung auch hier festhalten m\u00fcssen, dass jeder morphologische zugleich ein physikalisch-chemischer Vorgang ist, ausgezeichnet vor anderen nur dadurch, dass bestimmte chemische Processe verm\u00f6ge der h\u00f6chst zusammengesetzten Beschaffenheit der Molec\u00fcle, an denen sie vor sich gehen, gleichzeitig als morphologische Vorg\u00e4nge in die Erscheinung treten. Dies vorausgesetzt enth\u00e4lt nun die fr\u00fcher \u00fcber die physiologisch - chemische Natur der Wachsthums- und Spaltungsprocesse des Elementarorganismus entwickelte Grundanschauung im wesentlichen bereits die principielle L\u00f6sung des Problems der Vererbung. In jenem einfachsten Fall ist ja der Begriff der Vererbung nur ein teleologischer Ausdruck f\u00fcr die in dem chemischen Verhalten des Elementarorganismus begr\u00fcndete Eigenschaft, zuerst durch Anlagerung polymerer Atomgruppen zu wachsen und dann durch die Wirkung der in den Kerngebilden abgelagerten Fermente in zwei dem urspr\u00fcnglichen gleiche Gesammtmolec\u00fcle zu zerfallen, an denen sich nun der n\u00e4mliche Process des Wachsthums und der Spaltung in einer \u00e4hnlichen Zeitfolge wiederholt. Diese Wiederholung der Processe an morphologisch und chemisch einander gleichenden Stoffgruppi-rungen, von denen zugleich die sp\u00e4teren durch einen Spaltungs-process aus den fr\u00fcheren hervorgegangen sind, nennen wir eben V er erbung.\nSoll nun diesem Begriff \u00fcberall die n\u00e4mliche Bedeutung zukommen, so wird auch \u00fcberall das n\u00e4mliche causale Substrat f\u00fcr denselben anzunehmen sein. In der That bleibt ja beim zusammengesetzten Organismus die Wiederkehr einer bestimmten, durch Vererbung \u00fcberkommenen Eigenschaft stets an die Wiederholung vorangegangener, im Laufe der Entwicklung entstandener physi-\n(Variiren der Thiere und Pflanzen, I. S. 1 ff.), mit R\u00fccksicht auf die Einw\u00fcrfe Weismann\u2019s namentlich gesammelt worden von Eimer, Die Entstehung der Arten. I. S. 84 ff.","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nW. Wundt.\nkalisch-chemischer Bedingungen gekn\u00fcpft. Diese l\u00f6sen sich aber hier in eine Reihe von Elementarvorg\u00e4ngen auf, die den Wachsthums- und Spaltungsprocessen des einfachen Organismus \u00e4hnlich, nur dadurch von ihnen verschieden sind, dass jeder an den vorherigen und gleichzeitigen Eintritt zahlloser anderer Elementarvorg\u00e4nge gebunden ist, mit denen er infolge des Zusammenhangs der Organe zugleich in n\u00e4herer oder entfernterer causaler Beziehung steht. Nun haben wir jenen Zusammenhang auf das Entstehen einer Zwischensuhstanz, des Holoplasmas, zur\u00fcckgef\u00fchrt, welche durch freie Affinit\u00e4ten alle Organe des K\u00f6rpers zu einer physiologisch-chemischen Einheit verbinde. Demgem\u00e4\u00df werden wir dieser Zwischensubstanz die n\u00e4mliche Wirkung, die schon bei den Regenerationsvorg\u00e4ngen angenommen wurde, auch hei der urspr\u00fcnglichen Entwicklung zuschreiben m\u00fcssen, die ja selbst als ein Regenerations-process von genereller Bedeutung aufgefasst werden kann. An jeder Stelle wird das Holoplasma so lange im Laufe der Entwicklung wiederholte SpaltungsVorg\u00e4nge anregen, bis ein Gleichgewicht der Affinit\u00e4tswirkungen eingetreten ist. Jede allm\u00e4hlich eingetretene Aenderung der Organisation aber wird geringe Unterschiede in der Constitution der Zellen und der sie umgebenden Zwischensubstanz hervorbringen, welche eine entsprechende Ver\u00e4nderung der Affinit\u00e4tswirkungen und im Gefolge derselben in den