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{"created":"2022-01-31T13:20:44.560578+00:00","id":"lit742","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 5: 1-55","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\nVon\nW. Wundt.\nI. Zur Geschichte der Classiflcationsversuche.\nWenn der Werth eines Werkes nicht nach den Anspr\u00fcchen, die es erhebt, sondern nach der Wahrheit und Fruchtbarkeit seiner Gedanken gesch\u00e4tzt werden muss, so wird kein Einsichtiger zweifeln, dass nicht das \u00bbNovum organon\u00ab sondern die Schrift \u00bbDe dignitate et augmentis scientiarum\u00ab das bedeutendste unter den Werken Bacon\u2019s genannt werden muss. Nur Philosophen, die mit den wirklichen Methoden der Naturforschung und ihrer geschichtlichen Entwicklung nicht bekannt sind, oder Naturforscher, die Bacon niemals gelesen haben, k\u00f6nnen heute noch an die Fabel glauben, dass Bacon der Sch\u00f6pfer der naturwissenschaftlichen Methode sei. Dass das neue Organon neben vielem Unrichtigen auch einige richtige Gedanken enth\u00e4lt, wird ja niemand bestreiten. Mit seiner Bek\u00e4mpfung der aristotelischen Syllogistik und mit seinem energischen Hinweis auf Erfahrung und Experiment gibt es dem in der wissenschaftlichen Arbeit der gro\u00dfen Naturforscher der gleichen Zeit herrschenden Geiste einen beredten Ausdruck. Aber nicht minder gewiss ist es, dass die von Bacon gelehrte Methode im ganzen genommen v\u00f6llig verfehlt ist, und dass sie in der wirklichen Forschung weder jemals befolgt wurde, noch befolgt werden kann. In der That hat \u00fcber diesen Punkt bei den Naturforschern, die mit Bacon\u2019s Werk sich besch\u00e4ftigt, von William Harvey an bis auf Justus Liebig, niemals ein Zweifel obgewaltet. Wenn dasselbe \u00fcberhaupt einen Einfluss auf die Folgezeit aus\u00fcbte, so war es nicht\nWandt, PMlos. Stadien. V.\t\\\t1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nW, Wundt.\ndie naturwissenschaftliche Induction, sondern die Theorie, welche die Logiker von dem Wesen der Induction bildeten, an der dieser Einfluss zu sp\u00fcren ist. Gedanken in das Prokrustesbett einer Methode zu zw\u00e4ngen, die ihnen v\u00f6llig inad\u00e4quat ist, mag zwar eine anerkennenswerthe Uebung des Scharfsinns verrathen, aber zur Aufkl\u00e4rung der Sache kann dies Verfahren niemals dienlich sein.\nDagegen wird das Werk \u00fcber die W\u00fcrde und den Fortschritt der Wissenschaften immer eines der staunenswertesten Denkm\u00e4ler der Literatur bleiben. Nicht genug kann man das geniale Ahnungsverm\u00f6gen bewundern, mit welchem hier der Geist des Autors das Reich der zuk\u00fcnftigen Wissenschaften \u00fcberschaut, um in klaren Umrissen den Plan f\u00fcr Forschungsgebiete zu entwerfen, zu denen in seiner eigenen Zeit noch nicht einmal die d\u00fcrftigsten Anf\u00e4nge zu finden waren. Die Regeln, die er f\u00fcr die Behandlung der Geschichte \u00fcberhaupt aufstellt, die Aufgaben, die er insbesondere einer k\u00fcnftigen Geschichte der Wissenschaften und K\u00fcnste vorzeichnet, haben noch heute von ihrer treffenden Wahrheit nichts verloren. Die ungeheuren Erfolge der technischen Anwendungen physikalischer Forschung sieht er mit einer Bestimmtheit voraus, die uns die Mangelhaftigkeit seiner eigenen Experimente vergessen l\u00e4sst. In einer Zeit, die noch immer von den fruchtlosen Streitigkeiten der Anh\u00e4nger eines Galen und Paracelsus \u00fcber das Wesen der Krankheit erf\u00fcllt ist, wei\u00df er die Wichtigkeit einer anatomischen Untersuchung der kranken Organe und einer experimentellen Pr\u00fcfung der Arzneimittel beinahe so treffend wie ein Vertreter der wissenschaftlichen Medicin des neunzehnten Jahrhunderts zu w\u00fcrdigen.\nAber trotz der eifrigen Bek\u00e4mpfung aristotelischer und scholastischer Lehren tr\u00e4gt Bacon auch hier die Fesseln \u00fcberlieferter Anschauungen. Seine Eintheilung der Wissenschaften geht auf die n\u00e4mlichen Voraussetzungen zur\u00fcck , welche die alten Philosophen ihrer Gliederung der Philosophie zu Grunde legten. Wenn die Pla-toniker dereinst in die drei Gebiete der Dialektik, Physik und Ethik die ganze Philosophie schieden, so waren es sichtlich die drei platonischen Geistesverm\u00f6gen, die in dieser Eintheilung nachwirkten: die Dialektik beruhte ihnen auf der alleinigen Beth\u00e4tigung der Vernunft, die Physik gr\u00fcndete sich zun\u00e4chst auf die sinnliche Wahrnehmung, die Ethik aber bezog sich auf das Begehren und das aus","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"3\nUeber die Einteilung der Wissenschaften, ihm entspringende Wollen und Handeln. Aristoteles behielt die\n\u00ab\t'\t\u2022\t\u2022 v*\t'\nDreitheilung bei, aber er ver\u00e4nderte ihre Bedeutung, indem er die Grenzen und die Aufgaben der einzelnen Gebiete zum Theil anders bestimmte. So vereinigte er die Dialektik und die Physik zum Gesammtbegriff der theoretischen Wissenschaften, den er wieder in die Analytik (Logik) oder die Lehre von den Denkbestimmungen des Seienden, in die Metaphysik, die Wissenschaft vom Wesen des Seienden, und in die Physik, die Lehre vom Seienden in der Natur, trennte. Diesen theoretischen Wissenschaften stellte er die Ethik und Politik als die praktischen gegen\u00fcber, indem er ihren wesentlichen Charakter in ihrer Beziehung auf das menschliche Handeln erblickte. Von dem Handeln unterschied er aber au\u00dferdem das Erzeugen, wie es in der Kunst und Technik zur Anwendung gelangt. Diesem entsprach nach ihm eine dritte Gruppe, die der poietischen Wissenschaften \u2019). Sichtlich geht Aristoteles bei dieser Classification auf ein Princip zur\u00fcck, das wohl stillschweigend auch schon der platonischen Dreitheilung zu Grunde lag, n\u00e4mlich auf den Zweck, dem theils die wissenschaftliche Forschung selbst, theils aber der Gegenstand, auf den sie sich bezieht, dienen kann.\nIn doppelter Beziehung d\u00fcrften diese Traditionen der antiken Philosophie auf die Baconische Eintheilung her\u00fcber ge wirkt haben. Erstens legt auch er die Gliederung nach den Geistesverm\u00f6gen als das n\u00e4chste Eintheilungsprincip zu Grunde, indem er sich dabei ebenfalls einer Dreitheilung bedient. Zweitens r\u00e4umt er den tech-nisehen Disciplinen, den poietischen im Sinne des Aristoteles, eine Stelle, und zwar verm\u00f6ge seiner gro\u00dfen Hochsch\u00e4tzung des Nutzens eine sehr bevorzugte Stelle im System der Wissenschaften ein. Im einzelnen trennt sich aber freilich die Baconische Eintheilung sehr erheblich von ihren antiken Vorbildern. Sie stellt sich in der That schon insofern eine ganz andere Aufgabe, als bei ihr auf die sorgsame Unterscheidung der Einzelgebiete der Hauptwerth gelegt wird, gegen welche die zwar geforderte, aber doch nicht n\u00e4her ausgef\u00fchrte Vereinigung in einer \u00bbersten Philosophie\u00ab v\u00f6llig zur\u00fccktritt. Ganz im Gegens\u00e4tze hierzu hatten diese all-\n1) Vergl. hierzu Ar ist., Met. Lib. IV Cap. I ff. PJ/ys. Lib. I, I. Eth. Nico. Lib. IV, Cap. 4.\t'\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nW. Wundt.\ngemeinsten Gebiete, die Dialektik bei Plato, die Metaphysik bei Aristoteles, die gr\u00f6\u00dfte Bedeutung f\u00fcr sich in Anspruch genommen. Dadurch ist das gegenseitige Verh\u00e4ltniss dieser Systeme ein solches geworden, dass in unsern Augen bei den alten Philosophen nur Classificationen der Philosophie, nicht der Einzelwissenschaften vorliegen, w\u00e4hrend umgekehrt Bacon die Einzelwissenschaften classi-ficirt und die Philosophie so gut wie ganz aus dem Spiele l\u00e4sst. Freilich erscheint dies nur so, wenn wir beide Systeme im Lichte heutiger Anschauungen mit einander vergleichen. Im Geiste ihrer Urheber enthielt die platonische und die aristotelische Eintheilung ebenso gut wie die Baconische die ganze Wissenschaft. Zu dieser allgemeinen Ver\u00e4nderung des Standpunktes, die durch die selbst\u00e4ndige Entwicklung der Einzelwissenschaften bedingt ist, kommt nun aber noch bei Bacon eine ver\u00e4nderte Auffassung \u00fcber das Verh\u00e4ltniss der technischen zu den theoretischen Gebieten. Dem Aristoteles war das Poietische dem Theoretischen und Praktischen keineswegs vollkommen ebenb\u00fcrtig. Die Principien schienen ihm hier minder sicher, die Ausf\u00fchrungen in h\u00f6herem Grade dem Zufall preisgegeben. F\u00fcr Bacon gewinnt die reine Wissenschaft erst dann ihren Werth, wenn sie im Stande ist zu n\u00fctzlichen Anwendungen zu f\u00fchren. Daraus entspringt f\u00fcr ihn die Forderung, \u00fcberall wo es m\u00f6glich ist eine theoretische und eine technische Disciplin einander zu coordiniren, eine Forderung die ihn zwar gelegentlich zu Unterscheidungen f\u00fchrt, welche sich in der zuk\u00fcnftigen Entwicklung der Wissenschaft nicht bew\u00e4hrt haben, ihn aber doch auch in den Stand gesetzt hat eine Menge richtiger Vorausblicke zu thun. F\u00fcr die gesammte Eintheilung entspringt aus dieser Auffassung die wichtige Ver\u00e4nderung, dass die technischen Gebiete trotz der gr\u00f6\u00dferen Wichtigkeit, die ihnen Bacon beilegt, doch nicht mehr eine Haupt-classe f\u00fcr sich bilden, sondern erst in den unteren Einteilungen des Systems auftreten. Damit m\u00fcssen nat\u00fcrlich auch die Geisteskr\u00e4fte, welche der Haupteintheilung zur Grundlage dienen, andere werden : sie sind nur noch den theoretischen Geistesth\u00e4tigkeiten zu entnehmen. So betrachtet denn Bacon Ged\u00e4chtniss, Phantasie und Vernunft als die drei Geistesverm\u00f6gen, nach denen die gesammte menschliche Wissenschaft in die drei gro\u00dfen Gebiete der Geschichte, der Poesie und der Philosophie sich gliedern soll. Die letztere","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilnng der Wissenschaften.\n5\nbedeutet aber nicht die Philosophie in unserem Sinne, sondern sie umfasst die Gesammtheit der auf die Natur und den Menschen sich beziehenden Einzelwissenschaften, wie denn noch heute der Begriff der \u00bbNatural Philosophy\u00ab in diesem abweichenden Sinne sich in England erhalten hat1).\nDie Baconische Eintheilung galt \u00fcber ein Jahrhundert lang als ein kaum zu \u00fcbertreffendes Vorbild. D\u2019Alembert urtheilte von ihr in seinem ber\u00fchmten \u00bbDiscours pr\u00e9liminaire \u00ab'zur Encyclop\u00e4die} sie entspreche ebenso sehr dem systematischen wie dem genealogischen Bed\u00fcrfnisse. Freilich meinte auch er schon, an Bacon\u2019s Eintheilungen und Untereintheilungen seien, trotz seines erfolgreichen Kampfes gegen die Scholastik, noch immer die Einfl\u00fcsse der Schulen zu sp\u00fcren. Demgem\u00e4\u00df verbesserte er in dem \u00bbSyst\u00e8me figur\u00e9 des connaissances humaines\u00ab, welches er seinem Discours beigab, da und dort die Baconische Classification. Aber die Eintheilung nach den drei Geistesverm\u00f6gen lie\u00df er' bestehen. Die einzige Aenderung, die er bei1 der Ordnung dieser Hauptgebiete vornahm, bestand darin, dass er nicht blo\u00df die Poesie, sondern die Kunst \u00fcberhaupt der Phantasie zutheilte. Er erhielt so, indem er auch die Reihenfolge zweckm\u00e4\u00dfig ver\u00e4nderte, Geschichte, Philosophie und Kunst als die drei Hauptabtheilungen. In gewissem Sinne lag in dieser Erweiterung der dritten Kategorie ein R\u00fcckgang auf die poietischen Wissenschaften des Aristoteles. Aber der franz\u00f6sische Philosoph theilte durchaus mit Bacon den einseitig intellectualistischen und utilitaristischen Standpunkt. Nicht als Kunst schlechthin, sondern als \u00bbArt des signes et de limitation\u00ab l\u00e4sst er jenen dritten gro\u00dfen Zweig der \u00bbconnaissances humaines\u00ab gelten. Die Naturlaute und die nat\u00fcrlichen Bewegungen, die Buchstaben, Silben und W\u00f6rter, Sprache, Schrift, Orthographie, Pal\u00e4ographie u. s. w. finden daher hier ebenso gut ihre Stellen wie Poesie, Malerei und Sculptur. Die Kunst \u00fcberhaupt definirt d\u2019Alembert als das System von Zeichen und Bildern, durch welches wir theils unsere Gedanken ausdr\u00fccken (art symbolique), theils die Vorstellungen sch\u00f6ner Gegenst\u00e4nde, die wir der Natur oder der Sprache entnehmen, mittheilen (art imitatif).\n1) De Dignit. et Augm. Scient. Lib. II Cap. I.","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nW. Wundt.\nDie M\u00e4ngel dieser wie der Baconischen Classification sind unschwer zu erkennen. Sie sind mehrfach, am treffendsten wohl von Dugald Stewart in seiner Vorrede zu den Supplementb\u00e4nden der \u00bbEncyclopaedia Britannica\u00ab hervorgehoben worden1). Unhaltbar ist der namentlich von d\u2019Alembert erhobene Anspruch, dass dieses nach den menschlichen Geisteskr\u00e4ften entworfene System zugleich den Stammbaum des menschlichen Wissens darstelle, denn es gibt keine Disciplin, welche auf die ausschlie\u00dfliche Beth\u00e4tigung eines jener Geistesverm\u00f6gen allein sich zur\u00fcckf\u00fchren lie\u00dfe. Ueberdies ist die Eintheilung der menschlichen Geisteskr\u00e4fte selbst eine rohe und ungen\u00fcgende. Die f\u00fcr den Charakter einzelner Wissenschaften vorzugsweise ma\u00dfgebenden Functionen der Abstraction und der Generalisation haben in ihr gar keine Stelle gefunden. Durch die Trennung der historischen von den philosophischen Disciplinen werden zusammengeh\u00f6rige Gebiete, wie die Naturgeschichte und die Naturlehre, geschieden, und dagegen v\u00f6llig verschiedene, wie die Naturgeschichte und die politische Geschichte, einander nahe ger\u00fcckt. Unhaltbar ist ferner die Coordination der K\u00fcnste und Wissenschaften, welche auf einer einseitig intellectuellen Beurtheilung des Werthes der ersteren beruht. Offenbar ist es endlich der schwerste Fehler dieser Systeme, dass sie ihren Eintheilungsgrund au\u00dferhalb der Wissenschaften selbst w\u00e4hlen, da, auch wenn es wahr w\u00e4re, dass je eine der drei angenommenen Geisteskr\u00e4fte in bestimmten Gebieten vorzugsweise zur Anwendung komme, daraus f\u00fcr die innere Natur der betreffenden Gebiete doch nur sehr d\u00fcrftige Aufschl\u00fcsse gewonnen werden k\u00f6nnten. Das Verh\u00e4ltniss ist hier kaum ein anderes, als wenn ein Botaniker die Pflanzen nach ihren Standorten classi-ficiren wollte.\nEntschieden \u00fcberlegen einem solchen nur scheinbar genetischen Verfahren ist daher das von John Locke vorgeschlagene System, welches fordert, dass die Wissenschaften nach den Zwecken unterschieden werden, die bei der Betrachtung der Gegenst\u00e4nde zur Anwendung kommen. Der hier in den Vordergrund ger\u00fcckte Gesichtspunkt, dass die wissenschaftliche Forschung auf verschiedene Zwecke ausgehen kann, wird in der That im allgemeinen\n1) Dugald Stewart, Collected Works edit, by W. Hamilton, I, pag. 1 ff.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Oeber die Einteilung der Wissenschaften.\n7\nnicht bestritten werden k\u00f6nnen ; auch war, wie oben bemerkt, schon die aristotelische Eintheilung von demselben ausgegangen. Uebri-gens h\u00e4lt Locke an der herk\u00f6mmlichen Dreitheilung fest, indem er eine Dreiheit von Zwecken statuirt. Der erste besteht ihm in der theoretischen Erkenntniss der Gegenst\u00e4nde, der zweite in dem Guten und N\u00fctzlichen, auf welches das menschliche Handeln gerichtet ist, der dritte in der Erfindung geeigneter Zeichen und in deren angemessener Verwendung durch den Verstand. So erh\u00e4lt er eine Eintheilung, die merkw\u00fcrdiger Weise nahezu mit der alten platonischen zusammenf\u00e4llt. Denn die jenen drei Zwecken entsprechenden Gebiete sind die Physik, die Ethik und die Logik. Freilich aber hat die Reihenfolge, welche der relativen Werthsch\u00e4tzung dieser drei Gebiete entspricht, v\u00f6llig' sich umgekehrt: die Logik, die hier an die Stelle der Dialektik getreten, weit entfernt die Grundlage der beiden andern Gebiete zu bilden, wird echt nominalistisch lediglich als eine Semiotik, eine .Lehre von den Begriffszeichen und ihrer Benutzung aufgefasst; sie hat also den andern Wissenschaften gegen\u00fcber lediglich einen auxili\u00e4ren Werth1). Gleichwohl weist diese Uebereinstimmung der Einthei-lungsglieder auf \u00fcbereinstimmende Motive hin. In der That wird wohl hei der platonischen Eintheilung seihst schon ebenso der Gedanke an den Zweck wie an den Ursprung der einzelnen Theile des wissenschaftlichen Denkens obgewaltet haben. Pflegen doch diese beiden Vorstellungen urspr\u00fcnglich nahe mit einander verbunden zu sein, da man stets geneigt ist, die verschiedenen zweckm\u00e4\u00dfigen Th\u00e4tigkeiten des menschlichen Geistes auf verschiedene Geisteskr\u00e4fte zur\u00fcckzuf\u00fchren. So sind ja auch die drei Baconischen Geistesverm\u00f6gen sicherlich mehr eine nachtr\u00e4gliche Erkl\u00e4rung zu den vorhandenen Zwecken der historischen Darstellung, der poetischen Versinnlichung und der Erkl\u00e4rung der Erscheinungen, als dass umgekehrt wirklich diese drei Gebiete geistiger Besch\u00e4ftigung erst aus jenen drei Verm\u00f6gen deducirt w\u00e4ren. Beide Eintheilungs-principien sind also in ihren thats\u00e4chlichen Elementen kaum von einander verschieden. Ihr Unterschied liegt nur darin, dass Locke als\n1) Locke, Essay conc. human, underst. B. IV, Chap. 21.