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{"created":"2022-01-31T13:24:41.854772+00:00","id":"lit755","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 7: 1-49","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\nVon\nW. Wundt,\nI.\nIn seiner zum Jubeljahr der Kritik der reinen Vernunft geschriebenen Betrachtung \u00bbWas uns Kant sein kann?\u00ab hat Fr. Paul- * sen in einem Sinne, der sich der Zustimmung manchen Kantverehrers erfreuen d\u00fcrfte, das dauernd Werth volle in Kant\u2019s Leistungen von jenen verg\u00e4nglichen Bestandtheilen zu sondern gesucht, die, weil sie theils in Zeitverh\u00e4ltnissen, theils in der besonderen Geistesentwicklung des Philosophen ihre Quelle hatten, f\u00fcr uns keine bleibende Bedeutung mehr besitzen k\u00f6nnten 1). Auf diese Weise ist die an die Spitze dieses Aufsatzes gestellte Kehrseite der von Paulsen behandelten Frage in der Antwort, die er gibt, in seinem Sinne schon mitbeantwortet. Dass \u00bbdie abstract-schema-tische Methode der sogenannten transcendentalen Deductionen\u00ab in der Kritik der reinen Vernunft der Geltendmachung der Grundgedanken nicht f\u00f6rderlich sei, und dass sie vollends in der praktischen Philosophie, in der Aesthetik und Teleologie nur dazu diene, die wirklichen Gedanken in ein ihnen \u00e4u\u00dferlich aufgen\u00f6thigtes Gewand schablonenhafter Begriffe zu zw\u00e4ngen, werden heute vielleicht \\iele zugeben, die im allgemeinen die Anschauungen Kant\u2019s, namentlich in der Erkenntnisstheorie, noch als ma\u00dfgebend anerkennen.\n1) Vierteljahrsschrift f\u00fcr wiss. Philos. V, S. 1\u201496.\nWandt, Philos. Studien. VII.","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nW. Wundt.\nNicht minder ist \u00fcber die Einseitigkeit, um nicht .zu sagen moralische Unm\u00f6glichkeit der praktischen Forderungen der Kant\u2019schen Ethik heute wohl alle Welt einig, die Kantianer kaum ausgenommen.\nWenn ich darum gegen Kant blo\u00df diese Ausstellungen auf dem Herzen h\u00e4tte, so w\u00fcrde ich es nicht f\u00fcr n\u00f6thig halten, dem, was Paulsen in der angef\u00fchrten Arbeit und was Andere, die sich trotzdem in gewissen Grundgedanken mit Kant einig wissen, gesagt haben, ein Wort hinzuzuf\u00fcgen. Aber ich befinde mich Kant gegen\u00fcber in einer andern Lage. Ich halte jenen vielbeklagten Schematismus nicht etwa blo\u00df f\u00fcr eine nun einmal hinzunehmende Zugabe, durch die man sich die Werthsch\u00e4tzung der davon unabh\u00e4ngigen Grundgedanken nicht soll st\u00f6ren lassen; auch betrachte ich die k\u00fcnstliche Architektonik der Vernunft nicht blo\u00df unter dem mildernden Gesichtspunkt, dass sie f\u00fcr diejenigen gut sei, denen Philosophie ohne scholastischen Betrieb nicht zusagt. Ich meine vielmehr, der ganze Schematismus der transcendentalen Deduction en h\u00e4ngt so innig mit dem Wesen der Kant\u2019schen Philosophie zusammen, dass man zwar sagen kann, ein Verst\u00e4ndniss und eine W\u00fcrdigung ihres Inhaltes sei schlie\u00dflich auch m\u00f6glich, ohne dem Philosophen auf allen den Wegen zu folgen, die er zur vermeintlichen Sicherstellung seines Baues eingeschlagen, dass man aber nicht sagen kann, diese Wege seien \u00fcberhaupt eine \u00fcberfl\u00fcssige M\u00fche gewesen, die sich Kant genommen, und durch die er nur den gro\u00dfen und einheitlichen Aufbau seines Werkes verunziert habe. Vielmehr scheint mir darin die kleine Schaar der orthodoxen Kantianer Recht zu behalten, dass man zwar m\u00f6glicher Weise im Einzelnen dies und jenes bessern oder vervollst\u00e4ndigen k\u00f6nne, dass aber, sobald man einmal die Grundgedanken Kant\u2019s annimmt, auch seine Ableitung der Kategorien und der Grunds\u00e4tze des reinen Verstandes sowie die Anwendung dieser Begriffe und Grunds\u00e4tze | auf die Kritik des Erkenntnisswerthes der sogenannten transcen-denten Ideen als eine Reihe nothwendig zu l\u00f6sender Aufgaben anerkannt werden m\u00fcsse. Die \u00e4u\u00dferliche und gezwungene Ueber-tragung jenes Begriffsschematismus auf die Kritik der praktischen Vernunft und der Urtheilskraft wird man vielleicht selbst vom Standpunkte eines Kantianers aus preisgeben k\u00f6nnen. Aber was","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n3\nman nicht preisgeben kann, so lange man \u00fcberhaupt an den Anschauungen Kant\u2019s von dem Wesen der Erfahrungserkenntniss festh\u00e4lt, das ist die Forderung, dass jene Functionen a priori, die aller Erfahrung erst ihre Form geben, in einen logischen Zusammenhang mit einander und mit den Gesetzen unseres Denkens und in eine Beziehung zu der sinnlichen Wahrnehmung gebracht werden. Das erstere sucht aber bekanntlich die Deduction der Kategorien, das letztere die Lehre von dem transcendentalen Schematismus der Zeit zu leisten. Wer auf dem Boden Kant\u2019scher Anschauungen jene Deduction und diese Lehre bek\u00e4mpfen wollte, der m\u00fcsste etwas anderes an die Stelle setzen. Denn es l\u00e4sst sich doch wahrlich nicht annehmen, dass Begriffe wie Einheit, Vielheit, Realit\u00e4t, Substanz, Causalit\u00e4t zusammenhangslos in uns liegen, und dass sie als abstracte Begriffe ohne weiteres den in der Empfindung gegebenen Stoff der Erfahrung in sich aufnehmen. Darum kann ich auch Paulsen\u2019s Ansicht, dass die zwischen der Inauguralschrift und der Kritik der reinen Vernunft verflossenen zehn Jahre f\u00fcr Kant verh\u00e4ngnissvoll geworden seien, nicht ganz, theilen. Man mag es ja im Interesse der Ausgestaltung der weiteren Theile seines Systems bedauern, dass es ihm so sp\u00e4t erst gelang, die transcendentale Deduction der Kategorien zu finden. Aber dass di\u00e7se Deduction eine in seinem Sinne nicht nur, sondern auch auf dem Boden der ganzen Weltanschauung, die er gewonnen, noth-wendige Aufgabe war, wird man nicht leugnen k\u00f6nnen. Eher lie\u00dfe sich sagen, dass Kant, trotz seines Bem\u00fchens, die logische Verbindung der Theile seines Systems in der \u00e4u\u00dferen Architektonik desselben, vielleicht mehr als n\u00f6thig, hervortreten zu lassen, doch die ganze Aufgabe, die transcendentalen Erkenntnissformen in ihrem nothwendigen Zusammenhang darzuthun, nicht vollst\u00e4ndig gel\u00f6st hat. Die Anschauungsformen, Raum und Zeit, treten in der Kritik der reinen Vernunft nicht anders, als es in der Inauguralschrift geschehen war, einfach als thats\u00e4chlich gegebene auf. Es mag sein, dass diesem Umstande die transcendentale Aesthetik den Ruf besonderer Klarheit und Evidenz verdankt, dessen sie sich seit Schopenhauer bei allen denjenigen erfreut, die von den spanischen Stiefeln des Kategorienschemas nicht viel wissen wollen. Aber der Vorzug der gr\u00f6\u00dferen Klarheit und Einfachheit ist hier\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nW. Wundt.\ndoch nur dadurch erkauft, dass den Anschauungsformen das Fundament fehlt, welches die Deduction der Kategorien f\u00fcr diese herzustellen sucht. Freilich will ich damit diese Deduction selbst nicht f\u00fcr einwurfsfrei erkl\u00e4ren. Dass die Urtheilsformen, mit denen die Kategorien in Beziehung gesetzt werden, seihst der einheitlichen Ableitung v\u00f6llig ermangeln, und dass das symmetrische Schema der \u00e4u\u00dferen Anordnung nur m\u00fchselig die logischen Spr\u00fcnge verdeckt, die zwischen den vier Hauptkategorien stattfinden, ist schon oft genug bemerkt worden. Ehen deshalb war aber auch der zuerst von Fichte gemachte Versuch, diese zersplitterte und nicht ohne die Beimengung empirischer Gesichtspunkte unternommene Ableitung durch eine strengere und einheitlichere zu ersetzen, welche Kategorien und Anschauungsformen gleichm\u00e4\u00dfig umfassen sollte, im Sinne der Grundanschauungen Kant\u2019s ein wohlberechtigter, ja vielleicht ein noth wendiger.