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{"created":"2022-01-31T13:30:08.852451+00:00","id":"lit747","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 6: 250-260","fulltext":[{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Methoden der Messung des Bewusstseinsumfanges.\nVon\nW. Wundt.\nUnter dem Bewusstsein versteht die heutige Psychologie bekanntlich nichts, was au\u00dferhalb der unmittelbar in uns wahrgenommenen psychischen Zust\u00e4nde und Vorg\u00e4nge liegt, sondern nur diese Zust\u00e4nde und Vorg\u00e4nge selbst. Jeder Versuch, das Bewusstsein definiren zu wollen, ist darum principiell verfehlt; denn er macht dasselbe unvermeidlich zu einem besonderen psychischen Zustand oder Vorgang neben den Vorstellungen, Gef\u00fchlen, Willensregungen, kurz neben allem dem, was wir als den Bewusstseinsinhalt bezeichnen. Nicht ein seinem Inhalt selbst\u00e4ndig gegen\u00fcberstehender Thatbestand ist aber das Bewusstsein, sondern lediglich dieser Inhalt selber; und die wissenschaftliche Berechtigung des Begriffs besteht daher \u2014 wie missverstehenden Auffassungen gegen\u00fcber nicht oft genug betont werden kann \u2014 allein darin, dass dieser Begriff die unmittelbar gegebenen Thatsachen der inneren Wahrnehmung in einen Ausdruck zusammenfasst1).\nDer Werth, den der Besitz eines solchen Gesammtausdrucks f\u00fcr uns hat, beruht nun vornehmlich auf zwei wichtigen Eigenschaften unserer inneren Erfahrung, Eigenschaften, welche demgem\u00e4\u00df auch die Bedingungen gewesen sind, aus denen sich allm\u00e4hlich der heutige Begriff des Bewusstseins entwickelt hat. Die erste derselben besteht in der M\u00f6glichkeit der Wiedererneue-rung fr\u00fcherer innerer Vorg\u00e4nge. Diese Eigenschaft dr\u00e4ngt zu der Unterscheidung der im Bewusstsein gegebenen psychischen\n1) Vergl. meine Physiol. Psychologie, 3. Aufl. II, S. 225.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Methoden der Messung des Bewusstseinsumfanges.\t251\nVorg\u00e4nge von einem au\u00dferhalb des Bewusstseins befindlichen psychischen Inhalt, der zeitweilig verschwunden, aber der Erneuerung f\u00e4hig ist oder, wie wir es bildlich ausdr\u00fccken, wieder in das Bewusstsein eintreten kann. Die zweite Eigenschaft ist die, dass die unserer unmittelbaren inneren Wahrnehmung gegebenen Vorg\u00e4nge alle m\u00f6glichen Gradunterschiede von der eben merklichen Wahrnehmbarkeit an bis zu der h\u00f6chsten \u00fcberhaupt vorkommenden Klarheit darbieten, Unterschiede, die man in Anlehnung an den einmal gebildeten Begriff des Bewusstseins als Grade der Bewusstheit bezeichnet, wobei nat\u00fcrlich diese Grade wiederum nicht als au\u00dferhalb der Vorg\u00e4nge selbst stehend aufzufassen sind. Da man sich nun alle Bewusstseinsgrade als stetig ahgestuft und demgem\u00e4\u00df auch den eben merklichen stetig in den unmerklichen \u00fcbergehend denken kann, so hat Leibniz, auf dessen Philosophie die ganze neuere Entwicklung des Bewusstseinsbegriffs zur\u00fcckgeht, jene beiden Eigenschaften mit einander in Verbindung gebracht, indem er den bei ihm so fruchtbaren Begriff des \u00bbunendlich Kleinen\u00ab auf die Bewusstseinsvorg\u00e4nge anwandte. Die nicht von uns innerlich wahrgenommenen Vorstellungen sind ihm unendlich kleine, die in irgend einem Grade wahrnehmbaren Vorstellungen aber endliche Gr\u00f6\u00dfen. An die Stelle