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nW. Wundt.\nvorsichtiger Empiriker das Baconische Princip seiner hypothetischen Voraussetzungen entkleidet und es auf die thats\u00e4chliche Grundlage zur\u00fcckgef\u00fchrt hat, deren sich ihr Urheber selbst nicht deutlich bewusst geworden war. Durch diese Beseitigung einer unhaltbaren Voraussetzung wird aber zugleich die Wahl der Zwecke eine freiere, und darum ist zweifellos, abgesehen von allen Eintheilungsgr\u00fcnden, die Eintheilung Locke\u2019s eine Verbesserung der Baconischen. Doch ist sie nicht in\u2019s einzelne durchgef\u00fchrt; sie entbehrt also hierin einer unerl\u00e4sslichen Controlle ihrer Brauchbarkeit. Auch bleibt bei ihr der Uebelstand, dass die drei Zweckgehiete nicht in einem klaren Verh\u00e4ltniss zu einander stehen. Das menschliche Handeln bildet doch schlie\u00dflich ebenfalls nur einen Theil der Erscheinungs-welt, und es sind keine zureichenden Gr\u00fcnde daf\u00fcr beigebracht, warum es nicht im selben Sinne wie die Objecte der \u00bbPhysik\u00ab und im Zusammenhang mit ihnen zu untersuchen sei. Vollends die Logik bildet ein nothwendiges H\u00fclfsmittel f\u00fcr jede andere Art wissenschaftlicher Betrachtung, und es ist darum mindestens logisch nicht gerechtfertigt, die Logik selbst den besonderen Anwendungen, die sie auf verschiedene Objecte finden kann, zu coordiniren. Dieser Mangel ist freilich unvermeidlich, sobald man die Unterscheidung allgemeiner oder philosophischer Disciplinen von den Einzelwissenschaften principiell ausschlie\u00dft. Dann muss die Logik entweder ganz aus dem System herausfallen, wie dies bei Bacon der Fall gewesen war, der auch noch die Mathematik dieses Schicksal hatte theilen lassen; oder sie muss in eine derartige unpassende Coordination gebracht werden, wie bei Locke oder auch bei d\u2019Alembert, der sie unter den \u00bbSciences des rapports pratiques\u00ab neben die Moral und die Medicin stellt, weil Logik und Moral in \u00e4hnlicher Weise Kegeln aufstellen sollen f\u00fcr das richtige Verhalten der Seele, wie die Medicin solche f\u00fcr das richtige Verhalten des K\u00f6rpers.\nMan hat l\u00e4ngst mit Recht erkannt, dass alle diese Einteilungen, m\u00f6gen sie nun auf die als Bedingungen vorausgesetzten Geisteskr\u00e4fte oder auf die Zwecke der Wissenschaften zur\u00fcckgehen, an einem und demselben Grundfehler leiden, an dem Fehler n\u00e4mlich, dass ihr Eintheilungsgrund nicht dem Gegenst\u00e4nde","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n9\nentnommen ist, sondern au\u00dferhalb desselben liegt. Indem man von diesem richtigen Gedanken ausging, ist nun eine dritte Reibe von Classificationsversuchen den vorigen erfolgreich an die Seite getreten, Versuche, die unmittelbar nach den Gegenst\u00e4nden selbst die Wissenschaften zu gliedern bem\u00fcht sind. Es k\u00f6nnte merkw\u00fcrdig erscheinen, dass dieses Princip, welches eigentlich das n\u00e4chstliegende ist, so sp\u00e4t zur Geltung gelangte. Aber die Erkl\u00e4rung hierf\u00fcr wird man wohl darin finden d\u00fcrfen, dass den bestehenden Wissenschaften gegen\u00fcber eine solche Eintheilung nach den Objecten von vornherein nicht ohne Zwang durchzuf\u00fchren war. Gibt es doch einerseits ganze Wissenschaften, wie Mathematik und Logik, die sich nur schwer dem gegenst\u00e4ndlichen Gesichtspunkt unterordnen lassen, da ihre Begriffe auf die verschiedensten Objecte gehen k\u00f6nnen; und gibt es doch andererseits Gegenst\u00e4nde, die in den verschiedensten Wissenschaften zur Untersuchung kommen : so vor allem der Mensch, auf den sich der gr\u00f6\u00dfte Theil aller Wissenschaften bezieht. In der That ist daher eine Eintheilung nach Gegenst\u00e4nden nur dadurch einigerma\u00dfen m\u00f6glich geworden, dass man k\u00fcnstlich den Menschen wieder in mehrere Objecte trennte, die dann aber doch nicht sowohl wirkliche Gegenst\u00e4nde als verschiedene Lebens\u00e4u\u00dferungen, also unter verschiedene Begriffe geordnete Thatsachen sind.\nUnzweifelhaft waren es die gro\u00dfen Leistungen auf dem Gebiete der naturgeschichtlichen Classification, die Arbeiten eines Linn\u00e9, Jussieu, de Candolle, die hier anregend gewirkt haben. Aeu\u00dferlich tritt dieser Einfluss schon darin hervor, dass nun die alte auf die drei platonischen Geistesverm\u00f6gen zur\u00fcck-f\u00fchrende Dreitheilung durch eine Zweitheilung ersetzt wird. Sie entspringt unmittelbar aus der Verallgemeinerung der in der Naturgeschichte nahegelegten Scheidungen der K\u00f6rper in unorganische und organische, der Organismen in Pflanzen und Thiere u. s. w. Hierdurch erkl\u00e4rt es sich zugleich, dass diese! Systeme die in der Hauptgliederung gew\u00e4hlte Zweitheilung consequent auch bei allen Untergliederungen einzuhalten bem\u00fcht sind. Zwei Classificationsversuche aus dem Anfang unseres Jahrhunderts geh\u00f6ren hierher, beide eingehender durchgef\u00fchrt als alle fr\u00fcheren Systeme, und beide von hervorragenden, durch selten umfassende Kenntnisse ausgezeichneten M\u00e4nnern herr\u00fchrend. Es sind dies die Sy-","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nW. Wundt.\nsterne Jeremias Bentham\u2019s, des Juristen und Socialphilosophen, und A. M. Amp\u00e8re\u2019s, des ber\u00fchmten Physikers1).\nBeide Systeme gehen aus von der Unterscheidung des K\u00f6rperlichen und Geistigen. Bentham zerf\u00e4llt danach das ganze Reich der Wissenschaften in Somatologie und Pneumatologie, Amp\u00e8re in Kosmologie und Noologie. Im weiteren Fortgang trennen sie sich dann, indem Bentham zum Theil sehr eigenth\u00fcmlichen Ideen folgt, w\u00e4hrend Amp\u00e8re, obgleich er die Neigung neue und meist sehr verwickelte Namen zu bilden mit jenem gemein hat, doch im ganzen mehr an die bestehenden Gliederungen sich anschlie\u00dft. Der Gesichtspunkt, nach welchem Bentham die Somatologie scheidet, beruht n\u00e4mlich darauf, dass er die Mathematik als Posologie oder science pososcopique, d. h. als reine Quantit\u00e4tswissenschaft, den Naturwissenschaften gegen\u00fcberstellt,' die \u00fcberall zugleich die Qualit\u00e4t der Erscheinungen ber\u00fccksichtigen und darum unter dem Ge-sammtnamen Poiosomatologie (sciences poioscopiques) zusammengefasst werden. Die Mathematik trennt er in Geometrie und Arith-mologie, deren charakteristischen Unterschied er darin erblickt, dass die erstere sich mit der Form der Gegenst\u00e4nde besch\u00e4ftige, die letztere aber, die er wieder in Arithmetik und Algebra scheidet, von dieser Form abstrahire. F\u00fcr die Gliederung der Naturwissenschaften tritt dann ein neuer Gesichtspunkt ein: sie werden in solche getrennt, welche die von selbst in der Natur vorkommenden K\u00f6rper und Erscheinungen betrachten, und in solche, die es mit den Werken des Menschen zu thun haben. Die ersteren fasst er unter dem Gesammtnamen der Physiurgie, die letzteren unter dem der Anthropurgie zusammen. Zur Physiurgie geh\u00f6ren also Astronomie, Physik, Biologie, Botanik, Zoologie, f\u00fcr die \u00fcbrigens Bentham ebenfalls durchgehends selbsterfundene Namen einf\u00fchrt; zur Anthropurgie rechnet er die Dynamik, Chemie und Technologie. Bei der zweiten Hauptgruppe der Wissenschaften, der pneumatologischen,\n1) Bentham, Essai sur la nomenclature et la classification des principales branches d\u2019art et de science. Ouvrage extrait du Chrestomathia de J\u00e9r\u00e9mie Bentham par Georges Bentham. Oeuvres de J. Bentham. Bruxelles 1829. T. III, p. 303. A. M. Amp\u00e8re, Essai sur la philosophie des sciences ou exposition analytique d\u2019une classification naturelle de toutes les connaissances humaines. Paris 1834.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Deber die Einteilung der Wissenschaften.\n11\nunterscheidet er solche Gebiete, die sich mit den intellectuellen Thatsachen besch\u00e4ftigen, und solche, die sich auf andere Geistes-th\u00e4tigkeiten beziehen. Die ersteren haben es wieder entweder mit der Vergangenheit oder Gegenwart zu thun: mit der Vergangenheit die Geschichte in ihren verschiedenen Verzweigungen, mit der Gegenwart eine ziemlich bunt zusammengew\u00fcrfelte Gruppe von Disciplinen, wie die Logik, Grammatik, Rhetorik, Pantomimik, Orthoepie, Orthographie u. s. w. Die der Noologie gegen\u00fcberstehenden Gebiete, f\u00fcr die Bentham den seltsamen Collectiv-namen der Anoopneumatologie bildet, sollen sich entweder mit dem Willen oder nicht mit dem Willen besch\u00e4ftigen: das erstere die Ethik, Politik, Jurisprudenz u. s. w.; ohne Beziehung auf den Willen ist die Aesthetik und neben ihr eine Anzahl technischer K\u00fcnste, die entweder Vergn\u00fcgen hervorzuhringen oder die Ursachen unseres Missvergn\u00fcgens zu entfernen suchen.\nUeber die M\u00e4ngel dieses mit gro\u00dfer Sorgfalt ausgef\u00fchrten Systems braucht kaum noch ein Wort verloren zu werden. Es ist verfehlt in seinen Eintheilungsgr\u00fcnden, die nirgends folgerichtig festgehalten werden, sondern zwischen den verschiedensten Gesichtspunkten hin und her springen. So wird man z. B. den charakteristischen Unterschied der Dynamik und der Chemie von den \u00fcbrigen Naturwissenschaften sicherlich nicht darin erblicken k\u00f6nnen, dass jene sich lediglich mit Erscheinungen besch\u00e4ftigen, die nur von Menschen willk\u00fcrlich hervorgehracht sind, was theils nicht richtig ist, theils mit demselben Rechte auch auf die \u00fcbrigen experimentellen Wissenschaften angewandt werden k\u00f6nnte, da sie alle darauf ausgehen, die Erscheinungen nach willk\u00fcrlich gesetzten Bedingungen hervorzuhringen. Das System ist ferner darin verfehlt, dass es planlos das Wichtige und das Werthlose, eigentliche Wissenschaften und technische H\u00fclfsmittel und Anwendungen, darunter solche von h\u00f6chst \u00e4u\u00dferlicher und untergeordneter Bedeutung unter einander mengt. Was sollen Orthographie, Alphabetik, Orthoepie und dergl. in einem System der Wissenschaften? Hierin wirkt sichtlich das Vorbild Bac on\u2019s nach, den seine einseitige Hervorkehrung der praktischen N\u00fctzlichkeit schon zu \u00e4hnlichen, Fehlem verf\u00fchrt hatte. Auch er hatte nicht blo\u00df eine Hieroglyphik und Alphabetik in seinem System aufgez\u00e4hlt, sondern sogar","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nVV. Wundt.\neine Ars cosmetica, athletica und voluptaria der Medicin coor-dinirtJ).\nAuch die Eintheilung Amp\u00e8re\u2019s ist nicht vor diesem Verh\u00e4ngnis, Wichtiges und v\u00f6llig Nebens\u00e4chliches neben einander zu ordnen, bewahrt geblieben. F\u00fchrt doch die Aufgabe, die sich diese Autoren von Bacon bis auf Amp\u00e8re herab stellen, die Gesammt-heit der Wissenschaften und K\u00fcnste in dem System uuterzubringen, beinahe unvermeidlich auf diese Bahn. Der in Folge dessen sich aufdr\u00e4ngenden F\u00fclle einzelner Disciplinen gegen\u00fcber wei\u00df sich Amp\u00e8re nur dadurch zu helfen, dass er die einzelnen Gebiete schlie\u00dflich ohne ein besonderes ordnendes Princip neben einander stellt. Der Mangel eines wirklichen Eintheilungsgrundes wird aber, wie so oft in \u00e4hnlichen F\u00e4llen, durch die \u00e4u\u00dfere Symmetrie ersetzt, verm\u00f6ge deren dieses System die anf\u00e4nglich gew\u00e4hlte Zweitheilung bis in\u2019s Einzelnste festh\u00e4lt. Demgem\u00e4\u00df zerf\u00e4llt zun\u00e4chst die Kosmologie und die Noologie jede in je zwei Haupttheile, die erstere in die mathematisch-physikalischen und die medicinisch-physiologischen, die letztere in die philosophischen und die ethnologisch-politischen Wissenschaften. Die weitere Theilung in Mathematik und Physik, in Physiologie und Medicin u. s. w. ist hierin schon angedeutet. Durch fortgesetzte Subdivisionen dieser Art gewinnt auf solche Weise Amp\u00e8re 84 dem Gebiet der Kosmologie und 84 dem der Noologie angeh\u00f6rende Einzeldisciplinen. Dass es bei einer Classification, die f\u00fcr jedes jener Hauptgebiete, die doch so verschiedene Bedingungen darbieten und daher auch nach ganz abweichenden Gesichtspunkten gegliedert werden, genau gleich viele letzte Zweige enth\u00e4lt, nicht ohne Zwang abgehen kann, ist an und f\u00fcr sich einleuchtend. Mau braucht in der rlhat nur einzelne der einander coordinirten Wissenschaften letzter Ordnung anzuf\u00fchren, um sofort zu erkennen, dass es nach diesem Princip oder vielmehr bei diesem Mangel eines jeden Princips nicht schwer fallen w\u00fcrde, die Anzahl der Zweige auf der einen oder andern Seite beliebig zu vermehren oder zu vermindern. So z. B. wenn \u00bbS\u00e9miographie, Diagnostique\u00ab und \u00bbTh\u00e9rapeutique sp\u00e9ciale, Physiologie m\u00e9dicale\u00ab als Theile der Nosologie, Nomographie, Jurisprudence, L\u00e9gislation compar\u00e9e, Theorie des lois\n1) De augm. Lib. IV Cap. II.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Einteilung der Wissenschaften.\n13\nals solche der Nomologie aufgef\u00fchrt werden. Merkw\u00fcrdig ist es \u00fcbrigens, dass der Jurist Bentham und der Physiker Amp\u00e8re beide in gleich einseitiger Weise die Stellung der Mathematik be-urtheilen. Bei beiden z\u00e4hlt sie n\u00e4mlich zu den Naturwissenschaften. Zum Theil mag daran das gew\u00e4hlte Princip der Zweitheilung die Schuld tragen. War dies einmal vorausgesetzt, so lag es nat\u00fcrlich am n\u00e4chsten, die Mathematik zu dem Gebiet zu ziehen, auf welchem sie die n\u00e4chstliegenden Anwendungen zul\u00e4sst. Der tiefere Grund dieser Auffassung liegt aber doch in der diesen M\u00e4nnern eigenen empi-ristischen Ansicht von dem Charakter der Mathematik, nach welcher sich dieselbe lediglich mit bestimmten abstract betrachteten Eigenschaften der K\u00f6rper besch\u00e4ftigt und also keinen principiellen Unterschied von andern Disciplinen der Naturwissenschaft darbietet, welche andere Eigenschaften der K\u00f6rper als die von Gr\u00f6\u00dfe und Zahl in Betracht ziehen.\nVon diesem Gesichtspunkte aus wurde nun aber auch alsbald ein Schritt nahe gelegt, der die Voraussetzung selbst, auf welche jene an die naturgeschichtlichen Systeme anlehnenden Classificationen aufgebaut waren, wieder aufhob. Wenn Zahl und Gr\u00f6\u00dfe Eigenschaften der K\u00f6rper sind, was sind dann die sogenannten geistigen Eigenschaften anderes als ebenfalls solche Eigenschaften gewisser K\u00f6rper? Es bedurfte nicht einmal der ausdr\u00fccklichen Zustimmung zu der materialistischen V eitansicht, um diese Frage vollkommen gerechtfertigt zu finden. Es gen\u00fcgte die Berufung auf die thats\u00e4chliche Erfahrung, also die Vertretung eines wissenschaftlichen Standpunktes, der die Thatsachen lediglich so gelten lie\u00df, wie sie unmittelbar in der Erfahrung gegeben sind. Da nun hier zwar die K\u00f6rper Gegenst\u00e4nde unmittelbarer Wahrnehmung sind, nicht aber die Geister, welche vielmehr immer nur zu gewissen Erscheinungen, die wir an K\u00f6rpern wahrnehmen, vorausgesetzt werden, so ist offenbar von diesem Standpunkte aus die Coordination einer K\u00f6rper- und einer Geister weit bestreitbar, und damit f\u00e4llt zugleich das ganze Geb\u00e4ude der auf diese Unterscheidung errichteten Classificationen. Es ist August Comte\u2019s System, welches diese Auffassung, die mit innerer Folgerichtigkeit aus den in seiner positiven Philosophie entwickelten Anschauungen hervor-","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nW. Wundt.\ngeht, zur Geltung gebracht hat. Die nothwendige Consequenz dieses Schrittes war es aber, dass das Princip der einfachen Gliederungen \u00fcberhaupt verlassen und an die Stelle derselben das Princip der einfachen Stufenfolge gesetzt wurde. Waren es nicht mehr die Gegenst\u00e4nde, die man als Objecte verschiedener Wissenschaften gelten lie\u00df, so konnten als solche nur noch die Eigenschaften der allen Wissenschaften gemeinsamen Gegenst\u00e4nde \u00fcbrig bleiben. Da nun hierbei keine Eigenschaft vor der anderen principiell den Vorrang behaupten darf, so blieb nur eine Coordination aller Hauptgebiete der Wissenschaft \u00fcbrig. Die Reihenfolge ihrer Ordnung aber konnte nur noch von der Einfachheit der Eigenschaften der K\u00f6rper, mit denen sie sich besch\u00e4ftigen, abh\u00e4ngig gemacht werden, bez. von dem Umstande, ob eine gegebene Eigen-Schaft die Kenntniss gewisser anderer Eigenschaften voraussetzt oder nicht. Selbstverst\u00e4ndlich musste dann diejenige Disciplin stets vorausgehen, welche sich mit den einfacheren und unabh\u00e4ngiger zu begreifenden Eigenschaften besch\u00e4ftigt.