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{"created":"2022-01-31T12:23:07.976915+00:00","id":"lit748","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 6: 335-393","fulltext":[{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\nVon\nW. Wundt.\nI. Terminologische Vorfragen.\nIn der vierten seiner Reden an die deutsche Nation hat Fichte im Anschl\u00fcsse an Betrachtungen \u00fcber die Vorz\u00fcge des Deutschen vor den neulateinischen Sprachen wohl zum ersten Male den Satz aufgestellt: der Romane habe Geist, der Deutsche aber besitze au\u00dferdem noch Gem\u00fcth1). Seitdem ist dieser Gedanke in der etwas abweichenden Fassung, das deutsche Wort \u00bbGem\u00fcth\u00ab k\u00f6nne in keine andere Sprache sinngetreu \u00fcbersetzt werden, zu einem beliebten Gemeinplatz geworden. Und doch ist es f\u00fcr denjenigen, der mit der philosophischen und der sch\u00f6nen Literatur des letzten Jahrhunderts einigerma\u00dfen bekannt ist, kein Geheimniss, dass jener Gegensatz zwischen Geist und Gem\u00fcth ein vollkommen moderner, ja dass m\u00f6glicher Weise die Stelle in Fichte\u2019s Reden die erste ist, in der jene Begriffe als Gegens\u00e4tze behandelt werden. Kant spricht gelegentlich von den \u00bbVorstellungen, die im Gem\u00fcth wohnen\u00ab, und seihst im Anfang unseres Jahrhunderts flie\u00dfen noch h\u00e4ufig die Begriffe Gem\u00fcth, Seele, Geist, Bewusstsein ohne bestimmte Sonderung in einander. In der Periode unserer klassischen und besonders unserer romantischen Dichtung hatte sich aber allm\u00e4hlich die Gewohnheit ausgebildet, da, wo von dem letzten Grund\n1) Fichte\u2019s s\u00e4mmtliche Werke, Bd. 8, S. 327. Wnadt, Philos. Stadien. VI.\n23","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nW. Wundt.\nder Gef\u00fchle, besonders der \u00e4sthetischen, die Rede war, diesen \u00bbGem\u00fcth\u00ab, nicht Seele oder Geist zu nennen. Die Philosophen und Psychologen thaten dann das ihrige, diese Trennung zu vollenden. ,So ist schlie\u00dflich das Wort Gem\u00fcth aus einem unbestimmten Ausdruck f\u00fcr das Innere des Menschen \u00fcberhaupt zu einer Bezeichnung derjenigen seelischen Eigenschaften geworden, welche als subjective, niemals selbst auf Objecte bezogene Zust\u00e4nde und Regungen unseres Inneren alles Vorstellen, Erkennen und Denken begleiten; und indem diese letzteren Th\u00e4tigkeiten ihrerseits Functionen des Geistes genannt werden, ist so jene Gegen\u00fcberstellung von Geist und Gem\u00fcth zu Stande gekommen. Wenn das Wort Gem\u00fcth wirklich un\u00fcbersetzbar ist, so kann also daraus nicht auf einen besonderen Vorzug der deutschen Volksseele, wohl aber vielleicht auf einen Vorsprung der deutschen Wissenschaft geschlossen werden, welche in diesem Fall bereits ein festes Wortzeichen f\u00fcr einen Begriff geschaffen hat, f\u00fcr \u2018den man sich anderw\u00e4rts immer noch mit unbestimmteren Ausdr\u00fccken begn\u00fcgen muss.\nUebrigens scheint es, dass diese sch\u00e4rfere Begrenzung unseres heutigen Tariffs Gem\u00fcth zuerst an zusammengesetzten Wortbildungen sich herausgearbeitet hat. So wird in der psychologischen und sonstigen Literatur des vorigen Jahrhunderts von Bewegungen, Ver\u00e4nderungen und Erregungen des Gem\u00fcths durchweg schon in demselben Sinne geredet, in welchem wir heute das Wort \u00bbGem\u00fcths-bewegung\u00ab gebrauchen. Dem entsprechend besitzen ja auch die Franzosen und Engl\u00e4nder in \u00e9motion, emotion ein dem deutschen vollkommen entsprechendes Wort f\u00fcr die Gem\u00fcthsbewegung. Psychologisch erkl\u00e4rt sich dies wohl aus der Beobachtung, dass eine seelische Bewegung unter allen Umst\u00e4nden ein unser \u00bbGem\u00fcth\u00ab (im heutigen Sinne dieses Wortes) ergreifender Process ist. Darum scheint es mir sehr wahrscheinlich, dass sich die jetzt gel\u00e4ufige Bedeutung \u00fcberhaupt aus der Gewohnheit, das Wort in solchen Zusammensetzungen zu gebrauchen, entwickelt hat. Mit der L\u00f6sung des Begriffs aus seinen Verbindungen hat sich nun aber wiederum eine Erweiterung desselben vollzogen, welche f\u00fcr die Ausbildung unserer psychologischen Begriffssprache ungemein f\u00f6rderlich gewesen ist. Es lag nahe, dem bewegten Gem\u00fcth das ruhende gegen\u00fcberzustellen , also solche Gem\u00fcthszust\u00e4nde und Gem\u00fcthsvorg\u00e4nge","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gemflthsbewegungen.\n337\nzu unterscheiden, welche entweder mehr passiver als activer Art sind, oder welche einen bleibenderen Charakter besitzen. So ist einerseits der Begriff des Gef\u00fchls entstanden, als einer Gem\u00fcths-erregung, welche nicht das ganze Gem\u00fcth ergreift, sondern, an einzelne Vorstellungen gebunden, gewisserma\u00dfen an der Oberfl\u00e4che desselben bleibt, eine Erregung, aber noch keine Bewegung des Gem\u00fcths ist. Anderseits hat sich der Begriff der Leidenschaft entwickelt, der eine dauernde Richtung des Gem\u00fcths aus dr\u00fcckt.\nDiese Begriffe des Gef\u00fchls und der Leidenschaft sind nun ebenfalls, jedes in seiner Weise, Erzeugnisse einer Entwicklung, die allm\u00e4hlich erst zu einer bestimmteren Begrenzung gef\u00fchrt hat. Aehnlich wie Gem\u00fcth und Geist, so fallen auch Gef\u00fchl und Empfindung noch im Anfang unseres Jahrhunderts fast v\u00f6llig zusammen. Gem\u00e4\u00df dem urspr\u00fcnglichen Wortsinne wurde jedoch die Empfindung als das mehr Innerliche und Subjective, das Gef\u00fchl als das Aeu\u00dferliche und Objective angesehen, daher auch der Sinn der \u00e4u\u00dferen Ber\u00fchrung, der Tastsinn, vorzugsweise als Gef\u00fchlssinn bezeichnet worden ist und zum Theil noch bezeichnet wird, gegen\u00fcber den mehr innerlich aufnehmenden Sinnen des Gesichts und Geh\u00f6rs, deren Erregungen darum Empfindungen genannt wurden. Im heutigen psychologischen Sprachgebrauch hat sich diese urspr\u00fcngliche Bedeutung der W\u00f6rter nahezu vollst\u00e4ndig umgekehrt. Empfindung nennen wir jetzt jede qualitative Erregung des Bewusstseins, welche als Bestandtheil in eine objective Vorstellung eingehen kann. Empfindungen sind daher die einfachen, durch psychologische Analyse und Abstraction nicht weiter zerlegbaren Elemente der Vorstellungen, gleichg\u00fcltig ob diese letzteren als Wahrnehmungen auf wirklich vorhandene \u00e4u\u00dfere Objecte sich beziehen oder als Erinnerungsvorstellungen der Reproduction und Association ihren Ursprung verdanken. So sind Blau, Gelb, Warm, ein einfacher Ton, sofern wir von allen Verbindungen, in denen diese Qualit\u00e4ten in Wirklichkeit stets enthalten sind, absehen, Empfindungen. Die subjective Reaction dagegen, die als Lust-oder Unlusterregung theils diesen einfachen Empfindungen theils ihren Verbindungen in den Vorstellungen anhaftet, und die unser inneres Verhalten zu den \u00e4u\u00dferen Erregungen zum Ausdruck bringt, nennen\n23*","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"33S\nW. Wundt.\nwir Gef\u00fchl. Wenn uns gr\u00fcnes Licht angenehm ist, so w\u00fcrde demnach gem\u00e4\u00df dem urspr\u00fcnglichen Sinn der Worte gesagt werden k\u00f6nnen : wir f\u00fchlen es gr\u00fcn, und wir empfinden es angenehm : . heute wird der correcte psychologische Ausdruck lauten : wir empfinden es gr\u00fcn, und wir f\u00fchlen es angenehm. Dieser Wandel der Begriffe hat bereits bei Christian Wolff und seiner Schule begonnen, und er ist durch Herbart endlich zum sch\u00e4rfsten Ausdruck gebracht worden ; in die popul\u00e4re Ausdrucksweise ist er aber keineswegs in durchgreifender Weise eingedrungen, und von hier aus wird dann immer auch wieder die wissenschaftliche Terminologie gelegentlich ins Schwanken gebracht. Namentlich die Aesthe-tik entfernt sich in der Vermengung der Ausdr\u00fccke Gef\u00fchl und Empfindung wenig von dem Zustand, in dem sie sich zu Anfang des Jahrhunderts befand. Es beruht dies \u00fcbrigens nicht blos darauf, dass man sich in diesen Gebieten, die eigentlich zu einem wesentlichen Theil angewandte Psychologie sein sollten, in Wahrheit \u00e4u\u00dferst wenig um Psychologie k\u00fcmmert, sondern zumeist darauf, dass die Motive, die wahrscheinlich die psychologische Unterscheidung hervorgerufen haben, g\u00e4nzlich au\u00dferhalb des Zusammenhanges \u00e4sthetischer, ethischer und \u00e4hnlicher Betrachtungen liegen. Diese Motive sind n\u00e4mlich, wie ich vermuthe, darin gelegen, dass das Wort F\u00fchlen, so weit es in rein sinnlicher Bedeutung Verwendung fand, urspr\u00fcnglich von dem Gef\u00fchlssinn der \u00e4u\u00dferen Haut und den ihm verwandten Gemeinempfindungen gebraucht wurde, w\u00e4hrend die anderen Sinneserregungen, wie die des Gesichts und Geh\u00f6rs, als die mehr innerlichen den Namen Empfindungen davontrugen. Da nun die Tast- und Gemeinempfindungen im allgemeinen von viel intensiveren sinnlichen Gef\u00fchlen begleitet sind als die Empfindungen jener objectiveren Sinne, so lag es nahe, auch bei den letzteren von einem begleitenden Gef\u00fchl zu reden, sobald sie sich mit derartigen subjectiveren Zust\u00e4nden verbanden. Von dem sinnlichen Gebiet ist dann mehr und mehr der Begriff auf die zusammengesetzteren und h\u00f6heren Seelenzust\u00e4nde \u00fcbertragen worden. Jedenfalls sind aber Ausdr\u00fccke wie \u00bb\u00e4sthetische\u00ab, \u00bbsittliche\u00ab, \u00bbreligi\u00f6se\u00ab oder gar \u00bbintellectuelle\u00ab Gef\u00fchle sehr viel sp\u00e4ter als das der Empfindung gegen\u00fcbergestellte sinnliche Gef\u00fchl. Den \u2022 entscheidenden Schritt in der Scheidung der Termini Gef\u00fchl und","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n339\nEmpfindung scheint nach einer Bemerkung von Eucken Tetens gethan zu haben, indem er die Empfindung als das bestimmte, was wir als \u00bbAbbildung eines Objectes und demnach als etwas Gleichg\u00fcltiges\u00ab ansehen, Gef\u00fchl dagegen als das, \u00bbwovon ich weiter nichts wei\u00df, als dass es eine Ver\u00e4nderung in mir selbst sei\u00ab1).\nEinen \u00e4hnlichen Wandel wie Empfinden und F\u00fchlen haben nun im Laufe der Zeit die Begriffe Affect und Leidenschaft erfahren. Wenn das letztere Wort zuerst gegen Ende des 17. Jahrhunderts in der Form eines Versuchs auftritt, den franz\u00f6sischen Ausdruck der \u00bbPassion de l\u2019\u00e2me \u00ab ins Deutsche zu \u00fcbertragen, so d\u00fcrfen wir darin wohl einen Beweis f\u00fcr den Einfluss erblicken, welchen Descartes\u2019 ber\u00fchmtes Werk \u00fcber die Leidenschaften auf die damalige Zeit \u00fcbte. In der That ist die ganze Bedeutungsentwicklung der W\u00f6rter Affect und Leidenschaft von diesem Werk ausgegangen. .Hatte schon Descartes hervorgehoben, dass jedes Leiden zugleich ein Thun genannt werden k\u00f6nne, weil es einen Handelnden voraussetze, der es veranlasst habe, so gelangte Spinoza zu der tiefer dringenden Auffassung, dass diese Wechselbegriffe des Thuns und des Leidens nicht nothwendig auf verschiedene Personen vertheilt sein m\u00fcssten, sondern dass der wesentliche Gesichtspunkt f\u00fcr die ethische W\u00fcrdigung der Seelenzust\u00e4nde darin liege, ob der Einzelne selbst Ursache der in ihm geschehenden Ver\u00e4nderung, oder ob diese Ursache au\u00dfer ihm sei. So nahm er den Affect zum allgemeinen Begriff, den er wieder in th\u00e4tige und leidende Affecte oder Leidenschaften unterschied2).\n,In der deutschen Philosophie des vorigen Jahrhunderts ist diese Unterscheidung so gut wie verloren gegangen. Entweder hielt man sich an den allgemeinen Begriff des Leidens und erweiterte daher die Bedeutung der Leidenschaft weit \u00fcber den Umfang der \u00bbPassio animi\u00ab hinaus, wie z. B. Chr. Wolff, oder man betrachtete Affect und Leidenschaft als v\u00f6llig synonym, die letztere als eine Uebersetzung des ersteren ins Deutsche. Da f\u00fchrte Kant abermals eine Unterscheidung beider Begriffe ein, die aber von\n1)\tEucken, Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriss, S. 210.\n2)\tEthices Pars III, Def. 3.","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nW. Wundt.\n\u2022 jener \u00e4lteren Spinoza\u2019s wesentlichvabweicht. Er nahm nicht den Affect als den weiteren, die Leidenschaft als einen engeren, ihm untergeordneten Begriff, sondern er verlegte den Unterschied beider \u2022in den schnellen Verlauf des Affects r-gegen\u00fcber der dauernd die Seele beherrschenden Leidenschaft. Mit dieser Unterscheidung kreuzte sich freilich noch eine andere, die in der Psychologie der Wolff\u2019schen Schule vorbereitet war: jenes Moment der verschiedenen Dauer erhielt bei Kant seine Bedeutung erst dadurch, dass hei dem Affect die Th\u00e4tigkeit der Vernunft nur vor\u00fcbergehend gehemmt, hei der Leidenschaft bleibend getr\u00fcbt sei. So definirte er denn die Leidenschaft als \u00bbeine durch die Vernunft des Subjects schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung\u00ab, den Affect dagegen als \u00bbdas Gef\u00fchl einer Lust oder Unlust im gegenw\u00e4rtigen Zustand, welches im Subject die Ueherlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm \u00fcberlassen oder weigern solle) nicht auf komm en l\u00e4sst\u00ab1).\nDie Stellung, die auf diese Weise Kant beiden Begriffen gibt, ist gewiss nicht vollkommen neu: sie hat sich in der sch\u00f6nwissenschaftlichen Literatur des vorigen Jahrhunderts vorbereitet, und Kant hat vielleicht nur in feste Formeln gefasst, was in dem allgemeinen Sprachgef\u00fchl bereits instinctiv sich herausgebildet hatte. Geleitet wurde dabei das letztere ohne Zweifel von jener gr\u00f6\u00dferen Allgemeinheit der Bedeutung des Wortes Affect, auf die auch Spinoza Werth gelegt. Der \u00bbaffectus\u00ab bezeichnet ja schon im Lateinischen eine heftige Gem\u00fcthserregung oder ein Begehren von qualitativ unbestimmter Beschaffenheit, welches aber doch seiner Natur nach nur als vor\u00fcbergehend gedacht wird. Bei der \u00bbLeidenschaft\u00ab (passio) dagegen liegt der Gedanke an eine krankhafte Beschaffenheit des K\u00f6rpers oder der Seele nahe genug, auf den auch Kant hinweist, indem er die Leidenschaften \u00bbKrankheiten des Gem\u00fcths\u00ab nennt. Da nun aber Krankheiten mehr oder weniger dauernde Zust\u00e4nde sind, so hat sich hier jener Begriff des Dauernden wahrscheinlich \u00fcberhaupt erst durch die Verbindung mit der Nebenvorstellung des Krankhaften entwickelt. Die letztere hat dann ihrerseits wieder die antagonistische Beziehung beg\u00fcnstigt, in die\n1) Kant\u2019s Anthropologie. Drittes Buch, Vom Begehrungsverm\u00f6gen, \u00a7","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n541\nKant und seine Zeit die Leidenschaften zur Vernunft setzten. Als Krankheiten des Gem\u00fcths sollen sie sich in einer krankhaften St\u00f6rung der Vernunft \u00e4u\u00dfern, indem sie die Ueherlegung nicht aufkommen lassen. Das thun zwar die Affecte auch, und insofern f\u00e4llt auf sie ebenfalls dieser Reflex des Pathologischen; aber hier wird doch durch die geringere Dauer, die eine baldige Ausgleichung zul\u00e4sst, die St\u00f6rung erm\u00e4\u00dfigt. Die neuere Psychologie hat sich bem\u00fcht, alle derartigen Nebengedanken, welche nicht sowohl auf den Affect selbst als auf dessen Folgen und Nebenwirkungen gehen, zu beseitigen, und es ist so als unterscheidendes Merkmal zwischen Affect und Leidenschaft lediglich dies \u00fcbrig geblieben, dass der Affect eine vor\u00fcbergehende Gem\u00fcthsbewegung, die Leidenschaft aber eine dauernde Gem\u00fcthsrichtung bezeichnet. Durch diese Abstreifung der Nebenbedeutung des Pathologischen von dem Begriff der Leidenschaft ist dieser wieder in besseren Einklang gebracht mit dem in der sch\u00f6nen Literatur mindestens seit einem Jahrhundert stets festgehaltenen Sprachgebrauch, welcher ebenso gut lobens-werthe wie unedle Neigungen, sobald sie nur stark und dauernd sind, umfasst. Hand in Hand damit hat sich noch ein anderer Wandel vollzogen, der mit der seitdem eingetretenen genaueren Begrenzung der wissenschaftlichen Gebiete zusammenh\u00e4ngt. Indem sich die allgemeine Psychologie auf die theoretische Er\u00f6rterung der psychischen Vorg\u00e4nge in ihrer allgemeing\u00fcltigen Bedeutung zur\u00fcckzog, um die Beschreibung der concreten Seelenzust\u00e4nde der praktischen Menschenkunde und ihren Anwendungen in der epischen und dramatischen Kunst zu \u00fcberlassen, sind ganz von selbst solche seelische Anlagen und Neigungen, die, wie die Leidenschaften, nicht unmittelbar in fest abgegrenzten einzelnen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen bestehen, sondern erst aus einer F\u00fclle von Beobachtungen an einem und demselben Individuum zu erschlie\u00dfen sind, aus dem Bereich der allgemeinen Psychologie ausgeschieden, analog etwa wie die verwickelten Erscheinungen gewisser meteorologischer Processe aus der Physik in die Meteorologie verwiesen werden. Was an einer Leidenschaft der allgemeinen Psychologie angeh\u00f6rt, das sind eben lediglich die einzelnen Gef\u00fchle und Affecte, aus denen sie sich zusammensetzt.\nAls ein letztes Begriffspaar, dessen Grenzen noch heute nicht","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nW. Wundt.\n\u00bbselten unsicher sind, stehen sich endlich Begehren und Trieb gegen\u00fcber. Nachdem das Begehren \u00fcberhaupt erst in der Wolff, sehen Psychologie als ein selbst\u00e4ndiger seelischer Vorgang anerkannt war, fl\u00f6ssen in der folgenden Zeit die Begriffe Begierde und Trieb \u00bb\u00e4hnlich ihren lateinischen Vorbildern cupido und appetitus, vollst\u00e4ndig in einander. Der erste Impuls zu einer Trennung ist hier wahrscheinlich von den Verdeutschungsversuchen des vorigen Jahrhunderts ausgegangen, bei denen man den thierischen \u00bbInstinkt\u00ab mit dem Wort \u00bbTrieb\u00ab oder wohl auch \u00bbKunsttrieb\u00ab wiederzugeben pflegte. Motiv f\u00fcr die Bevorzugung des Triebes vor der Begierde mag in diesem Fall die an den Begriff des ersteren gebundene Vorstellung einer treibenden Kraft gewesen sein, mit der sich der Gedanke verbinden lie\u00df, , dass die Triebe mehr den bewusstlosen Naturkr\u00e4ften gleichen, w\u00e4hrend bei der Begierde die Vorstellung des begehrten Objectes vorausgesetzt wurde. Den Trieb betrachtete man daher als das elementarere und urspr\u00fcnglichere Verm\u00f6gen oder auch als die jedem einzelnen Begehren zu Grunde liegende Kraft, welche erst durch die Verbindung mit bestimmten Vorstellungen, nach der Herbart\u2019schen Schule durch die Bewegung, die sie der Vorstellung des Begehrten verleiht, in ein wirkliches Begehren \u00fcbergehe. Von hier aus liegt nun eine weitere Verallgemeinerung nahe genug, die im Zusammenhang rein metaphysischer Er\u00f6rterungen zuerst bei J. G. Fichte hervortritt und dann f\u00fcr die Psychologie von den neueren Vertretern der sogenannten \u00bbPsychologie des inneren Sinnes\u00ab verwerthet worden ist. In dieser weiteren Bedeutung ist Trieb urspr\u00fcngliche geistige Kraft\u00e4u\u00dferung, ebensowohl wirksam im Gebiet des Erkennens wie in dem des Wollens und Handelns.