des Gegensatzes zwischen bewusst und nichtbewusst tritt so ein blo\u00dfer Gradunterschied der Vorstellungen, dessen Einf\u00fchrung eigentlich den Begriff des Bewusstseins wieder aufheht, insofern dieser auf der Gegen\u00fcberstellung der unmittelbar wahrgenommenen und der nicht mehr wahrgenommenen aber reproducirharen Vorstellungen beruht. So ist es denn auch begreiflich, dass der von Leibniz geschaffene Bewusstseinshegriff seinen Werth f\u00fcr die psychologische Forschung erst gewonnen hat, als man jene beiden Momente, die Gradunterschiede der Bewusstheit und den Gegensatz der Bewusstseinsvorg\u00e4nge zu dem nicht im Bewusstsein gegebenen Inhalt der Seele, streng von einander schied. Dies endg\u00fcltig vollbracht und damit f\u00fcr alle hier einschlagenden Fragen der nach ihm gekommenen experimentellen Psychologie eine brauchbare Grundlage geschaffen zu haben, ist vornehmlich Herbart\u2019s Verdienst, ein Verdienst, welches durch die Unhaltbarkeit der von ihm entwickelten Hypothesen kaum beeintr\u00e4chtigt Werden kann.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nW. Wundt.\nDie bestimmtere Fassung, die auf diese Weise der Begriff des Bewusstseins erhielt, f\u00fchrte nun zugleich zu der Voraussetzung, dass zwischen dem Bewusstsein und dem gesammten \u00fcbrigen, nicht unmittelbar gegebenen seelischen Sein stets irgend eine sei es feste, sei es bewegliche Grenze existire. Hierdurch hat aber die neuere Psychologie eine Aufgabe angetreten, deren empirische L\u00f6sung, wenn sie gl\u00fccken sollte, als ein besonders augenf\u00e4lliges Zeugniss f\u00fcr die Leistungsf\u00e4higkeit der experimentellen Methode betrachtet werden konnte: die Aufgabe n\u00e4mlich, in einem gegebenen Moment und unter gegebenen Bedingungen den Umfang des Bewusstseins, d. .h. die Anzahl der unmittelbar innerlich gegenw\u00e4rtigen Vorstellungen, zu messen.\nSchon Herb art hat dieses Problem zu l\u00f6sen versucht, freilich auf rein theoretischem Wege und auf Grund von Voraussetzungen, die theils zweifelhaft, theils sicherlich falsch sind, sodass dieser L\u00f6sung \u00fcberhaupt nur die Bedeutung der ersten Aufstellung des Problems zukommt. Bei den von Herbart beeinflussten Psychologen kehrt dann die Frage des \u00f6fteren wieder. Aber je mehr man hier der exacten mathematischen Betrachtungsweise entsagt hat, um sich auf den unbestimmten Eindruck der subjectiven Wahrnehmung allein zu verlassen, um so mehr entfernen sich in der Regel die Annahmen von denen Herbart\u2019s. So sprechen sich z. B. Waitz und Steinthal f\u00fcr die Beschr\u00e4nkung des Bewusstseinsumfanges auf je eine Vorstellung aus, was nach Herbart\u2019s Voraussetzungen niemals auch nur vor\u00fcbergehend m\u00f6glich sein w\u00fcrde1).\nDie experimentelle Psychologie ist zun\u00e4chst durch die Beobachtungen, die sich bei der ann\u00e4hernd instantanen Einwirkung einer Mehrheit gleichartiger Sinneseindr\u00fccke ergeben, zu der Behandlung dieses Problems gef\u00fchrt worden. Bei der instantanen Erleuchtung einer Mehrheit von Gesichtseindr\u00fccken mittelst des elektrischen Funkens oder mit H\u00fclfe des Fallchronometers lassen sich in der That leicht die momentan erkannten Eindr\u00fccke feststellen. Richtet man den Versuch so ein, dass sich eine m\u00f6glichst gro\u00dfe Zahl von Eindr\u00fccken im Centrum der Netzhaut abbildet, so l\u00e4sst sich sehr sch\u00f6n beobachten, wie nur eine beschr\u00e4nkte Zahl\n1) Vgl. G. Dietze, Philos. Studien II, S. 362 f.