\nDer wesentliche Grundgedanke des Comte\u2019sehen Systems besteht somit darin, dass es die Wissenschaften in eine Reihenfolge zu bringen sucht, die sich lediglich; auf das Verh\u00e4ltniss der Abh\u00e4ngigkeit gr\u00fcndet, in welchem dieselben zu einander stehen. Dieser Gesichtspunkt f\u00fchrt zun\u00e4chst eine vortheilhafte Vereinfachung mit sich. Eine Reihenfolge der angegebenen Art wird sich von vornherein nur zwischen den theoretischen Wissenschaften her-stellen lassen, da die Abh\u00e4ngigkeit der praktischen von den theoretischen Disciplinen nicht auf der Bedingtheit bestimmter Erkenntnisse durch andere, sondern auf der allgemeinen Bedingtheit unseres Handelns durch unser Erkennen beruht. Mit Recht beschr\u00e4nkt sich daher Comte auf eine Classification der eigentlichen Wissenschaften und verzichtet auf das bei der F\u00fclle und dem verschiedenen Werth der praktischen Gebiete undurchf\u00fchrbare Programm einer logischen Systematisirung aller m\u00f6glichen menschlichen K\u00fcnste und Fertigkeiten, wie ein solches die bisherigen Systeme im Anschl\u00fcsse an Bacon versucht hatten. Der menschliche Geist, meint er, hat eine ihn vollauf besch\u00e4ftigende Aufgabe, wenn er sich auf die Betrachtung der theoretischen Wissenschaften beschr\u00e4nkt; auch ist das Wissen zun\u00e4chst sich selbst Zweck, und die wichtigsten prak-","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber die Einteilung der Wissenschaften.\n15\ntischen Anwendungen leiten sich von Theorien ab, welche aus rein wissenschaftlichen Zwecken hervorgegangen waren und oft Jahrhunderte lang weiter gef\u00fchrt wurden, ohne dass ein praktisches Resultat sich ergeben h\u00e4tte. Mit dieser ersten verbindet nun aber Comte noch die weitere Vereinfachung, dass er in seinem System \u00fcberhaupt nur die allgemeinen Wissenschaften in Betracht zieht und die speciellen Zweige, in welche dieselben sich wieder gro\u00dfen-theils unter dem Einfluss praktischer Bed\u00fcrfnisse der Arbeitstheilung geschieden haben, uner\u00f6rtert l\u00e4sst. So bleiben ihm schlie\u00dflich nur die sechs gro\u00dfen Gebiete der Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Sociologie \u00fcbrig1}.\nDas wesentliche dieser Eintheilung, wodurch sie sich von. allen vorangegangenen Versuchen, abgesehen von ihrer \u00e4u\u00dfereii Einfachheit, unterscheidet, ist die Voraussetzung,1 dass die hier angegebene Reihenfolge dem Verh\u00e4ltniss der Abh\u00e4ngigkeit und gleichzeitig der allgemeinen historischen Entwicklung der einzelnen Wissensgebiete entsprechen soll. Die Mathematik soll also die Grundlage aller anderen Disciplinen und demgem\u00e4\u00df zugleich fr\u00fcher ausgehildet sein als diese. Innerhalb der Mathematik ist die Analysis wieder der vorangehende Theil. Ihr folgt die Geometrie, dieser die Mechanik. Die beiden letzteren besitzen nach Comte bereits den Charakter von Naturwissenschaften, da sich die Geometrie mit den r\u00e4umlichen Eigenschaften der K\u00f6rper besch\u00e4ftigt, w\u00e4hrend die Mechanik noch die Untersuchung ihrer Bewegungen hinzuf\u00fcgt. Nur die Analysis soll demnach, als eine erweiterte Logik, die Bedeutung eines allgemeinen H\u00fclfsmittels des Denkens haben ; Geometrie und Mechanik dagegen seien schon an einen bestimmten Erfahrungsinhalt gebunden, wenngleich derselbe in ihnen noch in sehr abstracter Weise betrachtet werde. Da aber Zahlen und Gr\u00f6\u00dfen ebenso gut als ab-stracte Eigenschaften der Dinge betrachtet werden k\u00f6nnen,.wie Kaum und Bewegung, so ist offenbar der Urheber der positiven Philosophie hier nicht ganz consequent; und in der That ist seine Anschauung in' diesem Sinne von Andern, wie z. B. von John Stuart Mill, berichtigt worden. Auf die Mathematik folgt dann bei ^omte die Astronomie, welche sich theils mit der geometrischen\n1) August Comte, Cours de philosophie positive. I. Le\u00e7. II.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nW. Wundt.\nYertheilung der Weltk\u00f6rper, theils mit der Anwendung der Gesetze der Mechanik auf dieselben besch\u00e4ftigt, also auf unmittelbaren Anwendungen dieser beiden concreteren Theile der Mathematik beruht \u00fcnd durch sie wieder die H\u00fclfe der abstracten Analysis voraussetzt. Der Astronomie schlie\u00dft sich die Physik an, welche speciell die irdischen Vorg\u00e4nge vom mechanischen Gesichtspunkte aus betrachtet, worauf dann die Chemie diese Vorg\u00e4nge mit R\u00fccksicht auf die Zusammensetzung der K\u00f6rper und ihre Ver\u00e4nderungen untersucht. Naturgem\u00e4\u00df kommt dann die Biologie an die Reihe, die lediglich die Bedeutung einer Physik und Chemie der organischen K\u00f6rper besitzt. Als letzter Theil des Systems bleibt endlich die Sociologie \u00fcbrig, die es mit den Wechselbeziehungen einer Mehrheit organischer K\u00f6rper, wie solche in der menschlichen Gesellschaft stattfinden, zu thun hat.\nComte selbst hat schon zugegeben, dass kleine Ausnahmen in Bezug auf die hier statuirten Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen vork\u00e4men. So seien einzelne Zweige der Physik, wie die Optik, f\u00fcr die wissenschaftliche Darstellung ddK Astronomie unentbehrlich. Aber dies seien doch nur Ausnahmen, und deshalb sei namentlich f\u00fcr die wissenschaftliche Erziehung an der Forderung festzuhalten, dass jede Disciplin die ihr vorausgehenden, nicht aber die ihr nachfolgenden voraussetze. \u00bbMan darf\u00ab, sagt Comte, \u00bbdas Studium einer Wissenschaft nicht beginnen, ehe man sich durch die Erlernung der ihr nach meiner Formel vorausgehenden Wissenschaften dazu vorbereitet hat\u00ab. Der Astronom muss Mathematik, der Physiker Mathematik und Astronomie, der Chemiker au\u00dfer beiden auch die Physik sich angeeignet haben u. s. w. Dass die Comte\u2019sche Formel, wenn man diesen praktischen Ma\u00dfstab der Abh\u00e4ngigkeit der einzelnen Disciplinen von einander an sie anlegt, falsch ist, wird heute kein Unbefangener mehr bestreiten. Wenn Comte die Physik der Astronomie nachfolgen l\u00e4sst, deshalb weil die Erde ein einzelner Stern ist und die Physik mit irdischen Erscheinungen experimentirt, so war dies schon zu Comte\u2019s Zeiten eine einseitige Auffassung; in unserem Zeitalter astrophysischer Forschungen ist sie auch der Sache nach unrichtig. Die Physik untersucht die Erscheinungen der Schwere, W\u00e4rme, des Lichtes und der Elektricit\u00e4t nicht deshalb zumeist an irdischen Erscheinungen und Objecten, weil sie sich","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Einteilung der Wissenschaften.\n17\ngrunds\u00e4tzlich auf die Erforschung der Erde beschr\u00e4nkt, sondern pur deshalb weil ihr jene Erscheinungen in ihren irdischen Formen am zug\u00e4nglichsten sind. Ihr eigentliches Ziel besteht aber in der Erkenntnis jener Erscheinungen \u00fcberhaupt, ganz abgesehen von den Orten ihres Vorkommens. In Bezug auf die Astronomie und Physik w\u00fcrde also, wenn eine lineare Reihenfolge herstellbar w\u00e4re, die Ordnung umzukehren sein. Aber eine solche Reihenfolge ist \u00fcberhaupt unm\u00f6glich. Schon die Geometrie ist nicht schlechthin abh\u00e4ngig von der Analysis, ebenso wenig wie die Analysis unabh\u00e4ngig von der Geometrie. Auf die Zahlentheorie und Functionentheorie sind geometrische Betrachtungen von ma\u00dfgebendem Einfl\u00fcsse gewesen, w\u00e4hrend umgekehrt die synthetische Geometrie unabh\u00e4ngig von der Analysis behandelt werden kann. Ebenso ist es zwar richtig, dass die Chemie vielfach physikalische Vorkenntnisse voraussetzt; doch ist nicht minder gewiss, dass einigen Theilen der Physik, besonders der W\u00e4rme- und Elektricit\u00e4tslehre, durch die chemische Seite der Erscheinungen wichtige Gesichtspunkte zugef\u00fchrt werden. Dass die Physiologie in wesentlichen St\u00fccken als eine Physik und Chemie der Organismen betrachtet werden darf, ist ja unbestritten, ebenso dass sie deshalb eine gewisse Vertrautheit mit mathematischen H\u00fclfs-mitteln voraussetzt. Aber die Kenntniss der Astronomie mag f\u00fcr den Physiologen vom Standpunkte der allgemeinen Bildung aus w\u00fcnschenswerth sein, gewiss ist sie f\u00fcr ihn kein unerl\u00e4ssliches Hiilfsmittel, ebenso wenig wie sie ein solches eigentlich f\u00fcr den Physiker und Chemiker ist. Und wer m\u00f6chte heute noch bestreiten, dass gewisse Seiten des physiologischen Arbeitsgebietes auf das engste mit psychologischen Problemen Zusammenh\u00e4ngen, so dass an diesem Punkte auch die Psychologie mit in jenen Kreis vielseitigster Wechselbeziehungen hereingezogen wird, in dem sich die Naturwissenschaften unter einander befinden? Doch m\u00f6gen immerhin, abgesehen von diesen falschen Voraussetzungen \u00fcber ihre Anordnung, in Comte\u2019s System die Hauptgebiete der Naturwissenschaften zu ihrem Rechte gekommen sein, den vorhandenen Geisteswissenschaften gegen\u00fcber befindet sich dasselbe lediglich auf einem negirenden Standpunkte. An Stelle der thats\u00e4chlichen Arbeitstheilung, wie sie sich hier ebenso gut wie dort aus den inneren Bedingungen der Gegenst\u00e4nde heraus entwickelt hat, soll eine einzige Zukunftswissenschaft, die\nWundt, Philos. Studien. V.\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nW. Wundt.\nSociologie, treten, welche von dem Bestand der bisherigen historischen und systematischen Disciplinen nur das wenige aufnehmen soll, was in die Voraussetzungen des positiven Systems passt. Die k\u00fcnftigen Sociologen sollen dann aber Naturforscher h\u00f6chsten Banges sein, geschult in Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, \u2014 denn alle diese Kenntnisse sollen f\u00fcr den Sociologen unerl\u00e4sslich sein. So wird hier Comte der allerersten Forderung einer jeden Systematik ungetreu, der Forderung, dass das System die vorhandenen Objecte, nicht beliebig erdachte zu classificiren hat. Freilich, da er das Existenzrecht der Psychologie bestreitet, oder vielmehr an ihre Stelle nichts geringeres als die Scheinwissenschaft der Phrenologie setzen m\u00f6chte, so fehlt es ihm \u00fcberhaupt an der Grundlage, auf der eine angemessene W\u00fcrdigung der Geisteswissenschaften m\u00f6glich w\u00e4re. Ebenso bringt es sein philosophischer Standpunkt mit sich, dass f\u00fcr ihn philosophische Wissenschaften au\u00dferhalb der Hauptgebiete der einzelnen Wissenschaften nicht existiren. Die Metaphysik geh\u00f6rt so gut wie die Theologie einem verschwundenen Zeitalter an; das Vorhandensein allgemeiner Erkenntnissprobleme, die nicht in irgend einer der Einzelwissenschaften erledigt werden k\u00f6nnen, ignorirt er. Nach seiner Auffassung ist aber dieses System schon deshalb, wreil es sich auf die Eintheilung der allgemeineren Gebiete beschr\u00e4nkt, zugleich ein System der Philosophie. Denn Philosophie ist nach Comte nichts anderes als encyklop\u00e4dische Uebersicht der allgemeinen Besultate der Einzelwissenschaften.\nAbgesehen von allen M\u00e4ngeln im einzelnen wird Comte's Eintheilung von zwei Anschauungen beherrscht, auf die er den gr\u00f6\u00dften Werth legt, von denen aber gleichwohl die eine nur halb wahr, die andere v\u00f6llig falsch ist. Erstens sollen alle Wissenschaften in abstracte und concrete zerfallen, wobei sie zugleich eine continuirliche Stufenfolge bilden, indem jede abstracter sei als die ihr nachfolgende, concreter aber als die vorausgehende. Zweitens sollen alle Wissenschaften eine Hierarchie mit linearer Anordnung bilden, da jede von den vorangegangenen abh\u00e4ngig, von den nachfolgenden aber unabh\u00e4ngig sei. Die erste dieser Unterscheidungen kommt nun in jeder Wissenschaft, abgesehen von ihrer Beziehung zu andern, in Anwendung, da sie sich zun\u00e4chst","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n19\nmit einem concreten Stoff besch\u00e4ftigt, bei dessen Bearbeitung sie sich des H\u00fclfsmittels der Abstraction bedient. Der einzelne Naturvorgang, z. B. das Fallen eines Steins, die Erw\u00e4rmung eines K\u00f6rpers unter dem Einfluss \u00e4u\u00dferer W\u00e4rmestrahlen oder der Reibung, ist gerade so concret wie eine einzelne Pflanze oder ein einzelnes Thier ; auch bleiben der botanische und der zoologische Systematiker ebenso wenig bei dem concreten Objecte stehen, wie der Physiker bei der concreten Erscheinung, vielmehr bildet jener aus den einzelnen Objecten abstracte Classen- und Gattungsbegriffe, dieser vereinigt verwandte Einzelerscheinungen zu allgemeinen Gesetzen. Zu behaupten, der Begriff Wirbelthier sei concreter als die Begriffe W\u00e4rme oder Elektricit\u00e4t, ist vollkommen willk\u00fcrlich. Beiderlei Begriffe beruhen auf Abstractionen verschiedener Art: je mehr diese qualitativ differiren, um so weniger k\u00f6nnen sie aber quantitativ mit einander verglichen werden. Ebenso muss in diesen verschiedenen F\u00e4llen \u00fcberall schon bei der Einzeluntersuch\u00fcng eine Abstraction ge\u00fcbt werden: der Anatom, der das Nervensystem eines Thieres schildert, abstrahirt dabei von der sonstigen Organisation ; der Physiker, der die W\u00e4rmeleitung in einem Stabe untersucht, vernachl\u00e4ssigt dessen weitere physikalische Eigenschaften. Bei dieser Unerl\u00e4sslichkeit des Abstractionsverfahrens zu jeder Art wissenschaftlicher Forschung und Begriffsbildung ist es v\u00f6llig unm\u00f6glich, dem Grade der Abstraction einen sicheren Ma\u00dfstab f\u00fcr die Gliederung der einzelnen Gebiete zu entnehmen.\nHerbert Spencer hat gegen Comte bemerkt, es sei von demselben in diesem Fall der Gegensatz des Abstracten und Concreten mit dem des Allgemeinen und Besonderen verwechselt worden. Die Physik sei eine allgemeinere, aber keine abstractere Wissenschaft als die Biologie, weil die physikalischen Erscheinungen verbreiteter seien als die Lebenserscheinungen. Doch wollte man die Comte\u2019sche Stufenleiter in diesem Sinne verbessern, so w\u00fcrde der Gesichtspunkt der Eintheilung immer noch ein bestreitbarer hleiben. Denn man kann mit Recht bezweifeln, ob z. B. die Doppelbrechung in Kryst\u00e4llen, die ein Object physikalischer Forschung bildet, allgemeiner zu nennen sei als irgend eine Thierspecies oder als der Begriff der Wirbelthierclasse. Wenn also wirklich die meisten physikalischen Erscheinungen die verbreiteteren sind, so kann\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nW. Wundt.\ndies nur ein begleitender Umstand, nicht der die Unterscheidung der Gebiete bestimmende Eintheilungsgrund sein. Der wahre Gegensatz, der sich hinter diesen verfehlten Unterscheidungen des Abstracten und Concreten, des Allgemeinen und Besonderen verbirgt, ist vielmehr der des Naturvorgangs und des Naturgegenstandes. Man kann zugeben, dass bei der Untersuchung der Natur Vorg\u00e4nge das Abstractions verfahren fr\u00fcher und bedeutungsvoller in die Untersuchung eingreift als bei der Erforschung der, Naturgegenst\u00e4nde. Aber dieser Unterschied ist nicht von so entscheidender Art, dass er zur Wahl eines Eintheilungsgrundes sich eignet. Auch ist er nur den Naturwissenschaften entnommen; auf die Geistes Wissenschaften ist er von Comte nur mittelst der Fiction seiner \u00bbSociologie\u00ab \u00fcbertragen worden, die er in unmittelbare Abh\u00e4ngigkeit von der Physik und Biologie bringt. Ein Gebiet allerdings gibt es, welches, wie anerkannt werden muss, sowohl in Bezug auf den Umfang wie auf die Form der Abstraction eine eigen-th\u00fcmliche Stellung einnimmt, und ohne Zweifel ist es dieses Beispiel, welches hier auf die Auffassung der \u00fcbrigen Wissenschaften verwirrend eingewirkt hat. Dieses Gebiet ist die Mathematik. Freilich hat Comte selbst gerade hier die wahren Grenzen verwischt, indem er die Geometrie und Mechanik zu den Naturwissenschaften stellte und so zwischen diesen mathematischen Disciplinen und der Astronomie, Physik u. s. w. nur einen gradweisen Unterschied anerkannte. In Wahrheit beruht aber der Unterschied der mathematischen und der empirischen Wissenschaften \u00fcberall darauf, dass sich jene nicht auf die Gegenst\u00e4nde und Vorg\u00e4nge der Natur selbst, sondern auf die formalen Abstractionen beziehen, zu denen ein beliebiger Erfahrungsinhalt Anlass geben kann. Nicht in der Thatsache der Abstraction oder auch nur in dem Grade derselben, sondern in ihrem formalen Charakter besteht daher die wesentliche Eigenth\u00fcmlichkeit der Mathematik. Dieser Charakter ist aber der Geometrie ebenso eigen wie der Arithmetik, wogegen die Mechanik allerdings nur insoweit hierher zu rechnen ist, als sie den Bewegungsbegriff ohne R\u00fccksicht auf die physikalischen Eigenschaften der bewegten K\u00f6rper, also ebenfalls lediglich in Bezug auf seine formalen Eigenschaften, betrachtet. Die Mechanik der unter der Ber\u00fccksichtigung der speciellen Naturkr\u00e4fte und der physikalischen","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n2t\nEigenschaften der K\u00f6rper untersuchten Bewegungen bildet dagegen einen integrirenden Bestandtheil der Physik. Der Umstand, dass hier die praktische Trennung der Lehrdisciplinen nicht \u00fcberall mit der logischen Scheidung zusammentrifft, und dass also die abstracte und die concrete Mechanik zumeist in der Darstellung mit einander verbunden werden, kann nat\u00fcrlich an diesem principiellen Verh\u00e4lt-niss nichts \u00e4ndern.