\nFreilich gibt es noch eine andere Art, die Sache zu betrachten. Wenn man \u2014 und dies ist, wie ich glaube, der in Paulsen\u2019s Abhandlung vorwiegende Gesichtspunkt\u2014 auf die Resultate der Vernunftkritik den Hauptnachdruck legt, dann wird man als d\u00e4s wichtigste derselben dies ansehen, dass sie alle Erkenntniss auf den Zusammenhang der Erfahrung einschr\u00e4nkt und alles was, die Grenzen der Erfahrung \u00fcberschreitend, gleichwohl den Inhalt f\u00fcr uns werthvoller Ideen ausmacht, dem Wissen entzieht, um es dem praktischen Glauben zu \u00fcberweisen. Das ist dann ein Ergebnis, in welchem Kant v\u00f6llig mit dem Skepticismus Hume\u2019s und mit den gem\u00e4\u00dfigten Vertretern des neueren Positivismus \u00fcbereinstimmt. Weil aber ein Ergebnis nach gew\u00f6hnlicher Ansicht um so sicherer ist, je mehr es von verschiedenen Ausgangspunkten aus unabh\u00e4ngig gewonnen wurde, so ist es begreiflich, dass man in Kant einen besonders werthvollen Zeugen jener Anschauungen erblicken muss. Ist es doch bei ihm eine der alten rationalistischen verwandte Methode, die, wie sie einst zum Aufbau metaphysischer Luftschl\u00f6sser gedient hatte, nun mit aller Gr\u00fcndlichkeit angewandt wird, um diese Luftschl\u00f6sser wieder abzutragen. Aber freilich, Eines bleibt immerhin, was die Philosophie Kant\u2019s durch einen tiefen Abgrund von dem Positivismus scheidet: das ist die Apriorit\u00e4t des Sittengesetzes mit der ganzen, r\u00fccksichtslos \u00fcber die","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n5\npsychologischen Bedingungen def menschlichen Natur sich hinweg-setzenden Herbheit ihrer praktischen Folgerungen. Dennoch wird man auch hier sagen m\u00fcssen: im Sinne der Grundanschauungen Kant\u2019s ist diese Apriorit\u00e4t des kategorischen Imperativs der Pflicht ein gerade so unerl\u00e4sslicher Bestandtheil seines Systems wie seine Lehre von den transcendentalen Erkenntnissformen, und sobald man jene Apriorit\u00e4t einmal annimmt, wird man sich auch den daran gekn\u00fcpften Folgerungen nicht wohl entziehen k\u00f6nnen. Wer also die Unm\u00f6glichkeit einsieht, diese Ethik mit der empirischen menschlichen Natur in Einklang zu bringen, der mag darin eine Instanz gegen die ganze Grundanschauung Kant\u2019s sehen; er kann aber nicht auf dem Boden dieser Anschauung bleiben und Kant\u2019s transcendente Ethik dennoch verwerfen. H\u00f6chstens wird auch hier der Versuch m\u00f6glich sein, mehr als es von Kant geschehen, Transcendentales und Sinnliches in eine innere Verbindung zu setzen. In der That hat das die aus Kant hervorgegangene Philosophie von fr\u00fche an neben der einheitlicheren Deduction der Erkenntnissformen als ihre Hauptaufgabe betrachtet. Also auch hier muss man anerkennen, dass wohl etwa Fichte\u2019s Wissenschaftslehre, nimmermehr aber der Positivismus die wirkliche Fortbildung Kant\u2019s ist.\nSollte ich nach allem dem auf die Frage \u00bbwas kann uns Kant sein?\u00ab eine Antwort geben, so w\u00fcrde ich in den Ergebnissen der Vernunftkritik ebenso wenig wie in der eingeschlagenen Methode, in der Unterscheidung der \u00bbWelt der Werthe\u00ab von der \u00bbWirklichkeit\u00ab ebenso wenig wie in der Gegen\u00fcberstellung des intelligibeln und empirischen Charakters den Inhalt dessen erblicken, was Kant uns heute noch sein kann. Die Bedeutung, die er f\u00fcr unsere Zeit hat, liegt vielmehr, wie ich meine, vornehmlich in zwei Dingen: einmal in der tief in die Probleme eindringenden, mit h\u00f6chster Behutsamkeit gepaarten Kraft seines Denkens, und sodann in der Erhabenheit seiner ethischen Lehensanschauung. An Tiefe des Denkens \u00fcberragt er ebenso den seichten Eklekticismus der Wolffia-ner und Popularphilosophen, die ihm vorausgingen, wie an Strenge und Behutsamkeit die speculative Philosophie, die nach ihm gekommen ist. Das allein w\u00fcrde schon den Vorzug erkl\u00e4ren und rechtfertigen, der ihm heute zu Theil wird. Der hohe Emst seiner","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nW. Wundt.\nethischen Anschauungen vollends ist dem Utilitarismus unserer Zeit nicht weniger \u00fcberlegen, wie er es der Gl\u00fcckseligkeitsmoral des 18. Jahrhunderts war, von dem jener nur eine versp\u00e4tete Nach-bl\u00fcthe zu sein scheint. Man kann zugeben, dass aus diesen Gr\u00fcnden Kant\u2019s actuelle Bedeutung f\u00fcr uns eine gr\u00f6\u00dfere ist, als die irgend eines Philosophen der vorangegangenen und der unmittelbar nachfolgenden Zeit. Aber schlie\u00dflich bleibt es doch ein Gesetz geschichtlicher Nothwendigkeit, dass eine Philosophie, die um ein Jahrhundert zur\u00fcckliegt, nicht mehr die unsere sein kann. Kant steht inmitten der Bedingungen seiner Zeit, so gut wie vor ihm Aristoteles, Descartes, Spinoza und Leibniz oder nach ihm Fichte, Hegel und Herbart. Wer wird leugnen, dass von jedem dieser Philosophen dem geistigen Erwerb der Menschheit etwas bleibendes hinzugef\u00fcgt worden sei, und dass es f\u00fcr uns heute noch lehrreich und f\u00f6rderlich sein kann, ihnen auf den Wegen ihres Denkens zu folgen, um sie uns zu Vorbildern zu nehmen, wo sie dies sein k\u00f6nnen, aber auch um uns durch ihr \"Beispiel warnen zu lassen, wo die Wege, die sie eingeschlagen, heute als ungangbar erkannt sind.\nIch meine nun nicht blo\u00df, dass auch Kant uns bereits in diesem Lichte geschichtlicher Betrachtung erscheinen sollte, sondern ich glaube sogar: je mehr dies geschieht, um so mehr werden wir von ihm lernen, um so mehr was er geschalfen fruchtbar machen k\u00f6nnen auch f\u00fcr unsere Zeit. In dieser Forderung, dass wir es mit Kant nicht anders halten, als mit Spinoza oder Leibniz, oder selbst \u2014 merkw\u00fcrdiger Weise ist ja in diesem Falle die n\u00e4here Vergangenheit fr\u00fcher zur Geschichte geworden als die entferntere \u2014 mit Fichte oder mit Hegel, liegt nun auch meine Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage: \u00bbWas soll uns Kant nicht sein?\u00ab Er soll uns nicht sein ein Lebender unter Lebenden. Wir sollen nicht annehmen, dass die Voraussetzungen, unter denen sein Denken und F\u00fchlen stand, die n\u00e4mlichen gewesen sind, die f\u00fcr uns heute gelten. Wir sollen nicht, auch nicht f\u00fcr die Spanne eines Jahrhunderts, in den Fehler der mittelalterlichen Scholastik zur\u00fcckfallen, und uns einer Autorit\u00e4t unterwerfen, die gewesen ist und nie mehr sein wird. Kant selber hat f\u00fcr diesen Fehler das bezeichnende Wort geschaffen: den","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n7\nDogmatismus. Dass man ein sogenannter kritischer Philosoph sein kann und doch ein Dogmatiker, das hat vielleicht Kant schon in seinen sp\u00e4teren Lebensjahren, und das hat jedenfalls die \u00e4ltere Kant\u2019sche Schule bewiesen, \u2014 oh auch die neuere, lasse ich unentschieden, weil ich das Urtheil \u00fcber Zeitgenossen lieber der Geschichte \u00fcberlassen m\u00f6chte. Worin sich aber die zum Dogma erstarrte kritische Philosophie vor andern Arten des Dogmatismus zu ihrem Vortheil unterscheiden sollte, vermag ich nicht einzusehen. Einer selbst\u00e4ndigen Fortentwicklung des Denkens kann der zum Dogma gewordene Kant m\u00f6glicher Weise ebenso gut wie der dogmatische Thomas Aquinas im Wege stehen.\nNun h\u00f6re ich freilich einwenden: Niemand denke ja daran, an dem Buchstaben der Kritik der reinen Vernunft oder gar der andern kritischen Schriften Kant\u2019s festzuhalten. Das w\u00fcrde dem Geist der kritischen Philosophie selbst widersprechen. Nur die Grundanschauung Kant\u2019s von der Entstehung der Erkenntniss aus Principien a priori und der Materie dqr Empfindung, von dem Verh\u00e4ltniss der Erfahrung zu den transcendenten Ideen und von der im Zusammenhang damit stehenden praktischen Bedeutung des Glaubens gegen\u00fcber dem theoretischen Wissen m\u00fcsse festgehalten werden. Denn hier handele es sich um eine der wenigen wirklichen Entdeckungen im Gebiete der Philosophie, die man ebenso wenig aufgeben d\u00fcrfe, wie die heutige Astronomie daran denke, die Keppler\u2019schen Gesetze oder das Newton\u2019sche Gravitationsgesetz wieder aufzugeben.