\nVerliert nun auch der so erweiterte Begriff beinahe jede sichere Umgrenzung, so dass er in seinen psychologischen Anwendungen geradezu mit dem der psychischen Th\u00e4tigkeit \u00fcberhaupt sich deckt, so hat er doch, wie ich glaube, eine heilsame R\u00fcckwirkung auf die fernere Entwicklung der psychologischen Begriffe ausge\u00fcbt. Die Erkenntniss konnte nicht ausbleiben, dass das Begehren, insofern in ihm die Beziehung auf das begehrte Object mitgedacht wird, ein relativ zusammengesetzter seelischer Vorgang und als solcher selbst dann, wenn man von der Herleitung aus einem besonderen","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n343\nSeelenverm\u00f6gen absieht, kein hinreichend einfaches Ergebniss der psychologischen Analyse sei. Mit dem Begriff des Triebes dagegen konnte die Voraussetzung eines einfachen seelischen Actes um so mehr verbunden werden, als bei den fr\u00fchesten Aeu\u00dferungen der angeborenen Triebe die Beziehung auf bestimmte vorgestellte Objecte verm\u00f6ge der Bedingungen, unter denen solche Triebe sich zuerst \u00e4u\u00dfern, hinwegf\u00e4llt. Zugleich schien der Trieb verm\u00f6ge seiner directen Beziehung zum Wollen und Handeln ein hinreichend selbst\u00e4ndiges Ph\u00e4nomen zu sein, um seine Gleichsetzung mit anderen verwandten Vorg\u00e4ngen, wie Gef\u00fchl und Affect, zu verbieten.\nSo bleiben nach dieser vorl\u00e4ufigen Uebersicht des psychischen Thatbestandes und der von ihm ausgegangenen Unterscheidungen drei psychische Elementarph\u00e4nomene \u00fcbrig, \u00fcber deren Natur und ' wechselseitige Beziehungen die Psychologie der Gem\u00fcthsbewegungen zun\u00e4chst Rechenschaft zu geben hat: das Gef\u00fchl, der Affect und der Trieb; zugleich aber erhebt sich die Frage, wie sich jene drei Gem\u00fcthszust\u00e4nde zum Willen verhalten.\nBei dieser Untersuchung darf ein Gesichtspunkt nicht aus dem Auge verloren werden: Gef\u00fchl, Affect, Trieb, Wille sind nicht Thatsachen, die uns direct in der Beobachtung gegeben werden, sondern sie sind Begriffe, die wir auf Grund eines h\u00f6chst complexen Thatbestandes, in welchem sie s\u00e4mmtlich enthalten sind, gebildet haben. Sie sind also Resultate der Analyse und Abstraction, nicht selbst bereits von einander getrennte Bestandtheile der inneren Wahrnehmung. Immerhin war auf jene abstracte Unterscheidung, welche in den Bezeichnungen der wissenschaftlichen Sprache festgehalten wurde, offenbar der Umstand von Einfluss, dass wenigstens eine theilweise L\u00f6sung der einzelnen Elemente eines Gem\u00fcthsvorganges von einander m\u00f6glich ist, da ein gegebener Zustand bald mehr den Charakter des Gef\u00fchls, bald mehr den des Affects oder des Triebes an sich tr\u00e4gt. Diesen theil-weisen Trennungen, wie sie im Wechsel der inneren Zust\u00e4nde fortw\u00e4hrend sich ereignen, werden haupts\u00e4chlich die Merkmale zu entnehmen sein, nach welchen die genauere wissenschaftliche Abgrenzung der im gew\u00f6hnlichen Sprachbewusstsein nur unsicher geschiedenen Begriffe vorzunehmen ist.","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nW. Wundt.\nAlle terminologischen Feststellungen beruhen schlie\u00dflich auf willk\u00fcrlicher Uebereinkunft. Kein un\u00fcberwindliches Naturgesetz zwingt uns, mit den W\u00f6rtern Gef\u00fchl, Affect, Trieb und Wille einen bestimmten Sinn zu verbinden und keinen andern. Sogar jene wenigstens relativ allgemeing\u00fcltige Convention, welche bei Objecten der Au\u00dfenwelt dem Worte seine objective Bedeutung anweist, l\u00e4sst uns hier im Stiche. Wir k\u00f6nnen nicht in \u00e4hnlicher Weise, wie wir auf die Gegenst\u00e4nde hinzeigen, die wir unter einem Baum oder einem Haus verstehen, den psychologischen Begriffen ihre fest bestimmte Stelle in unserem inneren Leben anweisen, weil eben jene inneren Vorg\u00e4nge blos als integrirende Bestandteile zusammengesetzter Zust\u00e4nde Vorkommen, aus denen sie immer nur teilweise, in Folge von Schwankungen ihrer Intensit\u00e4t bei gleichbleibender St\u00e4rke der \u00fcbrigen Elemente eines complexen Vorganges, ausgesondert werden k\u00f6nnen. Diese Umst\u00e4nde machen den ungeheuren Bedeutungswandel, den die psychologischen Termini erfahren haben, begreiflich; sie rechtfertigen es aber auch, wenn f\u00fcr die wissenschaftliche Feststellung der Begriffe der gew\u00f6hnliche Sprachgebrauch hier immer nur insoweit ma\u00dfgebend bleibt, als er die allgemeine Richtung andeutet, in welcher sich die Analyse der Thatsachen schon im vorwissenschaftlichen Denken vorbereitet hat. Das Vorurteil, unter welchem das letztere durchg\u00e4ngig steht, als wenn die von uns unterschiedenen Begriffe getrennt von einander vorkommenden Thatsachen entspr\u00e4chen, muss aber von vornherein beseitigt werden.\nII. Gef\u00fchl und Affect.\n1. Die intellectuellen Gef\u00fchl stheorien.\nJede Definition eines Begriffs setzt bekanntlich eine Zerlegung in Merkmale voraus, sie fordert also, dass der Gegenstand des Begriffs ein zusammengesetzter sei; und ebenso ist die Deduction eines Thatbestandes nur unter der Voraussetzung einer complexen Beschaffenheit desselben ausf\u00fchrbar. So wird ein mathematischer Lehrsatz abgeleitet, indem man ihn in die einfachen Voraussetzungen zerlegt, die in ihn eingehen. Hieraus folgt, dass einfache seelische Vorg\u00e4nge weder definirt noch deducirt, d. h. aus ihren Gr\u00fcnden","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n345\nabgeleitet werden k\u00f6nnen. Vielmehr kann von einer Erkl\u00e4rung derselben immer nur in dem Sinne die Rede sein, dass man versucht, ihre thats\u00e4chliche Verbindung mit andern einfachen oder zusammengesetzten Vorg\u00e4ngen nachzuweisen.\nF\u00fcr die einfachen Empfindungen ist diese Unm\u00f6glichkeit einer Definition sowohl wie einer Deduction l\u00e4ngst anerkannt. Man gibt zu, dass Niemand zu sagen wisse, was Blau sei, oder warum die Empfindung Blau existire. In Bezug auf die Vorg\u00e4nge und Zust\u00e4nde des Gem\u00fcths dagegen scheinen die meisten Theorien noch immer von dem irrth\u00fcmlichen Streben nach einer Definition des Undefinirbaren und nach einer Deduction des Undeducirbaren erf\u00fcllt zu sein. Da in dem empirischen Thathestand die Materialien zu einem solchen Verfahren nicht aufzufinden sind, so hilft man sich aber in der Regel dadurch, dass die wirklich gegebenen That-sachen mit Fictionen oder Interpretationen vermengt und diese letzteren ganz so behandelt werden, als wenn sie Bestandtheile der empirischen Vorg\u00e4nge selber w\u00e4ren.\nOffenkundig hat sich dieses Fehlers der Intellectualismus schuldig gemacht, der gleichwohl noch heute auch in der Psychologie seine Rolle spielt, und dessen Tendenz dahin geht, alle seelischen Processe in intellectuelle Operationen aufzul\u00f6sen. Ueber unsere Vorstellungen, Gem\u00fcthsbewegungen und Handlungen k\u00f6nnen wir nachtr\u00e4glich immer reflectiren ; wir k\u00f6nnen \u00fcber ihre Ursachen und Zwecke nachdenken und auf diese Weise schlie\u00dflich die urspr\u00fcnglichen Thatsachen, von denen die Reflexion ausging, unter den durch die letztere gewonnenen Gesichtspunkten betrachten. Der Erfolg dieser Ueberlegungen schl\u00e4gt nie fehl : es gibt schlechterdings nichts in unserem Seelenleben, was nicht in diesem Medium des reflectirenden Nachdenkens aufzul\u00f6sen w\u00e4re. Da aber dabei selbst einfache Vorg\u00e4nge, wie z. B. ein einfaches Gef\u00fchl oder ein relativ einfacher Affect, immer in die Form verwickelter Ueberlegungen umgegossen werden, so findet nun jenes Streben das eigentlich Undefinirbare zu definiren und das Undeducirbare .zu deduciren seine volle Befriedigung. Schade nur, dass die so gewonnenen Denkbestimmungen, die aus dem Kopfe des reflectirenden Psychologen in den psychischen Thathestand hin\u00fcbergewandert sind, schlie\u00dflich doch nur in einem Zirkel herumf\u00fchren, nach dessen","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nW. Wundt.\nDurchlaufen man wieder bei der einfachen Thatsache stehen bleibt von der die ganze Reflexion ausgegangen war. Wenn z. B. Spinoza die Traurigkeit als einen Zustand der Seele definirt, bei dem sie zu geringerer, die Freudigkeit als einen solchen, bei dem sie zu gr\u00f6\u00dferer Vollkommenheit \u00fcbergehe1), oder wenn Locke sagt Freude ist ein Vergn\u00fcgen der Seele in Folge des Wissens, dass der Besitz eines Gutes erreicht oder dessen Erreichung sicher ist und: Traurigkeit ist ein Unbehagen der Seele, wenn sie an den Verlust eines Gutes denkt, das sie noch l\u00e4nger h\u00e4tte genie\u00dfen k\u00f6nnen, oder wenn sie ein gegenw\u00e4rtiges Uebel empfindet2), so erhellt ohne weiteres, dass die Begriffe Vollkommenheit, Unvollkommenheit, Gut, Uebel, Vergn\u00fcgen, Unbehagen entweder selbst wieder Gef\u00fchle sind oder die Existenz der Gef\u00fchle voraussetzen, die durch sie erkl\u00e4rt werden sollen. Macht man den Versuch, auch diese Begriffe in weitere Reflexionsbestimmungen aufzul\u00f6sen, indem man z. B. als Gut das, was unser Gl\u00fcck bef\u00f6rdert oder was uns n\u00fctzlich ist, definirt, so wird damit immer nur der Punkt, wo die Reflexionsbestimmungen in ein Gef\u00fchl auslaufen, um eine Strecke weiter zur\u00fcckgeschoben.\nDurch sein Streben, den complexen Thatbestand des Bewusstseins einer exacten Analyse zu unterwerfen, hat Herbart vieles dazu beigetragen, dass diese Vermengung des wirklich Gegebenen mit Resultaten einer nachtr\u00e4glichen Reflexion \u00fcber dasselbe beseitigt werde. Aber die Voraussetzung, dass die letzten nicht mehr weiter zerlegbaren Bestandtheile des Bewusstseins Vorstellungen sein m\u00fcssten, bleibt auch bei ihm bestehen. Da nun die Zust\u00e4nde des F\u00fchlens, Wollens und Begehrens nicht als Unterschiede der Vorstellungen selbst betrachtet werden k\u00f6nnen, so bleibt, wie Herhart meint,, nichts anderes \u00fcbrig, als sie auf Unterschiede im Zust and des Vorstellens zu beziehen. \u00bbWie sollen wir\u00bb, so fragt er, \u00bbdie Bestimmung des Bewusstseins, da ein Vorstellen zwischen entgegengesetzten Kr\u00e4ften eingepresst schwebt, benennen ? - \u2022 \u2022 \u2022 Wie anders werden wir den gepressten Zustand bezeichnen, als durch den Namen eines mit der Vorstellung verbundenen\n1) Ethiee, III, 11. Sehol.\n2) Essay, II, 20.","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n347\nGef\u00fchls?\u00ab1) Die Frageform ist [bezeichnend genug f\u00fcr diese Ableitung. Werden die Vorstellungen als der einzige selbst\u00e4ndige Inhalt des Bewusstseins vorausgesetzt, so l\u00e4sst sich doch die Existenz von Gef\u00fchlen und von sonstigen ihnen \u00e4hnlichen Zust\u00e4nden nicht ableugnen. Da nun diese keine Vorstellungen sind, so bleibt nichts \u00fcbrig, als sie auf irgend etwas zur\u00fcckzuf\u00fchren, was zwischen den Vorstellungen sich ereignet. Die so genannte \u00bbMechanik der Vorstellungen\u00ab bietet nun eine Reihe imagin\u00e4rer Processe dar, zwischen denen jene Zust\u00e4nde nach Gutd\u00fcnken vertheilt werden k\u00f6nnen. Was liegt daran, dass es Gef\u00fchle gibt, bei denen von der hier angenommenen Pressung der Vorstellungen nichts wahrzunehmen ist? Oder dass es andere gibt, die, wie die sinnlichen Gef\u00fchle, regelm\u00e4\u00dfig an gewisse einfache Empfindungen gebunden sind, in welchen Verbindungen diese auch Vorkommen m\u00f6gen?\nDie Verwandtschaft dieser und der intellectuellen Theorie liegt darin, dass beide in den Empfindungen und Vorstellungen die prim\u00e4ren Seelenvorg\u00e4nge erblicken, aus denen alles F\u00fchlen, Streben, Wollen abgeleitet werden k\u00f6nne. In der Art dieser Ableitung erst scheiden sich beide von einander: der Intellectualismus verlegt den Ursprung der Gem\u00fcthszust\u00e4nde in primitive Denkhandlungen, der Herbartianismus erblickt ihn in mechanischen Wechselwirkungen der Vorstellungen. Indem vom letzteren Standpunkte aus das Gef\u00fchl zugleich als ein \u00bbBewusstwerden des Vorstellens\u00ab bezeichnet wird, insofern wir der Vorstellungsth\u00e4tigkeit eben immer erst durch die vorhandenen Spannungen der Vorstellungen inne werden sollen2), verst\u00e4rkt sich die Verwandtschaft beider Theorien. Denn das Bewusstwerden des seelischen Geschehens, des inneren Gehemmt-werdens und der Befreiung von vorhandenen Spannungen, das hier als das wahre Wesen der Lust- und Unlustgef\u00fchle hingestellt wird, ist im Grunde auch nur die Umdeutung eines nach seiner unmittelbaren Beschaffenheit der Beschreibung unzug\u00e4nglichen Vorgangs in einen intellectuellen Process.\nEntschlie\u00dft man sich nun, auf eine solche Umdeutung zu verzichten, so scheint der n\u00e4chste Weg, den Gem\u00fcthszust\u00e4nden eine\n1)\tHerbart, Psychol, als Wissenschaft, Th. II, \u00a7 104. Werke, Bd. VI, S.75.\n2)\tVolkmann, Psychologie, 2. Auf!., II, S. 290.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nW. Wundt.\n\u00e4hnliche Selbst\u00e4ndigkeit wie den Vorstellungen selbst zu sichern, der zu sein, dass man auf die physischen Bedingungen der seelischen Vorg\u00e4nge zur\u00fcckgeht. Beruht die Urspr\u00fcnglichkeit der Empfindungen vom physiologischen Gesichtspunkte aus darauf, dass bestimmten Formen der Nervenerregung bestimmte Qualit\u00e4ten des Empfindens parallel gehen, so l\u00e4sst sich ja das analoge auch f\u00fcr die Gem\u00fcthszust\u00e4nde voraussetzen. Es w\u00fcrde z. B. angenommen werden k\u00f6nnen, dass jedem Gef\u00fchl von eigenth\u00fcmlicher qualitativer F\u00e4rbung ein eigenartiger Nervenprocess entspreche; es w\u00fcrde sich dann, sobald die Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen dieses Processes gegeben w\u00e4ren, die Empfindung mit einem Gef\u00fchl verbinden, w\u00e4hrend sie ohne jene Bedingungen eine gef\u00fchlsfreie Beschaffenheit behielte. In der That hat schon Lotze diesen Gedanken eines \u00bbgef\u00fchlerzeugenden Nervenprocesses\u00ab zur Geltung gebracht. Doch abgesehen davon, dass es einer solchen Annahme an jeder empirischen Unterlage fehlt, m\u00fcsste sie, wie Lotze selbst anerkennt, auf die sinnlichen Gef\u00fchle beschr\u00e4nkt werden, da sie f\u00fcr alle complexeren Gef\u00fchle nicht durchf\u00fchrbar ist1). Es erscheint aber doch widersprechend, Zust\u00e4nde von im allgemeinen verwandtem Charakter auf v\u00f6llig verschiedene Grundlagen zu stellen, also z. B-die Gegens\u00e4tze der Lust und Unlust, die den einfachen wie den complexen Gef\u00fchlen gemeinsam sind, das eine Mal auf verschiedenartige Nervenprocesse, das andere Mal auf einen verschiedenen Erregungszustand der Seele zur\u00fcckzuf\u00fchren. So wird denn auch Lotze gen\u00f6thigt, diese disparaten F\u00e4lle wieder durch eine teleologische Erw\u00e4gung zu verbinden. In jedem Fall, mag es nun aus einer directen Erregung der Seele entstehen, wie beim \u00e4sthetischen Eindruck, oder aus einem besonderen Nervenprocess, wie beim sinnlichen Gef\u00fchl, soll das Gef\u00fchl selbst auf einer unmittelbaren F\u00f6rderung oder Hemmung unseres seelischen Seins beruhen. Durch diese teleologische Wendung wird aber die ganze Betrachtung wieder den intellectuellen Theorien gen\u00e4hert. Denn F\u00f6rderung und Hemmung des seelischen Zustandes sind Umschreibungen der unmittelbaren Thatsachen, die \u00fcberall erst auf Grund einer Reflexion \u00fcber die Bedingungen und Folgen von Lust und Unlust m\u00f6glich sind.\n1) Lotze, Med. Psychologie, S. 247.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"349\n2. Versuche einer physiologischen Interpretation der Gemiithsbewegungen.\nMit der Annahme des gef\u00fchlerzeugenden Nervenprocesses hat Lotze eine Saite angeschlagen, die, seiner eigenen Psychologie sonst fremd, in denjenigen Auffassungen nachklingt, welche die letzte Aufgabe der psychologischen Untersuchung darin erblicken, dass jeder psychische Thatbestand auf sein physiologisches Substrat zur\u00fcckgef\u00fchrt werde, und welche mit dieser Zur\u00fcckf\u00fchrung das Gesch\u00e4ft der wissenschaftlichen Erkl\u00e4rung f\u00fcr ersch\u00f6pft halten. Im Grunde genommen spiegelt sich in diesen Bestrebungen die n\u00e4mliche Tendenz einer Definition des Undefinirbaren und einer Deduction des Undeducirbaren, wie in den intellectuellen Theorien der Vergangenheit. Indem man das Verh\u00e4ltniss des physischen zu dem entsprechenden psychischen Geschehen vollst\u00e4ndig dem Verh\u00e4ltniss von Ursache und Wirkung subsumirt ; meint man einen seelischen Vorgang erkl\u00e4rt zu haben, wenn der ihm parallel gehende physische Process nachgewiesen ist, oder, was noch h\u00e4ufiger vorkommt, wenn ein derartiger Process irgendwie hypothetisch sich construiren l\u00e4sst. Da nun jeder physiologische Vorgang hinwiederum, wenigstens der allgemeinen Forderung nach, als enthalten in dem allgemeinen Causalnexus der Naturvorg\u00e4nge angesehen werden muss, so ist damit die M\u00f6glichkeit geboten, jeden, auch den einfachsten seelischen Thatbestand in dem angegebenen Sinne zu deduciren und, insofern die Aufzeigung der Entstehungsbedingungen immer zugleich eine Art Begriffsbestimmung in sich schlie\u00dft, zu definiren.\nEin sprechendes Beispiel f\u00fcr diese Art psychologischer Scheinerkl\u00e4rungen bietet eine von C. Lange aufgestellte Theorie der Affecte, die schon deshalb ein gewisses Interesse erheischt, weil der Gedankengang derselben ziemlich treu die Ueberzeugungen vieler Physiologen und mancher Psychophysiker \u00fcber den Gegenstand wiedergehen d\u00fcrfte. Lange1) geht von der Forderung aus, dass einfache Affecte, wie Schreck, Wuth, Freude, nicht zusammengeworfen werden d\u00fcrften mit complexen Gem\u00fcthszust\u00e4nden, wie Neid,\n1) C. Lange, Ueber Gemiithsbewegungen. Deutsch von H. Kurella. Leipzig 1887.","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nW. Wundt.