Entwicklungen der folgenden Generationen die n\u00e4mlichen Eigenschaften erzeugen. Jene feineren Unterschiede, welche innerhalb des gemeinsamen Artcharakters die durch Abstammung n\u00e4her verbundenen Individuen auszeichnen, sind so, wie die Reduction des Entwicklungsproblems auf das Vererbungsproblem es verlangt, auf die n\u00e4mlichen Bedingungen zur\u00fcckgef\u00fchrt, die im Laufe einer unz\u00e4hlbaren Reihe von Generationen die Arbeitstheilung der Zellen und ihre Umwandlungen in die verschiedenen Gewebe und Organe bewirkten. Nie darf aber bei dieser physiologisch-chemischen Interpretation aus dem Auge verloren werden, dass die Molec\u00fcle, welche die organischen Elementartheile zusammensetzen, wegen ihres ungemein verwickelten Aufbaues leicht Aenderungen in der Atomgruppirung erfahren k\u00f6nnen, die dann wieder von weittragender Wirkung auf die eintretenden Folgezust\u00e4nde werden.\nUnter den zahllosen Elementar Vorg\u00e4ngen, aus denen sich die","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n371\nEntwicklung des Organismus zusammensetzt, ist es nun besonders einer, der stets als der schwierigste Theil des Problems der Vererbung erschienen ist : die Abl\u00f6sung der Keimzelle vom elterlichen K\u00f6rper. Die Bedeutung dieses Elementarvorgangs beruht auf der F\u00e4higkeit der Keimzelle, jene ganze Generationsfolge von Elementen aus sich zu erzeugen, deren regelm\u00e4\u00dfig einander folgende Spaltungen eben das bilden, was wir die Entwicklungsgeschichte nennen. Da in der entwicklungsf\u00e4higen Keimzelle alle Vererbungsanlagen, welche sp\u00e4ter zur Verwirklichung gelangen, vorgebildet sein m\u00fcssen, so erscheinen hier jene Annahmen, welche die zu vererbenden Eigenschaften selbst schon irgendwie in ihr pr\u00e4formirt annehmen, sei es verm\u00f6ge einer substantiellen Continuit\u00e4t des Keimplasmas, sei es mit H\u00fclfe des Uebergangs unz\u00e4hliger Organkeime in die Samenelemente und Eizellen, als die n\u00e4chstliegen-den Versuche einer L\u00f6sung des Problems. In Wahrheit aber t\u00e4uschen dieselben \u00fcber das Problem hinweg, statt es zu l\u00f6sen. Die \u00bbContinuit\u00e4t des Keimplasmas\u00ab setzt an die Stelle der in der Beobachtung sich darbietenden Wiederkehr functioneller Vorg\u00e4nge an wechselnden Substanzcomplexen eine Identit\u00e4t der Substanz, welche nicht nachzuweisen ist, und welche, wenn sie nachweisbar w\u00e4re, die Pr\u00e4ge nicht beantworten w\u00fcrde. Die \u00bbPangenesis\u00ab gibt statt einer L\u00f6sung lediglich eine Vervielf\u00e4ltigung des Problems.\nAuch hier ist zun\u00e4chst an die Bedeutung zu erinnern, welche bei dem primitiven Zeugungsvorgang, bei der Spaltung des Elementarorganismus , den neugebildeten Zellen gegen\u00fcber den untergegangenen zukommt. Diese Bedeutung besteht darin, dass in jenen der Jugendzustand der letzteren, wie er der infolge der Polymerisi-rung eingetretenen Lockerung des chemischen Gef\u00fcges vorausging, sich wieder erneuert. Zu dieser Erneuerung ist keineswegs eine Erhaltung der fr\u00fcheren Substanzelemente erforderlich. Vielmehr bringt es der den Lebensprocess bildende Wechsel der Stoffe mit sich, dass jedenfalls die meisten, bei einer irgend l\u00e4nger dauernden organischen Form wahrscheinlich alle Elemente, die dem Jugendzustand der vorangegangenen Generation angeh\u00f6rten, beim Beginn der neuen verschwunden sind. Das einzige Erforderniss bleibt eine Continuit\u00e4t der chemischen Vorg\u00e4nge, welche bei allem Wechsel der Elemente die Grundform der Verbindung bestehen","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"W. Wundt.