\nMit der irrigen Vorstellung, dass die Gliederung der Wissenschaften auf einer Stufenleiter in sich gleichartiger Abstractionen beruhe, h\u00e4ngt die andere von der Hierarchie derselben und von ihrer linearen Anordnung unmittelbar zusammen. Sie setzt aber au\u00dferdem eine Abh\u00e4ngigkeit des Inhaltes voraus, welche theils in der hier angenommenen Weise nicht existirt, theils wirklich in einer Form vorhanden ist, die jenem Gedanken vollst\u00e4ndig widerstreitet. Wir haben oben schon an einigen Beispielen die thats\u00e4ch-lichen Widerspr\u00fcche gegen diese Behauptung dargethan. In Wahrheit befinden sich die Wissenschaften nicht in einem einseitigen, sondern in einem vielseitigen Verb\u00e4nde, der unter Umst\u00e4nden jede zu einem H\u00fclfsmittel der andern machen kann. K\u00f6nnen Physik und Chemie der H\u00fclfe der Mathematik nicht entrathen, so sieht sich diese hinwiederum \u00fcberall bei der Auffindung neuer Probleme auf die Anregungen angewiesen, die sie diesen Erfahrungswissenschaften entnimmt. Es kann sich also stets nur um das gr\u00f6\u00dfere oder geringere Ma\u00df solcher Abh\u00e4ngigkeit handeln, und sobald dieses festgestellt ist, wird dann nat\u00fcrlich besonders im Unterricht diejenige Disciplin vorausgehen, welche relativ unabh\u00e4ngiger ist. Gleichwohl wird auch unter dieser Voraussetzung eine Art hin- und hergehender Bewegung in den meisten F\u00e4llen gerade in Folge jener Wechselbeziehungen zweckm\u00e4\u00dfiger sein als die strenge Reihenfolge, und es wird daher auch dieses System thats\u00e4chlich allgemein eingehalten. So dient eine gewisse mathematische Vorbereitung dem Studium der Experimentalphysik, dieses dagegen ist f\u00fcr den Uebergang zur h\u00f6heren Mathematik, namentlich zu denjenigen Gebieten derselben, die ihre Anregung durch physikalische Probleme erhalten haben, unerl\u00e4sslich. M\u00f6gen aber auch die Wechselbeziehungen zwischen den Disciplinen noch so umfassend sein, und m\u00f6gen sich unter Umst\u00e4nden sogar unerwartet solche zwischen bisher fern liegenden","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nW. Wundt.\nGebieten sich gestalten, immer werden doch gewisse Gruppen von Wissenschaften \u00fcbrig bleiben, deren einzelne Glieder einander un-verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig viel n\u00e4her stehen, so dass dagegen die Beziehungen zu andern verschwinden. Solche Gruppen bilden z. B. innerhalb der Naturwissenschaften die physikalisch-chemischen, sowie die systematisch-naturgeschichtlichen Gebiete, innerhalb der Geisteswissenschaften einerseits die historischen Disciplinen, andrerseits die Jurisprudenz und National\u00f6konomie. Von diesen Gruppen stehen sich dann einzelne selbstverst\u00e4ndlich wieder n\u00e4her. Namentlich sind die einzelnen Gruppen der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften zumeist enger verbunden. So k\u00f6nnen der Jurist und der Theologe der historischen Studien nicht entbehren, w\u00e4hrend Mathematik und Physik f\u00fcr sie nur insoweit in Betracht kommen, als f\u00fcr die h\u00f6here Bildung eine gewisse allgemeine Orien-tirung auch \u00fcber entferntere Gebiete w\u00fcnschenswerth ist.\nIn manchen Punkten, namentlich in Bezug auf die lineare Anordnung der Wissenschaften mit Comte nicht einverstanden, jedoch im Geiste Comte\u2019s suchte Herbert Spencer dessen System zu verbessern, indem er den Unterschied des Abstracten und Concreten beibehielt, aber genauer zu bestimmen bem\u00fcht war. Abstract, meint Spencer, k\u00f6nnen nur solche Erkenntnisse genannt werden, die sich \u00fcberhaupt nicht auf die Gegenst\u00e4nde selbst, sondern lediglich auf deren Relationen der Coexistenz und Aufeinanderfolge beziehen, also in letzter Instanz auf den Raum und die Zeit. Nur die reine Mathematik, Geometrie und Arithmetik, hat es aber mit diesen abstracten Relationen zu thun. Demnach gibt es nur eine im eigentlichen Sinne abstracte Wissenschaft, die Mathematik. Eine zweite Reihe von Erkenntnissen soll sich dann auf die Relationen der concreten in Raum und Zeit befindlichen Dinge beziehen: zur Erkl\u00e4rung dieser Relationen sind Kr\u00e4fte erforderlich, die nach bestimmten Gesetzen wirken. Die zweite Gruppe, die der abstract-concreten Wissenschaften, umfasst daher die Disciplinen, welche sich mit den allgemeinen Naturkr\u00e4ften besch\u00e4ftigen, die Mechanik, die Physik und die Chemie. Concrete Erkenntnisse endlich sind solche, die sich auf einzelne Gegenst\u00e4nde beziehen. Zu den concreten Wissenschaften geh\u00f6ren daher alle diejenigen, welche es nicht mit den Naturgegenst\u00e4nden \u00fcberhaupt in ihren Wechsel-","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n23\nBeziehungen, sondern mit ganz bestimmten einzelnen Naturgegenst\u00e4nden oder mit bestimmten Gruppen von solchen zu thun haben. In diese Classe fallen demnach alle in den vorigen nicht enthaltenen Gebiete: so die Astronomie, Geologie, Biologie, wobei Spencer als specielle Theile der letzteren auch die Psychologie und Sociologie betrachtet1).\nDass diese Classification gegen\u00fcber der Comte\u2019schen eine Verbesserung ist, wird man nicht bestreiten. Abgesehen von der rieh-\n^\t\u2022\t\u2022\t\u2022\ts\ntigeren Stellung, welche hier einzelne Disciplinen, wie die Astronomie, die Mechanik, erhalten, besteht der wesentliche Fortschritt darin, dass den verschiedenartigen Wechselwirkungen ihre Bedeutung einger\u00e4umt wird, wenn dies auch allzu sehr nach der Schablone geschieht, die sich Spencer f\u00fcr die Gewinnung seiner drei Gruppen ausersehen hat. Es sollen n\u00e4mlich stets eine abstracte, eine abstract-concrete und eine concrete Wissenschaft einander coordinirt sein. Die abstracten dienen den beiden andern als H\u00fclfsmittel, empfangen aber ihrerseits von diesen den Stoff ihrer Untersuchungen. Ebenso soll die zweite Classe der dritten als H\u00fclfsmittel dienen und dagegen von ihr das Material entnehmen. Schon f\u00fcr das Verh\u00e4lt-niss der Mathematik zu den Naturwissenschaften, das hier offenbar zum Vorbild diente, ist dieses Schema nur halb zutreffend, weil dabei die Thatsache nicht zum Ausdruck kommt, dass die mathematische Speculation nicht nothwendig an die ihr durch die empirischen Gegenst\u00e4nde und ihre Relationen, dargebotenen Begriffsbildungen gebunden bleibt, sondern nach dem Permanenzprincip von ihnen aus zu neuen Begriffsbildungen fortschreitet, von denen man doch nur sagen kann, dass die erste Anregung zu denselben, nicht aber dass ihr Stoff in den concreten Objecten und ihren Beziehungen gegeben sei. Auf die Wechselwirkung der von Spencer sogenannten abstract-concreten und der concretefl Wissenschaften kann aber dieses Verh\u00e4ltniss nur h\u00f6chst gezwungen angewandt werden, wie denn \u00fcberhaupt die Unterscheidung dieser Classen vielfach eine willk\u00fcrliche ist. Physiologie und Psychologie haben nach dem ganzen Charakter ihrer Untersuchungen sicherlich mit der Physik und Chemie eine viel n\u00e4here Verwandtschaft als mit\n1) Herbert Spencer, The genesis of science, Essays Vol. I Nr. 3. The classification of the sciences, Essays Vol. III. Nr. 1.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nW. Wundt.\nder systematischen Naturgeschichte. Der Gesichtspunkt, dass die Erscheinungen, mit denen sie sich besch\u00e4ftigen, nur an einzelnen Gegenst\u00e4nden zur Beobachtung kommen, ist hier ein ganz und gar nebens\u00e4chlicher; ebenso der andere, ob die betreffenden Vorg\u00e4nge an vielen oder an wenig Gegenst\u00e4nden, oder ob sie nur an bestimmten Classen von Gegenst\u00e4nden untersucht werden k\u00f6nnen. W\u00fcrden doch nach diesem Gesichtspunkt zahlreiche physikalische Erscheinungen, wie die Doppelbrechung des Lichtes, der Magnetismus u. s. w., mindestens mit gleichem Hechte wie die physiologischen oder die psychologischen Processe dem concreten Gebiet zuzurechnen sein.\tI\nMan wird nicht verkennen, dass in Spencer\u2019s Classification die alte Unterscheidung erkl\u00e4render und beschreibender Naturwissenschaften noch einigerma\u00dfen nachwirkt. Mit Recht hat er diese in Wahrheit v\u00f6llig unzutreffende Unterscheidung verlassen, da keine Wissenschaft der Beschreibung entrathen kann, ebenso aber jede in der Erkl\u00e4rung ihrer Objecte ihre letzte Aufgabe sieht. Aber indem er an die Stelle dieser Unterscheidung die andere zwischen den Objecten und den Relationen der Objecte setzt, um die ersteren den concreten, die letzteren den abstract-concreten - und den abstracten Wissenschaften zuzutheilen, hat auch er einen nicht zutreffenden Eintheilungsgrund gew\u00e4hlt. Der wahre Unterschied , der sich hinter allen diesen umgestaltenden Ausdr\u00fccken verbirgt, ist wieder der des Vorgangs und des Gegenstandes. Dieser Unterschied ist es, der in der That den systematischen Naturwissenschaften, die in der genealogischen Ordnung bestimmter Arten von Naturgegenst\u00e4nden ihre Aufgabe erblicken, ein gewisses Recht der Selbst\u00e4ndigkeit verleiht. Nach diesem Gesichtspunkte werden manche Gebiete, wie die Astronomie, die Biologie, ja schon die Chemie, in einen systematischen und in einen die Theorie der Pro-cesse behandelnden Theil zu trennen sein ; nicht aber kann, wie es von Spencer geschieht, ein derartiges Gebiet ohne weiteres entweder ganz der einen oder andern Gruppe zugetheilt werden, also z. B. den abstract-concreten Wissenschaften die Chemie, den concreten die Astronomie, w\u00e4hrend man doch billig zweifeln kann, ob die Chemie nicht sehr viel mehr an concretem Thatbestand enth\u00e4lt als die Astronomie. Ganz unzul\u00e4ssig ist es endlich, wenn diese","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n25\nden Naturwissenschaften entlehnte Unterscheidung auf die Mathematik \u00fcbertragen wird. So wenig wie es von der Chemie richtig ist, dass sie es blo\u00df mit Relationen, und von der Astronomie, dass sie es blo\u00df mit Objecten zu thun habe, ebenso wenig kann die Mathematik als eine Wissenschaft der reinen Relationen bezeichnet werden. Vielmehr beziehen sich ihre Begriffe ebensowohl auf Gegenst\u00e4nde, wie auf Verh\u00e4ltnisse von Gegenst\u00e4nden. Ein Dreieck z. B. ist ein gegenst\u00e4ndlicher Begriff, w\u00e4hrend eine arithmetische Operation, eine analytische oder geometrische Function eine Relation enth\u00e4lt, die freilich, wie jede Relation, Gegenstandsbegriffe voraussetzt. Nun sind allerdings die Gegenst\u00e4nde, mit denen sich die Mathematik besch\u00e4ftigt, nicht die unmittelbaren empirischen Gegenst\u00e4nde; aber auch die Relationen, die sie untersucht, beziehen sich nicht auf die empirischen Gegenst\u00e4nde selbst, sondern auf abstracte Begriffe, die nicht einmal immer als logische Schemata f\u00fcr die empirischen Begriffe betrachtet werden k\u00f6nnen. Auch diese Auffassung verkennt also v\u00f6llig den wesentlichen Charakter aller mathematischen Begriffsbildung. Sie sucht den tief greifenden Unterschied zwischen dem mathematischen und dem physikalischen Gebiet aus einem blo\u00dfen Gradunterschied der Abstraction abzuleiten, w\u00e4hrend in Wahrheit alle mathematischen Begriffe auf einer qualitativ verschiedenen Abstractionsform beruhen.\nWie in diesem Punkte Spencer sichtlich noch die Einseitigkeit des Comte\u2019schen Positivismus und Naturalismus erkennen l\u00e4sst, so verr\u00e4th sich der letztere nicht weniger an der Stellung, die er den Geisteswissenschaften anweist, oder auch nicht anweist; denn eine Menge der hier bestehenden Disciplinen, die eine lange Geschichte hinter sich haben, sind in Spencer\u2019s System nicht unterzubringen. Die Psychologie betrachtet er als einen Theil der Biologie und scheidet sie wieder in einen allgemeinen und in einen speciellen Theil, von denen der letztere abermals in zwei Theile zerfallt, in einen solchen, der sich mit dem einzelnen Wesen besch\u00e4ftigt, die Individualpsychologie, und in einen andern, der die Gesellschaft zu seinem Objecte hat, die Sociologie. Was nun aus der Gesammt-heit der Geisteswissenschaften in Spencer\u2019s Sociologie keinen Platz findet, das wird \u00fcberhaupt nicht als Wissenschaft anerkannt. An allem dem sind die Spuren der Comte\u2019schen Hierarchie noch","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nW. Wundt.\ndeutlich zu sehen. Ist auch Spencer umsichtig genug, der Psychologie ihre eigenen Aufgaben zu wahren, so kann doch die selbst\u00e4ndige Stellung derselben als der Grundlage der Geisteswissenwissenschaften ebenso wenig wie die thats\u00e4chliche Bedeutung dieser letzteren zu einem geb\u00fchrenden Ausdruck kommen, so lange die Psychologie lediglich als ein Theil der Physiologie angesehen und au\u00dferhalb der so construirten Psychologie \u00fcberhaupt keine Geistes Wissenschaft anerkannt wird. Immer wieder vergessen diese Systematiker, da wo ihre eigenen Zukunftsprogramme f\u00fcr die Entwicklung der Wissenschaft in Frage kommen, dass die n\u00e4chste Aufgabe darin besteht, die vorhandenen Wissenschaften in eine systematische Ordflung zu bringen. Uebrigens stimmt Spencer nicht blo\u00df in Bezug auf die Bedeutung, die er einer zuk\u00fcnftigen Sociologie beilegt, sondern auch hinsichtlich des Verh\u00e4ltnisses der Philosophie zu den Einzelwissenschaften mit Comte \u00fcberein. Die Philosophie findet auch in seinem System deshalb keine Stelle, weil sie lediglich den principiellen Theil der Einzelwissenschaften umfasst, so dass, \u00e4hnlich wie bei Comte, die. Eintheilung der Einzelwissenschaften zugleich Eintheilung der Philosophie ist. Dennoch hat sich in diesem Punkte hei Spencer die Einseitigkeit des .Comte\u2019schen Positivismus erm\u00e4\u00dfigt, da er inseinen \u00bbfirst principles\u00ab selbst eine Untersuchung der allen Wissenschaften gemeinsamen Principien vornimmt, daher auch in diesem Werk, welches die sonstigen Aufgaben einer Erkenntnisstheorie und einer Metaphysik in sich vereinigt, die Grundgedanken seines eignen philosophischen Systems s\u00e4mmtlich zu finden sind.\nIn einem vollen Gegens\u00e4tze zu den bisher besprochenen, fast \u00fcberall auf das Baconische Vorbild zur\u00fcckgehenden Eintheilungen stehen diejenigen Classificationen, welche aus den Systemen der neueren speculativen Philosophie hervorgegangen sind. W\u00e4hrend dort die Philosophie in den Einzelwissenschaften aufgeht oder doch ihnen gegen\u00fcber nicht zu einer selbst\u00e4ndigen Geltung gelangt, werden umgekehrt hier die Einzelwissenschaften durch die Philosophie absorbirt. Uebrigens sind im letzteren Falle die Eintheilungen selbst keineswegs neu. Nur die Grundlagen sind allerdings neu, auf denen fr\u00fchere Eintheilungen wiederkehren. In der That ist es","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Einteilung der Wissenschaften.