\nLiebe, Bewunderung u. dergl. Die letzteren seien aus einem ganzen Complex seelischer Ph\u00e4nomene gebildet, in welche theils jene einfachen Affecte, theils aber auch Bewegungen im Vorstellen als elementarere Bestandtheile eingehen. Man m\u00f6ge sie daher Gef\u00fchle nennen und den Namen Affecte oder Gem\u00fcthsbewegungen f\u00fcr die einfacheren Vorg\u00e4nge beibehalten. Da nun an diesen letzteren ohne Zweifel ebenfalls Bewegungen im Vorstellen betheiligt sind, so scheint die zusammengesetzte Beschaffenheit als das einzige Unterscheidungsmerkmal \u00fcbrig zu bleiben. Das sonst angenommene Verh\u00e4ltniss zwischen Gef\u00fchlen und Affecten wird also hier vollst\u00e4ndig umgekehrt: der Affect ist als der einfache, das Gef\u00fchl als der complexe, aus vielen Affecten zusammengesetzte Vorgang de-finirt. Der Verfasser hat sich nicht dar\u00fcber ausgelassen, welche Stellung er gewissen einfachen Gef\u00fchlen, bei denen eine Zusammensetzung aus Affecten nicht nachzuweisen ist, wie dem sinnlichen Gef\u00fchl, den \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen, zu geben w\u00fcnscht. H\u00e4tte er der Existenz dieser Gef\u00fchle Rechnung getragen, so w\u00e4re ihm wohl nicht verborgen geblieben, dass auch in die von ihm angenommenen einfachen Affecte solche Gef\u00fchle als elementarere Bestandtheile eingehen. Schon bei dieser vorl\u00e4ufigen Unterscheidung der Affecte von anderen Seelenzust\u00e4nden ist eben f\u00fcr ihn das nachher f\u00fcr die Untersuchung der einzelnen Affecte aufgestellte Princip ma\u00dfgebend, dass die objectiven, physiologischen Aeu\u00dferungen der Affecte die einzig sicheren Kriterien f\u00fcr ihre wissenschaftliche Untersuchung abgeben. Da bei den vorhin erw\u00e4hnten einfachen Gef\u00fchlsformen solche objective Merkmale im allgemeinen nicht oder doch erst von dem Moment an auftreten, wo sich Affecte mit ihnen verbinden, so ist es ganz begreiflich, dass der Verfasser alle Gem\u00fcthszust\u00e4nde, die nicht in Ausdrucksbewegungen nachweisbar sind, als nichtexistirende ansieht. Auf Grund des erw\u00e4hnten Princips bezeichnet er aber die Affecte als Innervationsst\u00f6rungen, welche reflectorisch entstehen und in drei Muskelsystemen zur Aeu\u00dferung kommen k\u00f6nnen : in den willk\u00fcrlichen Muskeln, in den Gef\u00e4\u00dfmuskeln und in dem Muskelapparat der Eingeweide. Weil in jedem dieser Apparate die St\u00f6rung entweder in einer Vermehrung oder in einer Verminderung der Innervation bestehen kann, so w\u00fcrden an sich nicht weniger als 27 Combinationen elementarer","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\t351\nSt\u00f6rungen, also 27 Affectformen m\u00f6glich sein, die aber nat\u00fcrlich in der Wirklichkeit nicht alle Vorkommen. In der That begn\u00fcgt sich Lange mit der Unterscheidung von blos sieben: Entt\u00e4uschung, Kummer, Schreck, Verlegenheit, Spannung, Freude, Zorn *). Das interessanteste, f\u00fcr Viele gewiss unerwartete Ergebniss der einzelnen Untersuchungen ist dies, dass Freude und Zorn eigentlich der n\u00e4mliche Affect seien, da bei beiden Erh\u00f6hung der willk\u00fcrlichen Innervation und Erweiterung der Gef\u00e4\u00dfe bestehen. Der Zorn unterscheide sich nur durch den nebens\u00e4chlichen Umstand, dass bei ihm eine Incoordination der Bewegungen vorhanden ist, die bei der Freude fehlen soll, \u2014 ein Unterschiedsmerkmal, das ich meinerseits, wenigstens in Bezug auf die intensivsten Aeu\u00dfe-rungen der Freude, bestreiten m\u00f6chte. Wenn die popul\u00e4re Redeweise von einem Menschen sagt, dass er sich \u00bbvor Freude nicht zu lassen wei\u00df\u00ab, so st\u00fctzt sie sich dabei, wie ich meine, auf die leicht zu beobachtende Thatsache, dass eine gewisse Incoordination der Bewegungen auch bei der \u00bbausgelassenen\u00ab Freude nicht mangelt. Was die \u00fcbrigen Affecte betrifft, so stellt Lange Entt\u00e4uschung, Kummer und Schreck als n\u00e4chstverwandte zusammen. Bei der Entt\u00e4uschung ist blos Schw\u00e4chung der willk\u00fcrlichen Innervation, bei dem Kummer au\u00dferdem noch Gef\u00e4\u00dfverengerung, bei dem Schreck au\u00dfer beiden auch Spannung der organischen Muskeln zu finden. In die n\u00e4mliche Reihe geh\u00f6rt endlich die Verlegenheit, bei der die Gef\u00e4\u00dfverengerung und der Spasmus fehlen, daf\u00fcr aber Incoordination der Bewegungen sich mit der Schw\u00e4chung der willk\u00fcrlichen Bewegungen verbindet. Uebrigens verschm\u00e4ht der Verfasser es nicht, gelegentlich auch psychologische Erkl\u00e4rungen, obgleich er sie principiell ablehnt, aush\u00fclfsweise herbeizuziehen. Wenigstens m\u00f6chte ich es als eine solche auffassen, wenn er gewisse Bewegungen des Zornigen, wie das Ausraufen der eigenen Haare, das Bei\u00dfen in die Lippe, das blinde Zuschl\u00e4gen, aus einem \u00bbBed\u00fcrfniss nach abnorm starken Sinneseindr\u00fccken\u00ab ableitet, das in der abnorm schwachen Auffassung der Sinne seinen Grund haben soll. Ein \u00bbBed\u00fcrfniss\u00ab ist jedenfalls ein psychologischer Zustand. Dass das Bed\u00fcrfniss nach Sinneseindr\u00fccken die Pr\u00fcgel erkl\u00e4rt, die\n1) a. a. O. S. 39 f. Wundt, Philoe. Studien. VI.\n24","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nW. Wundt.\nzwei kampflustige Gesellen sich wechselseitig verabfolgen, m\u00f6chte ich freilich bezweifeln.\nAlle Versuche, \u00fcber den psychischen Thatbestand bei den einzelnen Affecten Rechenschaft zu geben, verwirft Lange als \u00bbspeculative\u00ab Bem\u00fchungen. Dass es eine Psychologie gibt, welche nur allzu geneigt ist, der Beschreibung der Thatsachen der innern Erfahrung ihre eigenen Speculationen \u00fcber dieselben zu substituiren. ist leider nur allzu gewiss. Auch kann zugegeben werden, dass eine sorgf\u00e4ltige Schilderung der Ausdrucksbewegungen, der Einfl\u00fcsse, unter denen sie zu Stande kommen, und der Wirkungen, die sie auf die Affecte aus\u00fcben, erforderlich ist, um ein vollst\u00e4ndiges Bild der letzteren zu gewinnen. ' Aber diese Aufgabe enthebt doch keineswegs der Verpflichtung, zun\u00e4chst und vor allem das, was die innere Wahrnehmung bietet, genau in seinem Verlauf zu verfolgen. Wer von der letzteren ganz abstrahirt, der verf\u00e4hrt eben nicht minder einseitig als derjenige, der von den physischen Begleiterscheinungen der Affecte meint absehen zu k\u00f6nnen. Speculativ ist aber eine Beschreibung innerer Wahrnehmungen sicherlich ebenso wenig wie die Beschreibung der Ausdrucksformen der Affecte. Eher w\u00e4re ich geneigt, die von Lange construirten hypothetischen Leitungsbahnen der Reflexe vorl\u00e4ufig noch der speculativen Psychophysik zuzurechnen, ohne damit solchen hypothetischen Verbindungen der Erscheinungen ihre Berechtigung bestreiten zu wollen. Ueberhaupt ist das Bem\u00fchen, eine sichere Diagnostik der Affecte mittelst ihrer Ausdrucksbewegungen aufzustellen, dankbar anzuerkennen. Aber dass eine solche Diagnostik nicht die ganze Lehre vom Affect in sich schlie\u00dft, das erhellt f\u00fcr Jeden, der sehen will, hinreichend aus der von Lange auf S. 40 auf Grund seiner Ergebnisse aufgestellten Classification, deren merkw\u00fcrdigstes Ergebniss, n\u00e4mlich die intime Verwandtschaft von Freude und Zorn, schon oben erw\u00e4hnt worden ist.\nMit der Abneigung vor der \u00bbspeculativen Psychologie\u00ab, unter die alle Versuche, den psychischen Thatbestand der Affecte festzustellen, geh\u00f6ren, verbindet sich bei Lange zugleich die Vorstellung, die ganze bisherige, auch die sogenannte \u00bbwissenschaftliche Psychologie \u00ab^ habe bei den Affecten eine unmittelbare Wirkung des K\u00f6rpers/auf die Seele angenommen, weil sie gelegentlich","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n353\nAusdr\u00fccke gebraucht wie : der Zorn erzeugt heftige Muskelbewegungen, jer Schreck wirkt l\u00e4hmend auf den K\u00f6rper, u. s. w. Freilich bedient sich Lange ebenfalls dieser Wendungen. Aber bei ihm sollen sie nur abgek\u00fcrzte, der popul\u00e4ren Auffassung sich anpassende Ausdr\u00fccke sein, bei den von ihm angegriffenen Psychologen sollen sie die Sache selber bezeichnen >). H\u00e4tte sich der Verfasser die M\u00fche genommen, die Arbeiten dieser Psychologen n\u00e4her anzusehen, so w\u00fcrde ihm nicht entgangen sein, dass er dieselben ungef\u00e4hr mit demselben Rechte anklagen k\u00f6nnte, sie hielten den Zorn, den Kummer, den Schreck f\u00fcr selbst\u00e4ndige Wesen, weil der Ausdruck, die Affecte \u00bbbewirkten\u00ab diese oder jene physischen Ver\u00e4nderungen, m\u00f6glicher Weise so gedeutet werden kann. Ich habe meinerseits oft genug auseinandergesetzt, dass und warum ich einen \u00bbInfluxus physicus\u00ab im Sinne des cartesianischen Dualismus f\u00fcr unm\u00f6glich, und dass ich daher die Vorstellung eines Parallelismus physischer und psychischer Vorg\u00e4nge f\u00fcr die vom Standpunkt der empirischen Psychologie aus geforderte halte. Lange selbst h\u00e4lt dagegen einen Influxus physicus im umgekehrten Sinne f\u00fcr vollkommen unverf\u00e4nglich. Dass die psychischen Vorg\u00e4nge auf den K\u00f6rper wirken, gilt ihm f\u00fcr ein sp\u00e9culatives Vorurtheil. Aber dass die k\u00f6rperlichen Bewegungen direct psychische Processe erzeugen k\u00f6nnen, ist ihm eine nicht zu beanstandende und \u00fcberall durch die Erfahrung best\u00e4tigte Annahme. Ich meine dagegen, diese beiden Annahmen-sind einander vollkommen gleichwerthig. Wenn keine durch die logisch g\u00fcltigen Formen der Causalbeziehung herzustellende Br\u00fccke vom Psychischen zum Physischen her\u00fcberf\u00fchrt, so ist es ebenso wenig m\u00f6glich, eine solche vom Physischen zum Psychischen hin\u00fcberzuschlagen. Darum nahm die cartesianische Theorie vollkommen consequent Bewegungen in beiden Richtungen an : der K\u00f6rper wirkt' nach ihr ebenso auf die Seele wie die Seele auf den K\u00f6rper. Nun liegt der Grund, weshalb uns diese Theorie heute unhaltbar erscheint, lediglich darin, dass sie eine urs\u00e4chliche Verbindung zwischen v\u00f6llig unvergleichbaren Thatsachen voraussetzt. Eine Empfindung kann aus einer Bewegung ebenso wenig abgeleitet werden, wie eine Bewegung aus einer Empfindung. Der\n1) a. a. O. S. 48.\n24*","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nW. Wundt,\nneuere physiologische Materialismus hat daher auch die Erbschaft der einen H\u00e4lfte des cartesianischen Influxus nur dadurch antreten k\u00f6nnen, dass er entweder die Existenz der psychischen Thatsachen bestritt oder die Anwendbarkeit der Causalit\u00e4t auf die Verbindung der psychischen Vorg\u00e4nge unter einander leugnete. Im ersten Fall werden diese zu ungenauen Auffassungen wirklicher Gehirn -bewegungen, im zweiten zu Nebenerscheinungen derselben. Dass dieser Standpunkt erkenntnisstheoretisch unhaltbar ist, braucht hier nicht noch einmal wiederholt zu werden. Dass er jedem einzelnen psychologischen Problem gegen\u00fcber scheitert, daf\u00fcr liefert die Arbeit Lange\u2019s, die auf diesem Standpunkte sich befindet, einen neuen Beleg. Niemand wird sich wohl der Meinung hingeben, der Affect des Kummers sei in seiner psychologischen Natur durch die Feststellung , dass hei ihm die willk\u00fcrliche Innervation herabgesetzt und die Gef\u00e4\u00dfe dauernd verengert sind, sonderlich aufgekl\u00e4rt.\nDie entscheidende Instanz f\u00fcr die Ableitung der Affecte aus ihren physischen Begleiterscheinungen, insbesondere aus den Ver\u00e4nderungen der Gef\u00e4\u00dfinnervation liegt nun aber f\u00fcr Lange darin, dass \u00bb Gem\u00fcthsbewegungen durch viele Ursachen hervorgerufen werden k\u00f6nnen, die mit Bewegungen der Seele nicht das mindeste zu thun haben, wie sie anderseits ebensogut oft durch rein k\u00f6rperliche Mittel unterdr\u00fcckt und ged\u00e4mpft werden k\u00f6nnen\u00ab. In der That, das Beispiel des Alkohols und anderer erregender Stoffe sowie umgekehrt das des Bromkaliums, endlich die Wirkung mancher Nervenkrankheiten auf die Affecte ist ja nicht zu bestreiten. \u00bbIn Wirklichkeit\u00ab, so fasst darum Lange das Resultat dieser Erw\u00e4gungen zusammen, \u00bbbesteht der Unterschied zwischen der Wuth des pilzvergifteten Berserkers, des Maniakalischen und dessen, der eine blutige Beleidigung erlitten hat, allein in der Verschiedenheit der Ursachen, und in dem Bewusstsein von den respectiven Ursachen oder dem Mangel des Bewusstseins von einer Ursache\u00ab1). Nun ist es aber doch ein seltsamer Widerspruch, dass in den F\u00e4llen, in denen kein Bewusstsein der Ursachen der Wuth existirt, wie beim Berserker, beim Maniakalischen, allein die eigentlichen Ursachen des Affects vorhanden sein sollen. Sind denn die im Bewusstsein vorhandenen Ursachen deshalb, weil sie dies sind, keine wirk-\n1) a. a. O. S. 63.","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n355\nliehen Ursachen? M\u00fcsste der Verfasser sie nicht von seinem eigenen Standpunkte aus immerhin auf gleiche Linie mit dem vergiftenden Pilze stellen, da sie, wie er sagt, gleich diesem Ver\u00e4nderungen der Gef\u00e4\u00dfinnervation herbeif\u00fchren k\u00f6nnen ? Ein solcher Ausweg w\u00fcrde freilich in k\u00fcrzester Linie zum cartesianischen Influxus physicus in der Richtung von der Seele zum K\u00f6rper zur\u00fcckf\u00fchren. Und so muss denn hier wieder der Reflex den Retter in der Noth spielen. Er hat ja diese Rolle in der speculativen Psychologie gewisser Physiologen und Gehirnanatomen schon manchmal gespielt. Eine Beleidigung, auch wenn sie nur in einem zugerufenen Wort besteht, ist ganz gewiss ein \u00e4u\u00dferer Sinneseindruck ; und Sinnesreize machen Reflexe. Warum sollte also auch hier der Reiz nicht reflecto-risch die Gef\u00e4\u00dfinnervation ver\u00e4ndern? Dabei st\u00f6\u00dft man freilich sofort auf die Frage, wie es denn komme, dass andere, sonst \u00e4hnliche Reize nicht die n\u00e4mliche Reflexwirksamkeit aus\u00fcben, sondern dass zu dieser eben jene bestimmte Qualit\u00e4t des Reizes erforderlich ist, die wir vorl\u00e4ufig nur nach ihren psychischen Eigenschaften und Wirkungen zu d\u00e9finir en verm\u00f6gen.\nDiese Frage weist uns, wie ich meine, auf den entscheidenden Punkt hin, der f\u00fcr alle Erkl\u00e4rungsversuche ma\u00dfgebend sein muss. \u00bbAffect \u00ab ist ein Begriff, der einen bestimmten psychologischen That-bestand ausdr\u00fcckt, welcher letztere vor allen Dingen nach seinen unmittelbar in der inneren Wahrnehmung gegebenen Eigenschaften definirt sein muss, ehe man sich daran begibt, \u00fcber seinen Zusammenhang mit irgend welchen, wenn auch in noch so constanter Verbindung mit ihm vorkommenden k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4ngen Rechenschaft zu geben. Bei der Untersuchung dieses Zusammenhangs wird dann aber wiederum jeder Versuch, die Erkl\u00e4rung durch die Annahme eines directen \u00bbInfluxus physicus\u00ab abzuk\u00fcrzen, in welcher Richtung dieser auch angenommen werde, als ein in Wahrheit gar nichts erkl\u00e4rendes Verfahren zu verwerfen sein. Der Psychologe, der die Ausdrucksbewegungen aus dem Einfluss der Seele ableitet, hat \u00fcber den eigentlichen Ursprung derselben, welcher nur ein k\u00f6rperlicher sein kann, hinwegget\u00e4uscht; und der Physiologe hinwiederum, der die Affecte aus vasomotorischen oder sonstigen Reflexen erkl\u00e4rt, hat damit nicht nur f\u00fcr die Aufhellung der psychologischen Seite des Vorgangs nichts geleistet, sondern er hat auch","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nW. Wundt.\nf\u00fcr die physische Seite desselben nur eine allgemeine Kategorie physiologischer Processe bezeichnet, der muthma\u00dflich diese Bewegungen subsumirt werden k\u00f6nnten, ohne \u00fcber das Wie und Warum derselben Rechenschaft zu geben. M\u00f6gen wir also immerhin zugestehen, dass die psychischen und die physischen Erscheinungen des Affects vollkommen parallel laufende Vorg\u00e4nge sind, und dass die einen nicht ohne die anderen Vorkommen, so wird schon um deswillen von der psychologischen Betrachtung auszugehen sein, weil der Begriff verm\u00f6ge seines psychologischen Ursprungs auch nur psychologisch mit Sicherheit abgegrenzt werden kann. Dazu kommt, dass die physiologischen Erscheinungen in diesem Fall nur h\u00f6chst l\u00fcckenhaft in gewissen leicht wahrnehmbaren Vorg\u00e4ngen gegeben sind, w\u00e4hrend wir alle Vorbedingungen und Zwischenglieder dieser sichtbaren Vorg\u00e4nge hypothetisch erg\u00e4nzen m\u00fcssen. Dass \u00fcbrigens von dem hier eingenommenen Standpunkte aus die physischen Processe und insbesondere die Innervations\u00e4nderungen und Ausdrucksbewegungen als ebenso unerl\u00e4ssliche Bestandteile des Affects erscheinen wie auf dem Boden der reinen Reflextheorie, brauche ich wohl kaum noch zu betonen. Wenn Lange sagt: \u00bbman nehme die physischen Begleiterscheinungen des Affects hinweg, und der Affect selber verschwindet\u00ab*), so ist das zweifelsohne richtig. Aber wenn er in diesem Satze einen Beweis f\u00fcr seine physiologische Affecttheorie zu sehen meint, so k\u00f6nnte man mit demselben Rechte aus dem doch wahrlich nicht minder richtigen Satze: \u00bbman nehme die psychischen Erscheinungen des Affects hinweg, und der Affect selber verschwindet\u00ab auf die alleinige Rechtm\u00e4\u00dfigkeit einer rein psychologischen Theorie zur\u00fcckschlie\u00dfen wollen.\n3. Beschreibende Analyse der Affecte.\nEhe man die Affecte \u00bberkl\u00e4ren\u00ab will, muss man sie vor allem beschrieben, das hei\u00dft, man muss sich dar\u00fcber Rechenschaft gegeben haben, was denn thats\u00e4chlich in uns vorgeht, wenn wir von einem Affecte ergriffen sind. Ich meine sogar, dass hierin die Hauptaufgabe einer psychologischen Untersuchung der Affecte besteht. Denn eine solche Beschreibung wird von selbst dazu f\u00fchren,\n1) a. a. O. S. 53.","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n357\ndass man die Verbindung des Affects mit anderen inneren Vorg\u00e4ngen, namentlich mit Gef\u00fchlen und Vorstellungen, feststellt. In etwas anderem als in einer Nachweisung derartiger Beziehungen kann aber eine psychologische Erkl\u00e4rung \u00fcberhaupt nicht bestehen.