\n3^2\nl\u00e4sst. Nun sahen wir schon die Zeugung des Elementarorganismus an besondere Bestandteile des Zelleninhaltes von eigent\u00fcmlichem morphologischem und chemischem Werth, die Kerngebilde, gebunden, die, in dem Augenblick wo die Lockerung der Plasmabestand-theile hinreichend wreit fortgeschritten ist, die Rolle von Spaltungsfermenten \u00fcbernehmen. Mit der Entwicklung des zusammengesetzten Organismus treten in allen einzelnen Zellen solche Spaltungsfermente auf, um unter Mitwirkung der Affinit\u00e4ten des Holoplasmas bei dem Wachstum der Organe sowie bei allen Regenerationsvorg\u00e4ngen in Wirksamkeit zu treten. Zugleich aber wird die Energie dieser Spaltungsfermente eine in den functioneil verschiedenen Elementen wesentlich abweichende sein, und im allgemeinen ist sie gegen\u00fcber der chemischen Energie der urspr\u00fcnglichen Zeugungsfermente eine erheblich verminderte. Quantitativ spricht sich dies darin aus, dass die Spaltungsf\u00e4higkeit zumeist nach wenigen Zellengenerationen ersch\u00f6pft ist; qualitativ darin, dass jedes morphologische Element in der Regel nur ihm gleichartige Elemente hervorzubringen vermag. Wahrscheinlich h\u00e4ngt dieser Energieverlust unmittelbar mit der Thatsache zusammen, dass die ungeheure Mehrzahl der Elementartheile des zusammengesetzten Organismus die F\u00e4higkeit der Conjugation, also auch die M\u00f6glichkeit durch Vermischung mit Kerngebilden anderer Abstammung die urspr\u00fcngliche Spaltungsenergie wieder zu erlangen eingeb\u00fc\u00dft hat. Es liegt nahe diese Ver\u00e4nderung mit dem Auftreten des Holoplasmas in Beziehung zu bringen. Wie dieses durch freie Affinit\u00e4ten benachbarte Zellen mit einander verbindet, so kann es auch durch die n\u00e4mliche Eigenschaft die Affinit\u00e4tswirkungen zwischen den Kerngebilden verschiedener Zellen aufheben, so dass damit jene Quelle der Veij\u00fcngung abgeschnitten ist, durch welche allein der Elementarorganismus auf die urspr\u00fcngliche Stufe seiner Reproductionsf\u00e4higkeit zur\u00fcckzukehren vermag.\nIn dieser Beziehung sind nun die morphologischen Vorg\u00e4nge, welche die Reifung der Keimzellen begleiten, wieder bedeutsame \u00e4u\u00dfere Anzeichen f\u00fcr den chemischen Werth dieser Erscheinungen. Jene Vorg\u00e4nge bestehen n\u00e4mlich in einer Losl\u00f6sung der Zellen aus der Umgebung, mit der sie organisch Zusammenh\u00e4ngen, wodurch eine vollst\u00e4ndige Trennung derselben von dem elterlichen Organismus bewirkt wird, wie sie, abgesehen von absterbenden Elementen,","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n373\nsonst nirgends sich ereignet. Hiernach m\u00fcssen die Keimzellen die Eigenschaft haben, wahrscheinlich infolge der Abgabe von Stoffen, welche die Affinit\u00e4ten des benachbarten Holoplasmas s\u00e4ttigen, wieder in den Zustand freier Gesammtmolec\u00fcle \u00fcberzugehen, in welchem sie nun die F\u00e4higkeit besitzen den gesammten Cyklus von Processen, aus welchem sie selber hervorgingen, von sich aus wieder anzuregen. Dieser Cyklus ist eine Wiederholung der Lebensgeschichte der Art, indem hier wie dort jeder gegebene Zustand die Bedingungen zur Erzeugung des ihm zeitlich folgenden Zustandes in sich tr\u00e4gt. W\u00e4hrend aber bei der urspr\u00fcnglichen Entwicklung einer Artform ein neuer Zustand aus dem vorangehenden immer durch die psychophysische Wechselwirkung \u00e4u\u00dferer und innerer Bedingungen entsprang, besteht