\n27\nunschwer zu erkennen, dass alle encyklop\u00e4dischen Gliederungen neuerer philosophischer Systeme entweder auf die aristotelische oder auf die platonische Unterscheidung zur\u00fcckkommen. Indem man die \u00bbpoietischen\u00ab Wissenschaften des Aristoteles, als der reinen Wissenschaft nicht homogen, hinweglie\u00df, kam man zu der einfachen Gegen\u00fcberstellung einer theoretischen und praktischen Philosophie. In diesem Sinne schied Richte seine Wissenschaftslehre, und an ihn schlie\u00dft sich in dieser Beziehung Herb art an. Die Einzelwissenschaften reihen sich dann von selbst entweder dem einen oder dem andern dieser Hauptgebiete der Philosophie an. Auf die platonische Dreitheilung geht Hegel\u2019s System zur\u00fcck. Der Dialektik entspricht bei Hegel die Logik, der\" Physik die Naturphilosophie, der Ethik die Geistesphilosophie. Die wesentliche Ver\u00e4nderung liegt in der Erweiterung des letzteren Begriffs. Eine Zwischenstellung zwischen beiden Eintheilungen nimmt Schelling mit seinen zwischen einer Zwei- und Dreitheilung schwankenden Versuchen ein, wie er es denn thats\u00e4chlich gewesen ist, der die Entstehung der Gedanken vorbereitet hat, aus denen Hegel\u2019s System hervorging. In Hegel\u2019s Encyklop\u00e4die ist unter allen Ausf\u00fchrungen dieser Philosophen am meisten das zu finden, was einer Classification der Gesammtheit der Wissenschaften \u00e4hnlich sieht, Viele der einzelnen Begriffsglieder entsprechen unmittelbar bestimmten Wissenschaftsgebieten : so wenn die ganze Naturphilosophie in Mechanik, Physik und Organik, die Mechanik wieder in mathematische Mechanik, endliche Mechanik und Astronomie geschieden wird, u. s. w. Doch kommt die thats\u00e4chliche Bedeutung vieler Einzel Wissenschaften nicht zu ihrem Rechte, und der Zwang des dialektischen Processes l\u00e4sst eine sachgem\u00e4\u00dfe Gliederung selten aufkommen. Da \u00fcberdies Begriffsentwicklung, nicht aber Classification die eigentliche Absicht des Systems ist, so ist es unvermeidlich, dass Glieder auftreten, die durch kein besonderes ' Wissenschaftsgebiet repr\u00e4sentirt sind. Alle einzelnen Fehler dieser Encyklop\u00e4die h\u00e4ngen aber mit dem Grundirrthum zusammen, dass dieses System das Ganze des menschlichen Wissens mittelst einer von der Erfahrung unabh\u00e4ngigen Begriffsentwicklung glaubt gewinnen zu k\u00f6nnen.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"2S\nVV. Wundt.\nII. Allgemeine Gesichtspunkte der systematischen Eintheilung.\nUnzweifelhaft hat das Problem der Eintheilung der Wissenschaften in England und Frankreich mehr als in Deutschland die Geister besch\u00e4ftigt. Ein Symptom hierf\u00fcr liegt namentlich auch darin, dass dort nicht blo\u00df Philosophen, sondern mehrfach hervorragende Vertreter einzelner Wissenschaften, Mathematiker, Naturforscher, Juristen, die Frage behandelten. Es mag dies davon herr\u00fchren, dass die ger\u00fchmte deutsche Universalit\u00e4t doch weniger eine individuelle als eine collective Eigenschaft ist. Als Individuen sind wir zumeist einseitiger als die Engl\u00e4nder und Franzosen, bei denen Fachgelehrte, die mit den wichtigsten Fortschritten auf andern Gebieten vertraut sind, h\u00e4ufiger Vorkommen d\u00fcrften. So ist es denn auch begreiflich, dass unsere Gelehrten, im Besitz ihrer sicheren Aufgaben, sich f\u00fcr ihre Zwecke an der praktischen Arbeitsteilung gen\u00fcgen lassen, die thats\u00e4chlich eingetreten ist und sich bew\u00e4hrt hat. In der That wird nun jeder Eintheilungsversuch auf diese Ergebnisse der nat\u00fcrlichen Entwicklung R\u00fccksicht nehmen m\u00fcssen. Nichts kann verkehrter sein, als wenn man, wie es bei einigen der oben besprochenen Einteilungen in gewissem Umfange stattgefunden hat, so verf\u00e4hrt, als seien die Objecte, die man classificiren soll, selbst erst zu schaffen. Was einem Ba'con angesichts des unentwickelten Zustandes der Wissenschaft seiner Tage erlaubt war, ist uns heute versagt. Bei dem ausgebildeten Zustand der einzelnen Wissenschaften, dessen wir uns erfreuen, k\u00f6nnen Ver\u00e4nderungen der Gebietstheilung oder die Entstehung neuer Gebiete im allgemeinen nur noch auf dem Wege allm\u00e4hlicher Entwicklung erwartet werden. Der von Bacon so erfolgreich eingef\u00fchrten Kategorie der \u00bbDesiderata\u00ab wird sich daher der Systematiker nur noch im bescheidensten Ma\u00dfe und nat\u00fcrlich niemals ohne sorgf\u00e4ltig erwogene Gr\u00fcnde bedienen d\u00fcrfen. In der That haben die wenigen Versuche, die bei uns in j\u00fcngster Zeit in dieser Richtung gemacht worden sind, im allgemeinen sich beflei\u00dfigt diese Regel eiuzu-halten *). Doch sind diese Versuche nicht in der Absicht einer\n1) Vergl. B. Erdmann, Die Gliederung der Wissenschaften, in der Vierteljahrsschrift f. wiss. Phil. II, 72, sowie meine Logik, II, S. 74, 220 und 478 ff.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n29\neingehenden, logischen Systematik unternommen worden, sondern dieselben besch\u00e4ftigen sich blo\u00df mit der Untersuchung des logischen Verh\u00e4ltnisses der haupts\u00e4chlichsten Wissenschaftsgebiete zu einander, also mehr mit einer Vorfrage der Classification als mit dieser selber.\nDer Forderung, dass die Eintheilung der Wissenschaften, wie ' im allgemeinen jede Classification, von dem zu classificirenden Objecte, das hei\u00dft von den bestehenden Wissenschaften auszugehen habe, ist nun ^zuweilen die andere substituirt worden, jene Eintheilung habe sich nach den Gegenst\u00e4nden zu richten, mit denen sich die Wissenschaften besch\u00e4ftigen. Besonders die unter dem Einfluss der naturwissenschaftlichen Systematik entstandenen Versuche haben zum Theil diese Verwechselung begangen. Nun trifft es zwar vielfach zu, dass die Wissenschaften selbst nach den Gegenst\u00e4nden sich scheiden ; aber dies ^ist doch keineswegs \u00fcberall (jer F%3\u00df* Das n\u00e4chste Motiv, welches die Scheidung der Wissenschaften bestimmt, ist vielmehr die Verschiedenheit der Gesichtspunkte, unter denen die Objecte betrachtet werden. Nicht nach den Gegenst\u00e4nden unmittelbar, sondern nach den Begriffsbildungen, weiche durch die Gegenst\u00e4nde angeregt werden, richtet sich die Trennung der Wissenschaften. Darum ist in sehr vielen F\u00e4llen ein und .derselbe Gegenstand Object,, mehrerer Wissenschaften. Ein K\u00f6rper kann von der Geometrie, von der Mechanik, der Physik, Chemie, Mineralogie und unter Umst\u00e4nden noch von andern Naturwissenschaften betrachtet werden. In Wahrheit konnte daher auch- von den nach naturgeschichtlichem Vorbild unternommenen Einteilungen jenes Princip der Gliederung nach Objecten nur scheinbar festgehalten werden, da die K\u00f6rper und die Geister, nach denen ein Bentham und Amp\u00e8re ihre Unterscheidung von K\u00f6rper- und Geistes Wissenschaften ausf\u00fchrten, in Wahrheit gar nicht verschiedene Objecte, sondern verschiedene Classen von Erscheinungen sind, die in der uns umgebenden Welt an den n\u00e4mlichen Objecten sich darbieten. Comte und Spencer haben diesen Sachverhalt richtig erkannt. Wenn sie aber aus diesem Grunde die Geisteswissenschaften einfach den Naturwissenschaften subsumirten, so sind sie hier selbst von dem n\u00e4mlichen falschen Gesichtspunkte geleitet worden. Denn die thats\u00e4chliche Gliederung der Wissenschaften ist nicht dadurch\nentstanden, dass man sich verschiedenen Objecten mit verschiedenen \u2666\nV","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nW. Wundt.\nEigenschaften gegen\u00fcbersah. Vielmehr wurde dipse wie jede andere Arbeitsteilung durch die Uebung der verschiedenen Th\u00e4tigkeiten veranlasst, die in den verschiedenen Gebieten erfordert wird. Direct hat sie also nicht in dem Object, sondern in dem erkennenden' Subject ihren Ursprung, in dem Object immer nur insoweit, als dieses auf die Art der stattfindenden Arbeit von Einfluss ist. Nun richtet sich aber die Art der wissenschaftlichen Arbeit \u00fcberall nach den Methoden, deren man sich zur L\u00f6sung der Probleme bedient, und diese Methoden werden ihrerseits wieder von der Art der Begriffsbildung bestimmt, welche der betreffenden Wissenschaft zu Grunde liegt. So kann sich z. B. die Mathematik auf die allerverschiedensten Objecte erstrecken, auf Naturgegenst\u00e4nde, Naturvorg\u00e4nge, geistige Processe oder sogar auf g\u00e4nzlich fingirte Begriffe. Alle mathematischen Begriffe werden aber durch die Art der Abstraction, die bei ihnen obwaltet, klar von den in den s\u00e4mmtlichen andern Wissenschaften vorkommenden Begriffsbildungen geschieden. So ferner besch\u00e4ftigen sich die Rechtswissenschaft und die National\u00f6konomie beide mit gewissen gesellschaftlichen Verh\u00e4ltnissen und Erscheinungen: eine und dieselbe Thatsache,' z. B. ein Handelsvertrag zwischen zwei Nationen, kann Gegenstand juristischer und national\u00f6konomischer Untersuchung sein. Aber die Begriffe und Methoden, die in beiden F\u00e4llen zur Anwendung kommen, sind v\u00f6llig andere. Der National\u00f6konom fasst die wirtschaftlichen Folgen, die Vortheile und Nachtheile eines solchen Vertrages, der Jurist die verbindliche Kraft und die Rechtsfolgen desselben ins Auge. Gerade bei den allgemeinen Scheidungen der Gebiete ist auf diese Weise die Incongruenz zwischen dem der wissenschaftlichen Betrachtung gegebenen Gegenstand und der Art dieser Betrachtung am augenf\u00e4lligsten. Erst bei der engeren Scheidung der Einzelgebiete wird das Object als solches mehr und mehr ma\u00dfgebend auch f\u00fcr die Bearbeitung desselben. So hat die Naturgeschichte im allgemeinen ihre Objecte mit der Mechanik, Physik und Chemie gemeinschaftlich, aber die einzelnen Zweige der Naturgeschichte, die Mineralogie, Botanik, Zoologie, theilen sich unter die verschiedenen in der \u00e4u\u00dferen Natur vorkommenden Objecte.\nIm h\u00f6chsten Ma\u00dfe findet daher jener Gesichtspunkt, dass unsere Auffassung und Betrachtung des Gegenstandes und nicht der","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber die Einteilung der Wissenschaften.\n3t\nGegenstand selbst die fundamentalen Gliederungea der Wissenschaften bestimmt, seine Anwendung bei einer der wichtigsten Trennungen, bei der n\u00e4mlich der Phi 1 osophievnnfop UWaI-wissenschaften. Der Versuch, die Wissenschaften nach \"Ihren Objecten zu cl\u00e0ssificiren, kann der selbst\u00e4ndigen Aufgabe der Philosophie so wenig wie derjenigen der Mathematik gerecht werden, weil auch die Philosophie keine andern. Gegenst\u00e4nde, besit^tj als die \u00fcbrigen Wissenschaften. Eben so Vst die Eigenth\u00fcmlichkeit der philosophischen Betrachtungsweise damit nicht im geringsten gekennzeichnet, dass man ihr die allgemeinen Fragen jeder Einzelwissenschaft zuweist. Der wesentliche Charakter ihrer Untersuchungen wird vielmehr dadurch bestimmt, dass sie sich mit Begriffen und Problemen besch\u00e4ftigt, von denen die Einzelwissenschaften immer nur specielle Anwendungen darbieten, ohne dass diese Begriffe und -^Ejobleme selbst in ihnen zur Erledigung kommen. Die Fragen, welche die Ihilosophie besch\u00e4ftigen, k\u00f6nnen daher bei der Betrachtung eines jeden beliebigen einzelnen Gegenstandes , wie er auch Object J.^L~^uzelwissens^hy't\u201eiafci^.,angeEegt werden. Aber die Philosophie hat jedes einzelne Problem mit den allgemeinen Er-kenntnissproblemen in Beziehung zu setzen und die allgemeinen Ergebnisse, welche sich bei der L\u00f6sung der letzteren darbieten, wieder auf die einzelnen Gegenst\u00e4nde anzuwenden. Darum kann es ebenso wenig gen\u00fcgen, die Philosophie als eine blo\u00dfe Sammlung der allgemeinen Principien der einzelnen Wissenschaften anzusehen, wie es der bedeutsamen Stellung der letzteren entspricht, wenn man sie als blo\u00dfe Einzelausf\u00fchrungen eines encyklop\u00e4dischen Systems der Philosophie, etwa im Sinne des Hegel\u2019schen, wollte gelten lassen. Vielmehr ist die Philosophie, gerade so und mit demselben Hechte wie die Mathematik den \u00fcbrigen Wissenschaften gegen\u00fcberzustellen; ja dm Philosophie nimmt hier noch die allgemeinere Stellung ein, da die Principien, mit denen sie sich besch\u00e4ftigt, in der Mathematik so gut wie in den Natur- und Geisteswissenschaften ihre Anwendung finden.\nSomit wird das ganze wissenschaftliche System zun\u00e4chst in zwei Hauptabtheilungen zu zerlegen sein: in das System der Einzelwis sense haften und in das System der Philosophie. a nun aber zwar historisch die Einzelgebiete allm\u00e4hlich aus","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nW. Wundt.\nder Philosophie sich abgezweigt haben, bei dem heutigen Zustande der wissenschaftlichen Entwicklung jedoch zweifellos der Einfluss der Ergebnisse der ersteren auf die Philosophie ein ungleich gr\u00f6\u00dferer sein muss, als der umgekehrte jemals sein kann,\" so wird das System der Einzel Wissenschaften dem der Philosophie vorauszustellen sein.\nInnerhalb der Einzelwissenschaften nimmt die Mathematik eine Sonderstellung ein, welche darin ihren angemessenen Ausdruck findet, dass wir sie als die formale Wissenschaft von den \u00fcbrigen als den realen Wissenschaften scheiden. In der That liegt nur in diesem formalen Charakter, nicht aber in dem Grade ihrer Ab-stractionen die besondere Eigenth\u00fcmlichkeit des mathematischen Denkens1). Zugleich wird aber dadurch die h\u00e4ufig vorhandene Auffassung, welche auch in mehreren der oben er\u00f6rterten Systeme ihren Ausdruck fand, als wenn die Mathematik an und f\u00fcr sich den Naturwissenschaften verwandter sei als den Geisteswissenschaften oder gar selbst zu den ersteren geh\u00f6re, zur\u00fcckgewiesen. Denn es ist selbstverst\u00e4ndlich, dass alles irgendwie Gegebene nach seiner rein formalen Seite betrachtet werden kann, so dass principiell die Mathematik ebenso gut als H\u00fclfsmittel der Geisteswissenschaften, wie als solches der Naturwissenschaften m\u00f6glich ist. Zum H\u00fclfs-mittel wird sie eben \u00fcberall, wo die Art formaler Betrachtung, die sie ausf\u00fchrt, geboten erscheint. Uebrigens ist die Mathematik in nicht anderer Weise H\u00fclfsdisciplin, als dies auch jede andere Wissenschaft gegen\u00fcber einer anderen, z. B. die Physik gegen\u00fcber der Physiologie, sein kann. Zun\u00e4chst und vor allem ist sie selbst\u00e4ndige Wissenschaft, und als solche verfolgt sie die Probleme, die sich ihr auf Grund des ihr eigenen Begriffssystemes ergeben, ohne R\u00fccksicht auf die Anwendungen, welche dieselben in andern Gebieten zulassen m\u00f6gen.\nDie jrealen Wissenschaften gliedern sich uns sodann in die beiden Classen der Natur- und der Geisteswissenschaften. Dass sich diese Scheidung in dem gegenw\u00e4rtigen Zustand der Wissenschaften als diejenige herausgestellt hat, welche dem wirklichen Zusammenhang derselben allein entspricht, daf\u00fcr zeugt schon die\n1) Vergl. hierzu meine Logik, II, S. 74 ff.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Einteilung der Wissenschaften.\n33\nThatsache, dass in der neueren Zeit Systeme, die sonst, die verschiedensten Standpunkte . vertreten.,, in diesem Punkte einig \u201e sind. Beherrscht doch diese Scheidung ebenso die Enzyklop\u00e4die lie gel's wie die rein empirischen, an die naturwissenschaftliche Classification sjch anschlie\u00dfenden Systeme eines Bentham und Amp\u00e8re. Bedenkt man, dass au\u00dferdem ein im ganzen den Spuren Comte\u2019s folgender, aber in seinen Anschauungen doch vielfach unabh\u00e4ngiger Logiker, wie John Stuart Mill, auf die n\u00e4mliche fundamentale Unterscheidung zur\u00fcckkommt, so wird man diese wohl als eine solche ansehen d\u00fcrfen, die, was f\u00fcr Absichten auch sonst von den verschiedenen Classificationen verfolgt werden, doch immer wieder durch die Thatsachen selbst nahe gelegt wird. In der That beruhen, wie schon angedeutet, die Einw\u00e4nde, die gegen diese Unterscheidung erhoben wurden, deshalb auf einer unrichtigen Voraussetzung, weil man bei denselben verkannt hat, dass in beiden Gebieten nicht die Objecte der Erfahrung, die im gro\u00dfen und ganzen immer die n\u00e4mlichen bleiben, sondern die Begriffsbildungen, zu denen die verschiedenen Bestandtheile der Erfahrung Anlass bieten, den eigentlichen Inhalt unserer wissenschaftlichen Betrachtung bilden. Hier f\u00fchrt aber augenscheinlich der Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften auf eine andere Unterscheidung zur\u00fcck, die allem Erkennen und darum auch aller Wissenschaft zur Basis dient,\n, n\u00e4mlich auf die Unterscheidung der Objecte unserer Erfahrung und des denkenden Subjectes, welchem diese Objecte gegeben sind. Demgem\u00e4\u00df umfassen die Naturwissenschaften alle diejenigen Discipline!!, bei deren Untersuchungen die johjectiven Thatsachen ohne R\u00fccksicht, \u201eauf die Betheiligung denkender.. und handelnder Subjecte untersucht werden, w\u00e4hrend zu den Geistes-wissenschaften alle die Gebiete gerechnet werden, in denen es sich um die Untersuchung von Thatsachen handelt, deren \u201eEntstehung auf die wesentliche Mitwirkung solcher Subiecte zur\u00fcckf\u00fchrt. Hiernach geh\u00f6ren die Gegenst\u00e4nde, an denen uns die geistigen Thatsachen entgegen treten, \u00fcberall zugleich der Natur an ; nicht minder aber sehen wir umgekehrt geistige Vorg\u00e4nge auf die Naturprocesse und auf einzelne Naturobjecte einen Einfluss gewinnen. Die geistige Welt, die Aufgabe der Geisteswissenschaften, und die k\u00f6rperliche Welt, das Problem der Naturwissenschaften, sind eben nur eine\nWundt, Philos. Studien. V.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nW.. Wundt.