\nZwar wird ein moderner Thomist vielleicht genau dasselbe sagen. Auch er wird der von ihm vertretenen Philosophie nicht die Fortbildungsf\u00e4higkeit absprechen. Wie k\u00f6nnte sonst eine ganze Literatur existiren, die sich thats\u00e4chlich mit nichts anderem besch\u00e4ftigt ! Auch hier sind es also nur die Grundanschauungen, die absolut sicher stehen sollen. Modificationen im einzelnen, wie sie durch die Zeitbed\u00fcrfnisse, wie sie insbesondere durch die Auseinandersetzung mit andern Wissenschaften, die denn doch diesen dogmatischen Systemen zu Liebe nicht stille stehen, gefordert werden, bleiben nicht ausgeschlossen. Das ist eben das Wesen des Dogmatismus, dass man gewisse Hauptlehren f\u00fcr unangreifbar, so zu sagen f\u00fcr undiscutirbar h\u00e4lt. Einen Dogmatismus, der ein","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nW. Wundt.\nbestimmtes System bis in alle Einzelheiten f\u00fcr unantastbar erkl\u00e4rte, hat es niemals oder doch h\u00f6chstens in den sterilsten Zeiten der aristotelischen Scholastik des Mittelalters gegeben.\nJener allem philosophischen Dogmatismus gemeinsamen Behauptung gegen\u00fcber muss nun, wie ich meine, energisch betont werden, dass die Berufung auf bestimmte Thatsachen empirischer Wissenschaften oder auf die Gesetze, in denen solche Thatsachen allgemein formulirt werden, hier ebenso wenig zutreffend ist, wie die fr\u00fcher zu \u00e4hnlichen Zwecken h\u00e4ufiger angewandte Berufung auf mathematische Wahrheiten. Thatsachen, thats\u00e4chliche Beziehungen k\u00f6nnen entdeckt und, vorausgesetzt dass sie richtig beobachtet sind, nat\u00fcrlich nie wieder aufgegeben werden; obgleich auch hier nachtr\u00e4gliche Vervollst\u00e4ndigungen m\u00f6glich sind, wie wir denn z. B. heute die Keppler\u2019schen Gesetze nicht mehr als den vollkommen exacten Ausdruck der Thatsachen, sondern nur als eine abstracte Ann\u00e4herung an dieselben betrachten. Ebenso k\u00f6nnen mathematische Gesetze entdeckt werden und dann ein unverlierbarer Besitz der Wissenschaft bleiben, insofern die mathematischen Begriffe in dem einmal definirten Sinne unverr\u00fcckbar festgehalten werden. Aber philosophische \u00bbGrundanschauungen\u00ab, m\u00f6gen sie sich nun auf das Wesen der \u00fcbersinnlichen Welt oder auf das Wesen unserer bei der Erk|nntniss der sinnlichen Welt wirksamen Verstandesfunctionen beziehen, sind weder fest gegebene Thatsachen noch durch unsere eigene Definition festzustellende Begriffe, sondern sie sind eben \u00bbAnschauungen\u00ab, die, sobald man von einem andern Gesichtspunkte aus die Dinge betrachtet, m\u00f6glicher Weise anderen \u00bbAnschauungen\u00ab Platz machen. Darin gerade besteht der Dogmatismus, dass er derartige Anschauungen so behandelt, als wenn sie Thatsachen oder durch willk\u00fcrliche Definition ein f\u00fcr allemal festzustellende Begriffe w\u00e4ren. Kant hat den Ausdruck \u00bbDogmatismus\u00ab vorzugsweise auf diejenigen Verwechselungen solcher Art angewandt, die sich auf die \u00fcbersinnlichen Objecte der alten Metaphysik beziehen. Aber es ist klar, dass erkenntnisstheoretische Lehren genau ebenso den Inhalt dogmatischer Behauptungen abgeben k\u00f6nnen, ^jund nichts scheint mir gewisser, als dass Kant\u2019s Philosophie vielleicht mehr als irgend eine andere vorangegangene, ausgenommen die aristotelische, dogmatisirt worden ist.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein ?\n9\nII.\nDer Anlass zu den Betrachtungen, denen ich die obigen Bemerkungen voranstelle, ist mir durch verschiedene Beurtheilungen geworden, die mein \u00bbSystem der Philosophie\u00ab in philosophischen und andern Zeitschriften gefunden. Ich beabsichtige keineswegs, hier eine Antikritik zu schreiben. Die Besprechungen, die ich im Auge habe, geben mir dazu um so weniger Anlass, als sie zumeist wohlwollend gehalten sind, vielfach auch in einzelnen Fragen die Uebereinstimmung ihrer Verfasser mit meinen Ansichten zu erkennen geben. Aber w\u00e4hrend ich ein solches Einverst\u00e4ndniss manchmal zu meiner Freude selbst da gefunden habe, wo ich es kaum zu hoffen wagte, ist es mir um so auffallender gewesen, gerade in der Frage, in welcher mir meine Auseinandersetzungen am meisten \u00fcberzeugend erschienen, durchg\u00e4ngig theils einem entschiedenen Widerspruch theils unzweifelhaften Missverst\u00e4ndnissen begegnet zu sein. Da es sich hier um diejenige Grundfrage der Erkenntnisstheorie handelt, in deren~Beantwortung der theoretische Hauptwerth der Kant\u2019schen Vernunftkritik gesehen wird, so hat sich mir das B\u00e4thsel jenes Widerspruchs schlie\u00dflich dadurch gel\u00f6st, dass ich wahrzunehmen glaubte, in diesem Punkte sei bei uns Allen, Kantianern wie Nichtkantianern, die Kant\u2019sche Auffassung noch so fest gewurzelt, dass man sich in eine andere, welche den \"Versuch macht, das Problem unter einem neuen Gesichtspunkte anzusehen, nicht recht zu finden wusste.\nIch meine mit diesen Bemerkungen,, durchaus nicht jene Art kritischer Besprechungen, als deren Hauptrepr\u00e4sentanten ich Ed. von Hartmann betrachten m\u00f6chte. In Ed. von Hartmann\u2019s Augen gleicht die Philosophie genau einer wohlassortirten Apotheke. Da finden sich reihenweise und mit deutlich lesbaren Etiketten versehen neben einander aufgestellt in T\u00f6pfen und Schachteln der Rationalismus, Spiritualismus, Idealismus, Pluralismus, Monismus, Atomismus, der gemeine Empirismus und Rationalismus, der naiv sensualistische Realismus, der transcendentale Realismus und der transcendentale Idealismus, endlich der reine Subjectivismus, der auch, ich wei\u00df nicht ob ganz mit Recht, rationalistischer Apriorismus genannt wird; dazu noch manche andere seltener gebrauchte","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nW. Wundt.\nB\u00fcchsen, wie der Thelismus, der Hylozoismus, der Animismus und __ eine Substanz, die man nur in kleinen Dosen und sehr vorsichtig anwenden muss \u2014 der Agnosticismus. Alles was der Menschengeist an Medicamenten zur Heilung der Sucht nach dem Weltr\u00e4thsel ersinnen konnte, ist in diesen Schachteln und T\u00f6pfen bereits seit langer Zeit aufgespeichert. Ein neues Urmedicament erfinden zu wollen, w\u00e4re vergebliche M\u00fche. Der echte philosophische Apotheker sehe also zu, dass er aus dem vorhandenen Vorrath eine Mischung zu Stande bringe, die noch nicht da war. Aber er lasse es nur auch eine solche sein, deren Ingredienzien sich gut vertragen, sonst muss er sich darauf gefasst machen, dass ihn der erfahrenere Droguist als einen Quacksalber entlarvt, der in \u00bbWiderspr\u00fcchen\u00ab und \u00bbHalbheiten\u00ab stecken geblieben ist1).\nIch weiss nicht, ob Ed. von Hartmann nach diesem Recept seine eigene Philosophie zu Stande gebracht hat. Aber gewiss ist, dass er es an wendet, wo es ihm um die Beurtheilung anderer Philosophien zu thun ist. Er scheint also dieses Etikettiren, Mischen und Reagiren doch auch f\u00fcr eine philosophische Besch\u00e4ftigung zu halten. Dass dabei die gr\u00f6bsten Irrth\u00fcmer und Missverst\u00e4ndnisse mit unterlaufen, versteht sich von selbst. Was thut das? Die Dinge m\u00fcssen nun einmal in die \u00fcblichen T\u00f6pfe geworfen werden, und andere sind in der Apotheke nicht vorr\u00e4thig. Aber ich meine, dass in dem Denken und der Ausdrucksweise Ed. von Hartmann\u2019s ein Uebel, das leider unter uns verbreitet ist, vielleicht nur ein wenig mehr als sonst zum Vorschein kommt. Durch Christian Wolff, dessen oberfl\u00e4chlich schematisirendem Denken diese Art sich mit philosophischen Weltanschauungen abzufinden so recht entsprach, sind jene Kategorien zuerst festgelegt worden, und Kant hat leider mehr zu ihrer Verbreitung als zu ihrer Beseitigung beigetragen. Nun will ich nicht behaupten, dass es nicht gelegentlich einmal n\u00fctzlich sein k\u00f6nne, eine bestimmte Richtung des Denkens in einen allgemeinen Ausdruck zusammenzufassen. Aber man sollte doch nicht meinen, damit jemals mehr geben zu k\u00f6nnen, als einen ersten ungef\u00e4hren Fingerzeig f\u00fcr den, der noch nicht orientirt ist; und man sollte vor allem vermeiden,\n1) Man vergl. hierzu Ed. von Hartmann\u2019s Aufsatz in den Preu\u00df. Jahrb\u00fcchern, Bd. 66, S. 1 ff., 123 ff.