bei der individuellen Entwicklung die treibende Kraft lediglich in jenen Affinit\u00e4ts- und Spaltungswirkungen, welche in ihrer wechselseitigen causalen Verkettung den Ablauf des Lebensprocesses ausmachen. Der Zusammenhang dieser Wirkungen mit ihren urspr\u00fcnglichen psychophysischen Bedingungen, als deren physische Residuen sie erscheinen, l\u00e4sst sich auch hier wieder dem allgemeinen Schema der Uebungs-erfolge subsumiren. Jene Lebensschicksale des Elementarorganismus, welche die Entstehung eines Metazoon bedingen, m\u00fcssen zugleich auf jedes zu selbst\u00e4ndiger Entwicklung sich abl\u00f6sende Spaltungs-product eine Wirkung aus\u00fcben, welche die Affinit\u00e4ten der Elementarstoffe in solchem Sinne \u00e4ndert, dass die n\u00e4mliche Folge von Wachsthums- und Spaltungsvorg\u00e4ngen wiederkehrt. Denkt man sich nun diesen Vorgang auf die ungeheure Summe morphologisch-chemischer Bestandteile \u00fcbertragen, welche einen zusammengesetzten Organismus auf bauen, so wird dadurch die Regelm\u00e4\u00dfigkeit in der Aufeinanderfolge der Entwicklungszust\u00e4nde und die allgemeine Uebereinstimmung der individuellen Lebensgeschichte mit der Artgeschichte wenigstens im allgemeinen begreiflich. In letzterer Beziehung namentlich wiederholt sich in dem Entwicklungsverlauf die n\u00e4mliche Mechanisirung psychischer Vorg\u00e4nge, wie sie uns in der Ausbildung jener zahlreichen Einrichtungen der Selbstregulirung entgegentritt, die w\u00e4hrend des individuellen Lebens sich ausbilden. Da jeder einzelne Organismus durch den Keim, aus welchem er sich entwickelt hat, mit einer unabsehbaren Reihe","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nW. Wundt.\nvorangegangener Generationen functionell verbunden ist, so steht in der That dieser Ausdehnung des Begriffs der Mechanisirung kein principielles Bedenken im Wege, so unausf\u00fchrbar auch die Ableitung im einzelnen vorl\u00e4ufig und vielleicht f\u00fcr immer erscheinen mag. Was im wesentlichen schon f\u00fcr das Individuum, das gilt aber nat\u00fcrlich in noch h\u00f6herem Grade f\u00fcr den Zusammenhang der Generationen: jeder Uebergang von Uebungserfolgen in mechanisch wirksame Selbstregulirungen setzt einen function eilen, keinen substantiellen Zusammenhang voraus, oder letzteren doch nur insoweit, als derselbe zur stetigen Verbindung der einander folgenden Lebenszust\u00e4nde erforderlich ist.\nWenn bei dieser Behandlung des Vererbungsproblems nach chemischen Analogien von einer physiologischen, namentlich aber von einer psychologischen Deutung abgesehen, also die Hegel der dreifachen Interpretation der Lebensvorg\u00e4nge anscheinend verlassen wurde, so darf wohl darauf hingewiesen werden, wie eben hierin der heuristische Werth jener Regel besteht, dass sie von den drei an sich m\u00f6glichen Deutungen immer diejenige zu w\u00e4hlen gestattet, welche djirch die besonderen Bedingungen des Falls die n\u00e4chst-liegende ist. Das ist hier wegen der Gebundenheit aller Vererbungserscheinungen an die materiellen Substrate der organischen Entwicklung die Auffassung der Vorg\u00e4nge von ihrer chemischen Seite. Daneben bleibt dann nicht ausgeschlossen, dass die anderen Formen der Erkl\u00e4rung insoweit Platz greifen, als die hierzu erforderlichen Bedingungen erf\u00fcllt sind. In der That werden die auf einander folgenden Vorg\u00e4nge der Zellentheilung und alle unter dem Einfluss protoplasmatischer Bewegungen eintretenden Formbildungen vom physiologischen Gesichtspunkte aus als Reizungserscheinungen