\nBei dem Versuch, eine solche Beschreibung auszuf\u00fchren, st\u00f6\u00dft man nun sofort wieder auf die bei jeder psychologischen Definition sich aufdr\u00e4ngende Bemerkung, dass alle hier zu machenden Unterscheidungen, so sehr sie in der Sache selbst begr\u00fcndet sein m\u00f6gen, doch insofern willk\u00fcrliche bleiben, als sie immer nur Erzeugnisse unserer abstrahirenden Reflexion \u00fcber ein an sich selbst in ungeteiltem Zusammenhang gegebenes Mannigfaltiges sind. Hieraus begreift es sich auch, dass selbst rein beschreibende Definitionen psychischer Vorg\u00e4nge sehr verschieden ausfallen k\u00f6nnen; wie denn z. B. die Affecte bald einfach als \u00bbstarke Gef\u00fchle\u00ab, bald aber auch nach Herb art\u2019s Vorgang als \u00bbGef\u00fchle, die aus dem Vorstellungsverlauf entspringen\u00ab, definirt worden sind. Man kann diese Definitionen unzureichend finden ; man kann sie aber kaum als falsch bezeichnen. Jede hat eben verm\u00f6ge jener Willk\u00fcr unseres Ab-stractionsverm\u00f6gens irgend etwas aus dem Complex von Thatsachen herausgegriffen, die wir bei Zust\u00e4nden wie Freude, Zorn, Kummer und dergl. in uns finden. Immerhin wird man es als Erforderniss einer brauchbaren Definition auch hier ansehen d\u00fcrfen, dass sie den Grund der vorausgesetzten Unterscheidung des Begriffes zureichend motivirt. Gerade dies lassen aber, wie ich meine, die beiden angef\u00fchrten Bestimmungen vermissen : sie bezeichnen einfach die Affecte als Gef\u00fchle, die nur das eine Mal durch ihre St\u00e4rke, das andere Mal durch ihre Entstehungsweise von anderen Gef\u00fchlen verschieden sein sollen.\nNun macht es der oben ber\u00fchrte Ursprung der Begriffe Gef\u00fchl und Affect aus der abstrahirenden Trennung eines in sich ungeschiedenen psychischen Thatbestandes vollkommen erkl\u00e4rlich, dass wir niemals sagen k\u00f6nnen, in einem gegebenen Moment sei in uns ein absolut affectfreies Gef\u00fchl zu finden, oder gar in einem bestimmten Affect sei gar kein Gef\u00fchl enthalten. Ein Anlass zu jener Unterscheidung muss freilich in der wechselnden Beschaffenheit der psychischen Zust\u00e4nde gelegen sein. Dieser Anlass wird aber nur darin gesucht werden k\u00f6nnen, dass bestimmte Bestandtheile","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nW. Wundt.\ndes inneren Geschehens in ihrer relativen St\u00e4rke fortw\u00e4hrenden Ver\u00e4nderungen unterworfen sind. In der That nehmen wir in uns Zust\u00e4nde der Lust und Unlust bald bei einem relativ ruhenden Verhalten des Bewusstseins wahr, also ohne dass zugleich erhebliche Ver\u00e4nderungen im Verlauf der Vorstellungen Vorkommen-bald beobachten wir, dass mit derartigen Zust\u00e4nden Hemmungen oder Beschleunigungen des Verlaufs der Vorstellungen verbunden sind: im ersten Fall reden wir vom Vorhandensein eines Gef\u00fchls im zweiten von dem eines Affects. Beide unterscheiden wir als subjective Zust\u00e4nde oder Vorg\u00e4nge von den Vorstellungen, die auf Objecte bezogen werden. Hierin sind die Motive unserer ab-strahirenden Unterscheidung dieser Hauptgruppen psychischer That-sachen klar genug gegeben: zun\u00e4chst trennen wir von dem ungeteilten Ganzen unserer inneren Wahrnehmungen den auf Objecte bezogenen Theil als Vorstellungen ab; was zur\u00fcckbleibt unterscheiden wir dann wieder in zwei Arten subjectiver Zust\u00e4nde: in solche, bei denen eine merkliche R\u00fcckwirkung auf den Verlauf der objectiven Vorstellungen nicht wahrzunehmen ist, oder bei denen -wir zum Behuf der psychologischen Analyse diese R\u00fcckwirkung au\u00dfer Betracht lassen, die Gef\u00fchle, und in solche, hei denen eine mehr oder weniger starke Ver\u00e4nderung im Verlauf der Vorstellungen statt findet. die Affecte. Abstrahiren wir bei einem gegebenen Affect von dieser letzteren Ver\u00e4nderung, so bleibt stets irgend ein Gef\u00fchl zur\u00fcck, und es zeigt sich, dass die wirklich eintretende Bewegung oder Hemmung der Vorstellungen von der Beschaffenheit dieses Gef\u00fchls abh\u00e4ngt. Dies ist der Grund, weshalb wir schon vom rein psychologischen Standpunkte aus die Gef\u00fchle als die einfacheren, die Affecte als die zusammengesetzteren unter diesen Vorg\u00e4ngen betrachten m\u00fcssen. In jeden Affect gehen Gef\u00fchle als wesentliche Bestandtheile ein, wogegen nicht jedes Gef\u00fchl zum Affect f\u00fchrt. Dazu kommt dann noch, dass der Affect mit physiologischen Begleiterscheinungen verbunden ist, die bei dem Gef\u00fchl entweder ganz fehlen oder sehr schwach sind, n\u00e4mlich mit Ausdrucksbewegungen und Einwirkungen auf die Innervation der Gef\u00e4\u00dfe, Dr\u00fcsen u. s. w. Nat\u00fcrlich bezieht sich aber diese Bemerkung, dass das Gef\u00fchl der einfachere, der Affect der zusammengesetztere \\ organg sei, nur auf die unmittelbare Zusammensetzung","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gemfithsbewegungen.\t359\nder psychischen Thatbest\u00e4nde, nicht auf ihre Entstehungsbedingungen.\nBedienen wir uns des Ausdrucks \u00bbGem\u00fcthsvorg\u00e4nge\u00ab als einer Generalbezeichnung f\u00fcr die Gef\u00fchle und Affecte sowie f\u00fcr alle sonstigen mit beiden in Zusammenhang stehenden suhjectiven, den objectiven Vorstellungen gegen\u00fcbergestellten Vorg\u00e4nge, so nimmt demnach das Gef\u00fchl in der Reihe dieser Gem\u00fcthsprocesse genau die n\u00e4mliche Stellung ein, wie die Empfindung in der Reihe der Vorstellungsprocesse: es ist das einfache, nicht weiter aufzul\u00f6sende, eben darum aber auch nicht zu definirende Element aller Gem\u00fcths-zust\u00e4nde. Ein Unterschied freilich bleibt zwischen Gef\u00fchl und Empfindung, der auf wesentlich andere Bedingungen des ersteren hinweist. Die Empfindung ist nicht nur seihst ein einfaches, unzerlegbares Element unseres Bewusstseins, sondern auch ihre Entstehungsbedingungen sind relativ einfache, beruhend auf bestimmten psychophysischen Organisationsverh\u00e4ltnissen, die bei den verschiedenen Empfindungen als wesentlich \u00fcbereinstimmende erscheinen. Ganz anders das -Gef\u00fchl. Von dem sinnlichen Gef\u00fchl an, welches unter \u00e4hnlich einfachen Bedingungen zu stehen scheint wie die Empfindung, bis zu den h\u00f6heren intellectuellen Gef\u00fchlen bietet sich hier eine Stufenreihe h\u00f6chst mannigfaltiger und immer verwickelter sich gestaltender psychologischer Entstehungsbedingungen. Nichts desto weniger bleibt in allen diesen F\u00e4llen das Gef\u00fchl an sich selbst ein nicht weiter zu zergliedernder einfacher Vorgang, der jedesmal durch den Vorstellungsinhalt und den gesammten Zustand des Bewusstseins bestimmt und daher in seiner Qualit\u00e4t unendlich mannigfacher F\u00e4rbungen und Abstufungen f\u00e4hig ist. Eben wegen dieser Undefinirbarkeit der Gef\u00fchle sehen wir uns gen\u00f6thigt, wo sich uns die Aufgabe bietet irgend ein Gef\u00fchl beschreiben zu sollen, statt dessen einerseits auf die psychologischen Entstehungsbedingungen desselben, anderseits auf die Wirkungen hinzuweisen, die es auf die Vorstellungsseite unseres Seelenlebens aus\u00fcbt. So setzen wir die uns aufgegebene Beschreibung eines \u00e4sthetischen, sittlichen, religi\u00f6sen Gef\u00fchls in Reflexionen um, die aus Anlass eines solchen Gef\u00fchls in uns angeregt werden. So irref\u00fchrend es nun ist, wenn man meint, mittelst solcher Reflexionen das Gef\u00fchl selbst erkl\u00e4ren oder beschreiben zu k\u00f6nnen, so verfehlen","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nW. Wundt.\nderartige Zergliederungen eines eigentlich gar nicht zu zergliedernden Seelenzustandes doch insofern ihren Zweck nicht, als wir uns dabei in der That des einzigen Mittels bedienen, um in Andern Gef\u00fchle hervorzubringen, \u00e4hnlich denen, die wir schildern sollten. Denn dieses Mittel besteht eben in der Erneuerung der Bedingungen, unter denen das Gef\u00fchl wirklich entstanden ist. Jenes Verfahren ist also in diesem Sinne dem Hinweis auf das nur aus eigener Erfahrung zu entnehmende vollst\u00e4ndig \u00e4quivalent. Es ist ganz dasselbe, als wenn wir, statt die Empfindungen Blau oder Eoth zu beschreiben, angeben, an welchen Naturobjecten diese Farben zu finden sind. Der Unterschied der Gef\u00fchle und der Empfindungen liegt auch hier wiederum nur darin, dass wir bei den letzteren stets auf die Beschreibung der physischen Entstehungsbedingungen angewiesen sind, w\u00e4hrend bei den ersteren dies nur f\u00fcr die sinnlichen Gef\u00fchle ausreicht, wogegen bei allen andern Gef\u00fchlen mehr oder minder zusammengesetzte psychologische Bedingungen herbeigezogen werden m\u00fcssen. Aus diesem Grunde werden diese h\u00f6heren wohl auch \u00bbzusammengesetzte\u00ab Gef\u00fchle genannt, ein Ausdruck, der im w\u00f6rtlichen Sinne genommen unrichtig ist ; denn nicht die Gef\u00fchle seihst, sondern die sonstigen Bewusstseinsvorg\u00e4nge, an die sie gebunden sind und von denen sie abh\u00e4ngen, sind in diesem Fall das Zusammengesetzte.\nGegen\u00fcber dieser Untheilbarkeit und Einfachheit des Gef\u00fchls ist nun jeder, auch der einfachste Affect zusammengesetzt. Er besteht mindestens aus einem Gef\u00fchl und einer daran gekn\u00fcpften Ver\u00e4nderung im Vorstellungsverlauf. Ein derartig einfacher Affect, wahrscheinlich der einfachste den es \u00fcberhaupt gibt, ist der Affect der Ueberraschung. Er besteht aus einem undefinirbaren, \u00fcbrigens allbekannten Gef\u00fchl, das den \u00fcberraschenden Eindruck begleitet, und aus einer pl\u00f6tzlichen Verdr\u00e4ngung der sonst vorhandenen Vorstellungen durch jenen Eindruck. An die letztere Wirkung schlie\u00dft sich dann aber sofort ein weiteres Gef\u00fchl an, welches sich mit dem zuerst vorhandenen verbindet. Nach dem n\u00e4mlichen Schema verlaufen alle Affecte. An jedem lassen sich drei Bestand-theile unterscheiden: ein prim\u00e4res Gef\u00fchl, eine an dieses Gef\u00fchl sich anschlie\u00dfende Ver\u00e4nderung im Vorstellungsverlauf, und endlich ein auf diese folgendes secund\u00e4res Gef\u00fchl. Die Ver\u00e4nderung","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n361\nVorstellungsverlauf kann entweder in einer Hemmung oder in einer Beschleunigung desselben oder in einer Aufeinanderfolge beider Wirkungen, zuerst der hemmenden und dann der erregenden, oder selbst in einem mehrmaligen Wechsel zwischen beiden bestehen. Der Affect ist demnach, wenn wir den Begriff des Gem\u00fcths in dem fr\u00fcher definirten Sinne festhalten, kein reiner Gem\u00fcthsvorgang, sondern es ist an ihm die Vorstellungsseite des Seelenlebens nicht minder betheiligt. Um so mehr offenbart sich hierin die innige Beziehung, in welcher beide Seiten zu einander stehen. Denn aus der B\u00fcck Wirkung des prim\u00e4ren Gef\u00fchls auf den Vorstellungs verlauf entspringen ja hinwiederum die secund\u00e4ren Gef\u00fchlswirkungen, die bei vielen Affecten, wie z. B. beim Zorn, bei der Freude, beim Kummer, die hervortretendsten Gef\u00fchlsbestandtheile zu sein pflegen.\n4. Die Ausdrucksbewegungen und die vasomotorischen Theilerscheinungen der Affecte.\nWie die einem Gef\u00fchle folgende Ver\u00e4nderung des Vorstellungsverlaufs das entscheidende psychologische Merkmal, so sind die Ausdrucksbewegungen und die sichtbaren Ver\u00e4nderungen der Gef\u00e4\u00dfinnervation die physiologischen Merkmale der Affecte. F\u00fcr den descriptiven Standpunkt sind sie lediglich Theilerscheinungen derselben und als solche den subjectiven Merkmalen weder \u00fcber- noch untergeordnet, insofern aber allerdings von anderer Bedeutung, als sie uns das Vorhandensein von Affecten erst verrathen, weil diese uns aus der inneren Wahrnehmung bekannt sind, w\u00e4hrend aus der objectiven Wahrnehmung allein niemals ein solcher Hinweis zu entnehmen w\u00e4re. Nachdem sie sich jedoch durch ihre regelm\u00e4\u00dfige Coexistenz einmal als constante Kennzeichen bew\u00e4hrt haben, bedienen wir uns ihrer in der objectiven Wahrnehmung ebenso zur Begrenzung von Gef\u00fchl und Affect wie in der subjectiven der eintretenden Ver\u00e4nderungen des Vorstellungsverlaufs. Wo keine merklichen Abweichungen in der Herz- und Gef\u00e4\u00dfinnervation sowie in den Bewegungen der pantomimischen und mimischen Muskeln von ihrer hei der Gleichgewichtslage des Gem\u00fcths vorhandenen indifferenten Functionsweise zu bemerken sind, da vermuthen wir auch die Abwesenheit von Affecten, ohne dagegen mit Sicherheit auf den Mangel von Gef\u00fchlen schlie\u00dfen zu k\u00f6nnen. Dass dieses \u00e4u\u00dfere Merkmal \u00fcbrigens unsicherer ist als das innere, kann nicht","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nW. Wundt.\nWunder nehmen, da eben der Affect zun\u00e4chst ein psychologischer Begriff ist, also die f\u00fcr den letzteren g\u00fcltigen Kriterien vorhanden sein k\u00f6nnen, ohne dass die mit ihnen in der Regel verbundenen objectiven Erscheinungen deutlich nachweisbar sind. Dass die entsprechenden physiologischen Ver\u00e4nderungen, namentlich in der Herz- und Gef\u00e4\u00dfinnervation, trotzdem niemals ganz fehlen, scheint namentlich nach den hemerkenswerthen Versuchen von Mosso1) im h\u00f6chsten Grade wahrscheinlich, und es ist daher zu vermuthen, dass, falls wir uns, statt der gew\u00f6hnlichen rohen Wahrnehmung, \u00fcberall der von diesem Beobachter angewandten Untersuchungsmethoden bedienten, niemals gewisse physiologische Begleiterscheinungen der Affecte vermisst w\u00fcrden.\nAn diese letzteren ist nun aber weiterhin noch eine andere regelm\u00e4\u00dfige Erscheinung gebunden, die zwar sicherlich dann in ein ungeb\u00fchrliches Licht ger\u00fcckt wird, wenn man die ganze Psychologie der Affecte auf sie gr\u00fcnden will, die aber immerhin einen nicht zu vernachl\u00e4ssigenden Bestandtheil derselben bildet. Wie n\u00e4mlich die aus irgend welchen psychischen Bedingungen entstandenen Affecte von Ausdrucksbewegungen und Innervationsst\u00f6rungen im Herz-und Gef\u00e4\u00dfsystem begleitet sind, so sind mit diesen Bewegungen und Innervations\u00e4nderungen hinwiederum sinnliche Gef\u00fchle verkn\u00fcpft, an die sich St\u00f6rungen im Vorstellungsverlauf, also Affecte, anschlie\u00dfen. Nun versteht es sich von selbst, dass diese secund\u00e4r entstandenen Affecte untrennbar mit den prim\u00e4ren verschmelzen, dieselben verst\u00e4rken und \u00fcberhaupt den gesammten Charakter des ganzen Affects mitbestimmen. Auf diese Weise sind die physiologischen Begleiterscheinungen der Affecte nicht blos objective Merkmale derselben, sondern es sind auch an sie selbst wieder neue psychische Componenten der Affecte gebunden. Ja die so hergestellte Verbindung kann noch um ein Glied weiter reichen, und vielleicht geschieht dies in der Regel. Jene sinnlichen Gef\u00fchle und Affecte, ^ welche die Ausdrucksbewegung begleiten, sind ihrerseits wieder durch Association verkn\u00fcpft mit den Affecten von verwandter Gef\u00fchlsf\u00e4rbung, die aus psychischen Anl\u00e4ssen entstanden waren. So kommt es, dass der Affect in ungleich h\u00f6herem Grade\n1) Mosso, Die Furcht. Deutsch von Finger. Leipzig 1889.","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n36?\u00bb\nals das Gef\u00fchl die Eigenschaft besitzt, sich selber zu steigern, und dass ebensowohl die heftigsten physischen Wirkungen bei einem psychischen Ausgangspunkt, wie umgekehrt die heftigsten seelischen Erscheinungen bei einem rein physischen Ursprung desselben vorhanden sein k\u00f6nnen.\n5. Zur Theorie der Gef\u00fchle.\nWir haben uns bis dahin lediglich auf den beschreibenden Standpunkt gestellt. Von diesem aus musste das Gef\u00fchl als ein undefinirbarer, weil einfacher psychischer Vorgang bezeichnet werden, w\u00e4hrend der Affect in Gef\u00fchle, Vorstellungsbewegungen und \u00e4u\u00dfere physische Ver\u00e4nderungen, mit denen dann wieder psychische Vorg\u00e4nge verbunden sind, zerlegt werden konnte. Aber das wissenschaftliche Einheitsbed\u00fcrfniss gibt sich mit einer solchen Beschreibung nicht zufrieden: es w\u00fcnscht den Grund zu erfahren, warum das Gef\u00fchl oder das, was wir verm\u00f6ge unserer willk\u00fcrlichen Analyse und Abstraction der inneren Wahrnehmungen nun einmal so nennen, ein einfacher, unzerlegbarer Zustand ist, wie einfach oder zusammengesetzt auch der Vorstellungsinhalt des Bewusstseins sein m\u00f6ge, mit dem es sich verbindet; und es will wissen, warum im Affect in der beschriebenen Weise Gef\u00fchle Vorstellungsbewegungen und die letzteren wiederum Gef\u00fchle hervorbringen, und warum sich endlich mit diesen innerlich wahrzunehmenden Vorg\u00e4ngen auch noch bestimmte physische Aeu\u00dferungen verbinden, die bei jedem Affect von charakteristischer Beschaffenheit sind, und die schlie\u00dflich ihrerseits secund\u00e4re Affecte mit sich f\u00fchren.\nIch habe anderw\u00e4rts eingehend er\u00f6rtert, dass die Qualit\u00e4t des Gef\u00fchls ebensowohl von dem augenblicklichen Zustand des Bewusstseins wie von der ganzen Vergangenheit desselben bestimmt ist, dass also der actuelle Zusammenhang unseres gesammten psychischen Lebens in ihm einen nicht zu verkennenden Ausdruck findet1). Diese r\u00fcckw\u00e4rts reichende Beziehung erstreckt sich von den sinnlichen Gef\u00fchlen bis zu den h\u00f6chsten intellectuellen Gef\u00fchlsformen, dergestalt dass der Einfluss der fr\u00fcheren Erwerbungen des seelischen Lebens in steigender Progression zunimmt. W\u00e4hrend\n1) Physiol. Psychol.3 I, S. 527 ff.","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nW. Wundt.\nwir daher bei dem sinnlichen Gef\u00fchl noch von einem \u00bbGef\u00fchlston der Empfindungen\u00ab reden k\u00f6nnen, weil das Gef\u00fchl hier in ann\u00e4hernd unver\u00e4nderlicher Weise an die Beschaffenheit des unmittelbaren Eindrucks gekn\u00fcpft ist, tritt der letztere bei den h\u00f6heren sittlichen und \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen so sehr zur\u00fcck, dass er nur Bedeutung gewinnt durch die seelischen Erregungen, die er verm\u00f6ge der specifischen Anlage und Ausbildung des Bewusstseins auszul\u00f6sen vermag. Es gibt nur eine Grundfunction des Bewusstseins , welcher gegen\u00fcber dem gesammten Vorstellungsleben der Seele die n\u00e4mliche Bedeutung einer durch die bisherigen Entwickelungen bestimmten resultirenden Kraft zukommt: die Apperception. Da sie zugleich sowohl in der Richtung, die sie nimmt, wie in den Effecten, die sie am Vorstellungsinhalte hervorbringt, in innigem Connex mit den jeweils vorhandenen Gef\u00fchlen steht, so glaube ich das Gef\u00fchl selbst als die \u00bbReactionsweise der Apperception auf den Vorstellungsinhalt des Bewusstseins\u00ab auffassen zu k\u00f6nnen. Nat\u00fcrlich aber muss bei diesem Ausdruck wiederum beherzigt werden, dass er Begriffe in Verbindung bringt, die zuvor durch Analyse aus einem und demselben einheitlichen Thatbestande gel\u00f6st worden waren. Die Apperception selbst ist nichts, was den Effecten, die sie am Vorstellungsinhalte erzeugt, und den Begleiterscheinungen, die sie im Gebiet des Gef\u00fchls hat, als etwas besonderes, realiter zu trennendes gegen\u00fcberst\u00fcnde. Vielmehr besteht sie selbst nur aus diesen Begleiterscheinungen und Wirkungen. Der Begriff der Apperception hat sich gebildet aus Anlass bestimmter Aenderungen am Vorstellungsinhalte, f\u00fcr die weder in diesem selbst noch in den \u00e4u\u00dferen Sinnesreizen, sondern allein in der gesammten zur\u00fcckliegenden Entwicklung des Bewusstseins ein zureichender Grund zu finden ist. Mit diesen Ver\u00e4nderungen am Vorstellungsinhalt, die durch die Gleichf\u00f6rmigkeit und Stetigkeit, mit der sie sich vollziehen, die Zusammenfassung in einen Begriff angeregt haben, verbinden sich nun aber weitere Bewusstseinsvorg\u00e4nge, die durch ihre actuelle Wirkung vielleicht mehr noch als jener die Grundlage des Begriffs bildende Endeffect zur Unterscheidung der Apperception von anderen Vorg\u00e4ngen heigetragen, ihr den Charakter eines selbst\u00e4ndigen Bewusstseinsinhaltes gegeben haben, was sie an sich und abgesehen von jenen Begleiterschei-","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre ron den Gemflthsbewegungen.