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nieht sein?\n11\nsolche schablonenhafte Begriffe da anzuwenden, wo man nicht sicher ist, ob sie auch wirklich am Platze sind, etwa blo\u00df um einem Ding, das man vorl\u00e4ufig noch nicht kennt, doch wenigstens einen Namen zu gehen, wo dann nat\u00fcrlich die oberfl\u00e4chlichsten und zuf\u00e4lligsten Aehnlichkeiten zu dieser Taufe herhalten m\u00fcssen. Ich bin manchmal erstaunt, mit wie gro\u00dfer Sicherheit manche meiner verehrten philosophischen Fachgenossen mich in ihr \u00fcbliches Schema einzureihen wissen. Ich muss annehmen, dass sie meine Gesinnungen besser kennen als ich selbst. Denn wenn ich auf mein Gewissen gefragt w\u00fcrde, zu welcher jener vielen Secten ich mich bekenne, zu den Empiristen, Positivisten, Rationalisten, Idealisten u. s. w. u. s. w., ich m\u00fcsste wahrhaftig die Antwort schuldig bleiben. \u00bbSeht den Eklektiker!\u00ab h\u00f6re ich hier schadenfroh manchen in seinen Kategorien wohlgesattelten Philosophen ausrufen. Nat\u00fcrlich, wer sich zu keiner der \u00fcblichen Etiketten bekennen will, bekennt sich zu allen. Denn Schablone muss sein, und W\u00f6rter sind da, um das Denken zu erleichtern, manchmal auch um es \u00fcberfl\u00fcssig zu machen.\nAber ich habe hier, wie gesagt, solche Beispiele nicht im Auge. Ein lauter redendes Zeugniss f\u00fcr die Macht der Kant\u2019schen Traditionen erblicke ich darin, dass selbst solche, die unbefangen genug sind einzusehen, \u00bbdass man in einigen Jahrzehnten oder doch Jahrhunderten \u00fcber unsere erkenntnisstheoretischen Streitigkeiten und Er\u00f6rterungen ganz ebenso urtheilen und sie f\u00fcr ebenso unfruchtbar erkl\u00e4ren wird, wie wir heute den scholastischen Universalienstreit an'Sehen\u00ab, dennoch sich nicht entschlie\u00dfen k\u00f6nnen, gerade bei dem Erkenntnissproblem den nun einmal gel\u00e4ufig gewordenen Denkgewohnheiten auch nur so weit zu entsagen, als es erforderlich ist, um eine mit denselben nicht \u00fcbereinstimmende Ansicht unabh\u00e4ngig zu w\u00fcrdigen. Nur so kann ich es verstehen, wenn z. B. von Ziegler gesagt wird, meine Auffassung sei allenfalls m\u00f6glich gewesen \u00bbvor dem kritischen S\u00fcndenfall, d. h. vor Kant\u00ab, jetzt \u00bbnachdem einmal die idealistische Hypothese aufgestellt und doch nicht ganz grundlos aufgestellt\u00ab, sei sie nichts \u00bbals ein R\u00fcckfall in den naiven Realismus und Dogmatismus\u00ab1),\n1) Th. Ziegler, G\u00f6ttinger Gel. Anz. 1890, Nr. 11, S. 448.","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nW. Wundt.\nIch bin \u00fcber diese Bemerkung um so mehr verwundert, als ich Ziegler im Uehrigen f\u00fcr seine lichtvollen und selbst in solchen Punkten, in denen unsere Ansichten auseinandergehen, vollkommen objectiven Auseinandersetzungen aufrichtig dankbar sein kann. Ebenso wird es mir nur unter dem Gesichtspunkte einer \u2014 wenn der Ausdruck erlaubt ist \u2014 \u00bbtranscendentalen\u00ab Kritik, d. h. einer Kritik, die in den betrachteten Gegenstand festliegende subjective Kategorien hin\u00fcbertr\u00e4gt, verst\u00e4ndlich, wenn Th. D\u00f6ring meint, die \u00bbIdentit\u00e4t von Vorstellung und Object\u00ab sei mein \u00bbCentraldogma\u00ab, auf das ich mich \u00bbversteiftet haben soll, worauf ich dann \u2014 gl\u00fccklicher Weise nicht in Wirklichkeit, sondern blo\u00df in effigie, d. h. in der Vorstellung, die D\u00f6ring von mir hat, \u2014 als \u00bbdogmatischer Realist\u00ab festgenagelt werde. Da in dies leere Gef\u00e4\u00df des dogmatischen Realismus noch manche Andere geworfen werden, so darf ich mich nun freilich nicht wundern, hier mit Philosophen zusammenzutreffen, die in den wesentlichsten Punkten ungef\u00e4hr das Entgegengesetzte lehren. Wenn der Verfasser dazu bemerkt, der Satz \u00bbVorstellung und Object sind ein und dasselbe\u00ab sei zweischneidig, auch der radicalste Idealismus k\u00f6nne sich ihn aneignen, so ist das gewiss sehr richtig. Aber es w\u00e4re doch wohl noch richtiger gewesen, sich-nicht mit einem herausgegriffenen Satz zu begn\u00fcgen, der alles bedeuten kann und darum f\u00fcr sich allein genommen nichts bedeutet, sondern sich den Zusammenhang zu vergegenw\u00e4rtigen, in welchem er steht ').\nDoch vielleicht thue ich Unrecht, wenn ich den Grund solch\u2019 schiefer oder missverst\u00e4ndlicher Auffassungen in Andern und nicht in mir selbst suche. Ich habe \u00fcberall, besonders aber bei der Er\u00f6rterung des Erkenntnissproblems, geglaubt am besten zu thun, wenn ich m\u00f6glichst voraussetzungslos verfahre. Ich bin also den Fragen nachgegangen, wie sie unmittelbar zun\u00e4chst die gew\u00f6hnliche Erfahrung und dann die Behandlung der Begriffe in der Wissenschaft uns darbietet, und ich habe in der Regel erst sp\u00e4ter und gelegentlich, wo sich naheliegende Beziehungen ergaben, auf die verschiedenen philosophischen Theorien und ihr Verh\u00e4ltniss zur\n1) A. D\u00f6ring, Ueber den Begriff des naiven Realismus, Phil. Monatshefte, XXVI, S. 397.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n13\nallgemeinen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens hingewiesen. Vielleicht w\u00e4re es richtiger oder, wenn nicht richtiger, so doch f\u00fcr den n\u00e4chsten Erfolg g\u00fcnstiger gewesen, umgekehrt zu verfahren: also nicht an den Standpunkt des gew\u00f6hnlichen Bewusstseins anzukn\u00fcpfen und diesen zuerst zur wissenschaftlichen und dann von hier aus zur philosophischen Betrachtungsweise \u00fcberzuleiten, sondern von den herrschenden philosophischen Anschauungen auszugehen, zun\u00e4chst und vor allem also die Kantische Lehre zu Grunde zu legen und dann zu zeigen, in welcher Beziehung dieselbe theils der Berichtigung, theils der Fortbildung bedarf. Mindestens w\u00fcrde ich dann wohl so viel erreicht haben, dass man nicht, durch jenen \u00e4u\u00dferen Gang der Untersuchung verleitet, von naivem Realismus oder Dogmatismus geredet h\u00e4tte, wo, wie ich glaube sagen zu d\u00fcrfen, in Wahrheit die kritische Analyse der Erkenntnissfunctionen nur um einen Schritt weitergef\u00fchrt war, als Kant sie gef\u00fchrt hatte.\nNichtsdestoweniger w\u00fcrde ich mich um eines solchen vielleicht rascheren Erfolges willen nicht entschlie\u00dfen k\u00f6nnen, die gew\u00e4hlte Darstellungsweise zu \u00e4ndern, da ich sie in Wahrheit f\u00fcr diejenige\nhalte, die----wenn ich so sagen darf \u2014 f\u00fcr jedes, nicht durch\nKant sehe Kategorien verdorbene Gem\u00fcth die \u00fcberzeugendere sein muss. Auch w\u00e4re der durch eine solche Aenderung gewonnene Vorzug vielleicht nur durch einen andern Nachtheil zu erkaufen gewesen. Gl\u00fccklich dem \u00bbnaiven\u00ab oder \u00bbdogmatischen\u00ab Realismus entronnen, w\u00fcrde meine Auffassung m\u00f6glicher Weise als eine keiner weiteren Beachtung w\u00fcrdige Spielart des \u00bbtranscendentalen Idealismus\u00ab betrachtet worden sein. Sehe ich doch, dass die \u00e4u\u00dfere Anlehnung an Kant in der Unterscheidung der drei Stufen der Wahrnehmungs-, Verstandes- und Vernunfterkenntniss oder die analoge \u00e4u\u00dfere Unterscheidung der transcendenten Ideen auf die Beurtheilung des Inhaltes der betreffenden Kapitel gelegentlich her\u00fcbergewirkt und mir merkw\u00fcrdiger Weise gerade da, wo ich es am wenigsten bin, beinahe den Ruhm eines Kantianers eingetragen hat.\nDoch, nachdem ich nun einmal den Rechtstitel eines \u00bbRealisten\u00ab mit vieler M\u00fche erworben, hat es jetzt vielleicht keine Gefahr mehr, auch einen andern Weg einzuschlagen. Ich will daher","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nW. Wundt.