aufgefasst werden k\u00f6nnen; und nicht minder werden diese elementaren Bewegungsvorg\u00e4nge wiederum psychologisch als einfache Triebacte schon um deswillen anzusehen sein, weil die entwickelten psychischen Leistungen des Gesammtorganismus noth-wendig in den Eigenschaften der ihn zusammensetzenden Elementarorganismen auf niedrigerer Stufe vorgebildet sein m\u00fcssen. Aber gerade f\u00fcr die specifische Beschaffenheit der Vererbungserscheinungen erweisen sich diese beiden, \u00fcberall wo es auf das Verst\u00e4ndnis der functioneilen Seite der Vorg\u00e4nge ankommt unerl\u00e4sslichen","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n37S\nBetrachtungsweisen als ganz und gar unfruchtbar. Denn functioneil f\u00fchren alle hier in R\u00fccksicht kommenden Leistungen nicht \u00fcber die Stufe hinaus, die bei dem einzelnen Elementarorganismus schon erreicht war. Wohl aber ist die Vererbung eines der bedeutsamsten Zeugnisse f\u00fcr die nachhaltige Wirkung, welche die auf bestimmte Lebenszwecke gerichteten organischen Functionen auf ihr eigenes materielles Substrat aus\u00fcben, und durch welche sie dieses in ein immer vollkommeneres Werkzeug jener Zwecke umwandeln. Die Frage, wie solches m\u00f6glich sei, l\u00e4sst sich aber nur beantworten, indem man die Voraussetzungen \u00fcber die chemischen Eigenschaften dieses Substrates nach Ma\u00dfgabe der zu Gebote stehenden chemischen Analogien zu gestalten sucht.\n8. Selbstregulirungen im entwickelten Organismus.\nMechanisirung der Lebensvorg\u00e4nge.\nTreten nun so die physiologische und psychologische Seite der biologischen Interpretation speciell bei dem Vererbungsproblem in den Hintergrund, so dr\u00e4ngen sich beide um so bedeutsamer hervor, wenn es sich um die Erkl\u00e4rung jener zusammengesetzten Lebenserscheinungen handelt, welche der entwickelte Organismus darbietet. Physiologisch betrachtet bildet dieser ein zu einheitlichen Zwecken verbundenes System von Organen, welches zugleich mit \u00e4u\u00dferst wirksamen Einrichtungen der Selbstregulirung ausgestattet ist, verm\u00f6ge deren ein Ausfall oder eine unzweckm\u00e4\u00dfige Ab\u00e4nderung einzelner Functionen durch anderweitige functionelle Aush\u00fclfen compensirt, sowie nicht minder die Beschaffenheit und Functionsweise der Organe allm\u00e4hlich dem ver\u00e4ndernden Einfl\u00fcsse \u00e4u\u00dferer Bedingungen angepasst wird. Gerade darauf beruht die Bedeutung des Nervensystems f\u00fcr den zusammengesetzten thierischen K\u00f6rper, dass dasselbe ein eigens diesem Zweck der einheitlichen Selbstregulirung und der Anpassung an wechselnde Lebenseinfl\u00fcsse bestimmtes System von Organen ist. Es vermittelt so auf der einen Seite jene Stabilit\u00e4t des ganzen Organismus, welche es demselben gestattet vor\u00fcbergehenden \u00e4u\u00dferen Einwirkungen gegen\u00fcber relativ unver\u00e4ndert zu beharren, und es bildet auf der andern Seite die Grundlage jener functionellen Correlationen der Theile,\nWundt, Philos. Studien. Y.\t26","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nW. Wandt.