\n365\nnungen durchaus nicht ist. Dahin geh\u00f6ren zun\u00e4chst gewisse Muskelempfindungen, welche die sogenannte Spannungsempfindung der Apperception zusammensetzen. Sie k\u00f6nnen wohl am ehesten ganz fehlen. Obgleich sie demnach einen zuverl\u00e4ssigen diagnostischen Werth nur in gewissen F\u00e4llen, n\u00e4mlich bei der Steigerung der Apperception zur gespannten Aufmerksamkeit besitzen, indem sie in diesem Fall ein Empfindungsma\u00df f\u00fcr den Grad der Aufmerksamkeit abgeben, so haben sie doch deshalb eine gro\u00dfe Bedeutung, weil sie sich mehr als die andern Elemente, wenigstens in der Abstraction, isolirt denken lassen. Auch liegt in der letzterw\u00e4hnten Eigenschaft der Grund, dass man in ihnen gelegentlich den Apperceptions- oder inneren Willens Vorgang selbst hat sehen wollen. Eine zweite Begleiterscheinung sind sodann die Gef\u00fchle. Sie sind sicherlich viel inniger an den Apperceptionsact als solchen gebunden ; denn w\u00e4hrend die erw\u00e4hnten Muskelempfindungen nicht nur fehlen, sondern auch auf anderem Wege zu Stande kommen k\u00f6nnen, z. B. bei \u00e4u\u00dferer Reizung der betreffenden Muskeln, sind die Gef\u00fchle durchaus an Apperceptionsacte gekn\u00fcpft. Man w\u00fcrde also wohl berechtigt sein, sie von vornherein als integrirende Bestandteile der Apperception selbst anzusehen. Nur der Umstand, dass sie wegen der verwickelten Verh\u00e4ltnisse ihres Ursprungs gro\u00dfe Verschiedenheiten darbieten k\u00f6nnen, indess die Wirkung der Apperception auf den Vorstellungsinhalt die n\u00e4mliche bleibt, rechtfertigt die Trennung. Die innige Beziehung, in welcher das Gef\u00fchl zur Apperception steht, l\u00e4sst \u00fcbrigens auf die oben ber\u00fchrte Einfachheit der Gef\u00fchle, so zusammengesetzt die Bedingungen sein m\u00f6gen, aus denen sie entstanden sind, ein neues Licht fallen. In dem einzelnen Apperceptionsact wird eben der ganze bisherige Inhalt des Seelenlebens als eine Art einheitlicher Totalkraft wirksam.\n6. Zur Theorie der Affecte und Ausdrucksbewegungen.\nSuchen wir nun von dieser Auffassung des Gef\u00fchls aus der Deutung der Affecte n\u00e4her zu treten, so ist hier erstens ma\u00dfgebend, dass jeder Affect von einem Gef\u00fchl ausgeht, und zweitens, dass der Affect immer zugleich eine Vorstellungsbewegung in sich schlie\u00dft, welche letztere dann weiterhin secund\u00e4re Gef\u00fchle, unter Umst\u00e4nden mit neuen Vorstellungsbewegungen, im Gefolge hat, u. s. f.","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"\n366\tW. Wundt.\nIst nun das prim\u00e4re Gef\u00fchl eine die Apperception begleitende Reaction des Gesammtbewusstseins, ja eigentlich selbst nur derjenige Bestandteil der Apperception, in welchem die Gesammt-erregung der Seele ihrer Richtung, Qualit\u00e4t und Gr\u00f6\u00dfe nach zum Ausdruck gelangt, so wird auch die nachfolgende Vorstellungsbewegung als eine unmittelbare Folgewirkung der Apperception selbst anzusehen sein. Wenn jede Apperception eine aus unz\u00e4hligen Bewusstseinselementen verschiedener Zeitordnung zusammengesetzte Totalkraft ist, so wird eine gegebene Apperception um so mehr auf die ihr n\u00e4chstfolgenden bestimmend einwirken, je intensiver an ihr selbst der aus Vergangenheit und Gegenwart resultirende Gesammtzustand des Bewusstseins hetheiligt war. In der That best\u00e4tigt sich dies an den mannigfachsten Erscheinungen, die dem Gebiet des Affects im engeren Sinne nicht angeh\u00f6ren oder doch nur in dasselbe gelegentlich her\u00fcberreichen, wie dem Interesse, der dauernden Aufmerksamkeit. Der Affect ist lediglich diejenige Form dieser Nachwirkungen intensiver Apperception, hei welcher durch die Beschaffenheit des appercipirten Gegenstandes oder durch die Art seiner Einwirkung eine heftige Gef\u00fchlserregung stattfindet; darum Affecte regelm\u00e4\u00dfig an Apperceptionen von starker Gef\u00fchlsf\u00e4rbung sich anschlie\u00dfen. Die Wirkung auf den Vorstellungsverlauf besteht dann aber darin, dass die nachfolgenden Apperceptionen in so \u00fcberwiegender Weise von dieser ersten bestimmt sind, dass von den \u00fcbrigen latenten Energien der Seele nur diejenigen zur Geltung gelangen, die abermals mit ihr in unmittelbarer Beziehung stehen. So wird bei der Ueberraschung die Apperception derart auf dem \u00fcberraschenden Object festgehalten, dass dadurch eine Hemmung des ganzen Vorstellungsverlaufes zu Stande kommt. Bei dem Zorn werden umgekehrt neue und neue Vorstellungen apper-cipirt, die aber s\u00e4mmtlich von der zuerst die Zomerregung ausl\u00f6senden her bestimmt sind u, s. w.\nDie Antwort auf die Frage, wie es denn komme, dass der Affect mit \u00e4u\u00dferen Bewegungen sich verbindet, welche in deutlich erkennbarer Beziehung zur Qualit\u00e4t und St\u00e4rke desselben stehen, ist nun durch dieses Verh\u00e4ltniss zur Apperception nahe gelegt. Fasst man die Apperception als eine innere Willenshandlung auf, so werden damit von selbst diejenigen Affeethandlungen, die in einer","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n367\nZweckbeziehung zu dem Gegenstand des Affects stehen, als die entsprechenden \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen charakterisirt. Nat\u00fcrlich aber werden sie in der Regel nur einfache Willenshandlungen oder Triebhandlungen sein, da der Affect zumeist die Ueber-legung ausschlie\u00dft. Nichtsdestoweniger geht hier, wie in andern F\u00e4llen, zuweilen die Trieb- in eine Willk\u00fcrhandlung \u00fcber. K\u00f6nnen doch bekanntlich im Affect Handlungen ausgef\u00fchrt werden, bei denen eine Wahl zwischen Motiven und Zwecken nicht ganz ausgeschlossen ist. Daneben endlich behalten die Affectvorstellungen ihren Charakter als Sinnesreize; sie k\u00f6nnen als solche Reflexe im allgemeinen motorischen wie insbesondere im vasomotorischen Nervengebiet nach sich ziehen, und sie werden in diesem Effect durch die Ausdrucksbewegungen verst\u00e4rkt, die abermals als reflektorische Reize wirken k\u00f6nnen. So sind also alle \u00fcberhaupt vorkommenden Typen \u00e4u\u00dferer Bewegung unter den Affectbewegun-gen vertreten, und auch an den f\u00fcr die Mechanisirung gewisser Handlungen so bedeutsamen Uebergangsformen fehlt es nicht, da einzelne Ausdrucksbewegungen zuerst wahrscheinlich Triebhandlungen gewesen sind, dann aber im Laufe der individuellen oder selbst der generellen Entwicklung sich zu Reflexen verdichtet haben. Hierher geh\u00f6ren wohl die Bewegungen des Ueberraschten, des Erschreckten, aber auch manche Geberden des Zornigen, Bek\u00fcmmerten. Da diese in Reflexe \u00fcbergegangenen Triebhandlungen \u00e4u\u00dferlich von den letzteren gar nicht zu unterscheiden sind, so ist nat\u00fcrlich die Grenze zwischen beiden im einzelnen Fall in der objectiven Beobachtung nicht sicher festzustellen. Nur die subjective Wahrnehmung kann hier entscheiden, ob eine bestimmte Bewegung mit Bewusstsein und unter dem unmittelbaren Antrieb bestimmter Vorstellungen geschieht oder nicht.\nHiernach f\u00e4llt das Problem der Ausdrucksbewegungen mit der Aufgabe, diese verschiedenen Arten thierischer Bewegungen \u00fcberhaupt zu erkl\u00e4ren, zusammen. F\u00fcr eine solche Erkl\u00e4rung bleibt aber hier wie \u00fcberall' der Satz ma\u00dfgebend, dass jede Vorstellung nicht blos ein psychischer Process, sondern auch nach ihrer physischen Seite ein Erregungsvorgang in irgend welchen Sinnescentren des Gehirns ist, von denen aus nun wieder motorische Centren entweder ohne jede Betheiligung des Bewusstseins oder aber mit Wnndt, Philos. Studien. YI.\t25","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nW. Wundt.\ndeutlich vorhandener Bewegungsvorstellung und R\u00fcckbeziehun\u00ab derselben auf den vorhandenen Bewusstseinszustand erregt werden k\u00f6nnen. Im ersten Fall nennen wir die Bewegung einen Reflex im zweiten bezeichnen wir sie als eine Trieb- oder Willenshandlung. Nun ist es selbstverst\u00e4ndlich, dass eine Bewegung als physischer Vorgang immer nur wieder aus einem physischen Vorgang, also z. B. aus einer vorangegangenen sensorischen Erregung erkl\u00e4rt werden kann, und dass es nach den allgemeinen Principien der Naturcausalit\u00e4t keine Bewegung gibt, f\u00fcr die nicht eine solche Erkl\u00e4rung postulirt werden m\u00fcsste. Auch das ist aber begreiflich, dass \u00fcberall, wo sensorische Erregungen in eine Kette physiologischer Vorg\u00e4nge \u00fcbergehen, die schlie\u00dflich mit einer Wirkung auf Muskelapparate endigen, das Schema des Reflexes verwendbar ist, sobald man nur auf Anfangs- und Endglied der Reihe, nicht auf die zwischenliegenden Vorg\u00e4nge R\u00fccksicht nimmt. Dennoch hat es seinen guten, auch f\u00fcr die physiologische Seite der Sache nicht zu untersch\u00e4tzenden Grund, wenn die Psychologie den Begriff des Reflexes nur da angewandt wissen will, wo der Erregungsvorgang vom sensorischen auf das motorische Gebiet ohne gleichzeitig begleitende Bewusstseinsvorg\u00e4nge \u00fcberspringt. ^Nicht blos deshalb empfiehlt sich diese Scheidung, weil eben nur im letzteren Fall der ganze Vorgang zwei Seiten darbietet, eine physiologische und eine psychologische, sondern vornehmlich deshalb., weil nur bei den eigentlichen Reflexen die Zuordnung einer bestimmten Bewegung zu einer bestimmten sensorischen Erregung eine regelm\u00e4\u00dfige, aus der Richtung der n\u00e4chsten Verbindungswege in den Reflexcentren und aus den Gesetzen der Ausbreitung der Erregung bei wachsender St\u00e4rke des Reizes mit mechanischer Sicherheit abzuleitende ist. Sobald dagegen der Vorgang zugleich als ein psychischer sich abspielt, wird der motorische Enderfolg einer sensorischen Erregung im allgemeinen unberechenbar, und er wird es um so mehr, je verwickelter die Willenshandlung ist, so dass in dieser Beziehung von den den Reflexen physiologisch noch nahe stehenden Triebhandlungen zu den h\u00f6heren Willenshandlungen eine \u00fcberaus reiche Stufenfolge sich darbietet. Gewiss ist es naturwissenschaftlich unzul\u00e4ssig anzunehmen, dass in diesen F\u00e4llen die continuirliche Reihe physisch vermittelter Uebergangsglieder zwischen","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n369\ndem Anfangs- und dem Endglied v\u00f6llig fehle, oder dass sie irgendwo unterbrochen sei, um an einem sp\u00e4teren Punkte wieder einzusetzen. Von der allgemeinen Forderung der Existenz solcher Ueberg\u00e4nge zu ihrer wirklichen Nachweisung f\u00fchrt freilich ein Weg von unendlicher Ausdehnung. Doch hiervon abgesehen erscheint es selbst vom physiologischen Standpunkte aus nothwendig, die Willensreactionen von den Reflexen zu trennen. Die mechanische Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit, der wir die letzteren unterworfen sehen, und die mit einer gewissen Sicherheit den Enderfolg eines Reizes vorauszuberechnen gestattet, r\u00fchrt doch nur daher, dass auf dem Weg vom sensibeln Nerven durch das Reflexcentrum nach dem motorischen Apparat keine Zwischenvorg\u00e4nge sich einschieben, welche den Effect wesentlich alteriren k\u00f6nnen. Wenn diejenige Theorie, welche die Willenshandlungen als \u00bbHirnreflexe\u00ab definirt, damit zugleich die Vorstellung zu verbinden pflegt, dass sich der ganze Unterschied von den gew\u00f6hnlichen Reflexen auf eine gr\u00f6\u00dfere L\u00e4nge und Ausbreitung der Reflexbahn und, was damit Zusammenh\u00e4nge, auf eine l\u00e4ngere Zwischenzeit zwischen Reiz und motorischem Erfolg reducire, so fasst dieselbe, wie ich meine, auch die physiologische Seite dieser Vorg\u00e4nge falsch auf. Denn nehmen wir selbst den relativ einfachsten und f\u00fcr die Analogie mit eigentlichen Reflexen g\u00fcnstigsten Fall, wo ein \u00e4u\u00dferer Sinneseindruck schlie\u00dflich eine Willenshandlung ausl\u00f6st, so gewinnt diese den Charakter einer solchen auch physiologisch erst dadurch, dass diese Ausl\u00f6sung keineswegs unmittelbar geschieht, sondern dass zun\u00e4chst andere sensorische Erregungen ausgel\u00f6st werden, deren Zustandekommen auf der sich jeder Berechnung entziehenden bisherigen generellen und individuellen Entwicklungsgeschichte des Gehirns beruht, worauf dann erst von irgend einer dieser indirect entstandenen Erregungen aus der motorische Enderfolg zu Stande kommt. So begreift es sich denn auch, dass unter Umst\u00e4nden die \u00e4u\u00dfere Sinneserregung ganz fehlt, indem nach einer Reihe innerer sensorischer Erregungsprocesse der motorische Erfolg zu Tage treten kann. Man sieht hieraus, dass nicht nur die Subsumtion der Willenshandlungen unter den Begriff des Reflexes in der Sache verfehlt ist, weil sie Dinge in Analogie bringt, die rein physiologisch betrachtet in wesentlichen Merkmalen verschieden sind,","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nW. Wundt.\nsondern dass auch nur eine Vernachl\u00e4ssigung der wirklichen Forderungen, die an eine physiologische Theorie zu stellen sind, in dieser Weise \u00fcber die mangelnde Kenntniss der Dinge durch ein blo\u00dfes Wort hinwegt\u00e4uschen kann.\nHalten wir an dem in allen empirischen Untersuchungen der Physiologie sowohl wie der Psychologie bew\u00e4hrten logischen Grunds\u00e4tze fest, dass immer nur Erscheinungen gleicher Gattung in eine causale Verbindung gebracht werden k\u00f6nnen, so ist damit von selbst die Forderung gestellt, dass die \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen ebenso gut wie die Reflexe als physische Vorg\u00e4nge nur aus vorausgegangenen anderen physischen Vorg\u00e4ngen abzuleiten sind. Ueber die n\u00e4here Beschaffenheit dieser Vorg\u00e4nge wissen wir aber aus der rein physiologischen Untersuchung so gut wie gar nichts. Alle unsere Muthma\u00dfungen st\u00fctzen sich hier auf die Beobachtung der parallel laufenden psychischen Processe. Indem wir voraussetzen, dass jedem der letzteren ein physischer Vorgang entspreche, wandeln sich die Vorstellungsreihen, die einer complexen Willenshandlung vorausgegangen sind, eben in Erregungsvorg\u00e4nge sensorischer Hirncentren um, die, wie wir annehmen, physisch gesetzm\u00e4\u00dfig unter einander verbunden sind, weil, wie uns die innere Wahrnehmung lehrt, die entsprechenden psychischen Vorg\u00e4nge gesetzm\u00e4\u00dfig verbunden sind. Alles was wir \u00fcber die physiologische Verkettung der Willenshandlungen wissen, wissen wir also aus der psychologischen Erfahrung, zu der als unterst\u00fctzendes Moment nur das in einzelnen elementaren F\u00e4llen sicher constatirte und f\u00fcr alle andern mit der gr\u00f6\u00dften Wahrscheinlichkeit zu erschlie\u00dfende Parallelgehen psychischer und physischer Processe hinzutritt. Unter diesen Umst\u00e4nden ist es aber begreiflich, wenn der auf psychischer Seite in bestimmten Gef\u00fchls- und VorstellungsVerbindungen verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig klar vorliegende Zusammenhang bei irgend verwickelteren Vorg\u00e4ngen f\u00fcr die physiologische Seite derselben in die ganz unbestimmte Forderung sich verwandelt, dass auch hier ein solcher Zusammenhang nicht fehlen werde. So verm\u00f6gen wir beispielsweise eine complexe Willenshandlung psychologisch einigerma\u00dfen zu verstehen, indem wir nicht blos die unmittelbar gegenw\u00e4rtigen Zust\u00e4nde und Vorg\u00e4nge des Bewusstseins, sondern auch die ganze Vergangenheit des letzteren mit in Rechnung ziehen. Dabei l\u00f6st","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n371\nsich aber diese Vergangenheit in eine Unzahl besonderer Factoren auf die wir in jedem einzelnen Fall nur h\u00f6chst unvollst\u00e4ndig \u00fcberblicken, daher wir auch nie sicher Voraussagen k\u00f6nnen, wie ein bestimmter Mensch in einem bestimmten Fall handeln werde. Immerhin, psychologisch motiviren l\u00e4sst sich eine Willenshandlung stets, so vollst\u00e4ndig oder unvollst\u00e4ndig dies auch geschehen m\u00f6ge. Auf physiologischer Seite dagegen steht dieser Motivirung nur der ganz allgemeine und unbestimmte Hinweis auf die im Gehirn angelegten Dispositionen gegen\u00fcber. Was soll man angesichts dieser thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisse zu der Meinung eines Psychophysikers sagen, dem solche psychologische Entwicklungen von Handlungen aus ihren Motiven als transcendente oder metaphysische Theorien erscheinen, w\u00e4hrend er in der Berufung auf eine imagin\u00e4re Him-mechanik, die selbst erst auf Grund jener psychologisch gegebenen Zusammenh\u00e4nge vorausgesetzt wird, das wahrhaft empirische Verfahren erblickt? Die schlimmste Metaphysik ist bekanntlich die, die man treibt, ohne es selber zu wissen; sie macht unf\u00e4hig, empirische Thatsachen aufzufassen, ohne sie sofort mit den Producten einer unreifen Metaphysik zu vermengen.\nAus allem dem erkl\u00e4rt es sich nun wohl auch, dass wir darauf verzichten m\u00fcssen, alle einzelnen Bewegungen, die bei den Affecten des Kummers, des Zorns, der Freude u. s. w. in die Erscheinung treten, aus ihren physiologischen Vorbedingungen abzuleiten. Wir m\u00fcssten dazu ja eine physiologische Kenntniss der Gehirnprocesse besitzen, welche der psychologischen Kenntniss der Vorstellungen und Gef\u00fchle, die den einzelnen Affect zusammensetzen, mindestens gleichwerthig w\u00e4re. In Wahrheit aber besteht alles, was sich bis heute \u00fcber den diesen Vorstellungen entsprechenden Zusammenhang der Gehimvorg\u00e4nge aussagen l\u00e4sst, aus Hypothesen, die nichts als die uns wirklich bekannten psychischen Vorg\u00e4nge zu ihrer Grundlage haben. Gewiss thut man gut, der Zukunft nicht vorzugreifen. Wer m\u00f6chte leugnen, dass einmal eine Zeit kommen wird, wo unsere Kenntniss der Hirnmechanik weit vollst\u00e4ndiger ist als heute? Gleichwohl l\u00e4sst sich mit gutem Grund behaupten, dass auch dann die Ableitung jedes einzelnen ErregungsVorganges in diesem Organ, oder, was damit sachlich zusammentrifft, die Voraussage jeder einzelnen Bewegung, die sich in irgend einem bestimmten","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nW. Wundt.