\nim Folg\u00e9nden \u00abden Versuch machen, von Kant\u2019schen S\u00e4tzen ausgehend einige Hauptfragen der Erkenntnisstheorie zu behandeln. F\u00fcr den gegenw\u00e4rtigen Zweck wird es gen\u00fcgen, wenn ich mich auf die Lehre von den Anschauungsformen und auf einen kurzen Blick in die Kategorienlehre beschr\u00e4nke. Auch wird es der Leser wohl gerechtfertigt finden, wenn ich nur auf Hauptpunkte eingehe, hinsichtlich der Einzelheiten aber auf die ausf\u00fchrlichere Darstellung in meinem Werke verweise. Ich habe bei meinen Er\u00f6rterungen einen \u00fcberzeugten Kantianer im Auge, der aber unbefangen genug ist zuzugeben, dass die Kant\u2019sche Kritik nicht zum Dogma erstarren darf, sondern einer kritischen Weiterbildung zug\u00e4nglich ist.\nIII.\nKant hat gezeigt, dass Raum und Zeit als Anschauungsformen a priori jeder einzelnen Wahrnehmung vorausgehen, weil wir keinen Gegenstand wahrnehmen k\u00f6nnen, ohne ihn sofort r\u00e4umlich'und zeitlich zu ordnen. Wenn er demnach Raum und Zeit als \u00bbtrans-cendentale Formen\u00ab bezeichnete, so will dieser Ausdruck, wie heute wohl allgemein anerkannt ist, nicht etwa bedeuten, dass sie als leere Formen in uns liegen, bereit jeden sich ihnen von au\u00dfen darbietenden Empfindungsinhalt aufzunehmen, sondern dass sie vielmehr \u00bbFunctionen\u00ab unseres Bewusstseins sind, die immer in dem Augenblick erst in Wirksamkeit treten, wo uns Empfindungen gegeben werden. Daraus folgt von selbst, dass auch die \u00bbMaterie der Empfindungen\u00ab niemals ohne jene ordnenden Formen gegeben sein kann, dass es sich also \u00fcberall da, wo wir von einer \u00bbreinen Empfindung\u00ab, ebenso aber da, wo wir von \u00bbreiner Raum- und Zeitanschauung\u00ab reden, nur um logische Abstractionen handeln kann. Bei der reinen Empfindung abstrahiren wir ebenso von der Raum- und Zeitform, wie wir umgekehrt bei dieser von dem Empfindungsinhalte abstrahiren, ohne den uns nie der Raum und die Zeit in der Wirklichkeit gegeben sein kann.\nIst auf diese Weise jede sinnliche Wahrnehmung ein r\u00e4umlichzeitlich geordneter Complex von Empfindungen, so erhebt sich nun aber unabweislich die Frage, welches die logischen Motive sind, die uns veranlassen, beide, die Anschauungsformen und die Materie","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n15\nder Empfindungen, \u00fcberhaupt von einander zu trennen. Kant ist auf diese Frage nicht eingegangen. Er begn\u00fcgte sich mit dem ersten Schritt, welchen hier die Analyse thun musste, indem er nachwies, dass Raum und Zeit weder mit zu der Materie der Empfindung geh\u00f6ren, wie der Empiriker Locke vorausgesetzt, noch dass sie a priori in uns liegende, v\u00f6llig ohne sinnliches Substrat denkbare Begriffe sind, wie die rationalistische Philosophie in der Regel angenommen hatte. Im Gegens\u00e4tze zu beiden stellte Kant fest, dass Raum und Zeit durchaus anschaulich sind, da sie unmittelbar in jede sinnliche Wahrnehmung eingehen und ohne eine solche gar nicht von uns vorgestellt werden k\u00f6nnen, dass sie aber zugleich eine von der Empfindung wesentlich verschiedene Bedeutung besitzen m\u00fcssen, da sie eben ordnende Formen der Empfindung, d. h. nicht selbst Empfindungen sind. Insofern diese Formen zu jeder Wahrnehmung erforderlich sind, nannte Kant sie a priori. Freilich aber hatte dieses a priori bei ihm eine ganz andere Bedeutung als in dem \u00e4lteren Apriorismus. Es konnte, da ja die Anschauungsformen immer nur in der einzelnen sinnlichen Wahrnehmung wirksam werden, nur bedeuten: das allen einzelnen Wahrnehmungen Gemeinsame, f\u00fcr sie Allgemeing\u00fcltige.\nMan kann das gro\u00dfe Verdienst, das sich Kant durch diese Feststellungen erworben, r\u00fcckhaltlos anerkennen, und man wird doch sagen m\u00fcssen: er hat diese Zerlegung des Wahrnehmungsinhaltes in eine a priori g\u00fcltige Form und in einen in jedem einzelnen Falle empirisch gegebenen Stoff nicht v\u00f6llig zu Ende gef\u00fchrt. W\u00e4re das a priori der Anschauungsformen so zu verstehen, dass diese uns als leere Formen gegeben w\u00fcrden, die wir auch als reine Formen vorstellen k\u00f6nnten, so w\u00fcrde es freilich keiner weiteren Erkl\u00e4rung bed\u00fcrfen. Da das aber nicht der Fall, da vielmehr die Anschauungsform immer nur mit dem Stoff zugleich gegeben ist, so hat die Analyse unseres Erkennens die weitere Aufgabe, nachzuweisen, welches die logischen Motive sind, die zu einer Trennung der Anschauungsformen von dem Stoff der Empfindungen f\u00fchren m\u00fcssen. Und noch mehr. Da unsere Wahrnehmungen immer r\u00e4umlich und zeitlich zugleich sind, so ist au\u00dferdem nachzuweisen, welches die logischen Gr\u00fcnde sind, die uns veranlassen, die Zeit als eine besondere Anschauungsform dem Raume","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nW. Wundt.\ngegen\u00fcberzustellen, nicht etwa beide als untrennbar zusammengeh\u00f6rige Bestandteile einer Anschauungsform anzusehen. Da wie gesagt alle Erfahrung r\u00e4umlich und zeitlich zugleich ist, so kann wiederum diese Trennung nicht als von selbst gegeben betrachtet werden. Kant scheint das freilich so angesehen zu haben, da er die Zeit als die Anschauungsform des \u00bbinneren Sinnes\u00ab, den Raum als die des \u00bb\u00e4u\u00dferen Sinnes\u00ab bezeichnet. Aber wenn irgendwo, so werden wir da, wo psychologische Auffassungen mit in Frage kommen, Kant\u2019s Ansichten nicht f\u00fcr unab\u00e4nderlich feststehend halten d\u00fcrfen. Jene Unterscheidung fu\u00dft sichtlich auf der Meinung, dass innere und \u00e4u\u00dfere Wahrnehmung zwei v\u00f6llig von einander verschiedene Wahrnehmungsgebiete w\u00e4ren. Dem ist aber nicht so. Unsere Vorstellungen sind r\u00e4umlich, ob wir sie nun auf Au\u00dfendinge beziehen oder f\u00fcr rein innere Zust\u00e4nde unseres \u00bbGem\u00fcths\u00ab halten m\u00f6gen. Gef\u00fchle, Affecte, Willensregungen h\u00e4lt aber heute kein einsichtiger Psychologe mehr f\u00fcr Vorg\u00e4nge, die v\u00f6llig isolirt, ohne die innigste Verbindung mit r\u00e4umlichen Vorstellungen Vorkommen k\u00f6nnten. Wenn man unter den Vorstellungen selbst gewisse, wie die Geh\u00f6rsvorstellungen, \u00bbunr\u00e4umliche\u00ab nennt, so ist bekanntlich diese Ausdrucksweise nicht strenge zu nehmen. Ohne irgend eine Localisation k\u00f6nnen wir auch T\u00f6ne nicht h\u00f6ren. Gerade so wie die innere Wahrnehmung r\u00e4umlich, so ist aher hinwiederum die \u00e4u\u00dfere zeitlich. Der einzelne Wahrnehmungsact selbst wird als ein zeitliches Geschehen aufgefasst, und die Objecte, die wir wahmehmen, erscheinen uns entweder als dauernd oder als ver\u00e4nderlich in der Zeit.\nDemgem\u00e4\u00df habe ich bei diesem Punkte Kant\u2019s Zerlegung des Wahrnehmungsinhaltes in eine allgemeing\u00fcltige Form und in einen zuf\u00e4llig wechselnden Inhalt weiterzuf\u00fchren gesucht, indem ich die logischen Gr\u00fcnde der Zerlegung erstens der ganzen Wahrnehmung in die Anschauungsform und die Materie der Empfindung, und zweitens der Anschauungsform in die beiden Formen des Raumes und der Zeit aufzufinden bem\u00fcht war. Das Hauptresultat dieser Untersuchung l\u00e4sst sich kurz dahin zusammenfassen, dass die formalen Bestandteile der Wahrnehmung, Raum und Zeit, nicht ge\u00e4ndert gedacht werden k\u00f6nnen, ohne dass zugleich eine Aenderung in dem Stoff der Empfindungen eintritt, w\u00e4hrend der letztere sich","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n17\nv\u00f6llig ver\u00e4ndern kann bei constant bleibender Raum- und Zeitform. Als das entscheidende Motiv f\u00fcr die logische Trennung der beiden letzteren ergab sich sodann die Thatsache, dass beide wieder unabh\u00e4ngig von einander ver\u00e4nderlich, dass aber beider Ver\u00e4nderungen ab ei mais nicht gleichwerthig sind, indem zeitliche Aende-rungen (am Empfindungsinhalt) ohne begleitende r\u00e4umliche, nicht aber umgekehrt r\u00e4umliche ohne zeitliche denkbar sind, dass dagegen der Raum in seinen blo\u00df formalen Eigenschaften ohne R\u00fccksicht auf die Zeit, nicht aber umgekehrt die Zeit als ein blo\u00df formaler Vorgang ohne Herbeiziehung des Raumes betrachtet werden kann. Hem letzteren Umstande entspricht es, dass es zwar eine reine Raumlehre, die Geometrie, aber keine reine Zeitlehre gibt, sondern dass die abstracte Behandlung des Zeitbegriffs allein in der Bewegungslehre, also in zeitlich - r\u00e4umlicher Form m\u00f6glich ist t).