\nwelche allm\u00e4hlich eintretenden bleibenden Aenderungen der Lehensbedingungen entsprechen. Alle diese Einrichtungen der Selbstregulirung und Anpassung beruhen schlie\u00dflich wieder darauf, dass verm\u00f6ge der chemischen Constitution der Nervensubstanz die allgemeinen Eigenschaften der Reizbarkeit des Protoplasmas in ihr zum h\u00f6chsten Grade der Differenzirung gelangt sind. Diese Diffe-renzirung besteht jedoch nicht in der Ausbildung specifischer Unterschiede in den Eigenschaften der Nervenmasse, sondern sie resul-tirt mindestens zum allergr\u00f6\u00dften Theile aus den Verbindungen, in welche dieselbe mit anderen Organen von verschiedener functioneller Bedeutung gesetzt ist. Nur in untergeordneter Weise scheint durch die Anpassung an die eigenth\u00fcmliche Functionsweise dieser Organe in gewissem Grade auch eine Ditferenzirung der Nervensubstanz selbst einzutreten. So haben sich Opticusfasern und Sehcentrum den Functionen des Auges, Acusticusfasern und H\u00f6rcentrum den Bedingungen des H\u00f6rens angepasst, indem die Eigent\u00fcmlich -keiten der Sinnesreize ihnen entsprechende Molecular\u00e4nderungen der Nerven herbeif\u00fchrten. Immer aber bleibt die physiologische Gleichartigkeit der letzteren so weit erhalten, dass das 'ganze centrale und peripherische Nervensystem ein einziges, alle \u00fcbrigen Organe unter einander verbindendes Beziehungssystem bildet, welches alle jene Aush\u00fclfen und Compensationen herzustellen vermag, die zum ungest\u00f6rten Ablauf der einzelnen Functionen, zur Beseitigung geringerer Hindernisse sowie zur Anpassung an allm\u00e4hliche Ver\u00e4nderungen der Lebensbedingungen erforderlich sind.\nSchon der gew\u00f6hnliche Verlauf der thierischen Lebensverrich-tungen bietet auf diese Weise zahlreiche Beispiele fortw\u00e4hrender Selbstregulirungen. So wird der Mechanismus der Athmung zun\u00e4chst angeregt durch die Reizwirkung des sauerstoffarmen Blutes auf das Athmungscentrum. Die Reizbarkeit dieses Centrums, wie sie sich unter dem Einfluss der Lehensbedingungen allm\u00e4hlich aus-gebildet hat, bewirkt daher eine centrale Selbststeuerung der Athmung, welche die Sauerstoffladung des Blutes immer nur wenig um eine mittlere Gleichgewichtslage schwanken l\u00e4sst. Diesen centralen treten dann weitere Selbstregulirungen unter Mith\u00fclfe peripherischer Nervenerregungen zur Seite: so l\u00f6st die Ausdehnung der Lunge bei der Einathmung einen Exspirationsreflex, ihr Einsinken bei der","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\nm\nAusathmung einen Inspirationsreflex aus. Mit dem nerv\u00f6sen Mechanismus der Athmung sind die Regulationscentren der Herzbewegung, mit diesen die Innervationsherde der Blutgef\u00e4\u00dfe, namentlich der f\u00fcr die Blutvertheilung in den Organen besonders wichtigen kleineren Arterien verbunden. So bewirkt, immer durch die Da-zwischenkunft nerv\u00f6ser Verbindungen, jede Beschleunigung der Athmung sofort eine Beschleunigung des Herzschlags, diese wieder eine Erweiterung der Gef\u00e4\u00dfe, wodurch dem Sauerstoffbed\u00fcrfniss der Organe in k\u00fcrzester Zeit gen\u00fcgt wird.\nBesonders bedeutsam unter diesen Selbstregulirungen sind diejenigen, welche zur Ausbildung neuer Functionen oder zur Compensation eingetretener Functionsst\u00f6rungen f\u00fchren. Zugleich sind sie es, welche die Entstehung aller dieser Einrichtungen der Selbststeuerung der Lebensvorg\u00e4nge begreiflich machen. Nur in beschr\u00e4nktem Umfange bieten die einzelnen Organe die M\u00f6glichkeit einer Stellvertretung der Leistungen dar. Im allgemeinen beschr\u00e4nkt sich hier die Aush\u00fclfe darauf, dass f\u00fcr den Hinwegfall der Verrichtung eines Organs die excessive Function eines anderen gleichwerthigen eintritt. So functionirt unter Umst\u00e4nden eine Niere f\u00fcr beide, so ersetzt die linke Hand durch vermehrte Uebung die Leistungen der hinweggefallenen rechten, so in seltenen F\u00e4llen der Fu\u00df die Leistungen der