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Methoden der Messung des Bewusstseinsumfanges.\t253\nderselben unmittelbar und simultan appercipirt wird, w\u00e4hrend einige andere erst nachtr\u00e4glich, in Folge einer Reproduction des Eindrucks im Erinnerungsbilde, deutlich unterschieden werden k\u00f6nnen. Die instantan\u00e9 Erleuchtung gestattet also, Apperceptionsacte, die bei dauernder Erleuchtung ohne erkennbare Grenze in einander flie\u00dfen, deutlich von einander zu sondern und auf diese Weise den Inhalt einer einzelnen Apperception von dem der nachfolgenden zu unterscheiden. Freilich aber lehren solche Beobachtungen auch, dass es auf diesem Wege nicht m\u00f6glich ist, \u00fcber den ganzen Umfang des Bewusstseins Aufschl\u00fcsse zu erhalten. Nimmt man n\u00e4mlich die Zahl der Eindr\u00fccke nicht allzu klein, so bemerkt man stets, dass au\u00dfer den appercipirten im Moment der Erleuchtung noch andere vorhanden waren, die aber, obgleich sie in das Gebiet des centralen Sehens fielen, doch zu undeutlich blieben, um ihre Anzahl oder Beschaffenheit feststellen zu k\u00f6nnen. Auf diese Weise kommt man zu dem Ergebnisse, dass Versuche dieser Art mit simultanen Eindr\u00fccken immer nur \u00fcber den Umfang der Apperception, nicht \u00fcber den Umfang des Bewusstseins Aufschl\u00fcsse gestatten. Hiernach sind daher auch die von J. M. Catteil an Buchstaben und Linien ausgef\u00fchrten Versuche zu beurtheilen1). Ueberdies kommt hierbei f\u00fcr die Buchstabenversuche in Betracht, dass es sich bei denselben nicht um einfache, sondern um zusammengesetzte Eindr\u00fccke handelt, ja um Eindr\u00fccke, die sich selbst wieder unter einander in Bezug auf den Grad ihrer Zusammensetzung unterscheiden, w\u00e4hrend bei den einfachen Linien die Feststellung der Anzahl einen Erkennungsact in sich schlie\u00dft, der namentlich bei einer gr\u00f6\u00dferen Linienzahl erheblich verwickelter als der einfache Apperceptionsact ist.\nF\u00fchrte also dieser scheinbar n\u00e4chste Weg nicht zum Ziele, so lieferte er aber doch insofern ein werthvolles Ergehniss, als er zeigte, dass in einem gegebenen Moment au\u00dfer den appercipirten immer auch noch dunkler vorgestellte Eindr\u00fccke im Bewusstsein Vorkommen k\u00f6nnen, und dass dieser Unterschied, den wir in den Begriffen der Apperception und der blo\u00dfen Perception festzuhalten suchen, nicht von den Bedingungen der peripherischen Eindr\u00fccke nothwendig abh\u00e4ngig ist, da der auf der Netzhaut centralere\n1) Philos. Studien III, S. 121 ff.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nW. Wundt.\nEindruck m\u00f6glicherweise undeutlicher, der mehr peripherische deutlicher wahrgenommen werden kann.\nDa nun die Bestimmung der Anzahl der in einem Moment dargebotenen einfachen Eindr\u00fccke, z. B. von Punkten oder geraden Linien, immer schon eine deutliche Apperception der Objecte voraussetzt, also die hlos percipirten Theile des Wahrnehmungs-complexes nothwendig ausschlie\u00dft, so liegt der Gedanke nahe, auf folgendem Wege die Aufgabe zu l\u00f6sen. Man bietet dem Auge einen Complex einfacher Eindr\u00fccke bei instantaner Erleuchtung und dann kurze Zeit darauf in derselben Weise einen zweiten entweder dem ersten