\neinzige Erfahrungswelt. Denn Natur und Geist bezeichnen nicht verschiedene Gegenst\u00e4nde, sondern verschiedene sich erg\u00e4nzende Abstractionen, welche durch die Objecte der Erfahrung in uns angeregt werden. Nicht von Naturobjecten und Geistesobjecten sollte man daher eigentlich reden, sondern nur von einer Naturseite und einer geistigen Seite der Dinge. Es gibt keine geistigen Objecte, die nicht zugleich Naturobjecte, keine geistigen Wirkungen, die nicht zugleich Naturwirkungen w\u00e4ren, und wenn die Umkehrung dieses Satzes nicht vollst\u00e4ndig zutrifft, so bleibt doch zu bedenken, dass es die besonderen Bedingungen, die zur Wahrnehmung geistiger Erscheinungen erforderlich sind, uns keineswegs gestatten, den Dingen, die f\u00fcr uns nur die Bedeutung von Naturobjecten besitzen, an und f\u00fcr sich jede Beziehung zur geistigen Welt abzusprechen. Die weitere Gliederung der so unterschiedenen drei Hauptgebiete \u00fcberlassen wir nun der folgenden Einzeldarstellung. ,\nIII. Das System der Einzelwisseuschaften.\nA. Die formalen Wissenschaften: Mathematische Disciplinen.\nDie wesentliche Eigenth\u00fcmlichkeit der Mathematik besteht, wie oben bemerkt wurde, darin, dass sie die Gegenst\u00e4nde ausschlie\u00dflich nach ihren formalen Eigenschaften und Beziehungen untersucht. Die Definition einer formalen Eigenschaft kann aber in doppelter Weise gegeben werden. Nach ihrem unmittelbaren Begriff hat man unter einer formalen Eigenschaft eine solche zu verstehen, die sich nur auf die Ordnung eines in der Erfahrung gegebenen Mannigfaltigen, nicht auf den Inhalt desselben bezieht. Nach ihrer Entstehung sind die formalen Eigenschaften diejenigen, bei denen man nur auf die intellectuelle Function bei der Auffassung eines Gegebenen reflectirt, dagegen von allem, was der sinnlichen Empfindung angeh\u00f6rt, abstrahirt. Diese beiden Definitionen fallen inhaltlich vollst\u00e4ndig zusammen; die intellectuelle Function bei der Auffassung der Dinge besteht eben lediglich in einer ordnenden Th\u00e4tigkeit, niemals in der Erzeugung oder auch nur in der Nacherzeugung irgend eines Erfahrungsinhaltes. Diejenige Disciplin, welche in noch allgemeinerer Weise als die Mathematik die formalen Eigen-","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"I\nHeber die Einteilung der Wissenschaften.\n35\nsch\u00e4ften unserer Begriffe untersucht, indem sie von allen Besonderheiten absieht , welche die mannigfaltigen Formen der Ordnung eines Gegebenen darbieten k\u00f6nnen, ist \u201edie J^uURaJLfiJLagi.k.. Eben wegen dieser Allgemeinheit geh\u00f6rt dieselbe zu den philosophischen Disciplinen, zun\u00e4chst zur allgemeinen Erkenntnisslehre. Alle einzelnen Zweige der Mathematik k\u00f6nnen darum auch als Anwendungen...der formalen Logik auf einzelne Formbegriffe betrachtet\nwerden. In dieser rein formalen Natur der Mathematik ist es zugleich begr\u00fcndet, dass sie zwar, \u00e4hnlich der formalen Logik, von den gegebenen Denkobjecten ausgeht, weil sie ohne dieselben \u00fcberhaupt nicht zu ihren Begriffen gelangen k\u00f6nnte, dass sie aber in der weiteren Ausbildung dieser Begriffe nur noch an die logische Folgerichtigkeit in der Durchf\u00fchrung der gemachten Voraussetzungen, nicht aber nothwendig an die Uebereinstimmung mit den Eigenschaften irgend welcher realer Objecte gebunden ist. Als ihre eigentliche Aufgabe erweist sich so die Untersuchung der auf Grund der formalen Eigenschaften der Erfahrungsobjecte und durch beliebige logische Weiterbildung derselben m\u00f6glichen reinen Formbegriffe.\nFassen wir hiernach die s\u00e4mmtlichen mathematischen Disciplinen unter dem Namen der Formwissenschaften zusammen, so lassen sich dieselben zun\u00e4chst wieder in allgemeine und specie Ile Formwissenschaften trennen. Die ersteren besch\u00e4ftigenj sich mit jenen formalen Eigenschaften, welche an allen Erfahrungsobjecten und an allen auf denselben weiterbauenden Begriffsbildungen wiederkehren. Diese allgemeinsten Eigenschaften zerfallen dann in eine quantitative, die Gr\u00f6\u00dfe, und in eine qualitative, die Ordnung eines Mannigfaltigen. So entstehen die zwei; allgemeinsten Zweige der Mathematik, die quantitative Formenlehre oder Gr\u00f6\u00dfenlehre und die qualitative Formenlehre oder Mannigfaltigkeitstheorie. Das zweite dieser Gebiete ist ganz und gar eine Sch\u00f6pfung der neueren Mathematik ; die \u00e4ltere hatte den allgemeinen Formbegriff nur nach seiner quantitativen Seite, als Gr\u00f6\u00dfenbegriff, erfasst. Zu ihm bildet der Mannigfaltigkeitsbegriff die qualitative Erg\u00e4nzung, insofern bei demselben nicht das Quantum des Gegebenen, sondern die Art der Anordnung seiner Elemente in R\u00fccksicht gezogen wird. Der quantitative Form- oder Gr\u00f6\u00dfenbegriff l\u00e4sst wieder eine doppelte Behandlungsweise zu, je nachdem die mit den Gr\u00f6\u00dfen vorzu-\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nW. Wundt.\nnehmenden Operationen oder die Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen gegebener Gr\u00f6\u00dfen von einander betrachtet werden : das erstere geschieht in der Algebra, das zweite in der Functionentheorie. Aehnlich fordert auch der Mannigfaltigkeitshegriff eine doppelte Untersuchung heraus: eine erste, welche sich auf die Entstehung der Mannigfaltigkeiten aus ihren Elementen bezieht, und eine zweite, welche das Verh\u00e4ltniss der verschiedenen Mannigfaltigkeiten zu einander und zu den parallel gehenden quantitativen Eigenschaften der Formen ins Auge fasst. Doch kommt diese Trennung erst hei den unten zu besprechenden concreten Mannigfaltigkeiten der Zahlen und der Eaumformen zur Geltung; in der abstracten Mannigfaltigkeitstheorie ist sie bis jetzt nicht durchgef\u00fchrt worden. Die beiden Begriffe der Gr\u00f6\u00dfe und der Mannigfaltigkeit kommen nun in den speciellen Formwissenschaften stets neben einander zur Anwendung. Jede specielle Art von Gr\u00f6\u00dfe hat zugleich qualitative Eigenschaften und f\u00e4llt demnach gleichzeitig unter den Begriff der Mannigfaltigkeit. Drei Begriffe sind es, die auf diese Weise die Gegenst\u00e4nde besonderer mathematischer Disciplinen ausmachen: die Begriffe der Zahl, des Raumes und der Bewegung. Unter ihnen steht die Zahlenlehre in der n\u00e4chsten Beziehung zur allgemeinen Gr\u00f6\u00dfenlehre, weil die Zahl das \u00fcberall erforderliche H\u00fclfsmittel zur Messung irgend welcher Gr\u00f6\u00dfen ist. Deshalb ist auch der Zahlbegriff in seiner Entwicklung den verschiedenen Gestaltungen des Gr\u00f6\u00dfenbegriffs nachgefolgt, so dass schlie\u00dflich die Zahlenlehre in ihrem ganzen Umfang mit der Gr\u00f6\u00dfenlehre sich deckt. Gleichwohl wird sie dadurch noch nicht zu einer allgemeinen Formwissenschaft, denn es bleibt der Unterschied, dass die Gr\u00f6\u00dfenlehre unmittelbar den allgemeinen Gr\u00f6\u00dfenbegriff zu ihrem Inhalte hat, w\u00e4hrend die Zahlenlehre den Umfang desselben erst durch die successive Behandlung einer gro\u00dfen Anzahl einzelner Zahlhegriffe zu erreichen vermag, so dass dabei der letzteren ihr Charakter als specieller Form Wissenschaft immer gewahrt bleibt. Uebrigens bedingt es jener nahe Zusammenhang mit der Gr\u00f6\u00dfenlehre, dass sie auch in \u00e4hnlicher Weise wie diese sich gegliedert hat, indem die Arithmetik als Lehre von den Zahloperationen der Algebra, die Zahlentheorie als Lehre von den Beziehungen der Zahlen der Functionentheorie parallel geht.\nVon einem beschr\u00e4nkteren Charakter sind die beiden andern","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"I\nlieber die Einteilung der Wissenschaften.\t37\nspeciellen Formwissenschaften, die Raumlehre und die Bewegungslehre, da sich jede derselben mit bestimmten, in der \u00e4u\u00dferen Anschauung gegebenen Gr\u00f6\u00dfen besch\u00e4ftigt. Doch sind auch sie insofern einer der Zahlenlehre analogen Erweiterung f\u00e4hig, als die Begriffe des Raumes und der Bewegung beniitzt werden k\u00f6nnen, um neue in der Anschauung nicht realisirte Begriffe derselben Art zu con-struiren. Hierbei findet dann eine \u00e4hnliche Anwendung des Mannigfaltigkeitsbegriffs auf diese speciellen Mannigfaltigkeiten statt, wie bei den Erweiterungen der Zahlenlehre eine solche des allgemeinen Gr\u00f6\u00dfenbegriffs. Demgem\u00e4\u00df sind auch die Gesichtspunkte, nach denen sich diese beiden Gebiete in einzelne Zweige trennen, wieder denen entsprechend, die bei der Mannigfaltigkeit \u00fcberhaupt anwendbar sind: die synthetische Geometrie besch\u00e4ftigt sich mit der Entstehung der Raumgebilde aus ihren Elementen, die synthetische Kinematik mit der Entstehung zusammengesetzter aus Bewegungen, wogegen die analytische Geometrie die einfachen Eigenschaften der Raumgebilde auf allgemeine Gr\u00f6\u00dfenbegriffe zur\u00fcck-f\u00fchrt, und die analytische Kinematik diese letzteren auf Be-wegwngsprobleme anwendet ').\nHiernach k\u00f6nnen wir die Gliederung der formalen Wissenschaften in folgender Uebersicht zusammenfassen :\nFormale oder mathematische Wissenschaften.\nI. Allgemeine Formwissenschaften.\na. Quantitative Formlehre:\tb. Qualitative Formlehre:\nGr\u00f6\u00dfenlehre :\tMannigfaltigkeitstheorie.\n1.\tLehre von den Gr\u00f6\u00dfenoperationen : Algebra.\n2.\tTheorie der Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen: Functionentheorie.\n1) Neben Zahl, Kaum und Bewegung gibt es noch eine vierte Art von Gr\u00f6\u00dfen: die intensiven Gr\u00f6\u00dfen. K\u00fcr sich allein betrachtet entziehen sie sich aber deshalb einer mathematischen Behandlung, weil sie nur unter Zuh\u00fclfenahme extensiver Gr\u00f6\u00dfen zur Bildung bestimmter Mannigfaltigkeitsbegriffe Anlass geben. Sie besitzen n\u00e4mlich eine selbst\u00e4ndige Bedeutung nur im Gebiet der inneren Erfahrung, wo die Empfindungsintensit\u00e4t ihre unmittelbare Grundlage abgibt.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nW. Wundt.\nII. Specielle Form wissen sch\u00e4ften.\na. Zahlenlehre.\tb.' Kaum lehre. c. Bewegungslehre.\n1.\tArithmetik:\t1. Synthetische\t1. Synthetische\nLehre von den Zahl- Geometrie: Lehre von Kinematik. Lehre von Operationen.\tder Entstehung der der Zusammensetzung\nRaumgebilde aus ihren der Bewegungen. Elementen.\t2. Analytische Ki-\n2.\tZahlentheorie:\t2. Analytische\tnematik: Lehre von\nLehre von den Zahlen Geometrie: Theorie der Anwendung der undihrenBeziehungen. der Anwendung der allgemeinen Gr\u00f6\u00dfen-\nGr\u00f6\u00dfenbegriffe auf begriffe auf Bewe-Raumgebilde.\tgungsprobleme.\nB. Die realen Wissenschaften: Erfahrungswissenschaften.\nErste Abtheilung: Die Naturwissenschaften.\nDen formalen stellen wir als reale Wissenschaften diejenigen gegen\u00fcber, welche die Untersuchung der Eigenschaften und Beziehungen der Erfahrungsgegenst\u00e4nde nach Form und Inhalt zu ihrer Aufgabe haben. Sie k\u00f6nnen auch Erfahrungswissenschaften genannt werden, insofern die Gebundenheit an den Inhalt des Gegebenen die M\u00f6glichkeit von transcendenten Begriffsbildungen ausschlie\u00dft, und insofern der Inhalt des Gegebenen nicht ein Erzeugnis unserer intellectuellen Function ist, sondern der letzteren irgendwie durch die Erfahrung dargeboten sein muss. Da .alle Wissenschaft in einer begrifflichen Ordnung des Gegebenen jbesJjght, so sind zwar Wissenschaften m\u00f6glich, die, wie die mathematischen Disciplinen, von dem Erfahrungsinhalt, nicht aber solche, die von den formalen Eigenschaften dieses Erfahrungsinhaltes ab-strahiren. Dies ist der Grund, weshalb principiell auf alle Erfahrungswissenschaften Mathematik unter Umst\u00e4nden anwendbar ist, w\u00e4hrend dagegen nicht umgekehrt alle formalen Verh\u00e4ltnisse und\nIn der \u00e4u\u00dferen Anschauung gewinnen sie in den Begriffen von Kraft und Masse nur eine vor\u00fcbergehende Anwendung, da die letzteren durch die physikalische Analyse vollst\u00e4ndig in Raum- und Bewegungsbegriffe aufgel\u00f6st werden k\u00f6nnen.","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n39\nBegriffe, die Gegenst\u00e4nde der mathematischen Untersuchung sein k\u00f6nnen, an irgend welchen Erfahrungsobjecten verwirklicht sein m\u00fcssen.\nNoch bevor die beiden gro\u00dfen Abtheilungen der realen Wissenschaft, die Natur- und die Geisteswissenschaften, sich klar von einander geschieden hatten, ist die Naturwissenschaft selbst in Folge der Bed\u00fcrfnisse der praktischen Arbeitstheilung in zwei gro\u00dfe Zweige getrennt worden, die bei allem Wechsel der sonstigen Bedingungen sich in ihrer relativen Selbst\u00e4ndigkeit neben' einander erhalten haben. Auch diese Trennung entspricht wieder nicht sowohl den Objecten der Nat\u00f9r, als den allgemeinen logischen Gesichtspunkten, unter denen dieselben betrachtet werden k\u00f6nnen. Entweder n\u00e4mlich kann die Natur in Bezug auf die Vorg\u00e4nge, die sich in ihr ereignen, oder in Bezug auf die Gegenst\u00e4nde, aus denen sie besteht, Object der Beobachtung werden. In der Natur selbst sind Gegenst\u00e4nde und Vorg\u00e4nge unaufl\u00f6slich an einander gebunden. Alle Vorg\u00e4nge ereignen sich an Gegenst\u00e4nden oder bestehen in der Ver\u00e4nderung der Beziehungen derselben zu einander; und die Gegenst\u00e4nde sind hinwiederum die Resultate von Vorg\u00e4ngen und werden in dem stetigen Zusammenhang der Erscheinungen zu Bedingungen neuer Vorg\u00e4nge. Da aber in dieser Wechselbeziehung immerhin dem Studium der Processe die Aufgabe einer auch f\u00fcr die Erkenntnis der Gegenst\u00e4nde grundlegenden Erkl\u00e4rung zuf\u00e4llt, so sind die Wissenschaften von den Natur Vorg\u00e4ngen hier voranzustellen. Sie zerfallen abermals in zwei gro\u00dfe Gebiete, die sich beide mit der Untersuchung des Begriffs der Naturcausalit\u00e4t von verschiedenen Standpunkten aus besch\u00e4ftigen. Die allgemeine Lehre von der Naturcausalit\u00e4t oder die Dynamik erforscht die allgemeinen Gesetze derselben je nach den Hauptformen der Materie, als deren Aeu\u00dferungen sie betrachtet werden. Da die Naturlehre durch die Analyse der Naturvorg\u00e4nge zur Annahme zweier solcher Materien veranlasst wird, der ponderablen Masse und des Aethers, so zerf\u00e4llt auch die Dynamik wieder in eine Dynamik der Massen und in eine Dynamik des Aethers, wobei jeder dieser Theile aus dem Studium der Processe zugleich die allgemeinen Voraussetzungen \u00fcber die Materie selbst zu entwickeln hat. Beide Theile der Dynamik fordern wieder eine Zweitheilung heraus. Die Dynamik der Massen","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nW. Wundt.\nbetrachtet zuerst die Massen als ganze, abgesehen von ihrer Trennung in Theile und von den hierdurch bedingten Erscheinungen, die K\u00f6rperdynamik ; sodann aber wendet sie sich dem Studium der zwischen den kleinsten Theilchen der Massen stattfindenden Wechselwirkungen zu, die Moleculardynamik. Die Dynamik des Aethers dagegen behandelt zuerst die Aetherbewegungen abgesehen von ihren Beziehungen zu Massenwirkungen, und dann in ihrem Zusammenhang mit der ponderablen Materie. Die Dynamik der Massen geht der Dynamik des Aethers parallel, weil bei jener ebenso wenig der Aether wie bei dieser die ponderable Materie in Betracht gezogen wird. Die Moleculardynamik entspricht dann hinwiederum der Theorie der zusammengesetzten Medien, weil auch die erstere gen\u00f6thigt wird, auf die Wechselbeziehungen zwischen K\u00f6rper- und Aetheratomen R\u00fccksicht zu nehmen. Da hiernach diese beiden Disciplinen eigentlich mit dem n\u00e4mlichen Objecte, nur von verschiedenen Gesichtspunkten aus sich besch\u00e4ftigen, so steht einer v\u00f6lligen Verbindung derselben nichts im Wege, wie denn auch eine solche in den meisten Einzeluntersuchungen eingetreten ist. Der Umstand, dass die Dynamik in allen ihren Theilen nicht blo\u00df von den speciellen Formen der Naturkr\u00e4fte, sondern auch von den speciellen Gestaltungen der ponderablen Materie und des Aethers absieht, verleiht ihr einen noch sehr abstracten Charakter, der sie um so mehr in eine nahe Verwandtschaft mit der Mathematik bringt, als sie sich \u00fcberall auf deren H\u00fclfe angewiesen sieht. Gleichwohl trennt sie ihre Gebundenheit an die Naturvorg\u00e4nge und ihr Zweck, der Erkl\u00e4rung der Naturerscheinungen zu dienen, von den eigentlich mathematischen Disciplinen. Dieser Zweck ist es zugleich, der sie in der Praxis zumeist mit concreteren Untersuchungen verbinden l\u00e4sst, indem in der Dynamik der Massen sofort auf die durch die Schwere herbeigef\u00fchrten Bedingungen, in der Dynamik des Aethers auf die speciellen Erfordernisse der Lichttheorie R\u00fccksicht genommen wird. Rein theoretisch betrachtet sind dies aber doch Uebergriffe aus der allgemeinen Dynamik in die specielle Lehre von den Naturkr\u00e4ften, die, m\u00f6gen sie praktisch noch so gerechtfertigt sein, doch die logische Gliederung nicht beeinflussen d\u00fcrfen.