H\u00e4nde. Analoger Stellvertretungen ist nun das Centralorgan in ungleich ausgedehnterem Ma\u00dfe f\u00e4hig. Der Ausfall, der durch die Zerst\u00f6rung centraler Theile entsteht, kann, sofern er sich nur in bestimmten Schranken h\u00e4lt, vollst\u00e4ndig durch die neu eintretende Leistung anderer Theile gedeckt werden. So kann sich eine durch Gewebszertr\u00fcmmerung im Gehirn entstandene centrale Sprach- oder Sehst\u00f6rung oder eine St\u00f6rung der willk\u00fcrlichen Ortsbewegungen vollst\u00e4ndig wieder ausgleichen, ohne dass die zerst\u00f6rten centralen Elemente selbst functionsf\u00e4hig geworden sind.\nOffenbar sind diese Vorg\u00e4nge centraler Stellvertretung vollkommen derselben Art wie die Vorg\u00e4nge der Ein\u00fcbung neuer Functionen, bei denen ja ebenfalls centrale Elemente zu Leistungen bef\u00e4higt werden, die ihnen bisher fehlten. Zumeist ist in solchen F\u00e4llen der Ein\u00fcbung auch eine functioneile Uebung peripherischer Organe erforderlich; aber diese ist doch von untergeordneter Bedeutung. Bei der technischen Ausbildung des Klavierspielers z. B.\n26*","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nW. Wundt.\nf\u00e4llt der geringste Antheil auf die Muskeln, der weitaus gr\u00f6\u00dfere auf die centralen Innervationsherde derselben. Denn die F\u00e4higkeit, Muskelgruppen, die urspr\u00fcnglich nur zusammen functionirten, iso-lirt zu bewegen, beruht nicht minder auf einer Isolirung der centralen Impulse, wie die F\u00e4higkeit ungew\u00f6hnlich schneller und rasch wechselnder Bewegung durchaus dem Gebiet centraler Ein\u00fcbung zugeh\u00f6rt. Alle nerv\u00f6sen Uebungsvorg\u00e4nge erkl\u00e4ren sich aber aus dem Princip, dass eine Erregung um so leichter in der ihr urspr\u00fcnglich durch den Willen angewiesenen Abgrenzung von statten geht, je h\u00e4ufiger sie wiederholt worden ist. Dieses Princip, welches wiederum nur auf moleculare Aenderungen der Nervensubstanz zur\u00fcckgef\u00fchrt werden kann, erkl\u00e4rt es zugleich, dass urspr\u00fcnglich willk\u00fcrliche allm\u00e4hlich in automatische Bewegungen \u00fcbergehen. In der That lehrt uns die subjective Erfahrung einen derartigen Uebergang \u00fcberall als die psychologische Seite der Uehungserfolge kennen. Jede Uebung besteht in der Mechanisirung urspr\u00fcnglich mit Bewusstsein ge\u00fcbter Willenshandlungen. Auch die Wiederein\u00fcbung verloren gegangener centraler Functionen macht hiervon keine Ausnahme. Das Sprechenlernen des der Sprache verlustig Gegangenen z. B. unterscheidet sich von der ersten Erlernung der Sprache, abgesehen von den durch die geistige Entwicklungsstufe der Lebensalter bedingten Unterschieden, nur in den zwei Punkten, dass bei der Wiedererlernung immer noch schwache Erinnerungsbilder von Laut- und Bewegungs vor Stellungen wirksam sein k\u00f6nnen, die bei der ersten Aneignung fehlen, und dass dagegen bei dieser alle jene centralen Hemmungseinfl\u00fcsse hinwegfallen, welche mit dem pathologischen Ursprung der St\u00f6rung Zusammenh\u00e4ngen.\nNun haben wir kein Recht diesen Uebergang von Willensbewegungen in automatische Bewegungen auf die engen Grenzen einzuschr\u00e4nken, innerhalb deren uns die Beobachtung direct solche Umwandlungen darhietet. Vielmehr spricht alle Wahrscheinlichkeit daf\u00fcr, dass der n\u00e4mliche Vorgang es ist, der \u00fcberhaupt alle jene zweckm\u00e4\u00dfigen Selbstregulirungen, durch welche der thierische Organismus den Namen einer \u00bbnat\u00fcrlichen Maschine\u00ab im eminenten Sinne verdient, im Laufe einer langen Entwicklung entstehen liess. Hierf\u00fcr tritt au\u00dferdem die Beobachtung unterst\u00fctzend ein, dass","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Biologische Probleme.