\nMan wird vielleicht sagen, diese Unterschiede seien selbstverst\u00e4ndliche Eigenschaften von Raum und Zeit. Gewiss sind sie das, und wenn sie es nicht w\u00e4ren, so w\u00fcrden sie nicht logische Unterschiedsmerkmale derselben einerseits von der Materie der Empfindungen, andererseits von einander abgeben k\u00f6nnen. Aber dass Raum und Zeit Formen der Ordnung unserer Empfindungen sind, ist nicht minder selbstverst\u00e4ndlich. Das ist nun einmal gro\u00dfen-theils die Aufgabe der Erkenntnisstheorie, dass sie uns das Selbstverst\u00e4ndliche - zu klarem Bewusstsein bringen soll. Wenn sie, statt dies zu thun, \u00fcber die urspr\u00fcnglichsten Bedingungen unseres Er-kennens sehr fern liegende und dunkle Voraussetzungen entwickelt, so kann man das, wie ich glaube, regelm\u00e4\u00dfig als ein Zeugniss daf\u00fcr ansehen, dass sie sich auf einem Irrweg befindet.\nNeben der Thatsache, dass wir in der Anschauung dem Stoff die Form gegen\u00fcberstellen und innerhalb dieser wieder den Raum und die Zeit unterscheiden, bedarf nun aber noch eine weitere Thatsache, die von Kant lediglich als solche hingestellt worden ist, ohne \u00fcber ihre Gr\u00fcnde Rechenschaft zu geben, der Erkl\u00e4rung. Es ist das die von Kant stark betonte Nothwendigkeit die wir dem Raum und der Zeit/ und die wir dann ebenso allen mit\n1) Vergl. System der Philosophie, S. 109\u2014130. Wundt, Philos. Studien. VII.\n2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nW. Wundt.\nden Fundamentaleigenschaften von Eaum und Zeit unmittelbar zusammenh\u00e4ngenden S\u00e4tzen der Geometrie und reinen Phoronomie beilegen. Woher stammt diese Nothwendigkeit? Sie h\u00e4ngt, wie Kant hervor hebt, mit der Apriorit\u00e4t der reinen Raum- und Zeitanschauung zusammen, da der empirische Empfindungsinhalt immer als zuf\u00e4llig, das Apriorische aber, das als formale Bedingung in jede Erfahrung eingeht, als nothwendig uns gegeben ist. Nun k\u00f6nnen, wie wir soeben sahen, auch in Kant\u2019s Sinne diese formalen Bedingungen nur vermittelst bestimmter Merkmale, durch die sie aus dem gesammten aus Stoff und Form zusammengesetzten Wahmehmungsinhalte sich aussondern lassen, als reine Formen erkannt werden. Sie bilden, w\u00e4hrend der Stoff der Empfindungen fortw\u00e4hrend wechseln kann, die in ihren allgemeinen Eigenschaften constant bleibenden Bestandtheile der Wahrnehmung. Aus dieser Constanz folgt von selbst, dass sich keine Vorstellung ohne sie denken l\u00e4sst. Denn wir k\u00f6nnen selbstverst\u00e4ndlich in unseren Vorstellungen immer nur von denjenigen Bestandtheilen abstrahiren, welche m\u00f6glicher Weise auch in der wirklichen Erfahrung durch andere ersetzt werden k\u00f6nnen. Nie aber k\u00f6nnen wir uns Bestandtheile hinwegdenken, die thats\u00e4chlich niemals fehlen. Diese m\u00fcssen wir daher nunmehr als solche auffassen, die, wie Kant sich ausdr\u00fcckt, \u00bbErfahrung allererst m\u00f6glich machen\u00ab. Wollte man annehmen, die Nothwendigkeit der Anschauungsformen sei in Kant\u2019s Sinne anders denn als eine thats\u00e4chliche und unaufhebbare Constanz in der Anschauung zu denken, so m\u00fcsste man nachweisen, dass die Anschauungsformen aus irgend welchen der Anschauung selbst vorausgehenden Bedingungen deducirt werden k\u00f6nnten. Aber eine solche Deduction hat Kant nicht versucht, ja er hat sie ausdr\u00fccklich abgelehnt. Denn er sagt: \u00bbRaum und Zeit werden uns als Formen a priori gegeben\u00ab. Da sie uns nun niemals als leere, ohne jeden Empfindungsinhalt vorstellbare Formen gegeben werden, so k\u00f6nnen sie eben nur in der aus Empfindung und r\u00e4umlich-zeitlicher Form zusammengesetzten Anschauung gegeben sein. Daraus folgt unweigerlich, dass die Nothwendigkeit dieser Anschauungsformen aus ihrer Constanz, nicht aber etwa umgekehrt die Constanz aus ihrer Nothwendigkeit abgeleitet werden kann.\nHiermit sind wir dazu gelangt, uns schlie\u00dflich auch \u00fcber","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein ?\n19\ndie wichtigste Frage der transcendentalen Aesthetik, \u00fcber die wahre Bedeutung der Apriorit\u00e4t der Anschauungsformen Rechenschaft zu geben. Auf zwei Bedingungen kann, wie sich aus den obigen Er\u00f6rterungen ergibt, dieselbe zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, erstens auf ihre Constanz beim Wechsel der sonstigen Bestandtheile des Wahrnehmungsinhaltes, und zweitens auf die logischen Motive, welche uns veranlassen, ihnen die Bedeutung von Anschauungsformen mit constanten Eigenschaften beizulegen. Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass Kant die erste dieser Bedingungen allein ber\u00fccksichtigt hat. Darum erscheint hei ihm diese Apriorit\u00e4t einigerma\u00dfen, wenn ich mir diesen Ausdruck gestatten darf, \u00bbwie aus der Pistole geschossen\u00ab. Namentlich die thats\u00e4chlich vorhandene apodiktische Beschatfenheit der S\u00e4tze der reinen Mathematik ist ihm eine zureichende B\u00fcrgschaft der Apriorit\u00e4t der den mathematischen S\u00e4tzen zu Grunde liegenden reinen Raum- und Zeitform. Da nun aber, wie vorhin bemerkt, die Nothwendigkeit von Raum und Zeit aus ihrer thats\u00e4chlichen Constanz, nicht umgekehrt diese aus jener abgeleitet werden kann, so erscheint hierbei jene Apriorit\u00e4t als eine solche \u00bbex eventu\u00ab. Wir m\u00f6gen ihr immerhin die Bedeutung beilegen, dass, noch bevor wir eine einzelne neue Erfahrung machen, wir von vornherein berechtigt sind mit voller Gewissheit anzunehmen, dass sie den allgemeinen Eigenschaften von Raum und Zeit unterworfen sei. Aber diese a priori m\u00f6gliche Voraussage gr\u00fcndet sich hier doch nur auf die durch die Constanz der formalen Eigenschaften unserer empirischen Vorstellungen herbeigef\u00fchrte Unm\u00f6glichkeit, uns einen andern Wahrnehmungsinhalt vorzustellen als eben einen r\u00e4umlich und zeitlich geordneten. Eine derartige Apriorit\u00e4t wird man aber schlie\u00dflich doch, sofern man, wie es von Kant geschieht, auf eine Begr\u00fcndung \u00fcberhaupt nicht reflectirt, nur eine thats\u00e4chlich gegebene nennen k\u00f6nnen. So gewiss es also ist, dass Kant hier \u00fcber eine als thats\u00e4chlich gegeben vorausgesetzte Apriorit\u00e4t nicht hinausgekommen ist, so w\u00fcnschens-werth scheint es mir eben darum, in diesem Punkte die Kant-schen Aufstellungen zu erg\u00e4nzen. Es ist zwar richtig, dass der \u00e4ltere Apriorismus sich mit jenem thats\u00e4chlichen Apriori begn\u00fcgte. Aber dies war ihm auch eher m\u00f6glich, weil er \u00fcberhaupt fertig gegebene Ideen als m\u00f6glich annahm. Gerade dies haben wir nun\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nW. Wandt.\nvon Kant gelernt, dass solche Ideen nicht m\u00f6glich sind, sondern dass das Apriori, wenn es \u00fcberhaupt zul\u00e4ssig sein soll, nur in den die Erfahrung ordnenden Begriffen und Anschauungsformen und daher niemals isolirt von dem Wahrnehmungsinhalte gegeben sein kann. Wenn aber dies der Fall ist, dann k\u00f6nnen es nur logische Gr\u00fcnde sein, die uns veranlassen, gewisse Bestandtheile der Anschauung als a priori noth wendig, andere als blo\u00df empirisch gegeben anzusehen. Darum hat Kant seihst nach einer Deduction der Kategorien gesucht. Bei den Anschauungsformen hat er eine solche Deduction unterlassen. Hier ist er also offenbar in dieser Beziehung auf dem Standpunkt des alten naiven Apriorismus stehen gebliehen, den er doch im Princip \u00fcberwunden hatte. Die noth-wendige Folge davon ist, dass die Apriorit\u00e4t der Anschauungsformen lediglich eine thats\u00e4chliche, auf der empirischen Constanz der formalen Eigenschaften beruhende bleibt.