\nzuk\u00fcnftigen Zeitmoment in einem individuellen Centralorgan ereignen soll, ebenso gut wie heute ein Ding der Unm\u00f6glichkeit sein wird. Wer sich in Zukunftsphantasien \u00fcber eine solche dereinst einmal alles erkl\u00e4rende Hirnmechanik ergeht, der \u00fcbersieht, dass unser Erkennen nicht blos da eine nothwendige Grenze findet, wo es sich anheischig macht, concrete Ereignisse vorauszubestimmen, die durch unendliche zeitliche oder r\u00e4umliche Entfernungen von uns getrennt sind, sondern dass die n\u00e4mliche Unm\u00f6glichkeit da vorliegt, wo ein gegebenes Problem in eine unendliche Causalreihe ausm\u00fcndet. In allen diesen F\u00e4llen wird jene relative Unm\u00f6glichkeit, die Zukunft vorauszusagen, die selbst in dem Umkreis der einfachsten physikalischen Vorg\u00e4nge in Folge der Existenz \u00bbunvorhergesehener Umst\u00e4nde\u00ab d. h. wegen des schlie\u00dflichen Zusammenhangs jedes Ereignisses mit dem unendlichen Causalnexus besteht, zu einer absoluten: die Elemente, aus denen sich etwas ableiten l\u00e4sst f\u00fcr das zuk\u00fcnftige Geschehen, sind an Zahl verschwindend klein im Verh\u00e4ltniss zu denen, welche sich unserer Nach Weisung entziehen, und sie m\u00fcssen es bleiben, weil das Verh\u00e4ltniss einer endlichen zu einer unendlichen Gr\u00f6\u00dfe nie ein anderes wird, auch wenn der absolute Werth der endlichen um noch so viel zunehmen mag. Alle verwickelten organischen Bildungen f\u00fchren so auf eine unendliche Reihe zur\u00fcck. Sie haben eine unabsehbare Entwicklungsgeschichte hinter sich, deren Anf\u00e4nge sich unserer Nachweisung entziehen, und welche fortan, auch noch w\u00e4hrend des individuellen Lebens, unter zahllosen unberechenbaren Einfl\u00fcssen steht. Mag es sich also dabei immerhin nicht sowohl um eine infinite als um eine indefinite Unendlichkeit handeln, f\u00fcr unser thats\u00e4chliches Erkennen macht dies keinen Unterschied. Die Anf\u00e4nge aller solcher Entwicklungen verh\u00fcllen sich uns in Hypothesen, die sich vorsichtig auf die allgemeinen Umrisse des Geschehens beschr\u00e4nken, von der R\u00fccksichtnahme auf die einzelnen Erscheinungen aber absehen m\u00fcssen. Die causale Erkl\u00e4rbarkeit der physischen Vorg\u00e4nge verwandelt sich hier \u00fcberall in ein Postulat unseres logischen Denkens, dem sofort die Warnung mit auf den Weg zu geben ist, dass es stets Postulat bleibt und h\u00f6chstens in dem Umkreis beschr\u00e4nkter Verbindungen der Erf\u00fcllung zug\u00e4nglich ist. Der einzige Weg, uns \u00fcber das Zustandekommen","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n373\nder physischen Ausdrucksbewegungen Rechenschaft zu gehen, wird also auch f\u00fcr die Zukunft darin bestehen, dass wir zun\u00e4chst den affecterregenden Vorstellungen parallel laufende Erregungen sensorischer Centren voraussetzen, von welchen R\u00fcckwirkungen auf motorische Gebiete ausgehen, wobei aber dies\u00e8 R\u00fcckwirkungen nur zum Theil nach dem Schema der einfachen Reflexe erfolgen, zum Theil dagegen, wie alle Willenshandlungen, von einer unbestimmt gro\u00dfen Zahl von Miterregungen ahh\u00e4ngen, die nach den functio-nellen Anlagen des Organs in unabsehbarer Weise wechseln.\nIII. Affect, Trieb und Wille.\n1. Streben und Begehren als complexe Willenszust\u00e4nde.\nWir bezeichnen ein in uns vorhandenes Wollen als einBegehren, ein Streben oder Widerstreben, wenn wir zugleich irgend welcher Widerst\u00e4nde inne werden, die den Uebergang des Wollens in die Willenshandlung entweder vorl\u00e4ufig oder dauernd verhindern. Ist diese Hemmung vor\u00fcbergehend, so betrachten wir das Begehren als einen die Willenshandlung vorbereitenden, ist sie dauernd, so betrachten wir es als einen f\u00fcr sich bestehenden Zustand. Suchen wir den allen diesen Reflexionshegriffen zu Grunde liegenden psychischen Thatbestand selbst in seiner unmittelbaren Wirklichkeit uns zu vergegenw\u00e4rtigen, so ist es klar, dass alles Streben und Widerstreben auf das Wollen als das Urspr\u00fcnglichere zur\u00fcckweist, und dass nicht das Begehren sondern das Wollen der fundamentalere Vorgang ist, weil von einem blo\u00dfen Begehren immer nur dann die Rede sein kann, wenn Hemmungen vorhanden sind, welche die Willens\u00e4u\u00dferung aufhehen, bevor sie zum Vollzug gelangt.\nDerartige Willenshemmungen k\u00f6nnen wieder innere oder \u00e4u\u00dfere sein. Die ersteren bestehen in entgegengesetzten Willensrichtungen. Sind diese gro\u00df genug, um zwar den Uebergang des Wollens in die Willenshandlung, nicht aber das Wollen selbst zu unterdr\u00fccken, so bleibt dieses als ein blo\u00dfes Begehren zur\u00fcck ; und falls das Wollen die ihm entgegenstehenden Willensrichtungen \u00fcberwindet, so erscheint jenes Begehren als ein die Willenshandlung","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nW. Wuudt.\nvorbereitender Vorgang. Die \u00e4u\u00dferen Willenshemmungen dagegen bestehen in allen denjenigen objectiven ^Bedingungen, welche den gewollten Effect entweder verz\u00f6gern oder ganz unm\u00f6glich machen. Auf die Selbstauffassung des Willens wirken diese Bedingungen dadurch ein, dass sie sich in bestimmten Vorstellungen reflectiren, die nun in Folge der R\u00fcckbeziehung auf die vorhandene Willensrichtung eine besonders intensive Gef\u00fchlsf\u00e4rbung annehmen. Auf diese Weise verbindet sich mit der verz\u00f6gernden Wirkung solcher objectiver Hemmungen das Gef\u00fchl der Willensanstrengung. Ist aber die Vorstellung vorhanden, dass die objectiven Hemmungen einen Willenseffect, sei es nur f\u00fcr den gegenw\u00e4rtigen Augenblick, sei es \u00fcberhaupt unm\u00f6glich machen, so wird das Begehren zum blo\u00dfen Wunsch. Hier macht nun zugleich die Gebundenheit des letzteren Zustandes an die mehr oder minder deutliche Vorstellung der entgegenstehenden Willenshindernisse die intellectuelle F\u00e4rbung des Begriffs verst\u00e4ndlich. Denn so lange jene Vorstellung nicht entwickelt ist, kann das an den Wunsch gebundene Gef\u00fchl des Verzichts auf ein actuelles Handeln nicht auf-kommen. Daher auch der Process eines nicht zur Willenshandlung gelangenden Wollens nicht selten in einem blo\u00dfen Wunsche ausklingt, \u00e4hnlich wie er mit einem mehr oder minder [intensiven Begehren begonnen hatte.\nAus allem diesem ergibt sich klar, dass nicht das Begehren und W\u00fcnschen, sondern das W ollen der einfachere seelische Vorgang ist, und dass jene als f\u00fcr sich bestehende Processe \u00fcberall erst auf Grund zusammengesetzterer Bedingungen zuStande kommen, die aber ein Wollen stets als elementaren Factor in sich schlie\u00dfen. Der Grund der gel\u00e4ufigen Anschauung, welche diese Verh\u00e4ltnisse irriger Weise umkehrt, liegt offenbar darin, dass man sich auf eine Analyse der complexen psychischen Zust\u00e4nde nicht einl\u00e4sst und daher die gew\u00f6hnliche zeitliche Aufeinanderfolge in ein Verh\u00e4ltniss der realen Abh\u00e4ngigkeit um wandelt.\n2. Yerh\u00e4ltniss der Gef\u00fchle zum Willen.\nDa in allem Begehren und W\u00fcnschen das Wollen ein wesentlicher Bestandtheil, und da es somit der einfachere seelische Vorgang ist, so werden auch Gef\u00fchl und Affect dem Ergebniss dieser","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n375\nAnalyse nicht sich entziehen k\u00f6nnen. In der That weist hei dem Gef\u00fchl schon das \u00e4u\u00dfere Merkmal, dass es sich zwischen den Gegens\u00e4tzen der Lust und Unlust bewegt, auf die Beziehung zum Willen hin. Denn Lust und Unlust gehen den Zust\u00e4nden des Strebens und Widerstrehens vollst\u00e4ndig parallel: das Lusterregende wird erstrebt, dem Unlusterregenden wird widerstrebt. Die Affecte aber gehen nicht nur stets von Gef\u00fchlen aus, sondern es sind auch bei ihnen die Vorstellungsbewegungen mit \u00e4u\u00dferen Handlungen, den Ausdruckshewegungen, verbunden, die zumeist den Charakter von Triebhandlungen besitzen.\nNun ist das Gef\u00fchl, wie gegen\u00fcber dem Affect, so nicht minder im Verh\u00e4ltniss zu dem Begehren der einfachere Seelenzustand. Begreiflich daher, dass die gew\u00f6hnliche Ansicht, die das Begehren als eine Vorbedingung des Wollens betrachtet, ebenso in dem Gef\u00fchl der Lust und Unlust hinwiederum die Vorbedingung des Begehrens erblickt, so dass die angeblich zum Willen f\u00fchrende Reihenfolge psychischer Processe in folgende Glieder zerf\u00e4llt:\nGef\u00fchl (Lust oder Unlust) \u2014 Begehren (Streben oder Widerstreben) \u2014 Wollen.\nNachdem das Begehren als ein unter zusammengesetzten Bedingungen stehendes Wollen nachgewiesen ist, wird die Frage nahegelegt, oh \u00e4hnliche Gesichtspunkte auch in Bezug auf das Gef\u00fchl Platz greifen m\u00fcssen. Dem steht jedoch schon der Umstand entgegen, dass dasselbe ein psychologisch unzerlegbarer seelischer Vorgang ist. Dazu kommt, dass, sobald eine Willens-th\u00e4tigkeit eintritt, das entsprechende Begehren aufh\u00f6rt. Wohl hat man geglaubt, das letztere als noch enthalten in dem actuell gewordenen Wollen annehmen zu d\u00fcrfen. In Wahrheit aber wird dabei nicht die Willensth\u00e4tigkeit in zwei an sich trennbare Bestandteile zerlegt, sondern es werden lediglich auf einen und denselben inneren Vorgang zwei Wortbezeichnungen angewandt, hei deren einer man von dem t\u00e4tigen Moment des Wollens ahstrahirt hat. Da nun dieses t\u00e4tige Moment in Wirklichkeit nur dann fehlen kann, wenn es durch entgegengesetzte Willensrichtungen aufgehoben wird, so ist es klar, dass jene Spaltung der Willenshandlung in ein Begehren und eine hinzutretende Th\u00e4tigkeit aus einer fehlerhaften Analyse des psychischen Vorgangs entsprungen","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nW. Wundt.\nist. Ganz anders verh\u00e4lt es sich in dieser Beziehung mit dem Gef\u00fchl. Die innere Wahrnehmung l\u00e4sst es \u00fcberall nicht nur als einen die Willenshandlung vorbereitenden, sondern auch als einen dieselbe begleitenden Vorgang erkennen. Bei jeder Willenshandlung erscheinen also F\u00fchlen und Wollen als die innm\n#\t\u00d6\nan einander gebundenen Theilmomente eines und desselben Processes, die zugleich nur in ihrer Beziehung zu einander Realit\u00e4t besitzen. In jedem Gef\u00fchl ist eine Willensrichtung, in jedem Wollen eine Gef\u00fchlswirkung enthalten. Bei manchen intellectuellen Gef\u00fchlen, wie den logischen, den \u00e4sthetischen, bleibt diese Richtung insofern latent, als sie nicht unmittelbar in \u00e4u\u00dferen Handlungen zu Tage tritt; aber sie fehlt keineswegs: die logischen Gef\u00fchle sind die Begleiter willk\u00fcrlicher logischer Denkacte, bei den einfachen \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen \u00e4u\u00dfert sich der Wille in der Bevorzugung der gef\u00e4lligen Formen, bei den h\u00f6heren wird er \u00fcberdies in der mannigfaltigsten Weise erregt, indem das Angeschaute als ein Selbsterlebtes empfunden wird. Auf diese Weise ist das Gef\u00fchl das erste Stadium eines jeden Willensactes : wir nennen diesen letzteren Gef\u00fchl, so lange er noch nicht zu einer inneren oder \u00e4u\u00dferen Handlung gef\u00fchrt hat; wir nennen ihn Willen, sobald diese Handlung eintritt. Da nun aber lange nicht jedes Gef\u00fchl im weiteren Verlauf zu einer solchen f\u00fchrt, so ist das Gef\u00fchl zugleich ein selbst\u00e4ndig vorkommender Zustand. Doch muss auch in solchen F\u00e4llen jedem Gef\u00fchl die F\u00e4higkeit zugestanden werden, eine ihm entsprechende Handlung hervorzubringen; denn es wird dieser Erfolg regelm\u00e4\u00dfig eintreten, wenn nicht der Verlauf der Bewusstseinsvorg\u00e4nge das Gef\u00fchl wieder sinken l\u00e4sst, bevor es zu actueller Wirksamkeit gelangt ist. Haftet doch eine Willensrichtung jedem Gef\u00fchl an, so dass auch f\u00fcr die reinen Gef\u00fchle die Untrennbarkeit von F\u00fchlen und Wollen seine G\u00fcltigkeit beh\u00e4lt.\n3. Yerh\u00e4ltniss der Affecte und Triebe zum Willen.\nWenn in einem Gef\u00fchl die Willensrichtung stark genug ist, um in den Blickpunkt des Bewusstseins zu treten, so nennen wir das Gef\u00fchl einen Trieb. Triebe sind demnach Gef\u00fchle mit intensiver Willensrichtung. F\u00fchrt die letztere zum wirklichen Wollen, so entsteht aus dem Trieb die Triebhand-\n9","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n377\nlung. Wie der Trieb ein einfaches, weil von einem einzelnen Gef\u00fchl ausschlie\u00dflich bestimmtes Wollen, so ist daher die Triebhandlung eine einfache Willenshandlung. Begegnen sich dagegen mehrere Gef\u00fchle und Triebe mit verschiedenen Willensrichtungen im Bewusstsein, so sind im allgemeinen drei F\u00e4lle m\u00f6glich. Entweder halten sich die entgegengesetzten Triebe das Gleichgewicht: dann entstehen schwankende Gem\u00fcthslagen, bei denen zwar vor\u00fcbergehend bald der eine bald der andere Trieb st\u00e4rker ist, im ganzen aber in Folge der fortw\u00e4hrenden Compensation kein bestimmtes Begehren zur Ausbildung gelangt, sondern nur der Gegensatz widerstreitender Gef\u00fchle die Gem\u00fcthslage ausmacht. Oder ein bestimmter Trieb herrscht vor, die \u00fcbrigen von entgegengesetzter Willensrichtung sind aber stark genug, um den Uebergang in eine Triebhandlung unm\u00f6glich zu machen: dann entsteht der oben bereits n\u00e4her er\u00f6rterte Zustand des Begehrens. Oder endlich aus den verschiedenen Willensrichtungen geht nach einem diesem Zustand des Begehrens entsprechenden vorbereitenden Stadium eine vorherrschende Willensrichtung hervor, welche \u00fcber alle anderen obsiegt und zur Willenshandlung f\u00fchrt. In diesem Fall erscheint uns das Wollen unmittelbar als ein W\u00e4hlen zwischen verschiedenen Zwecken, und wir bezeichnen die so unter complexen Bedingungen entstehende Willenshandlung als eine Willk\u00fcrhandlung. Hierbei liegt nun aber die Ursache, aus der ein bestimmter Trieb die Handlung determinirt, niemals in den unmittelbar mit einander in Conflict tretenden Trieben allein, sondern immer zugleich in dem, wovon die relative St\u00e4rke dieser Triebe wesentlich abh\u00e4ngt : in der ganzen, durch die gesammte vorangegangene Entwicklung des Seelenlebens bestimmten Anlage des Bewusstseins. Indem diese letztere mit der Ausbildung des Selbstbewusstseins immer klarer als der letzte Grund der wirklich ausgef\u00fchrten Willenshandlung erfasst wird, verbindet sich nun erst mit dem einzelnen Wollen die der Willk\u00fcrhandlung eigenth\u00fcmliche Vorstellung einer Wahl: die Handlung erscheint nicht mehr als das passiv erlebte Resultat eines Kampfes verschiedener Triebe, sondern als die activ erzeugte Entscheidung zwischen denselben. :. F\u00fcr die psychologische Analyse kann es jedoch nicht zweifelhaft sein, dass diese Entscheidung nicht m\u00f6glich w\u00e4re, ohne dass jener Kampf ihr vorausginge;, daher","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nW. Wandt.\nauch im einzelnen Fall die Willk\u00fcrhandlung noch oft genug zwischen passivem Resultat und activer Entscheidung unsicher in der Mitte steht: dem ersten n\u00e4hert sie sich um so mehr, je weniger sich das seelische Lehen \u00fcber die urspr\u00fcngliche Herrschaft der unmittelbar erzeugten Triebe erhoben hat; die letztere tritt in dem Ma\u00dfe deutlicher hervor, als sich durch die vorangegangene seelische Entwicklung constante Willensrichtungen ausgehildet haben, welche allen einzelnen Antrieben gegen\u00fcber die Rolle vorherrschender seelischer Kr\u00e4fte \u00fcbernehmen. Kaum braucht noch bemerkt zu werden, dass mit der einseitigen Ber\u00fccksichtigung dieser beiden Quellen unserer empirischen Willenshandlungen zugleich die beiden eben wegen ihrer Einseitigkeit unhaltbaren Auffassungen des vulg\u00e4ren Determinismus und Indeterminismus Zusammenh\u00e4ngen. Dem ersteren gilt die einzelne Wahl als das nothwendige Erzeugniss der im gegebenen Moment vorhandenen Triebe ; er vermag dadurch wohl theilweise \u00fcber den Zusammenhang der h\u00f6heren mit den niederen Willenshandlungen, in keiner Weise jedoch \u00fcber das jeden Will-kiiract begleitende Freiheitsbewusstein, welches in der R\u00fcckbeziehung der Handlung auf das Ich als den Tr\u00e4ger aller dauernd erworbenen Anlagen und Willensrichtungen besteht, Rechenschaft abzulegen. s Dem zweiten ist der Wahlact eine von diesem Ich ohne alle Vorbedingungen ausgehende Entscheidung : er vermag daher die Existenz des Freiheitsbewusstseins, aber nicht einmal die Entstehung desselben und noch weniger die Einfl\u00fcsse der momentanen Gef\u00fchle und Triebe auf unser Wollen psychologisch zu erkl\u00e4ren. Wo man sich von diesem Standpunkte aus auf Erkl\u00e4rungsversuche einl\u00e4sst, da f\u00fchrt die \u00e4u\u00dferliche und unvermittelte Auffassung des Freiheitsbewusstseins unvermeidlich dazu, dass nun Trieb und Wille in einen Gegensatz zu einander gebracht und die einzelne Handlung bald als ein Sieg der niederen \u00fcber die h\u00f6here, bald als ein solcher der h\u00f6heren \u00fcber die niedrigere dieser seelischen Kr\u00e4fte gedeutet wird, \u2014 eine Auffassung, die, ethische und psychologische Gesichtspunkte in unzul\u00e4ssiger Weise vermengend, eine genetische Erkl\u00e4rung der Willenshandlungen von vornherein unm\u00f6glich macht.\nSchon der \u00e4u\u00dfere Umstand, dass die Ausdrucksbewegungen der Affecte, abgesehen von den an ihnen betheiligten reinen Reflexen, den Charakter von Triebhandlungen besitzen, bringt nun","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gemfithsbewegungen.