\n379\nsolche Bewegungen, die bei den entwickelteren Thieren vollst\u00e4ndig der Mechanisirung anheimgefallen sind, auf den niedersten Stufen des thierischen Lebens noch den Charakter von Willenshandlungen an sich tragen. Insbesondere gilt dies von allen Bewegungen, welche auf die Circulation der Ern\u00e4hrungsfliissigkeiten einwirken. Zugleich erkl\u00e4rt dieser Uebergang, dass es zahlreiche Bewegungsorgane gibt, die hei den h\u00f6heren Thieren gleichzeitig . der automatischen Selbstregulirung und dem Willenseinflusse unterworfen sind: so mit Ueberwiegen der automatischen Seite die Ath-mungsbewegungen, mit vorwaltender Willensseite die sonstigen \u00e4u\u00dferen Skelethewegungen. Darum bieten auch die letzteren fortw\u00e4hrend noch Beispiele jener Mechanisirung der Willenshandlungen dar, welche, nachdem sie das zweckm\u00e4\u00dfige Ineinanderwirken der Organe des Thierk\u00f6rpers hervorgebracht hat, an der Vervollkommnung dieses Mechanismus weiter arbeitet.\nJeder Vorgang, der urspr\u00fcngliche Willenshandlungen in automatische Bewegungen \u00fcberf\u00fchrt, entzieht nun aber im selben. Ma\u00dfe, in welchem er den physiologischen Mechanismus bereichert, anscheinend dem psychischen Lehen bestimmte, ihm urspr\u00fcnglich zugeh\u00f6rende Bestandtheile. Indem er psychophysische Vorg\u00e4nge in physische umwandelt, entlastet er zwar das Bewusstsein von der Lenkung einer Menge untergeordneter Lehensverrichtungen; aber er entzieht doch zugleich, sobald die Mechanisirung vollst\u00e4ndig geworden ist, dem Willen die unmittelbare Herrschaft \u00fcber die ihm dereinst unterworfenen Organe. Diese Betrachtung regt vor allem die Frage an, wie ein solches Aufgehen psychischer Bedingungen in ihren physischen Wirkungen \u00fcberhaupt m\u00f6glich sei. Wenn das psychische Geschehen nicht eine blo\u00dfe Eigenschaft materieller Substanzelemente, sondern, wie die Erkenntniss-lehre \u00fcberzeugend darthut, selbst das urspr\u00fcnglich Reale ist, so kann ja ein derartiger Uebergang von der geistigen auf die physische Seite immer nur f\u00fcr die \u00e4u\u00dfere Erscheinungsform der Dinge gelten; sie kann als eine definitive metaphysische Voraussetzung um so weniger festgehalten werden, als an jede derartige Mechanisirung von Willenshandlungen zugleich eine Entwicklung des Willens selbst zu h\u00f6heren Formen der Leistung gebunden ist. So entspringt aus der psychophysichen Erkl\u00e4rung der physiologischen","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nW. Wundt. Biologische Probleme.\nSelbstregulirungen unmittelbar ein psychologisches Problem. Indem jene Selbstregulirungen aus der Umwandlung psychologischer in rein physische Vorg\u00e4nge abgeleitet werden, erhebt sich zugleich die Frage, in welchem Verh\u00e4ltnisse diejenigen psychischen Vorg\u00e4nge, welche den Inhalt des Einzelbewusstseins ausmachen, zu der physischen Organisation des lebenden K\u00f6rpers stehen, jenes K\u00f6rpers, der ebensowohl das Substrat aller seelischen Th\u00e4tigkeiten wie das durch die letzteren zu ihren Zwecken geschaffene Werkzeug ist.","page":380}],"identifier":"lit730","issued":"1889","language":"de","pages":"327-380","startpages":"327","title":"Biologische Probleme","type":"Journal Article","volume":"5"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:24:06.141174+00:00"}