gleichenden oder von ihm etwas verschiedenen Complex und l\u00e4sst den Beobachter entscheiden, oh beide Complexe gleich oder oh sie verschieden gewesen seien. Hier handelt es sich nicht mehr um eine Z\u00e4hloperation, sondern um eine unmittelbare simultane Auffassung; ja es ist nicht einmal eine deutliche Apperception aller Elemente des complexen Eindrucks gefordert; vielmehr wird man annehmen k\u00f6nnen, dass, so lange \u00fcberhaupt ein Element merklich im Bewusstsein wirksam ist, es auch noch auf den Totaleindruck des Bildes, um dessen Vergleichung es sich handelt, einen Einfluss aus\u00fchen werde. Hier stellt sich nun aber ein anderes Bedenken entgegen. Alle Theile einer simultanen Gesichts Vorstellung fassen wir als die Bestandtheile eines complexen Eindruckes auf. Bei dem Hinwegfallen irgend eines Elementes nehmen wir leicht wahr, dass der Gesammteindruck sich ge\u00e4ndert hat, ohne uns \u00fcber das Wie dieser Aenderung Rechenschaft ablegen zu k\u00f6nnen. Dass nun eine solche Aenderung \u00fcber den Umfang des Bewusstseins Aufschluss gehe, wird man in diesem Falle kaum annehmen d\u00fcrfen. Abgesehen davon, dass die Elemente eines Bildes nicht mehr selbst\u00e4ndige Vorstellungen sind, wird es n\u00e4mlich sehr leicht eintreten, dass sich die Aufmerksamkeit vorwiegend demjenigen Theil des Bildes zuwendet, an welchem gegen\u00fcber dem vorangegangenen Eindruck durch Hinzutreten oder Wegbleihen von Elementen Aende-rungen eingetreten sind. Es wird also unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden eine solche Aenderung selbst dann noch bemerkt werden k\u00f6nnen, wenn die Grenze des Bewusstseins eigentlich l\u00e4ngst \u00fcberschritten ist.\nEine einfache Ueberlegung zeigt nun, dass diese Uebelst\u00e4nde vermieden werden k\u00f6nnen, wenn man die Eindr\u00fccke, die je eine","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Methoden der Messung des Bewusstseinsumfanges.\n255\nder zu vergleichenden complexen Wahrnehmungen zusammensetzen, successiv, nicht simultan einwirken l\u00e4sst. In Folge der Succession bleibt jedem Eindruck, da er f\u00fcr sich appercipirt werden muss, sein Einfluss auf die aus einer Anzahl successiver Eindr\u00fccke etwa resul-tirende Gesammtvorstellung gewahrt. Wenn es auch Vorkommen kann, dass quantitative Unterschiede in der Apperception der Eindr\u00fccke stattfinden, so kann es doch niemals Vorkommen, dass einzelne Eindr\u00fccke aus dem Gesammtbilde v\u00f6llig verloren gehen. W\u00e4hlt man aber successive Eindr\u00fccke, so empfehlen sich wieder Schall- vor Lichteindr\u00fccken theils wegen der k\u00fcrzeren Nachdauer der Empfindungen, theils wegen der weit geringeren Erm\u00fcdung des Sinnesorgans, theils endlich wegen der mit diesen Eigenschaften wohl zusammenh\u00e4ngenden gr\u00f6\u00dferen Uebung, die wir in der zeitlichen Verbindung der Geh\u00f6rsvorstellungen besitzen. Eine Voraussetzung, die bei der Verwendung simultaner Eindr\u00fccke zu diesen Umfangsbestimmungen als selbstverst\u00e4ndlich gelten konnte, muss freilich auch hier festgehalten werden, die Voraussetzung n\u00e4mlich, dass wir nur dann durch unmittelbare Anschauung complexe S innesvor Stellungen qualitativ oder quantitativ als gleich oder als verschieden auffassen k\u00f6nnen, wenn von den zwei mit einander verglichenen Vorstellungen jede als ein simultanes Ganzes