\nIst nun aber darum etwa die wahre Apriorit\u00e4t, welche, wie gesagt, nach unserer heutigen Auffassung nur eine logische sein kann, den Anschauungsformen abzusprechen? Behalten die Empiristen Hecht, die da behaupten, Raum und Zeit geh\u00f6rten mit zum Empfindungsinhalt, von anderen Empfindungen nur unterschieden durch ihre gr\u00f6\u00dfere Wichtigkeit f\u00fcr unsere Interpretation der wirklichen Welt? Ich beantworte diese Frage mit nein, und ich glaube, indem ich das thue, auch hier nur die transcendentale Aesthetik Kant\u2019s folgerichtig zu erg\u00e4nzen. In Wahrheit sind es ja, wie wir oben gesehen, logische Motive, aus denen wir die r\u00e4umlich - zeitliche Form von dem Empfindungsinhalt und dann innerhalb jener Form den Raum wieder von der Zeit trennen. Diese Unterscheidungen geschehen nach den allgemeinen Gesetzen des logischen Denkens, indem wir bei Ver\u00e4nderungen der Wahrnehmung das \u00fcbereinstimmend bleibende als \u00fcbereinstimmend, das sich ver\u00e4ndernde als verschieden auffassen nach Ma\u00dfgabe des Satzes der Identit\u00e4t und des Satzes vom Widerspruch, und indem wir an jede formale Aenderung eine Aenderung in der Materie der Empfindung als Folge gebunden erkennen nach dem Satz des Grundes. So sind bei der Erkennung jener Eigenschaften von Raum und Zeit, denen diese ihre Werthunterscheidung von dem Empfindungsinhalte verdanken, und auf denen zugleich die","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kaut nicht sein ?\n21\nFeststellung ihrer Constanz beruht, \u00fcberall die allgemeinen Denkgesetze wirksam. Die Anwendung dieser letzteren wird nat\u00fcrlich angeregt durch das in der Erfahrung gegebene. Aber sie selbst sind doch in uns liegende Functionen, ohne welche die Trennung in Anschauungsformen und Materie der Empfindung sich niemals vollziehen k\u00f6nnte.\nMan wird sagen, bei dieser Ableitung seien nicht Raum und Zeit selbst, sondern eben nur die Denkfunctionen, die zu ihrer Sonderung vom \u00fcbrigen Wahrnehmungsinhalt und darum zu den Gegriffen des reinen Raumes und der reinen Zeit gef\u00fchrt haben, als das eigentliche Apriori anerkannt. Gewiss ist das so. Aber unsere Aufgabe war es auch nicht, die Apriorit\u00e4t von Raum und Zeit als ein Dogma zu betrachten, f\u00fcr das ein Beweis zu finden sei, sondern diese Apriorit\u00e4t zu pr\u00fcfen und auf ihre wahren Quellen zur\u00fcckzuf\u00fchren. Nun hat man seit langer Zeit ein vollg\u00fcltiges Zeugniss f\u00fcr die Apriorit\u00e4t der Anschauungsformen darin gesehen, dass der reine Raum- und Zeitbegriff uns nirgends in der Erfahrung gegeben ist, und dass uns auch, wie Kant mit Recht hervorhebt, nicht einzelne Objecte gegeben sind, zu denen er sich etwa wie ein allgemeiner Gattungsbegriff verhielte. Das Problem dieser Apriorit\u00e4t bestand also darin, zu untersuchen, auf welchen logischen Gr\u00fcnden die Entstehung des reinen Raum- und Zeitbegriffes beruhe. Diese Untersuchung haben wir gef\u00fchrt, und sie hat gezeigt, dass jene Begriffe zwar den Erfahrungsinhalt voraussetzen, dass sie selbst aber auf rein logischen Motiven beruhen, und zwar auf Motiven, die von den bei der Bildung der Gattungsbegriffe wirksamen wesentlich abweichen. Damit ist nun freilich das Apriori an eine andere Stelle verlegt, als wo man es gesucht hatte. Nicht in der fertigen Raum- und Zeitform ist es enthalten, wie verm\u00f6ge eines halben R\u00fcckfalls in den naiven Apriorismus Kant angenommen, sondern in den logischen Functionen, die zur Abstraction der reinen Raum- und Zeitanschauung gef\u00fchrt haben. Hiermit ist zugleich das Apriori dahin verlegt, wo es immer bestehen bleiben wird, und wo es seine allein rechtm\u00e4\u00dfige Stelle hat.\ne bstverstandlich ist aber mit dieser Zuriickverlegiuig auch das an ere verbunden, dass die logisch abgeleiteten Anschauungs-ormen selbst nicht als reine Sch\u00f6pfungen des Denkens oder der","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nW. Wundt.\nEinbildungskraft anzusehen sind \u2014 solche gibt es \u00fcberhaupt nicht, wie wiederum Kant bereits deutlich einsah \u2014 sondern als Erzeugnisse, die durch die Bearbeitung der dem Denken gegebenen Objecte entstanden sind.\nIV.\nObgleich einer der wichtigsten Abschnitte der Kritik der reinen Vernunft \u00bbvon der Deduction der reinen Verstandeshegriffe\u00ab handelt, so hat doch Kant gerade in diesem Abschnitt eine Deduction der einzelnen Kategorien nicht gegeben. Er hat gezeigt, dass es Kategorien \u00fcberhaupt gehen m\u00fcsse, d. h. dass alle Ordnung des Mannigfaltigen der Erfahrung durch allgemeine Begriffe zu Stande komme, die in dem denkenden Subject, in der \u00bbSynthesis der reinen Apperception\u00ab ihre Quelle haben, und dass, um eine \u2018solche Synthesis m\u00f6glich zu machen, schon die formalen Bedingungen der sinnlichen Anschauung die erforderlichen Eigenschaften besitzen m\u00fcssen. Dabei wird gelegentlich auf einzelne der Kategorien, wie auf die der Causalit\u00e4t, exemplificirt-; aber von einem strengen Nachweis, dass die bekannten zw\u00f6lf Kategorien die einzig m\u00f6glichen seien, ist in dem ganzen Hauptst\u00fcck nicht die Rede. Entweder muss man daher annehmen, diese Einzeldeduction sei in der vorausgegangenen Ableitung der Kategorien aus den Urtheilsformen schon erbracht, oder aber sie werde in der an die \u00bbDeduction\u00ab sich anschlie\u00dfenden Lehre von dem \u00bbSchematismus der reinen Verstandesbegriffe\u00ab nachgeholt. Die erste Annahme w\u00fcrde offenbar nicht gerechtfertigt sein. Kant selbst erblickt in der Tafel der Urtheilsformen nur einen \u00bbLeitfaden zur Entdeckung der Kategorien\u00ab. Die formale Logik hat durch ihre Unterscheidung und Classification der Urtheilsformen der neu zu l\u00f6senden Aufgabe der \u00bbtranscendentalen Logik\u00ab vorgearbeitet. An und f\u00fcr sich k\u00f6nnte man aber ebenso gut die Urtheilsformen aus den Kategorien wie diese aus jenen ableiten; denn beide, Begriff und Urtheil, setzen sich wechselseitig voraus. Aber auch die Lehre vom \u00bbSchematismus der reinen Verstandesbegriffe\u00ab enth\u00e4lt keine wirkliche Deduction der einzelnen Verstandesbegriffe. Vielmehr wird hier nur nachgewiesen, dass jeder Kategorie eine bestimmte Zeitform entspricht, wodurch die Kategorie in der Sinnlichkeit immer erst","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n23\n\u00bbrealisirt\u00ab, gleichzeitig aber \u00bbrestringirt\u00ab, d. h. eben durch die Bedingung der Anwendung auf sinnliche Erscheinungen sinnlich beschr\u00e4nkt werde. Die Kategorien selbst werden aber bei allen diesen Nachweisungen als gegeben vorausgesetzt. Man k\u00f6nnte nun freilich sagen, alle in der \u00bbreinen Einbildungskraft\u00ab vorstellbaren Zeitschemata seien durch die zu den zw\u00f6lf Kategorien passenden ersch\u00f6pft. Aber auch dann w\u00fcrden die Kategorien doch immer nur in diesen Zeitformen in \u00e4hnlicher Weise anschaulich aufgezeigt sein, wie sie vermittelst der Aufz\u00e4hlung der Urtheilsformen begrifflich als existirend nachgewiesen sind. Auch ist es klar, dass die zw\u00f6lf Schemata zum Theil als verschiedene nur betrachtet werden k\u00f6nnen, wenn man zu einer an und f\u00fcr sich \u00fcbereinstimmenden Zeitform jedesmal verschiedene Begriffe hinzudenkt. Wie sollte denn z. B.: das Schema der Nothwendigkeit, das \u00bbDasein eines Gegenstandes zu aller Zeit\u00ab, von dem Schema der Substanz, der \u00bbBeharrlichkeit des Realen in der Zeit\u00ab, anders unterschieden werden, als eben dadurch, dass man das eine Mal zu dem beharrenden Gegenstand die Nothwendigkeit, das andere Mal die Substanz begrifflich hinzudenkt? Es scheint mir hiernach keinem Zweifel unterworfen zu sein, dass bei Kant schlie\u00dflich das Verh\u00e4ltniss der Kategorien zu unserem Verst\u00e4nde doch kein anderes ist als das der Anschauungsformen zur Sinnlichkeit: jene wie diese sind gegeben, sie k\u00f6nnen aufgesucht, aber nicht im eigentlichen Sinne deducirt werden. Was Kant die \u00bbDeduction der reinen Verstandesbegriffe\u00ab nennt, ist daher keine eigentliche Deduction, sondern lediglich der allgemeine Nachweis, dass die Begriffe, nach denen wir das Mannigfaltige der Erscheinungen einheitlich ordnen, uns nicht von au\u00dfen gegeben sind, sondern von unserem Verst\u00e4nde erzeugt werden, und dass jene Ordnung nicht m\u00f6glich w\u00e4re ohne die \u00bbtrans-cendentale Einheit der Apperception\u00ab, d. h. ohne jene Einheit des Bewusstseins, welche eine Synthesis der Erscheinungen \u00fcberhaupt erst m\u00f6glich macht. Es ist aber klar, dass mit dieser Zur\u00fcckf\u00fchrung der ordnenden Verstandesbegriflfe auf das denkende Subject die Aufgabe, die logischen Motive im einzelnen nachzuweisen, welche zur Bildung der Kategorien gef\u00fchrt haben, weder-gel\u00f6st noch auch \u00fcberfl\u00fcssig geworden ist. Nun zweifle ich nicht, dass m den Au?en Vieler das k\u00fcnstliche Ger\u00fcste der Architektonik der","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nVV. Wundt.