\nDie specielle Lehre von den Naturvorg\u00e4ngen zerf\u00e4llt wieder in zwei Hauptgebiete: in die Physik, welche die Naturvorg\u00e4nge","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n41\noline R\u00fccksicht auf die qualitativen Unterschiede der Massentheilchen erforscht, und in die Chemie, welche sie umgekehrt eben mit R\u00fccksicht auf diese Unterschiede betrachtet. Dabei hat \u00fcbrigens der Ausdruck \u00bbqualitativ\u00ab nur eine relative Bedeutung. Da die Massentheilchen, um die es sich in beiden F\u00e4llen handelt, voraussichtlich nicht die letzten Elemente der Materie sind, so bleibt es dahingestellt, inwieweit die qualitativen Unterschiede auf verschiedene Ordnungen von Elementen zur\u00fcckf\u00fchren, die ihrerseits nicht qualitativ verschieden sind. Es w\u00fcrde dann an Stelle der Annahme qualitativ verschiedener Elemente lediglich derjenige Qualit\u00e4tshegriff einzutreten haben, welcher in der mathematischen Mannigfaltigkeitstheorie ma\u00dfgebend ist. In der That darf man vermuthen, dass dies der Gang der Entwicklung sein werde, schon aus dem allgemeinen Grunde, weil der Begriff der \u00e4u\u00dferen Anschauung andere Eigenschaften als solche, die sich uns in den \u00e4u\u00dferen Relationen der Dinge verrathen, .ausschlie\u00dft.\nPhysik und Chemie gliedern sich sodann je in einen allgemeinen und einen besonderen Theil: die allgemeine Physik behandelt die Wechselbeziehungen der verschiedenen Naturvorg\u00e4nge, die specielle Physik dagegen die einzelnen Natur Vorg\u00e4nge, wie Schwere, Schall, W\u00e4rme, Licht u. s. w., rikch ihren besonderen Eigenschaften und Gesetzen. Ebenso besch\u00e4ftigt sich die allgemeine Chemie mit den Beziehungen der chemischen zu den physikalischen Vorg\u00e4ngen, die specielle Chemie mit den chemischen Verbindungen in ihren besonderen Erscheinungsformen.\nDer Erforschung der Natur Vorg\u00e4nge tritt als zweiter Haupt-theil der Naturwissenschaften die wissenschaftliche Untersuchung der Natur gegenst\u00e4nde gegen\u00fcber. In successiv sich verengernder Betrachtung behandelt sie: 1) \u201edie Lehre von den W.eltk\u00f6rpern (Astronomie), J2) die Lehre von der .Erde (Geographie) als dem unserer Beobachtung wie unserem Interesse n\u00e4chstliegenden Weltk\u00f6rper, 3J_ die Lehre von den einzelnen irdischen Objecten. Hier kann sie aber wieder entweder die Objecte nach ihren eigenen inneren Beziehungen untersuchen (Systematische Naturgeschichte), oder aber nach ihren Beziehungen zur Erde (Specielle Geographie). Jeder dieser Theile zerf\u00e4llt abermals in verschiedene,","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nW. Wundt.\nmehr oder weniger nahe mit einander zusammenh\u00e4ngende Einzelgebiete; so die Naturgeschichte in Mineralogie, Botanik, Zoologie, die specielle Geographie in die Lehre von den Gebirgsbildungen (Orographie), von der Wasservertheilung auf der Erde (Hydrographie), von der Yertheilung der Mineralien (Geognosie), von der Verbreitung der Pflanzen undThiere (Pflanzen- und Thiergeographie). Ein um des besonderen Interesses seines Gegenstandes willen von der letzteren sich absondernder specieller Theil ist endlich die Anthropogeographie.\t'\nMit den Gesichtspunkten, welche'zur Bildung der zwei bis dahin er\u00f6rterten Haupttheile der Naturwissenschaft Anlass gegeben, sind nun aber noch nicht alle Betrachtungsweisen ersch\u00f6pft, die hier \u00fcberhaupt m\u00f6glich sind, sondern es bleibt eine dritte Reihe von Untersuchungen offen, welche nun auf Grund der beiden vorangegangenen erst ausf\u00fchrbar werden. Es entsteht n\u00e4mlich die Aufgabe , die unter dem ersten Gesichtspunkt gewonnenen Ergebnisse anzuwenden auf die unter dem zweiten unterschiedenen Naturobjecte. Auf diese Weise entstehen als eine dritte allgemeine Classe von Naturwissenschaften diejenigen, die sich mit den Naturvorg\u00e4ngen an den einzelnen Naturgegenst\u00e4nden besch\u00e4ftigen. Hier sind nun [aber wieder zwei Betrachtungsweisen m\u00f6glich: entweder k\u00f6nnen die Naturobjecte in ihrer unmittelbaren Beschaffenheit zu Gegenst\u00e4nden der Untersuchung gemacht, oder dieselben k\u00f6nnen in Bezug auf ihre Entstehung und ihre Ver\u00e4nderungen betrachtet werden. Auf diese Weise ergeben sich im ersteren Fall eine Reihe physikalisch-chemischer Disciplinen, die vollst\u00e4ndig den oben aufgez\u00e4hlten Theilen der gegenst\u00e4ndlichen Naturwissenschaften parallel gehen : die Astrophysik, die Geophysik, die Physik und Chemie der Mineralien, die Physik und Chemie der Organismen oder Physiologie mit ihrer Untereintheilung in allgemeine Physiologie und in Pflanzen- und Thierphysiologie. Im zweiten Falle ergeben sich die einzelnen Zweige der Entwicklungsgeschichte: so die Entwicklungsgeschichte des Weltalls oder Kosmologie, die Entwicklungsgeschichte der Erde oder Geologie, endlich die Entwicklungsgeschichte der Pflanzen, der Thiere, des Menschen. In diesen Entwicklungswissenschaften vollzieht sich der Abschluss unserer gesammten Naturerkenntniss. Einerseits setzen sie alle andern","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber die Eintheilung der Wissenschaften.\n43\ngebiete voraus, andererseits aber enthalten sie erst die volle Erkenntnis der Natur im ganzen, sowie nach ihren einzelnen Theilen und Gegenst\u00e4nden.\nWir fassen hiernach die Ergebnisse der obigen Er\u00f6rterungen in folgender Uebersicht zusammen :\nDer realen Wissenschaften erste Abtheilung: Die Naturwissenschaften.\nA. Die Wissenschaften von den Natur Vorg\u00e4ngen.\nI.\tAllgemeine Lehre von den a. Dynamik der Massen.\n1.\tK\u00f6rperdynamik : die Massen als Ganze betrachtend.\n2.\tMolecular dynamik: Lehre von der Bewegung der Massentheilchen.\nNaturvorg\u00e4ngen : Dynamik, b. Dynamik des Aethers.\n1.\tAetherdynamik : allgemeine Theorie der Aetherbewfe-gungen.\n2.\tTheorie der zusammengesetzten Medien : der Aether im Zusammenhang mit der ponde-rablen Materie.\nII. Specielle Lehre von den Nat\u00fcrvorg\u00e4ngen.\na.\tDie Naturvorg\u00e4nge ohne R\u00fccksicht auf die qualitativen\nUnterschiede der Massentheilchen: Physik.\n\u25a0 1. Die Naturvorg\u00e4nge in 2. Die besonderen Natur-lhren Wechselbeziehungen: All- , Vorg\u00e4nge (Schwere, Schall, W\u00e4rme, gemeine Physik.\tLicht, Elektricit\u00e4t): Specielle\n'\tPhysik.\nb.\tDie Naturvorg\u00e4n^e mit R\u00fccksicht auf die qualitativen\nUnterschiede der Massentheilchen: Chemie.\n1. Die Wechselbeziehungen\t2. Die chemischen Verbin-\nphysikalischer und chemischer d\u00fcngen in ihren besonderen Er-Kr\u00e4fte: Allgemeine Chemie. scheinungsformen : Specielle\nChemie.\nB. Die Wissenschaften von den Naturgegenst\u00e4nden.\n1.\tLehre von den Weltk\u00f6rpern: Astronomie:\n2.\tLehre von der Erde: Geographie.\n3.\tLehre von den einzelnen irdischen Objecten:","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nW. Wundt.\na.\tDie Naturobjecte nach ihren inneren Beziehungen : Systematische Naturgeschichte:\nMineralogie, Botanik, Zoologie.\nb.\tDie Naturobjecte nach ihren Beziehungen zur Erde: Spe-cielle Geographie:\nOrographie, Hydrographie, Geognosie, Pflanzen- und Thiergeographie, Anthropogeographie.\nC. Die Wissenschaften von den Naturvorg\u00e4ngen an den Natur-gegenst\u00e4nden.\n1.\tPhysik und Chemie der concreten Naturk\u00f6rper: Astrophysik. Geophysik (einschl. Klimatologie und Meteorologie). Physik und Chemie der Mineralien. Physik und Chemie der Organismen: Physiologie: Allgemeine Physiologie. Pflanzen- und Thierphysiologie.\n2.\tEntwicklungsgeschichte der Naturobjecte: Kosmologie. Geologie. Entwicklungsgeschichte der Organismen.\nZweite Abtlieilung: Die Geisteswissenschaften.\nDas System der Geisteswissenschaften l\u00e4sst sich zun\u00e4chst nach denselben Gesichtspunkten, die f\u00fcr die Gliederung der Naturwissenschaften ma\u00dfgebend sind, in zwei Hauptgebiete trennen : in die Wissenschaften von den geistigen Vorg\u00e4ngen und in die Wissenschaften von den Geisteserzeugnissen. Wenn aber dort schon die Scheidung von Object und Process, ob zwar eine logisch nothwen-dige, doch \u00fcberall in der wirklichen Erfahrung einer regen Wechselbeziehung beider Begriffe Platz macht, so trifft dies in noch h\u00f6herem Ma\u00dfe im Gebiet des .Geistes zu, wo das Geisteserzeugniss niemals auch nur jenen relativ beharrenden Zustand darbietet wie das Natur-jobject. Vielmehr kann es, wie der hier unvermeidliche Name Erzeugnis statt Object dies schon andeutet, \u00fcberall nur mit R\u00fccksicht auf die es erzeugenden Vorg\u00e4nge und in steter Beziehung zu denselben begriffen werden. Die Lehre von den geistigen Vorg\u00e4ngen umfasst hiernach die allgemeineren Disciplinen der Geisteswissenschaften, welche zugleich die Erkl\u00e4rungsgriinde f\u00fcr die einzelnen f Geisteserzeugnisse enthalten. Darum bildet die Psychologie, als | die allgemeine Lehre von den geistigen Vorg\u00e4ngen, die Grundlage","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n45\njailer Geis^sw^sgaSPJ^fi^^Jhr treten zun\u00e4chst einige specielle j psychologische Disciplinen zur Seite, die theils die Entwicklung der Bewusstseinserscheinungen in der Reihe der lebenden Wesen zum Inhalte haben, wie die Thier psychologic, theils mit ,der,.pfiy(ihn-r logischen. Erkl\u00e4rung den-iiaupts\u00e4chli.(dtsten..\u201emenscMidx&n.,Geiat\u00a3&-... scMp\u00dcaagen sich. besch\u00e4ftigen, wie die V.\u00f6 1 kej^sjcho.lo^.i\u00a3^. theils endlich die Beziehungen des geistigen Lehens zu bestimmten k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4ngen zu erforschen suchen, wie die..Rsyelio-physik. Die letztere f\u00fchrt unmittelbar zur naturgeschichtlichpsychologischen Betrachtung der Entwicklung des Menschen und der V\u00f6lkerst\u00e4mme hin\u00fcber, wie sie die Aufgabe der Anthropologie und der Ethnologie bildet.\nDie Geisteserzeugnisse k\u00f6nnen wieder in doppelter R\u00fccksicht Gegenst\u00e4nde wissenschaftlicher Untersuchung werden: erstens in Bezug auf ihre allgemeinen Eigenschaften und Entstehungsbedingungen, ohne R\u00fccksicht auf ihre besondere Natur, und zweitens mit R\u00fccksicht auf das specielle Gebiet geistigen Lebens, welchem dieselben angeh\u00f6ren. Die erstere Aufgabe erf\u00fcllt die Philologie, der auf diese Weise die Bedeutung einer allgemeinen Wissenschaft von den Geisteserzeugnissen zukommt. Die Gebiete, in welche nach dem zweiten Gesichtspunkte das geistige Leben vornehmlich sich scheidet, sind : die wirthschaftliche Cultur, der jj.taat.und die IvL\u00e7.htSordnung, die Religion. die \u00fcdlBS.t+- die WlS\u00e2f\u00eehS.cliaft. Die National\u00f6konomie, die Politik, die systematische Rechtswissenschaft, die Religionslehre, die Kunsttheorie, die specielle Methodologie der Wissenschaften treten so der Philologie, \u201cderen H\u00fclfsmittel sie \u00fcberall zu ihren Zwecken verwerthen, als besondere und doch mit Bezug auf ihre eigensten Grundlagen auch wieder als allgemeinere Disciplinen gegen\u00fcber, deren jede in Folge der Bedeutung ihrer Probleme f\u00fcr unsere allgemeine Weltanschauung in innigerem Connex zur Philosophie steht, als die Philologie selber. So ber\u00fchren sich National\u00f6konomie, Politik und Rechtswissenschaft so innig mit der Ethik, dass in der Gesellschaftstheorie und Rechtsphilosophie besondere philosophische Disciplinen entstanden sind, die als Mittelglieder zwischen die allgemeine Ethik und jene ethischen Einzel-wissenschaften eintreten. In einem noch n\u00e4heren Verh\u00e4ltnisse steht","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nW, Wundt.\ndie specielle Kunsttheorie zur Aesthetik als der allgemeinen Theorie der K\u00fcnste, die Religionslehre oder systematische Theologie zur Religionsphilosophie, und endlich die specielle zur allgemeinen Methodenlehre und Logik. Da \u00fcbrigens die Philologie zur Ausbildung ihrer Methoden nothwendig eines bestimmten Materials bedarf, die sie irgendwelchen der oben genannten Einzelgebiete entnehmen kann, so ist ihre wissenschaftliche Ausbildung durch die eingetretene Verbindung mit einzelnen der letzteren wesentlich mitbestimmt worden. Es ist begreiflich, dass zu solcher Verbindung vor allem diejenigen Gebiete sich tauglich erweisen, welchen der allgemeinste geistige Bildungswerth zukommt. Der historische Begriff der Philologie schlie\u00dft daher zugleich die speciellere Besch\u00e4ftigung mit jenen literarischen Erzeugnissen der Culturv\u00f6lker in sich, welche einen k\u00fcnstlerischen oder culturgeschichtlichen Werth besitzen.\nAuch jener dritten Hauptabtheilung der Naturwissenschaften, welche die Naturvorg\u00e4nge an den Hauptgruppen der Naturobjecte behandelt, entspricht endlich eine dritte wichtige Abtheilung der Geisteswissenschaften, diejenigen enthaltend, welche sich mit der Entstehung der Geisteserzeugnisse besch\u00e4ftigen : diej\u00fcistori-- Cn Wissenschaften. Sie zerfallen abermals in allgemeine und specielle Disciplinen. Davon betrachten die ersteren die Entstehung der einem Einzelnen oder einer Gesammtheit zugeh\u00f6rigen geistigen Sch\u00f6pfungen in ihrem Zusammenh\u00e4nge unter einander, die letzteren umgekehrt die einzelnen Classen der Geisteserzeugnisse in ihrer besonderen historischen Entwicklung. Die allgemeine Geschichte zerf\u00e4llt hiernach, je nach dem wachsenden Umfang des Objectes ihrer Betrachtungen, in Individualgeschichte, Volksgeschichte und Universal- oder Weltgeschichte. Die speciellen historischen Disciplinen aber entsprechen den vorhin unterschiedenen einzelnen systematischen Wissenschaften, mit denen sie sich in der wissenschaftlichen Praxis auf das innigste verbinden. Hierher geh\u00f6ren also die Wirthschaftsgeschichte, die Staats- und Rechtsgeschichte, die Religionsgeschichte, die Kunstgeschichte, endlich die specielle Geschichte der einzelnen Wissenschaften.\nWir schlie\u00dfen so die oben begonnene Uebersicht mit dem folgenden Schema der Geistes Wissenschaften:","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eiiitheilung der Wissenschaften.\n47\nDer realen Wissenschaften zweite Abtheilung:\nDie Geiateswissenschaften.\nA.\tDie Wissenschaften von den geistigen Vorg\u00e4ngen.\nI. Die Lehre von den geistigen Vorg\u00e4ngen im menschlichen Bewusstsein: Psychologie im engeren Sinne (Individualpsychologie) .\nII. Die Lehre von den geistigen Vorg\u00e4ngen unter besonderen Bedingungen :\na.\tDie Geistesprocesse einzelner Wesen und Gemeinschaften: Thierpsychologie. V\u00f6lkerpsychologie.\nb.\tDm Geistesprocesse in ihrer Beziehung zu k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4ngen : Psychophysische Wissenschaften.\n1.\tLehre von den Wechselbeziehungen zwischen k\u00f6rperlichen und geistigen Vorg\u00e4ngen: Psychophysik.\n2.\tLehre von der psychophysischen Organisation der * einzelnen Wesen und ihrer Gesammtheiten : Psychophysische Naturgeschichte der Thiere. Anthropologie. Ethnologie.\nB.\tDie Wissenschaften von den Geisteserzeugnissen.\nI. Die Wissenschaft von den Geisteserzeugnissen \u00fcberhaupt: Philologie.\nH- Die Wissenschaften der einzelnen Classen der Geisteserzeug- ' nisse: National\u00f6konomie. Politik. Systematische \u00dfechtslehre. Systematische Theologie. Theorie der einzelnen K\u00fcnste. Specielle Methodenlehre der Wissenschaften.\nC.\tDie Wissenschaften von der Entwicklung der Geisteserzeugnisse : Historisch\u00ab- Wissenschaften. \u2022 .\nI. Allgemeine Geschichte:\nIndividualgeschichte (Biographie). Volksgeschichte. Universal- .oder Weltgeschichte.\nII. Geschichte der einzelnen Classen der Geisteserzeugnisse : Wirthschaftsgeschichte. Staats- und Rechtsgeschichte. Religionsgeschichte. Kunstgeschichte. Geschichte der einzelnen Wissenschaften.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nW. Wundt.\nIV. Das System der Philosophie.