im Bewusstsein anwesend war. Wir werden dagegen nicht durch unmittelbare Anschauung, sondern h\u00f6chstens auf Grund einer mehr oder weniger verwickelten Reflexion einander \u00e4hnliche complexe Vorstellungen vergleichen k\u00f6nnen, wenn deren Bestandtheile zu verschiedenen Zeiten Inhalts-bestandtheile des Bewusstseins gebildet haben. Da diese Voraussetzung neuerdings als eine unerwiesene, ja merkw\u00fcrdiger Weise sogar als eine solche bezeichnet worden ist, zu deren Begr\u00fcndung gar nichts angef\u00fchrt werden k\u00f6nne1), so sei es mir gestattet, hier etwas eingehender, als es fr\u00fcher geschehen, die Erfahrungen und Erw\u00e4gungen zu er\u00f6rtern, die jene Voraussetzung nach meiner Meinung zu einer unabweisbaren machen.\nZun\u00e4chst f\u00fchre man zur genaueren Vergegenw\u00e4rtigung der\n1) F. Schumann, Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, I, S. 79 f.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nW. Wundt.\nVergleichung durch unmittelbare Anschauung einerseits und der Vergleichung unter Beih\u00fclfe der Reflexion anderseits folgende Parallelversuche mit complexen Simultaneindr\u00fccken aus. Man biete dem Auge hei instantaner Erleuchtung eine zusammengesetzte geometrische Figur, z. B. ein regul\u00e4res Sechseck, welches durch eine Gerade, die zwei gegen\u00fcberliegende Ecken verbindet, in zwei viereckige H\u00e4lften getheilt ist. Dann biete man bei zwei folgenden Erleuchtungen je ein Viereck, das genau in Form wie Lage je einer der beiden H\u00e4lften der ersten Figur entspricht. Man wird finden, dass das Urtheil, die zwei letzten Figuren seien zusammengenommen der ersten gleich, immer erst nach einiger Zeit und auf Grund einer deutlich successiven Vergegenw\u00e4rtigung und Vergleichung der beiden Theilfiguren mit dem Gesammtbilde zu Stande kommt.\nNun biete man in einem zweiten Versuch hei zwei einander folgenden instantanen Erleuchtungen dem Auge jedesmal die n\u00e4mliche complexe Figur, etwa das Gesammtbild des Sechsecks: sofort ist hier mit der Apperception des zweiten Eindrucks auch die Vorstellung seiner Identit\u00e4t mit dem ersten gegeben ; von einer irgend eine Zeit in Anspruch nehmenden vergleichenden Th\u00e4tigkeit, von Reflexion und mittelbarem Urtheil ist keine Spur zu bemerken. Auch ist hei dieser Vergleichung durch unmittelbare Anschauung die Vorstellung der Gleichheit, sofern nur der Eindruck in Folge seiner Complication nicht den Grenzen der Auffassungsf\u00e4higkeit nahe kommt, vollkommen sicher, w\u00e4hrend man bei der reflectiren-den Vergleichung schwer einer gewissen Unsicherheit Herr wird, die haupts\u00e4chlich davon herr\u00fchrt, dass die schlie\u00dfliche Vergleichung nicht sowohl durch die unmittelbare Composition der beiden Halbbilder als durch die nachtr\u00e4gliche Theilung der ganzen Figur in ihre beiden H\u00e4lften und die Vergleichung derselben mit den Halbbildern zu Stande kommt.\nNachdem man sich auf diese Weise eine deutliche Vorstellung von dem wesentlichen Unterschiede des Processes der Vergleichung zweier Wahrnehmungscomplexe, deren jeder ein simultanes Ganzes im Bewusstsein bildet, und solcher, die erst aus successiv im Bewusstsein vorhandenen Wahrnehmungen construirt werden m\u00fcssen, gebildet, wende man sich nun dem Studium solcher Wahrnehmungs-","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Methoden der Messung des Bewusstseinsumfanges.