\n379\ndie Affecte zu den Trieben in eine n\u00e4here Beziehung und verweist sie mit den letzteren unter die Vorstufen der Willk\u00fcrhand-lung. / In der That entspricht jener physiologischen Affinit\u00e4t von Affect und Trieb auch die psychologische Seite der Vorg\u00e4nge. Indem die Affecte der Freude, des Zorns, des Kummers u. s. w. von den hlo\u00dfen Gef\u00fchlen durch Ver\u00e4nderungen im Vorstellungsverlauf sich unterscheiden, die der vorhandenen Gef\u00fchlsrichtung entsprechen, kommt hierin bereits eine Wirkung des Gef\u00fchls auf den Gesammtinhalt des Bewusstseins zur Geltung, welche der bei dem Trieb stattfindenden Wirkung verwandt ist und bei n\u00e4herer Betrachtung als die Vorbedingung der letzteren sich darstellt. Die blo\u00dfe Lust- und Unluststimmung des Gef\u00fchls geht schon bei dem Affect in ein mehr oder minder klar bewusstes Streben oder Widerstreben \u00fcber. [Der wesentliche Unterschied zwischen Affect und Trieb liegt nur darin, dass bei dem ersteren keine bestimmte Handlung erzielt, sondern dem Streben nur eine gewisse Richtung innerer und \u00e4u\u00dferer Th\u00e4tigkeit aufgepr\u00e4gt und dadurch zugleich eine Verst\u00e4rkung der vorhandenen Gef\u00fchle erzeugt wird. I So malt sich etwa der Freudige die Folgezust\u00e4nde und Wirkungen des ihm gewordenen Gl\u00fcckes aus, oder gibt sich der Zornige Vorstellungen hin, in denen er Wirkungen eigener Handlungen vorausnimmt, die das begleitende Rachegef\u00fchl befriedigen, rin je festeren Umrissen einzelne solcher Vorstellungen hervortreten und nach sich die ge-sammte Gef\u00fchls- und Willensrichtung bestimmen, um so gr\u00f6\u00dfere Verwandtschaft gewinnt der Affect mit dem Triebe oder geht selbst in einzelnen Momenten direct in denselben und in die ihn begleitenden \u00e4u\u00dferen Triebhandlungen \u00fcber.\nInsbesondere ereignet sich dieser Uebergang regelm\u00e4\u00dfig bei denjenigen Affecten, bei denen in Folge ihrer Entstehungsbedingungen die Vorstellungsbewegung eine fester begrenzte ist, w\u00e4hrend andere Affecte ihrer Natur nach erst unter besonderen, weiter hinzutretenden Bedingungen einen solchen Uebergang erfahren. Zu den Affecten der ersten Art geh\u00f6ren der Schreck, der Zorn, zu denen der zweiten die Freude, der Kummer, die Sorge. Es erkl\u00e4rt sich hieraus zugleich, dass jene in h\u00f6herem Grade als diese durch eigent\u00fcmliche mimische und pantomimische Bewegungen ausgezeichnet sind. Besitzen doch eben die im Bereich der willk\u00fcrlichen","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nW. Wundt.\nMuskeln sich abspielenden Ausdrucksbewegungen den Charakter von Triebhandlungen. So entsprechen denn auch den triebartigen Affecten von vornherein bestimmte Triebe : dem Schreck der Flucht-und der Verbergungstrieb, dem Zorn der Sache-, der Wuth der Zerst\u00f6rungstrieb, w\u00e4hrend aus Freude, Kummer, Sorge immer erst secund\u00e4r, in Folge weiter hinzutretender psychologischer Vorg\u00e4nge, sich Triebe entwickeln k\u00f6nnen. Hieraus erhellt, dass die Grenze zwischen Affect und Trieb eine flie\u00dfende ist, indem namentlich hei den triebartigen Affecten in einzelnen Momenten die Ge-m\u00fcthsbewegung durchaus der Form des Triebes entspricht. ' Zugleich aber wird durch dieses Verh\u00e4ltniss best\u00e4tigt, dass wir eine Gem\u00fcthsbewegung so lange dem Begriff des Affectes unterordnen, als bei ihr nicht eine bestimmte, alle \u00e4u\u00dferen Handlungen auf fest gegebene Ziele lenkende Willensrichtung vorhanden ist. Da nun solche feste Ziele im allgemeinen aus Anlass einer vorangegangenen Vorstellungsbewegung zur Apperception gelangen, so ergibt sich, dass der Affect der den Trieb vorbereitende psychische Vorgang ist. Wie aus dem Gef\u00fchl der Affect, so geht aus dem Affect der Trieb hervor. Unter Umst\u00e4nden, bei den einfachsten sinnlichen Trieben namentlich, kann das Zwischenstadium des Affectes ein so kurzes sein, dass es in unserer inneren Wahrnehmung zu verschwinden scheint. Dennoch wird die f\u00fcr den Affect charakteristische R\u00fcckwirkung des Gef\u00fchls auf die Vorstellungsbewegung auch bei diesen einfachsten Trieben ' niemals fehlend Wie aber das Gef\u00fchl nicht blos als Vorstufe des Affects, sondern auch, sobald die dem letzteren eigenth\u00fcmliche Wirkung auf die Vorstellungen ausbleibt, als selbst\u00e4ndiger seelischer Zustand vorkommt, so verh\u00e4lt es sich, vielleicht in noch h\u00f6herem Grade, mit dem Affect gegen\u00fcber dem Triebe. f\"*Selbst bei den triebartigen Affecten kommt es sehr h\u00e4ufig nur zu Triebanwandlungen, d. h. zu rasch vor\u00fcbergehenden inneren Trieberregungen und \u00e4u\u00dferen Triebhandlungen, nicht zur Ausbildung einer festen, in einer continuirlichen Reihe von Acten festgehaltenen Willensrichtung. In dem ersteren Falle bezeichnen wir die \u00e4u\u00dfere Handlung als eine blo\u00dfe Ausdrucksbewegung, obgleich sie sich, an und f\u00fcr sich betrachtet, losgel\u00f6st von den vorangehenden und nachfolgenden seelischen Zust\u00e4nden, von einer Triebbewegung in nichts unterscheidet.","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n381\nDie vorstehenden Betrachtungen zeigen, dass die s\u00e4mmtlichen Gem\u00fcthsvorg\u00e4nge eine Entwicklungsreihe bilden, in der jedes folgende Glied die vorangegangenen Glieder voraussetzt, w\u00e4hrend diese auch selbst\u00e4ndig Vorkommen k\u00f6nnen. Letzteres geschieht dann, wenn der in sich zusammenh\u00e4ngende Gem\u00fcthsprocess nicht vollst\u00e4ndig bis zu seinem Ende abl\u00e4uft. Da aber auch in solchen F\u00e4llen wenigstens spurweise die n\u00e4chstfolgenden Acte sich bereits ank\u00fcndigen k\u00f6nnen, so erkl\u00e4rt es sich zugleich, dass unserer ab-stracten Trennung von Gef\u00fchl, Affect und Trieb das wirkliche Geschehen im allgemeinen nur ann\u00e4hernd entspricht.! Kaum wird es ein Gef\u00fchl geben, das nicht auf die Vorstellungsbewegung irgendwie ver\u00e4ndernd einwirkt und so den Charakter eines Affects annimmt, kaum einen Affect, in dem nicht in einzelnen Momenten eine fest bestimmte Willensrichtung sich ausbildet, so dass der Affect die Eigenschaft des Triebes annimmt. An den Trieb endlich schlie\u00dft sich als letztes Glied dieser Entwicklungsreihe der Wahl-act, die zwischen verschiedenen Triebrichtungen verm\u00f6ge der ge-sammten zur\u00fcckgelegten seelischen Entwicklung eintretende Entscheidung. So vereinigt diese letzte Stufe, die innere und \u00e4u\u00dfere Willk\u00fcrhandlung, alle vorangegangenen in sich.' Die alte Anschauung, welche jene in einen v\u00f6lligen Gegensatz zu den sie vorbereitenden Acten stellte, indem sie das h\u00f6here Willensverm\u00f6gen als eine reine Beth\u00e4tigung der Vernunft ansah, durch welche Gef\u00fchle, Affecte und Triebe \u00fcberwunden w\u00fcrden, entzog sich selbst von vornherein die M\u00f6glichkeit, die Willk\u00fcrhandlung genetisch begreifen zu k\u00f6nnen, und sie verwandelte sie daher naturnothwendig in ein transcendentes Geschehen, das alle andern empirisch bedingten psychischen Vorg\u00e4nge in unberechenbarer Weise durchkreuze. /\"I n Wahrheit aber sind Gef\u00fchl, Affect und Trieb nicht blos die nie fehlenden Vorstufen eines jeden Wollens, sondern ein jeder jener einfacheren Vorg\u00e4nge enth\u00e4lt das Moment des Wollens m unentwickelter Form bereits in sich. Nicht blos tragen Gef\u00fchl und Affect in unbestimmter, der Trieb aber in bestimmter Weise die Willensrichtung in sich, auch die bei den Willk\u00fcrhandlungen m den Vordergrund tretende Abh\u00e4ngigkeit der dominirenden Willensrichtung von der urspr\u00fcnglichen und erworbenen Anlage des Bewusstseins fehlt jenen Vorstufen nicht. Es ist nur der Umstand, dass","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nW. Wundt.\nwir dies\u00eb Disposition als den entscheidenden Factor der Will-k\u00fcrhandlung auffassen, welcher das die letztere begleitende Freiheitsbewusstsein, im Gegens\u00e4tze zu dem der Triebhandlung noch anhaftenden Charakter der Naturhestimmtheit, hervorbringt.\n4. Zus\u00e4tze zur Willenslehre.\nSo flie\u00dfen alle F\u00e4den unserer Betrachtung der Gem\u00fcthsbewe-gungen in dem Begriff des Willens zusammen. Wie die Th\u00e4tig-keit des einfachen Wollens die Vorbedingung f\u00fcr die Entstehung der einzelnen Gem\u00fcthsvorg\u00e4nge ist, so erweisen sich die letzteren hinwiederum als die Vorstufen des zusammengesetzten, mit dem Bewusstsein der Entscheidung zwischen verschiedenen Erfolgen verbundenen Wollens, j Am Schl\u00fcsse dieser Untersuchung erhebt sich daher unabweisbar die Frage, was denn unter der Th\u00e4tigkeit des Wollens selbst zu verstehen sei. Es scheint mir um so noth-wendiger, auf diese Frage hier nochmals einzugehen, als die in den obigen Er\u00f6rterungen vorausgesetzte, in fr\u00fcheren Arbeiten von mir entwickelte Auffassung des Willens Missverst\u00e4ndnissen begegnet ist, die ich zu beseitigen w\u00fcnsche1).\nIch habe an so vielen Stellen, hei Gelegenheit der Willenslehre ebenso wie anderw\u00e4rts, hervorgehoben, dass ich in der Aufzeigung der Thatsachen des Bewusstseins und in der Nachweisung der Verbindungen und Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, die einzige Aufgabe der Psychologie erblicke; ich habe so oft bemerkt, dass mir der Begriff des Bewusstseins nichts anderes ist als die Zusammenfassung dieser Thatsachen selbst, nichts was au\u00dferhalb derselben st\u00fcnde, und dass nicht minder die Begriffe des Willens und der Apperception schlechterdings nur auf bestimmte in uns anzutreffende Vorg\u00e4nge, die sich irgendwie durch gewisse Merkmale von andern unterscheiden lassen, bezogen werden d\u00fcrfen; \u2014 ich habe alles dies so unzweideutig ausgesprochen, dass ich nicht wei\u00df, ob ich durch die Wahrnehmung der Erfolglosigkeit dieser Versicherungen und Bem\u00fchungen mehr erstaunt oder mehr ent-muthigt sein soll. Nach M\u00fcnsterberg ist mein Begriff des Bewusstseins ein \u00bb transceridenter \u00ab, die Apperception ist nach meiner\n1) Vgl. Hugo M\u00fcnsterberg, Die Willenshandlung. Ein Beitrag zur physiologischen Psychologie, Freiburg i. B. 1888.","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n383\nAuffassung ein \u00bbtranscendentaler\u00ab Vorgang, ebenso nat\u00fcrlich der Wille; meine ganze Psychologie steht angeblich im Banne \u00bbmetaphysischer\u00ab Voraussetzungen. Vergehens habe ich mich nach einer Begr\u00fcndung dieser Beschuldigungen umgesehen. Schlie\u00dflich habe ich mich hei der Bemerkung beruhigen m\u00fcssen, dass eben hier nach dem Vorbilde einiger Gehirnphysiologen alle Vorg\u00e4nge der inneren Wahrnehmung so lange als \u00bb transcendent \u00ab oder \u00bbmetaphysisch\u00ab bezeichnet werden, als sie nicht ausdr\u00fccklich als die Wirkungen irgend welcher materieller Vorg\u00e4nge anerkannt sind. Wer in der Anwendung dieser materialistischen Metaphysik auf die Thatsachen der inneren Wahrnehmung die Aufgabe einer \u00bbempirischen\u00ab Psychologie erblickt, von dem kann es nicht Wunder nehmen, wenn er umgekehrt eine empirische Psychologie vom Standpunkt der inneren Wahrnehmung aus f\u00fcr reine Metaphysik h\u00e4lt. Die gelegentlich gemachte Beservatio mentalis, dass der Materialismus erkenntnisstheoretisch unhaltbar sei, w\u00e4re dann freilich besser unterblieben. Man braucht nicht nothwendig von jedem erkenntnisstheoretischen Resultat in der Psychologie Gebrauch zu machen; aber was in der Erkenntnisstheorie falsch ist, kann in der Psychologie nimmermehr wahr sein. Doch ich beabsichtige hier keine Kritik der M\u00fcnsterberg\u2019schen Arbeit. Ich w\u00fcnsche nur die Irrth\u00fcmer richtig zu stellen, welche sie \u00fcber meine Auffassung des Willens verbreitet hat. Zu diesem Zweck wird es aber erforderlich sein, zun\u00e4chst auf die eigenen Ansichten dieses Autors mit einigen Worten einzugehen.]\nWenn der Wille eine besondere Thatsache des Bewusstseins neben andern ist, so muss \u2014mit diesem Gedanken beginnen die Deduc-tionen desselben \u2014 diese Thatsache als ein besonderer, f\u00fcr sich allein aufzuzeigender Bewusstseinsinhalt nachzuweisen sein. Nun bezeichne die moderne Psychologie die letzten auf einander nicht zur\u00fcckf\u00fchr-baren Bestandtheile des Bewusstseins als \u00bbEmpfindungen\u00ab, und schreibe deren jeder eine Qualit\u00e4t, eine Intensit\u00e4t und einen bestimmten ihre Beziehung zum Bewusstsein ausdr\u00fcckenden Gef\u00fchlston zu. Daraus ergebe sich \u00bbder nothwendige Schluss, dass auch der Wille nur ein Complex von Empfindungen ist\u00ab1).\n1) a. a. O. S. 62. Wundt, Philos. Studien. VI.\n26","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nW. Wundt.\nM\u00fcnsterberg selbst hat in diesen Worten es ausgesprochen dass in der Voraussetzung, die er einf\u00fchrt, schon das ganze Resultat seiner Untersuchung enthalten ist. Diese Voraussetzung jst aber von ihm lediglich auf die angebliche Autorit\u00e4t der \u00bbmodernen Psychologie\u00ab hin angenommen worden. Er hat nicht mitgetheilt, welches denn die moderne Psychologie ist, der er diese Voraussetzung entnimmt. Auf alle F\u00e4lle ist die letztere falsch. Richtig wird sie erst dann, wenn man die Empfindungen als die letzten Elemente derjenigen Bewusstseinsinhalte bezeichnet, die wir auf \u00e4u\u00dfere Objecte beziehen, der Vorstellungen. Nur in dieser Beschr\u00e4nkung habe ich selbst die Empfindungen als elementare Bestandtheile des Bewusstseins bezeichnet, dabei aber zugleich bemerkt, dass der ihnen anhaftende Gef\u00fchlston bereits auf einen Zusammenhang mit demjenigen seelischen Geschehen hinweise, das in den objectiven Vorstellungen nicht aufgehe.\nNachdem M\u00fcnsterberg mit jener Voraussetzung das Resultat seiner Theorie anticipirt hat, ist es begreiflich genug, dass er nunmehr das Wesen der Willensth\u00e4tigkeit nur in einer besonderen Combination von Empfindungen zu entdecken vermag, deren jede f\u00fcr sich genommen von andern Empfindungen nicht verschieden ist. Gibt es einerseits in unserem Bewusstsein schlechterdings nichts als Empfindungen, und ist anderseits eine specifische Willensempfindung offenbar nirgends anzutreffen, so ist in der That jener Schluss b\u00fcndig genug. M\u00fcnsterberg sucht demgem\u00e4\u00df zun\u00e4chst nach den Empfindungscomplexen, welche den inneren Willenshandlungen, z. B. den Vorg\u00e4ngen der Aufmerksamkeit, des Besinnens, der logischen Gedankenth\u00e4tigkeit, zu Grunde liegen. Er findet, dass jede solche willk\u00fcrliche Th\u00e4tigkeit vom unwillk\u00fcrlichen Verlauf der Associationen dadurch sich unterscheide, dass dem Wollen einer Vorstellung a ein anderer Bewusstseinszustand vorausgehe, der dem Inhalte nach schon die Vorstellung a enthalte. Ich besinne mich z. B. auf ein Wort. \u00bbIch sehe in der Erinnerung dabei die Stelle, wo ich das Wort gelesen, ich erinnere mich des Augenblicks, wo ich es h\u00f6rte, ich wei\u00df auch genau die Bedeutung des Worts ; aber das Wort selbst ist mir nicht gegenw\u00e4rtig. Schlie\u00dflich taucht es in mir auf. L\u00e4sst sich da bestreiten, dass jenes Wort in der Reihe der Vorstellungsbeziehungen, deren ich mich erinnere,","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Zar Lehre von den Gem\u00e4thsbewegungen.\n385\nschon vollinhaltlich gegeben war?\u00ab Aehnlich soll es sich bei' den logischen Bewusstseinsprocessen verhalten. Die Conclusion a komme nur dadurch in das Bewusstsein, dass sie inhaltlich schon in den Pr\u00e4missen b, c, d gelegen war. Also werde auch hier der Ueber-gang von den Pr\u00e4missen zur Folge als ein willk\u00fcrlicher aufgefasst1).\nHier ist zun\u00e4chst zu bemerken, dass alle diese Beispiele mit dem Wortlaut der vorher gegebenen allgemeinen Regel nicht \u00fcbereinstimmen. Der Regel zufolge soll die Vorstellung a schon vorher im Bewusstsein vorhanden sein. In den Beispielen aber ist nicht sie gegeben, am allerwenigsten \u00bbvollinhaltlich\u00ab gegeben, sondern es sind andere Vorstellungen da, die zu a in irgend welchen, keineswegs immer eindeutigen Relationen stehen. Nun wird \u00fcberall durch solche Relationen die successive Association der Vorstellungen vermittelt. Was M\u00fcnsterberg beschreibt, ist also ein Associationsvorgang; die Regel, die er aufstellt, auf ihren durch die Beispiele an die Hand gegebenen richtigeren Ausdruck zur\u00fcckgef\u00fchrt, sollte lauten: der Vorstellung a m\u00fcssen andere Vorstellungen vorausgehen, die zu ihr in irgend welchen Beziehungen stehen. Dies aber ist die allgemeine Associationsregel. Nun liegt es gewiss im Sinne seiner Ausf\u00fchrungen zu sagen, alles willk\u00fcrliche Besinnen, Aufmerken, Denken sei selbst nichts anderes als ein Associationsvorgang: aber an dieser Stelle sollte ja eben der Unterschied derjenigen Associationen, die wir mit der Vorstellung der Willensth\u00e4tigkeit verbinden, von den unwillk\u00fcrlichen aufgezeigt werden. Dies ist nicht im mindesten geschehen. ^ Denn auch bei den unwillk\u00fcrlichen 1 Associationen sind Relationen der auf einander folgenden Vorstellungen vorhanden. M\u00f6glicher Weise k\u00f6nnte M\u00fcnsterberg antworten, gem\u00e4\u00df seiner Definition m\u00fcssten die vorausgehenden Vorstellungen b, c nicht blos zu a in Relation stehen, sondern es rousse auch das Bewusstsein dieser Relation existiren, ehe a selbst schon bewusst sei. Hierauf ist aber zu entgegnen, dass diese Forderung augenscheinlich eine Unm\u00f6glichkeit in sich schlie\u00dft. Eine Relation zwischen zwei Vorstellungen a und b kann eine bewusste roir dann sein, wenn die b ei den Vorstellungen bewusst sind. In 'reicher Relation eine bewusste Vorstellung a zu einer andern b \\\nJ) a. a. O. S. 67 f.\n26*","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nW. Wundt.\nstehe, die nicht bewusst, d. h. die uns unbekannt ist, davon k\u00f6nnen wir schlechterdings nichts wissen. Die Relation ergibt sich \u00fcberall erst, wenn auch die zweite Vorstellung in das Bewusstsein getreten ist. Dann ergibt sie sich aber bei den unwillk\u00fcrlichen Associationen gerade so gut wie bei den willk\u00fcrlichen Denkhandlungen. Die M\u00fcnst erb erg\u2019sehe Regel ist also zu weit: sie umfasst nicht nur die inneren Willenshandlungen, sondern \u00fcberhaupt alle in irgend einem Zusammenh\u00e4nge unter einander stehenden Bewusstseinsvor-g\u00e4nge.