\nDie Philosophie hat, wie aus der allgemeinen Aufgabe, die ihr oben gestellt wurde, hervorgeht, ihren Inhalt mit der Gesammtheit der andern Wissenschaften gemein. Aber der Standpunkt, von welchem aus sie diesen Inhalt betrachtet, ist ein abweichender. W\u00e4hrend die Einzelwissenschaften das Wissen in eine gro\u00dfe Zahl einzelner Wissensobjecte sondern, ist das Auge der Philosophie von vornherein auf den Zusammenhang dieser s\u00e4mmtlichen Wissensobjecte gerichtet. Gleichwohl bedarf auch sie einer Gliederung ihrer allgemeinen Aufgabe. Denn die Gesammtbetrachtuftg des Wissens trennt sich wieder in eine Mehrzahl verschiedenartiger Probleme, die nach ihren logischen Motiven in einzelne Gruppen zu sondern sind. Hier l\u00e4sst aber jener dem Ganzen zugewandte philosophische Erkenntnisstrieb nur noch einen Gesichtspunkt zu, der \u00fcber alle jene besonderen Betrachtungsweisen, die in der Theilung der Einzelgebiete zur Geltung kamen, hinausgreift, und der zugleich von so tief gehender Bedeutung ist, dass das wissenschaftliche System unvollst\u00e4ndig bliebe, so lange er nicht irgendwo in demselben zum Ausdruck k\u00e4me. Dieser Gesichtspunkt besteht darin, dass der ganze Zusammenhang des Wissens einer dopp eiten Betrachtung zug\u00e4nglich ist : einmal n\u00e4mlich kann derselbe untersucht werden in Bezug auf seine Entstehung, wo die genetischen Wechselbeziehungen, die zwischen den einzelnen Wissenselementen stattfinden, im Vordergrund stehen; oder er kann betrachtet werden mit R\u00fccksicht auf seinen systematischen Aufbau, wie er auf der von uns erreichten Stufe der Erkenntniss in dem inneren logischen Zusammenhang der gewonnenen Principien sich darstellt. Dort handelt es sich um das werdende, hier um das gewordene Wissen. Da das letztere nie ein absolut fertiges sein kann, sondern selbst im Fluss der Entwicklung steht, und da nicht minder der Entwicklungsprocess fortan in bestimmten systematischen Begriffsbildungen sich zu fixiren strebt, so greifen beide Betrachtungsweisen vielfach in einander ein, und jede ist gelegentlich auf die H\u00fclfe der andern angewiesen. Aber im ganzen gehen doch beide philosophische Aufgaben als wesentlich verschiedene neben einander her, und insbesondere fordert auch der","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n49\nnie rastende Erkenntnisstrieb, dass die in dem gegebenen Zustand der Wissenschaft sich auspr\u00e4gende systematische Verfassung derselben so viel als m\u00f6glich zu einem geschlossenen Ausdruck gelange. Auf diese Weise ergehen sich zwei philosophische Fundamentalwissenschaften: wir wollen sie als Erkenntnisslehre und als Principienlehre unterscheiden. Da alle Erkenntniss ein geistiger Vorgang ist, der nach bestimmten Entwicklungsgesetzen sich vollzieht, w\u00e4hrend das Princip die Bedeutung eines Begriffs besitzt, der lediglich als Erkenntnissr es ultat in Betracht gezogen wird, so liegt in dem ersten jener Ausdr\u00fccke von selbst der Hinweis auf eine genetische, in dem zweiten der auf eine systematische Betrachtungsweise.\nDie Erkenntnisslehre l\u00e4sst wieder nach dem n\u00e4mlichen Gesichtspunkt, welcher f\u00fcr die Haupteintheilung der Einzelwissenschaften zur Anwendung kam, eine Gliederung in zwei Gebiete zu. Von ihnen beschr\u00e4nkt sich das eine auf die formalen Gesetze der Erkenntnissbildung, das andere besch\u00e4ftigt sich mit dem realen Inhalte derselben. Die formale Erkenntnisslehre oder formale Logik.steht zu der realen Erkenntnisslehre genau im selben Verh\u00e4ltnisse wie die Mathematik zu den realen Einzelwissenschaften. In diesem Sinne bildet sie die philosophische Fundamen talwissen-scbaft zur Mathematik. ein Verh\u00e4ltnis, welches insbesondere auch darin sich bew\u00e4hrt findet, dass die mathematische Speculation zwar \u00fcberall unverbr\u00fcchlich an die Gesetze der Logik, keineswegs aber nothwendig, sofern sie diese Beschr\u00e4nkung sich nicht selbst auferlegt, mit ihren Voraussetzungen an den realen Inhalt der Erkenntniss gebunden ist. Da durch diesen ihren formalen Charakter die reine Logik nicht blo\u00df von der realen Erkenntnisslehre, sondern auch von der Principienlehre sich scheidet, so erkl\u00e4rt es sich, dass man dieselbe nicht selten der Gesammtheit der \u00fcbrigen philosophischen Disciplinen gegen\u00fcbergestellt hat. Da es aber dann mit der Ar-muth ihres Inhaltes kaum vereinbar schien, wenn man ihr eine Stelle in der Philosophie anwies, so wurde sie meist zu einer blo\u00df prop\u00e4deutischen Wissenschaft zur Philosophie degradirt. Diese Stellung ist aber aus mehrfachen Gr\u00fcnden ganz unhaltbar. Zun\u00e4chst kann der gr\u00f6\u00dfere oder geringere Reichthum einer Wissenschaft nimmermehr \u00fcber ihre Classification entscheiden, sondern die An-\nWundt, Philos. Studien. V.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nW. Wundt.\nhaltspunkte f\u00fcr die letztere sind immer nur ihrem Inhalte zu entnehmen. In dieser Beziehung muss sich aber ein bestimmtes Gebiet nothwendig entweder mit speciellen oder mit allgemeinen Erkenntniss-problemen besch\u00e4ftigen, ein drittes gibt es nicht : im ersten Fall geh\u00f6rt es zu den Einzelwissenschaften, im zweiten zur Philosophie. Da sich nun die formale Logik mit dem Erkenntnissprocess in Bezug auf seine allgemeinsten formalen Eigenschaften besch\u00e4ftigt, saj\u00a3&nn ihre Aufgabe nur vor das Forum der Philosophie geh\u00f6ren. Sodann aber ist die Frage, ob formal oder real, doch nicht allein f\u00fcr die Stellung einer Disciplin entscheidend, sondern es fragt sich, welches andere Gebiet die reale Erg\u00e4nzung zu ihren formalen Betrachtungen enth\u00e4lt. Hier kann es nun nicht zweifelhaft sein, dass in diesem Fall die Erg\u00e4nzung nur in der realen Erkenntnisslehre zu finden ist. Die Grundbegriffe der Principienlehre kommen f\u00fcr die formale Logik nirgends in Frage. Sie entspringt lediglich aus der Betrachtung des ErkenntnissVorgangs, sobald bei diesem von jedem besonderen Inhalte abgesehen wird. Darum erg\u00e4nzen sich formale und reale Logik, und bei den innigen Beziehungen beider zu einander kann es f\u00fcr die Untersuchung wie Darstellung nur in hohem Grade nachtheilig sein, sie von einander zu trennen.\nDie der formalen gegen\u00fcbertretende reale Erkenntnisslehre gliedert sich sodann ihrerseits wieder in zwei Gebiete: in die Geschichte der Erkenntniss, und in die Theorie der Erkenntniss. Die erstere schildert die thats\u00e4chliche Erkenntnissentwicklung, wie sie in der Geschichte der Wissenschaft \u00fcberhaupt und insbesondere in der Geschichte der allgemeinen Weltanschauungen sich darstellt. Diese allgemeine Geschichte der Wissenschaft ist es, welche in Zukunft an die Stelle dessen zu treten hat, was gegenw\u00e4rtig die Geschichte der Philosophie leistet. Indem sich die letztere auf die Schilderung der philosophischen Weltanschauungen in ihrer Aufeinanderfolge beschr\u00e4nkt, entgeht ihr ein f\u00fcr die Entwicklung der menschlichen Erkenntniss und selbst f\u00fcr das Ver-st\u00e4ndniss der inneren Causalit\u00e4t und derj Bedeutung der philosophischen Systeme \u00e4u\u00dferst wichtiges Moment : es entgeht ihr die Wechselbeziehung, in der sich der Fortschritt der Einzelerkenntnisse zu den allgemeinen Weltanschauungen befindet, eine Wechselbeziehung, welche ihrerseits wieder einen integrirenden Bestandtheil der","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n51\ngesammten geistigen Cultur eines Zeitalters ausmacht. Da der Name einer Wissenschaft nicht selten von entscheidender Bedeutung ist f\u00fcr den Geist, der in ihr herrscht, so w\u00e4re es w\u00fcnschenswerth, dass der Ausdruck \u00bbGeschichte der Philosophie\u00ab ganz verschw\u00e4nde und der einer \u00bballgemeinen Geschichte der Wissenschaft\u00ab an seine Stelle tr\u00e4te. Da die Philosophie die allgemeine Wissenschaft ist und bleiben wird, so ist an und f\u00fcr sich schon daf\u00fcr gesorgt, dass sie in einer solchen allgemeinen Geschichte, welche die Erkenntnissarbeit in ihren bedeutsameren Richtungen auf allen Gebieten verfolgt, die ihr geb\u00fchrende Stellung behauptet.\nDie Theorie der Erkenntniss bildet zusammen mit der formalen Logik die Wissenschaft der Logik im weiteren und eigentlichen Sinne des Wortes. Die Erkenntnistheorie hat aber nicht den historischen, sondern den logischen Entwicklungsgang der Erkenntniss zu schildern. Sie besteht daher wesentlich in einer Anwendung der logischen Denkgesetze, theils auf die psychologische Genese unserer Welthegrilfe, theils auf die geschichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen Welterkenntniss. Hiernach zerf\u00e4llt die Theorie der Erkenntniss in einen allgemeinen und in einen speciellen Theil : der erstere, die allgemeine Erkenntnistheorie, untersucht die Bedingungen und allgemeinen Principien der Erkenntniss; der zweite, die Methodenlehre, besch\u00e4ftigt sich mit der Anwendung dieser Principien auf die wissenschaftliche Forschung. Durch diese Anwendung tritt zugleich die Erkenntnisstheorie in n\u00e4chste Beziehung zu den Einzelwissenschaften, indem die Betrachtungen der allgemeinen Methodenlehre theils \u00fcberall auf die specielle wissenschaftliche Methodik sich st\u00fctzen, theils ihrerseits vielfach wieder ma\u00dfgebend in dieselbe eingreif en.\nDer zweite Haupttheil der Philosophie, die Principienlehre, scheidet sich ebenfalls wieder in einen allgemeinen und in einen besonderen Theil. Der erstere, f\u00fcr den man am angemessensten den Namen der Metaphysik beibehalten mag, hat die Grundbegriffe und Grundgesetze der Welterkl\u00e4rung in ihrem systematischen Zusammenhang darzustellen. Der zweite gliedert sich nach den Grundbegriffen der einzelnen Wissenschaftsgebiete, daher sich bei ihm die Haupteintheilungen der letzteren wiederholen. Auf diese Weise treten hier zun\u00e4chst die Philosophie der Natur und die","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nW. Wundt.\nPhilosophie des Geistes einander gegen\u00fcber. Insofern beide erst auf der Grundlage der wissenschaftlichen Einzelerkenntniss, die sie mit der allgemeinen Erkenntnisstheorie und Metaphysik in Beziehung setzen, ihre Untersuchung zu f\u00fchren haben, kann f\u00fcr sie auch der Name einer Philosophi\u00e9 der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften gew\u00e4hlt werden. Es geschieht lediglich um der K\u00fcrze willen, wenn wir die ersteren Bezeichnungen bei-behalten, und es bedarf wohl kaum der Bemerkung, dass man dabei die Erinnerung an jene Natur- und Geistesphilosophie, welche sich grunds\u00e4tzlich den einzelnen Natur- und Geisteswissenschaften gegen\u00fcberstellten, fern zu halten habe. Jeder dieser Theile zerf\u00e4llt wieder in ein allgemeines und in ein specielles Gebiet. W\u00e4hrend die allgemeine Naturphilosophie die Grundbegriffe der Naturwissenschaft er\u00f6rtert, hat die specielle die Hauptgruppen der Naturerscheinungen unter einheitlichen Gesichtspunkten zusammenzufassen. Doch kann sich hierbei ihrer allgemeinen Aufgabe gem\u00e4\u00df die Philosophie darauf beschr\u00e4nken, jene gro\u00dfen Gebiete des Naturgeschehens von einander zu scheiden , welche ihrerseits wegen ihrer Allgemeinheit von den einzelnen Naturwissenschaften keiner generellen Betrachtung unterworfen werden. Diese Gebiete sind einerseits die kosmischen Erscheinungen in ihrem ganzen Zusammenhang, und andererseits die von denselben durch eigenth\u00fcmliche Merkmale sich trennenden Lebenserscheinungen. Die philosophische Kosmologie und Biologie bilden so die beiden Hauptzweige der Naturphilosophie.\nAuch die Philosophie des Geistes bedarf zun\u00e4chst der Grundlage einer allgemeinsten Geisteswissenschaft, welche aus dem Material, das die Psychologie in ihren verschiedenen Disciplinen, als Individual-, V\u00f6lker- und Thierpsychologie ihr darbietet, unter Zuh\u00fclfenahme allgemeiner erkenntnisstheoretischer und metaphysischer Gesichtspunkte eine zusammenfassende Grundanschauung des geistigen Seins uml Lehens zu entwickeln sucht. Dieser allgemeinen Geisteswissenschaft oder philosophischen Psychologie ordnen sich sodann die verschiedenen Gebiete unter, welche sich theils mit den einzelnen Gestaltungen des geistigen Lebens, theils mit der allgemeinen Entwicklung desselben innerhalb der Geschichte der Menschheit besch\u00e4ftigen. Als solche Gebiete des geistigen Lebens, welche neben ihrer specialwissenschaftlichen eine philosophische Behandlung","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Einteilung der Wissenschaften.\n53\nerheischen, treten namentlich drei als besonders bedeutsam hervor : Sittlichkeit, Kunst, Religion. Die Ethik und Rechtsphilosophie, die beide wieder untrennbar zusammengeh\u00f6ren, weil die Rechtsordnung das eigenste Erzeugniss des sittlichen Geistes ist, die Aesthetik, die Religionsphilosophie bilden daher die drei neben einander zu ordnenden speciellen Theile der Geistesphilosophie. Jede von ihnen hat die Thatsachen der ihr zugeh\u00f6rigen historischen und systematischen Einzelwissenschaften mit den allgemeinen Principien der Psychologie, der Erkenntnisslehre und Metaphysik in Beziehung zu setzen. Aus der zusammenfassenden Betrachtung der allgemeinen Entwicklung der Menschheit, ihrer politischen und Culturfactoren, und aus der besonderen Entwicklung jener einzelnen geistigen Erzeugnisse sucht endlich die Philosophie der Geschichte eine Anschauung des gesammten \u00e4u\u00dferen und inneren Lebens der Menschheit zu gewinnen, welche sich mit der mit den sonstigen Hiilfs-mitteln der Philosophie gewonnenen allgemeinen Weltanschauung im Einklang befindet. Das Yerh\u00e4ltniss, in welchem die Philosophie der Geschichte zu den \u00fcbrigen Theilen der Geistesphilosophie steht, ist daher schlie\u00dflich ein \u00e4hnliches wie innerhalb der Einzelwissenschaften das der entwicklungsgeschichtlichen und geschichtlichen zu den systematischen Disciplinen.\nWir fassen das Ergebniss der obigen Er\u00f6rterungen in der folgenden Uebersicht zusammen:\nDie philosophischen Wissenschaften.\nErste Grundwissenschaft:\nErkenntnisslehre.\nI. Formale Erkenntnisslehre oder formale Logik.\nII. Reale Erkenntnisslehre:\nA.\tHistorische Entwicklung der Erkenntniss: Allgemeine\nGeschichte der Wissenschaft.\nB.\tLogische Entwicklung der Erkenntniss: Erkenntniss-^ theorie.\n1.\tReine Erkenntnistheorie oder Erkenntnistheorie im engeren Sinne.\n2.\tAngewandte Erkenntnistheorie oder Methodenlehre.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nW. Wundt.\nZweite Grundwissenschaft :\nPrincipienlehre.\nI.\tAllgemeine Principienlehre oder Metaphysik.\nII. Specielle Principienlehre:\nA.\tNaturphilosophie.\n1.\tAllgemeine Naturphilosophie.\n2.\tSpecielle Naturphilosophie:\nAllgemeine Kosmologie. Allgemeine Biologie.\nB.\tPhilosophie des Geistes.\n1.\tAllgemeine Philosophie des Geistes oder philosophische Psychologie.\n2.\tPhilosophie der einzelnen geistigen Sch\u00f6pfungen. Ethik und Eechtsphilosophie. Aesthetik. Religionsphilosophie.\n3.\tTheorie der geistigen Entwicklung der Menschheit: Philosophie der Geschichte.\nKeine Classification der Wissenschaften kann mehr leisten wollen, als auf jedem ihrer Gebiete die Wissenschaft selbst zu leisten vermag. Mit dieser ist auch jene dem Gesetz der Entwicklung unjerthan. Die Aufstellung eines Systems der Wissenschaften kann daher immer nur die Bedeutung eines Versuchs haben, der \u00fcber den Zusammenhang der in dem gegenw\u00e4rtigen Zustand unserer intellectuellen Entwicklung zur Ausbildung gelangten Wissenschaftsgebiete Rechenschaft zu gehen bem\u00fcht ist. Dass dabei individuelle Meinungen und die Beschr\u00e4nktheit des eigenen Standpunktes einen gewissen Einfluss aus\u00fcben, wird freilich nicht zu vermeiden sein. Immerhin, der Versuch eine solche systematische Tafel der Wissenschaften aufzustellen sollte stets von Zeit zu Zeit unternommen werden. Kann auch heute nicht mehr wie zu Bacon\u2019s Zeiten daran gedacht werden, dass er auf den Zustand der einzelnen Wissenschaften oder auf die bestehende Arbeitstheilung irgend einen Einfluss gewinne, so vermag er doch jenes Bewusstsein der Zusammengeh\u00f6rigkeit wach zu erhalten, das uns heute um so leichter verloren zu gehen droht, je mehr auf allen Gebieten eine Concen-","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften.\n55\ntration der Arbeit eingetreten ist, welche die Leistungsf\u00e4higkeit erh\u00f6ht, aber auch die Einseitigkeit bef\u00f6rdert. Am meisten unter allen Disciplinen muss diese Lage der Dinge die Philosophie gef\u00e4hrden, da ihr, sobald sie den Zusammenhang mit den Einzelwissenschaften verliert, gleichzeitig der unentbehrlichste Theil ihrer H\u00fclfsmittel und ein wesentlicher Theil ihrer Aufgaben abhanden kommt. Nicht blo\u00df wegen seiner Allgemeinheit, sondern mehr noch wegen des \u00fcberwiegenden Interesses, welches die Philosophie an seiner L\u00f6sung nehmen muss, ist daher das Problem der Classification der Wissenschaften vor allem eine philosophische Aufgabe.","page":55}],"identifier":"lit742","issued":"1889","language":"de","pages":"1-55","startpages":"1","title":"Ueber die Eintheilung der Wissenschaften","type":"Journal Article","volume":"5"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:20:44.560584+00:00"}