\t257\ncomplexe zu, die nur aus successiven Eindr\u00fccken bestehen, wie z. B. einer Reihe auf einander folgender einfacher Schalleindr\u00fccke. Setzen wir voraus, die an Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t einander gleichenden Eindr\u00fccke folgten sich in gleichen Zeitzwischenr\u00e4umen, so ist zun\u00e4chst in diesem Falle nicht, wie hei der Auffassung r\u00e4umlicher Figuren, die Verbindung einer bestimmten Anzahl von Elementen zu complexen Einheiten durch die objectiven Eindr\u00fccke selbst schon gefordert, sondern es k\u00f6nnen diese auch, ihrer objectiven Gleichheit entsprechend, als eine Reihe aufgefasst werden, in der jedes Glied in gleicher Weise an das vorangegangene sich anschlie\u00dft. Man hat dann die Vorstellung des continuirlichen Abflusses einer Reihe von Einzeleindr\u00fccken. Diese im allgemeinen bei jeder Geschwindigkeit m\u00f6gliche Erscheinung einer ungegliederten Zeitreihe ist in zwei F\u00e4llen immer zu beobachten: erstens bei sehr schneller und zweitens bei sehr langsamer Aufeinanderfolge der Reize. Als obere und untere Grenzwerthe der hierzu erforderlichen Geschwindigkeit ergaben sich in den Versuchen von G. Dietze etwa 0,1 und 4 Sec. Das Verhalten des Bewusstseins bei diesen beiden Grenzf\u00e4llen ist aber wieder in charakteristischer Weise verschieden. Bei Intervallwerthen unter 0,1 Sec. hat man die Vorstellung einer rasch durch das Bewusstsein hindurcheilenden Folge von Eindr\u00fccken, von denen in einem gegebenen Moment mit dem gerade einwirkenden immer auch eine gr\u00f6\u00dfere, aber nicht n\u00e4her bestimmbare Anzahl vorangegangener im Bewusstsein anwesend ist, vergleichbar etwa, wenn wir die Erscheinung durch ein Gesichtshild verdeutlichen wollen, einer rasch durch das Gesichtsfeld gezogenen Scala sich in gleichen Abst\u00e4nden folgender Linien. Ganz anders verh\u00e4lt sich die Sache jenseits des Maximalintervalls von 4 Sec. Hier bleibt der einzelne Schalleindruck v\u00f6llig isolirt. Wenn der ihm nachfolgende kommt, so fasst man ihn zwar als dem vorangegangenen gleich auf; aber man hat deutlich die Vorstellung, dass dies nicht geschieht, weil er unmittelbar noch mit ihm und einer ganzen Reihe weiter vorangegangener Eindr\u00fccke im Bewusstsein coexistirt, sondern dass der schon verschwundene fr\u00fchere Eindruck erst mittelst eines Erinnerungsactes reproducirt wird.\nW\u00e4hlt man nun Geschwindigkeiten, welche zwischen den angegebenen Grenzwerthen in der Mitte liegen, so ist die Erscheinung,","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nW. Wundt.\ndie sich darbietet, der bei raschester Folge der Eindr\u00fccke zun\u00e4chst darin \u00e4hnlich, dass man die deutliche Vorstellung hat, den neu eintretenden Pendelschlag nicht erst vermittelst eines Erinnerungsactes als gleich mit dem vorangegangenen zu empfinden, sondern weil man ihn mit diesem und sogar mit einer Anzahl weiter vorausgehender Eindr\u00fccke unmittelbar in eine Gesammtvorstellung zusammenfasst. Wird dann weiterhin in angemessenen Abst\u00e4nden, so wie es in den Versuchen von Dietze geschehen ist, ein Pendelschlag durch einen begleitenden Glockenton ausgezeichnet, so erscheint, wenn diese Signalt\u00f6ne einander hinreichend nahe liegen, der zwischen je zwei Signalen gelegene Verlauf von Taktschl\u00e4gen