\nDoch man beginnt einigerma\u00dfen zu verstehen, wie er zu dieser Regel kommen konnte, wenn man sich seiner Theorie der \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen zuwendet. Hier trifft der Satz, dass der gewollten Vorstellung a, n\u00e4mlich der Bewegung a, die'Vorstellung dieser Bewegung im Bewusstsein vorangehen m\u00fcsse, in der That im allgemeinen zu. Wenn man, wie unter den neueren Autoren, deren Spuren hier M\u00fcnsterberg gefolgt ist, Meynert, Munk u. A. thun, \u00fcberhaupt nur \u00e4u\u00dfere Willenshandlungen anerkennt, so hat man darum verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig leichtes Spiel: die Thatsache, dass der ganze Complex von Empfindungen, die eine Willenshandlung zusammensetzen, in gewissem Grade schon den vorausgehenden Entschluss begleitet, ist ja unbestreitbar. Man muss also zugestehen, dass hierin ein Unterscheidungsmerkmal der willk\u00fcrlichen von den blos automatisch und reflectorisch erfolgenden Bewegungen liegt. H\u00f6chstens wird dabei der Vorausnahme der Bewegungsempfindungen eine zu gro\u00dfe Rolle zugewiesen, da diese wohl immer erst dann in das Bewusstsein kommen, wenn der auf ein bestimmtes objectives Ziel gerichtete Willensentschluss schon gefasst ist.\nImmerhin ist die Theorie auch in dieser Beschr\u00e4nkung auf die \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen unhaltbar. Weder gibt sie Rechenschaft \u00fcber das f\u00fcr alles Wollen wesentlichste Merkmal des Bewusstseins eigener Th\u00e4tigkeit, noch bietet sie ein sicheres Unterscheidungmerkmal desselben von andern unwillk\u00fcrlichen Handlungen. Setzei wir voraus, es gehe den Muskel- und Tastempfindungen, welche eine willk\u00fcrliche Armbewegung begleiten, wirklich das vollst\u00e4ndig* reproducirte Bild dieser Empfindungen voraus, so ist zwar begrei lieh, dass diese Succession von Vorstellungen entsteht, wenn du betreffende Bewegung gewollt wird, es ist aber nicht begreif lie ,","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegnngen,\n387\n,vie aus der blo\u00dfen Succession jener Vorstellungen die Wahrnehmung eigener Th\u00e4tigkeit hervorgeht. Von jeher ist daher diese Theorie auf zwei Aush\u00fclfen verfallen, die beide gleich unzul\u00e4nglich sind: entweder wird jene Wahrnehmung eigener Th\u00e4tigkeit als eine T\u00e4uschung bezeichnet, die aus unserer Unkenntniss der wirklichen Ursachen der Bewegung entspringe. Hier substituirt man einem positiven Bestandtheil unserer inneren Erlebnisse eine metaphysische Reflexion, um dann zu behaupten, dass das Ergebniss dieser Reflexion ein irriges sei. Oder der Wille wird unmittelbar in die Bewegungsempfindungen verlegt. Dann ist scheinbar ein Empfindungssubstrat f\u00fcr ihn gefunden. Nur bleibt es unbegreiflich, uie die n\u00e4mlichen Empfindungen entstehen k\u00f6nnen, ohne dass wir die Vorstellung des Wollens damit verbinden. Und doch ist dies bei reflectorisch erfolgenden Bewegungen oder auch bei galvanischer Erregung der Bewegungsnerven der Fall. Offenbar werden also hier einige mehr oder minder constante Begleiterscheinungen der Willenshandlung f\u00fcr den Willen selbst genommen, w\u00e4hrend man an den wesentlichen Eigenschaften desselben vor\u00fcbergeht.\nDie Grundanschauung, auf welcher alle diese modernen Versuche, den Willen auf gewisse Empfindungscomplexe zur\u00fcckzuf\u00fchren, beruhen, ist die alte intellectualistische Lehre, wie sie in Spinoza\u2019s classischen Worten ausgesprochen ist: \u00bbErkennen und Wollen sind eins und dasselbe. Wir glauben willk\u00fcrlich zu handeln, wenn wir uns vorstellen zu handeln. Der fallende Stein, wenn er eine Vorstellung seines Falls bes\u00e4\u00dfe, w\u00fcrde diesen als eine That seines Willens ansehen\u00ab. Der alte Satz \u00bbder Wille ist die Vorstellung einer Handlung\u00ab hat in den Arbeiten neuerer Gehirnphysiologen, Schiff, Meynert, Munk u. A., bereits die besondere Ausf\u00fchrung erhalten, wonach die Vorstellung einer Handlung auf die sie begleitenden Bewegungsempfindungen zur\u00fcckgef\u00fchrt wird. Zwei Gedanken sind bei M\u00fcnsterberg hinzugekommen: die Uebertragung der Annahme eines der Bewegung vorausgehenden Erinnerungsbildes derselben auf die inneren Willenshandlungen, und die Voraussetzung, dass die sogenannten Innervationsempfin-dungen, wie sie unabh\u00e4ngig von wirklich eintretenden Bewegungen beobachtet werden k\u00f6nnen, Erinnerungsbilder fr\u00fcher gehabter","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nW. Wundt.\nBewegungsempfindungen sind1). Dass der erste dieser Gedanken auf einer fehlerhaften Analogie beruht, haben wir oben gesehen. Die angegebene Auffassung der Innervationsempfindungen dagegen halte ich in der That f\u00fcr richtig; ich glaube, dass sie sich als die einzig m\u00f6gliche L\u00f6sung der in neuerer Zeit \u00fcber diesen Gegenstand stattgehabten Er\u00f6rterungen ergeben d\u00fcrfte2). Aber diese Auffassung ist keineswegs neu. Ich selbst habe sie in der l\u00e4ngere Zeit vor der M\u00fcnster -berg\u2019schen Arbeit erschienenen dritten Auflage meiner physiol Psychologie ausf\u00fchrlich entwickelt3). Dass dieselbe mit den sonstigen Annahmen der Theorie in keinem nothwendigen Zusammenhang steht, brauche ich wohl kaum zu bemerken. Man kann die Bedeutung der Bewegungs- und Innervationsempfindungen f\u00fcr die Entwicklung der \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen anerkennen, ohne in ihnen selbst das Wesen des Willens zu sehen4).\nSo unzul\u00e4nglich aber auch diese Versuche einer physiologischen Theorie der Willenshandlungen sein m\u00f6gen, so bieten sie doch deshalb, wie ich meine, ein gewisses Interesse, weil die letzten Motive, aus denen sie hervorgegangen, in tiefer liegenden Irr-th\u00fcmern ihre Quelle haben, deren Aufzeigung f\u00fcr die Gewinnung eines richtigeren Standpunktes nur f\u00f6rderlich sein kann. Der letzte Grund dieser wie aller Formen des Intellectualismus scheint mir in der mehr oder minder unbewussten Substantialisirung der seelischen Vorg\u00e4nge zu liegen. Den Anh\u00e4ngern dieser Theorien ist die Seele ein \u00bbB\u00fcndel von Vorstellungen\u00ab. Vergleichbar den beharrenden Objecten der Au\u00dfenwelt, auf die sie sich beziehen, sollen sich diese Vorstellungen in wechselnder Weise in unserem Bewusstsein gruppiren, f\u00fcr uns aber stets nur Objecte passiver Betrachtung bilden. Wir k\u00f6nnen nichts zu ihnen hinzuthun, nichts von ihnen hinwegnehmen. Unsere eigene Th\u00e4tigkeit selbst ist nur eine Vorstellung, die, \u00e4hnlich wie alle andern, der Betrachtung sich darbietet. Was nicht als Vorstellung uns gegeben ist, das existirt \u00fcberhaupt nicht. Auch unser Wollen muss daher eine Vorstellung'\n1)\ta. a. O. S. 76.\n2)\tVergl. hier\u00fcber die interessanten Verhandlungen in der Londoner Neuro-\nlogical Society, Brain, April 1887.\t3) Physiol. Psych. 3. Aufl. I, S. 404 fl-\n4) Vergl. zu Obigem Oswald K\u00fclpe, Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie, Phil. Stud. V, S. 231 ff.","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n389\nes muss in bestimmte Empfindungen zerlegbar sein, die sieb physiologisch auf irgend welche Empfindungsreize zuriiekf\u00fchren lassen. Was wir sonst noch in den Willen hineinlegen, das ist, insofern es unvorstellbar ist, nothwendig ein nicht-existirendes, ein t\u00e4uschender Wahn, eine \u00bbtranscendente\u00ab Idee, die wir uns vielleicht irgend welchen metaphysischen Vorurtheilen zu Liebe gebildet haben, die aber nothwendig vor dem Satze \u00bballer Bewusstseinsinhalt besteht aus Vorstellungen\u00ab in ihr Nichts versinken muss.\nSo \u00fcberzeugend diese Gedankenreihe offenbar f\u00fcr viele und nicht blos f\u00fcr contemplativ angelegte Naturen von der Weise Spinoza\u2019s gewesen ist, so muss doch gesagt werden, dass sie nichts ist als ein Gewebe von Selbstt\u00e4uschungen und falschen Voraussetzungen. Unser Bewusstsein ist nicht im allerentfemtesten ein solches B\u00fcndel ruhig neben einander lagernder Vorstellungen, als das es hier dargestellt wird. Die Vorstellungen selbst sind keine Objecte, wie durch Verwechselung derselben mit ihren Gegenst\u00e4nden angenommen wird, sondern sie sind Ereignisse, die entstehen und vergehen und im Laufe ihrer kurzen Dauer sich fortw\u00e4hrend ver\u00e4ndern ; und an die Vorstellungen sind Gef\u00fchle gebunden, die wiederum nicht unab\u00e4nderlich von der Beschaffenheit der Vorstellungen, mit denen sie zun\u00e4chst verkn\u00fcpft sind, sondern von einer Menge vorangegangener und gleichzeitiger innerer Vorg\u00e4nge abh\u00e4ngen. Vollends das wahmehmende Subject ist kein seinen eigenen Vorstellungen unabh\u00e4ngig gegen\u00fcberstehender Beobachter, als das es hier unter dem tr\u00fcgerischen Bilde der \u00e4u\u00dferen Sinneswahrnehmungen gedacht wird, sondern es bildet einen thats\u00e4chlich untrennbaren Bestandteil des psychischen Geschehens selber. Durch jene Verdinglichung der Vorstellungen, welche die Hypostasirung des vorstel-lenden Subjectes unvermeidlich nach sich zieht, wird aber dieser Psychologie, wie metaphysikfeindlich sie sich immerhin geberden mag, natumothwendig das Subject zu einem transcendenten Gegenstand. Hat sie doch die einzigen empirischen Elemente, aus denen sich dasselbe gewinnen l\u00e4sst, n\u00e4mlich eben die Vorg\u00e4nge der an das Vorstellen und F\u00fchlen gebundenen Th\u00e4tigkeit, gl\u00fccklich zum Verschwinden gebracht.\nBei jeder Willensth\u00e4tigkeit haben -wir zu unterscheiden die mehr oder minder constanten Begleiterscheinungen derselben","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nW. Wundt.\nund das f\u00fcr das Wollen wesentliche Merkmal der Th\u00e4tigkeit Zu jenen Begleiterscheinungen rechne ich in erster Linie gewisse zu Vorstellungen vereinigte Empfindungen, in zweiter Linie die die Willensacte theils vorbereitenden theils mit ihnen unmittelbar verbundenen Gef\u00fchle. Die letzteren lassen sich jedoch nur auf Grund der einmal vollzogenen ahstracten Unterscheidung zwischen F\u00fchlen und Wollen Begleiterscheinungen des Willens nennen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung des Willens betrachtet, verwandeln sie sich selbst in Elemente der Willensth\u00e4tigkeit, die sich aber deshalb, weil aus ihnen nicht immer ein actuelles Wollen hervorgeht, nun auch in solchen F\u00e4llen, wo dieses eintritt, demselben als begrifflich trennbare Bestandtheile gegen\u00fcberstellen lassen. Diese begleitenden Empfindungen und Gef\u00fchle sind f\u00fcr uns so eng mit der Willenshandlung verschmolzen, dass wir uns kein Wollen vorstellen k\u00f6nnen, ohne jene alsbald zu reproduciren. / Auf diese Weisevverdanken namentlich die \u00e4u\u00dferen, aber nicht minder auch alle mit merkbarer Anstrengung vollzogenen inneren Willenshandlungen den begleitenden Spannungsempfindungen im Gebiet der willk\u00fcrlichen Muskeln sowie den als Beproductionen dieser Spannungsempfindungen zu betrachtenden Innervationsempfindungen ihre sinnliche Bestimmtheit : wir besitzen in diesen Empfindungen wahrscheinlich das einzige, jedenfalls das n\u00e4chste Ma\u00df der Energie unseres Wollens, denn wir messen an ihnen unmittelbar die Anstrengung einer ausgef\u00fchrten Willenshandlung./ Aber die Spannungsempfindungen und Gef\u00fchle, so untrennbar sie in unserem Bewusstsein mit der Willensth\u00e4tigkeit verbunden sein m\u00f6gen, ersch\u00f6pfen f\u00fcr sich allein doch keineswegs den Begriff des Willens. Der zwingende Beweis hierf\u00fcr liegt darin, dass die Spannungsempfindungen, wie oben schon bemerkt, Vorkommen k\u00f6nnen, ohne Begleiterscheinungen des Willens zu sein. Das n\u00e4mliche gilt von den die Willenshandlung vorbereitenden Gef\u00fchlen. Die Gef\u00fchle aber, welche den Vollzug der Willensacte begleiten, sind hinwiederum an das entscheidende Merkmal des Wollens, die Th\u00e4tigkeit, so enge gekn\u00fcpft, dass sie diesem gegen\u00fcber als secund\u00e4re Merkmale erscheinen.\nNun besteht der verh\u00e4ngnissvolle Zirkel, in welchem sich die intellectuellen Theorien bewegen, darin, dass sie dieses Moment","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n391\nder Th\u00e4tigkeit, welches das einzig wesentliche Merkmal des Willens ist als eine wirkliche Thatsache deshalb nicht anerkennen wollen, weil es nicht als ein f\u00fcr sich bestehender, mindestens in abstracto isolirbarer Inhalt des Bewusstseins, analog den Empfindungen, auf-o-ezeigt werden kann. Es ist aber klar, dass der Begriff der Th\u00e4tigkeit gerade dies eben ausschlie\u00dft. Eine Th\u00e4tigkeit kann immer nur ein Vorgang sein, der sich an irgend welchen gegebenen Bewusstseinsinhalten ereignet, und verm\u00f6ge dessen diese Inhalte bestimmte Ver\u00e4nderungen erfahren. Solche Ver\u00e4nderungen sind darum nicht minder reale empirische Thatsachen. Der Psychologe, der sie leugnet, steht unter dem n\u00e4mlichen Vorurtheil, dem die Anh\u00e4nger der aristotelischen Physik unterlagen, als sie dem Newton\u2019schen Begriff der Schwere deshalb entgegentraten, weil diese Schwere blos in Vorg\u00e4ngen zwischen den K\u00f6rpern sich \u00e4u\u00dfere, also keine selbst\u00e4ndige Entit\u00e4t sei. Auch der Wille, so meint man, m\u00fcsse eine solche f\u00fcr sich isolirbare \u00bbEntit\u00e4t\u00ab sein, und wenn er als solche nicht aufgefunden werden k\u00f6nne, so sei er \u00fcberhaupt nichts. Hier steckt die heutige Psychologie vielfach noch tief in der naiven Verdinglichung der Begriffe. Und doch ist gerade f\u00fcr die Psychologie die Befreiung von derselben um so mehr geboten, als es ihr sogar an jenen relativ constanten Objecten mangelt, die in der Physik zu der Voraussetzung des beharrlichen materiellen Substrates der Naturvorg\u00e4nge gef\u00fchrt haben.\nDie Objecte der Psychologie sind s\u00e4mmtlich Vorg\u00e4nge, Ereignisse. Diese Vorg\u00e4nge trennen sich zun\u00e4chst in solche Bestandteile, die auf Dinge und Vorg\u00e4nge der Au\u00dfenwelt bezogen werden, und in solche, denen eine derartige Beziehung mangelt, und f\u00fcr die wir, wenn wir f\u00fcr sie nach einem \u00e4hnlichen gemeinsamen Begriff suchen, keinen andern zu finden wissen als den, dass sie unser eigenes Verhalten gegen\u00fcber den von uns objectivirten Vorstellungen ausdr\u00fccken. Dabei d\u00fcrfen wir aber freilich nicht vergessen, dass diese Definition bereits das Ergebniss einer Beflexion ist, das den Thatsachen selbst ebenso wenig zukommt, wie in der unmittelbaren Anschauung etwas von der sp\u00e4teren begrifflichen Trennung von Object und Subject zu finden ist. Diese nicht auf Objecte und objective Ereignisse bezogenen Vorg\u00e4nge scheiden sich","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"1\n392\tW. Wundt.\nnun aber wiederum in zwei Gruppen: die einen treten uns als passive Erlebnisse entgegen, die andern fassen wir als selbsterzeugte auf. Beide k\u00f6nnen im einzelnen Fall in der engsten Weise sich verbinden, so dass ein Vorgang halb passiv gegeben halb activ erzeugt erscheint. Die selbsterzeugten Vorg\u00e4nge sind die Willenshandlungen. Der Wille selbst als empirische That-sache ist nichts von diesen Processen der Erzeugung verschiedenes sondern er besteht schlechterdings nur in den einzelnen, von den passiven Erlebnissen sich absondernden Vorg\u00e4ngen der Th\u00e4tigkeit Bei solcher Unterscheidung des passiv erlebten und des selbsterzeugten Vorgangs ist nun wiederum nicht zu \u00fcbersehen, dass die Art, wie wir diesen Unterschied ausdr\u00fccken, einer Reflexion angeh\u00f6rt, von der in unserer unmittelbaren Auffassung der That-sachen des Bewusstseins nichts zu finden ist. Ist doch im Gegentheil die ganze Auffassung des eigenen Ich und seine Trennung von den Objecten erst auf Grund jener Unterscheidung zu Stande gekommen. Wir haben also diese Unterschiede unserer inneren Erlebnisse, die wir nachtr\u00e4glich nicht anders als unter Zuh\u00fclfe-nahme sp\u00e4t entstandener Reflexionsbegriffe ausdr\u00fccken k\u00f6nnen, als unmittelbar gegebene anzusehen, die nicht durch bestimmte Vorstellungen, wohl aber durch die begleitenden Gef\u00fchle von einander getrennt sind. Mit diesem Vorbehalt wird diese von fr\u00fche an vorhandene, doch allm\u00e4hlich erst zu klarem Bewusstsein gelangende Unterscheidung auch f\u00fcr die Entwicklung des Willens bedeutsam. Wir werden ja von vornherein erwarten d\u00fcrfen, dass die bei den niederen Willenshandlungen nur dunkel bewussten Elemente der Unterscheidung bei den complexen Willensacten zu klarer bewussten geworden sind. Nun hat sich, wie wir fr\u00fcher sahen, bei der Willk\u00fcrhandlung das bei dem Trieb vorhandene einfache Streben zu einer zwischen verschiedenen Erfolgen entscheidenden Th\u00e4tigkeit erhoben. Die Th\u00e4tigkeit der Entscheidung oder der Wahl schlie\u00dft aber die Vorstellung ein, dass unser handelndes Ich die letzte Ursache des sich vollziehenden Vorgangs sei, w\u00e4hrend diese Ursache bei dem passiven Erlebnisse in irgend etwas von unserem Selbst verschiedenes verlegt wird. Doch ist das Ich in dieser psychologischen Function abermals kein abstracter Begriff, sondern lediglich die in ein Totalgef\u00fchl zusammengefasste Gesammt-","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen.\n393\nheit unserer Anlagen und bisherigen Erlebnisse. Wir handeln also mit andern Worten bei der Willensentscheidung unmittelbar mit dem Bewusstsein der Causalit\u00e4t unseres gesammten seelischen Seins, wobei wir uns freilich immer nur einzelner der hierbei wirksamen Elemente bewusst werden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen lediglich in jenem resultirenden Totalgef\u00fchl ihren Ausdruck finden.\nWodurch scheidet sich nun eine einfache Triehhandlung von diesem mit dem deutlichen Bewusstsein eigener entscheidender Th\u00e4tigkeit begleiteten Erfolg? Ich meine, im letzten Grunde doch nur quantitativ, und zwar in doppeltem Sinne: einmal weil die Dispositionen des Bewusstseins, die zur Wirkung gelangen, verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig weniger weit zur\u00fcckreichen, so dass sie sich bei den einfachsten Triebhandlungen schlie\u00dflich auf wenige angeborene Anlagen beschr\u00e4nken; und zweitens weil die Vorstellung, dass der Vorgang kein passives Erlebniss, sondern ein selbstth\u00e4tiges Erzeugnis ist, ebenfalls dunkler bewusst bleibt, dass also auch die Triebhandlung ihrem ganzen Charakter nach bereits der mechanischen Regelm\u00e4\u00dfigkeit des Reflexes sich n\u00e4hern kann. Eben diese Eigenschaften sind es aber, durch welche die Triebe theils als Zwischenglieder zwischen den passiven und activen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen, theils als die nat\u00fcrlichen Vorstufen der complexen Willenshandlungen sich darstellen.","page":393}],"identifier":"lit748","issued":"1891","language":"de","pages":"335-393","startpages":"335","title":"Zur Lehre von den Gem\u00fcthsbewegungen","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:23:07.976921+00:00"}