ebenso unmittelbar als ein zusammengeh\u00f6riges Ganzes, wie etwa die von sechs Seiten eingefasste Figur eines Sechsecks. Anders gestaltet sich die Erscheinung, wenn man die Signalt\u00f6ne allzu weit auseinander r\u00fcckt. Dann tritt entweder nur die Erinnerung auf, dass vor einiger Zeit ein \u00e4hnliches Signal voranging; es bleibt aber v\u00f6llig unbestimmt, ob sich die Signale in gleichen Zeiten folgen, oder nicht. Die Grenze , wo dies eintritt, kann dann aber durch eine weitere Eigenschaft unserer Auffassung successiver regelm\u00e4\u00dfiger Eindr\u00fccke erheblich hinausgedr\u00fcckt werden, durch die Eigenschaft n\u00e4mlich, mittelst taktm\u00e4\u00dfigen Hebens und Senkens der Apperception und der begleitenden Innervation Untergliederungen einer solchen Reihe vorzunehmen. In der That ist die Neigung hierzu so gro\u00df, dass man bei ungezwungener Beobachtung innerhalb der Grenzen der f\u00fcr unser rhythmisches Gef\u00fchl bequemsten Taktfolgen von selbst in der Regel nach dem einfachsten Takt, dem Zweiachteltakt, gliedert1).\nPsychologische Versuchsresultate sind bekanntlich nicht hlos nach ihren objectiven Ergebnissen zu vergleichen, sondern man hat dabei stets die Regel anzuwenden, dass alles, was die durch die Versuchsbedingungen einer festeren Contr\u00f4le unterworfene subjec-\n1) Wenn Schumann bemerkt, dass es durch Uebung gelinge, diese Neigung zu unterdr\u00fccken, so will ich dies nicht bestreiten. Ich glaube aber, dass man dabei stets den Zwang dieser willk\u00fcrlichen Unterdr\u00fcckung empfinden wird. Leider hat Schumann \u00fcber die Zahl der Eindr\u00fccke, die unter dieser Bedingung noch zusammengefasst werden k\u00f6nnen, nichts mitgetheilt.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Methoden der Messung des Bewusstseinsumfanges.\t259\ntive Wahrnehmung ergibt, gleichzeitig in Betracht zu ziehen ist. Bei der Anwendung dieser Regel kann nun, wie ich meine, Niemand, der solche Versuche ausgef\u00fchrt hat, dar\u00fcber im Zweifel sein, dass hei einer Vergleichung auf einander folgender rhythmischer Reihen jede Reihe, sofern die oben angegebenen Bedingungen eingehalten werden, als eine unmittelbar in der Wahrnehmung gegebene Einheit wirkt, nicht als eine Summe aus einander liegender Glieder, die erst successiv reproducirt werden m\u00fcssen, um dann verglichen zu werden. Die Lage des Bewusstseins gleicht vollst\u00e4ndig derjenigen bei der Vergleichung zweier einander \u00e4hnlicher geometrischer Figuren, deren jede als Ganzes auf einmal der Beobachtung dargeboten wird; sie gleicht nicht im allermindesten dem Zustand, den wir dann in uns an treffen, wenn wir die Theile des Bildes erst aus der Erinnerung combiniren sollen. Auf diese Weise begreift es sich auch, dass die F\u00e4higkeit der Zusammenfassung bei einer scharf zu bestimmenden Grenze pl\u00f6tzlich aufh\u00f6rt. Diesseits dieser Grenze fassen wir noch deutlich zwei auf einander folgende gleiche Taktfolgen als gleich auf, jenseits derselben wissen wir nicht zu sagen, ob sie gleich oder ungleich sind, und falls wir ein TJr-theil f\u00e4llen, bleibt dieses in hohem Grade unsicher. Flandelte es sich \u00fcberall nur um die Combination aus dem Bewusstsein entschwundener Eindr\u00fccke, so w\u00e4re gar nicht einzusehen, wie solch ein pl\u00f6tzlicher Sprung m\u00f6glich sein sollte. Geht man dagegen von dem bei den Lichtversuchen gewonnenen Satze aus, dass eine unmittelbare Vergleichung complexer Eindr\u00fccke in der Anschauung nur erfolgen kann, wenn jeder der Eindr\u00fccke als ein simultanes Ganzes im Bewusstsein gewesen ist, so ist jener pl\u00f6tzliche Sprung nicht nur eine erkl\u00e4rbare, sondern eine nothwendige Erscheinung; und die jenseits der Grenze unsicher werdende und immer erst nach l\u00e4ngerer Reflexion zu Stande kommende Entscheidung weist zugleich deutlich auf die gro\u00dfe Verschiedenheit der Bedingungen hin, die hier und dort stattfinden.\nSchumann glaubt zur Erkl\u00e4rung des Zusammenfassens suc-cessiver Schalleindr\u00fccke die begleitenden Muskelinnervationen und Spannungsempfindungen herbeiziehen zu k\u00f6nnen. Da jede Apperception eines einfachen Eindrucks von solchen Spannungsempfindungen begleitet, und da die apperceptive Verst\u00e4rkung, die wir","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260 W. Wundt. Ueber die Methoden der Messung des \u00dfewusstseinsumfanges.\nwillk\u00fcrlich einzelnen Eindr\u00fccken geben, demnach immer zugleich mit einer verst\u00e4rkten Innervationsempfindung verbunden ist1), so ist in der That nicht zu bezweifeln, dass dieses Moment, namentlich bei der f\u00fcr die Zusammenfassung gr\u00f6\u00dferer Reihen so wichtigen Untergliederung rhythmischer Takte, eine gro\u00dfe Rolle spielt. Wo die Eindr\u00fccke objectiv vollkommen gleich sind, da werden sie eben durch diese ungleiche Betonung mittelst der begleitenden Innervation mehr oder weniger subjectiv gehoben. Wie nun aber diese wohlbekannte Thatsache die Zusammenfassung \u00fcberhaupt erkl\u00e4rlich machen soll, ist unverst\u00e4ndlich. Angenommen, wir begleiteten den ersten und letzten Schlag einer Taktreihe mit verst\u00e4rkter Innervation, so werden wir auf den letzten Schlag einer folgenden Reihe nur dann sicher einstellen k\u00f6nnen, wenn wir diese folgende unmittelbar als gleich der vorangegangenen auffassen. Nicht die richtige motorische Einstellung erm\u00f6glicht also die Auffassung der Gleichheit, sondern jene wird umgekehrt erst durch diese m\u00f6glich gemacht. W\u00e4re es blos eine verm\u00f6ge unbekannter Eigenschaften des Ged\u00e4chtnisses uns verliehene F\u00e4higkeit, motorische Innervationen nach gleichen Intervallen zu wiederholen, die hier in Betracht k\u00e4me, so w\u00fcrden leere Intervalle, die der Gr\u00f6\u00dfe eines eben noch verbindbaren Taktes gleichkommen, ebenso gut als gleich erkannt werden m\u00fcssen wie die Taktreihen selbst. Man kann sich aber leicht \u00fcberzeugen, dass dies nicht im allergeringsten der Fall ist, sondern dass die einzige M\u00f6glichkeit, Zeitr\u00e4ume, die etwa 4 Secunden \u00fcberschreiten, noch einigerma\u00dfen richtig wiederzuerkennen, in ihrer rhythmischen Gliederung in Unterabtheilungen besteht. Die muskul\u00e4ren Spannungsempfindungen sind eben elementare Bestandtheile der zu vergleichenden complexen Vorstellungen, sie sind aber nicht diesen selbst\u00e4ndig gegen\u00fcberstehende H\u00fclfsmittel ihrer Vergleichung.\n1) Vgl. Physiol. Psych. 3. Aufl. II, S. 241.","page":260}],"identifier":"lit747","issued":"1891","language":"de","pages":"250-260","startpages":"250","title":"Ueber die Methoden der Messung des Bewusstseinsumfanges","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:30:08.852456+00:00"}