\nUrtheilsformen und Kategorien das t\u00e4uschende Bild einer solchen Ableitung hervorgerufen hat. Eine symmetrische Classification ist jedoch keine wirkliche Ableitung, und wenn zwei Eintheilungcn sich wechselseitig st\u00fctzen, so ist damit nicht gesagt, dass sie beide keiner weiteren St\u00fctze bed\u00fcrfen. Im vorliegenden Falle wird man aber um so mehr nach einer solchen suchen m\u00fcssen, als die Kant-sche Classification der Urtheilsformen, wie schon Fichte richtig gesehen hat, ein Zur\u00fcckgehen auf die Fundamentalgesetze des Denkens vermissen l\u00e4sst. Hier ist also ein erster Punkt gegeben, wo eine Fortbildung der Kant\u2019schen Lehre einzusetzen hat.\nAber dieser Punkt ist nicht der einzige. Wie es eine der wichtigsten Erkenntnisse der transcendentalen Aesthetik war, dass Raum und Zeit nicht als leere Formen, sondern immer nur gebunden an die Materie der Empfindungen gegeben sein k\u00f6nnen, so bezeichnet der Satz : \u00bbBegriffe ohne Anschauungen sind blind, Anschauungen ohne Begriffe sind leer\u00ab einen der wichtigsten, vielleicht den wichtigsten Fortschritt der Kant\u2019schen Lehre von der Ver-standeserkenntniss. Zusammen mit jenem ersten Grundsatz bedeutet er offenbar, dass alle Erfahrung begrifflich und anschaulich geformt und an die Materie der Empfindungen gebunden ist, und dass keiner dieser Bestandtheile in Wirklichkeit jemals ohne den andern Vorkommen kann. Damit ist aber auch die unerl\u00e4ssliche Aufgabe gestellt, hier in \u00e4hnlicher Weise, wie wir es bei der Unterscheidung der Anschauungsformen von der Materie der Empfindungen versuchten, die logischen Motive nachzuweisen, welche zur Scheidung der begrifflichen Formen der Erkenntniss von der realiter urspr\u00fcnglich ungetheilten Erfahrung gef\u00fchrt haben. Ueber-fl\u00fcssig w\u00fcrde ja ein solcher Nachweis nur dann sein, wenn man annehmen wollte, dass die Begriffsformen getrennt von dem Stoff der Erfahrung Vorkommen und demgem\u00e4\u00df getrennt von uns aufgefasst werden k\u00f6nnten. Aber hier gerade hat Kant selbst diese Begriffe nachdr\u00fccklich als \u00bbFunctionen\u00ab bezeichnet, die immer erst innerhalb der wirklichen Erfahrung wirksam werden. Demnach ist es ganz klar, dass jene Trennung, die unser Denken thats\u00e4ch\u00fcch vollzieht, indem es sie als ein von dem sonstigen empirischen Inhalt isolirbares auffasst, auf irgend welchen Bedingungen beruhen muss, welche eine solche logische Scheidung m\u00f6glich machen.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n25\nNun wird man Kant zugeben, dass von vornherein eine n\u00e4here Beziehung der allgemeinen Begriffsformen zu den Anschauungsformen als zu dem Stoff der Empfindung vorauszusetzen ist. Denn\nnur die Anschauungsformen besitzen ja die Allgemeing\u00fcltigkeit, die\nwir auch f\u00fcr die allgemeinen Verstandesbegriffe fordern. Hier hat aber offenbar jene einseitige Auffassung, welche Kant veranlasste, die Zeit als die Form des \u00bbinneren\u00ab, den Raum als die des \u00bb\u00e4u\u00dferen\u00ab Sinnes zu bezeichnen, ihm den Einblick in die wirkliche Entstehung der Verstandesbegriffe getr\u00fcbt und die Lehre vom Schematismus des reinen Verstandes in Wahrheit zu einem k\u00fcnstlichen Schematismus gemacht, bei dem die Forderung, auf welche diese ganze Lehre gegr\u00fcndet ist, dass alle Erkenntniss anschaulich und begrifflich zugleich sei, gar nicht erf\u00fcllt wird. Denn eine blo\u00df zeitliche Erfahrung gibt es nirgends. Wenn daher Kant den Abschnitt \u00bbvon der Synthesis der Apprehension in der Anschauung\u00ab mit dem Satze er\u00f6ffnet : \u00bbUnsere Vorstellungen m\u00f6gen entspringen woher sie wollen, .... so geh\u00f6ren sie doch als Modificationen des Gem\u00fcths zum inneren Sinn, und als solche sind alle unsere Erkenntnisse zuletzt der formalen Bedingung des inneren Sinnes, n\u00e4mlich der Zeit unterworfen\u00ab, so ist es thats\u00e4chlich nicht richtig, dass es Vorstellungen von blo\u00df zeitlicher Beschaffenheit gibt, sondern alle Vorstellungen, wie sie auch entstanden sein m\u00f6gen, haben eine r\u00e4umlich-zeitliche Form. Als Kant jenen Satz schrieb, stand er unter dem Bann der psychologischen Begriffsschemata semer Zeit, durch den wir uns doch heute wahrlich nicht mehr sollten beengen lassen. Sind alle Vorstellungen r\u00e4umlich und zeitlich zugleich, so kann aber auch offenbar das sinnliche Schema der Kategorien nur dadurch gewonnen werden, dass man nachweist, welchen zeitlichen und r\u00e4umlichen Bedingungen die Anwendung eines jeden Begriffs auf die Anschauung unterworfen ist.\nAber nicht blo\u00df zu vervollst\u00e4ndigen wird durch die Ber\u00fccksichtigung der gesammten formalen Bedingungen der Anschauung die Kant\u2019sche Auffassung sein, auch der Weg, den Kant bei der Aufsuchung der Schemata einschlug, wird nicht beibehalten werden k\u00f6nnen, sofern man nur im Sinne der eigenen urspr\u00fcnglichen Voraussetzungen Kant\u2019s folgerichtig verfahren will. Kant setzt n\u00e4mlich die Kategorien als gegeben voraus und untersucht","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nW. Wundt.\ndann, welches Zeitschema einer jeden entsprechen m\u00f6ge. Da uns jedoch niemals reine Begriffe getrennt von einem Anschauungsinhalte gegeben sind, so werden wir vielmehr umgekehrt zu fragen haben, durch welche logischen Motive der Vorstellungsinhalt die Bildung bestimmter Begriffe herausfordert. Nichts k\u00f6nnte irrth\u00fcm-licher sein als zu glauben, dies sei eine psychologische, keine logische Aufgabe. Psychologisch ist uns die Vorstellung mit allen ihren Bestimmungen, sinnlichen und begrifflichen, zumal gegeben. Wohl aber hat die Erkenntnisstheorie die Aufgabe, den empirischen Gegenstand in seine verschiedenen Denkbestimmungen zu zerlegen und zu zeigen, welches die logischen Gr\u00fcnde sind, die uns veranlassen, diese Zerlegung vorzunehmen. Nur dann k\u00f6nnte man sich dieses Gesch\u00e4ft ersparen, wenn alle jene Denkbestimmungen irgendwie isolirt von einander vork\u00e4men. Gerade Kant hat aber gezeigt, dass dies nicht so ist, dass Begriffe immer nur in sinnlichen Anschauungen, und diese wieder begrifflich geordnet uns gegeben sind. Damit war der Erkenntnisstheorie unzweifelhaft die oben angedeutete analytische Aufgabe gestellt. Wenn Kant selbst in diesem Punkte noch bei dem synthetischen Verfahren stehen blieb, so w\u00fcrde es verfehlt sein, hierin seinem Beispiele zu folgen. Ist doch dieses synthetische Verfahren bei ihm sichtlich nur ein Ueberrest des alten Apriorismus, der nat\u00fcrlich in dieser Weise verfahren musste, da er die Begriffe nicht nur f\u00fcr in uns gelegte \u00bbFunctionen\u00ab, sondern f\u00fcr fertige und isolirt denkbare Gebilde hielt. Das Wesen einer Function kann immer nur erkannt werden aus der Wirkung, die sie aus\u00fcbt; ja nur aus dieser Wirkung kann man \u00fcberhaupt auf die Existenz der Function zur\u00fcckschlie\u00dfen. Ebenso wird es allein durch eine solche Analyse der Beth\u00e4tigungen der Function m\u00f6glich, zu entscheiden, ob es sich in einem gegebenen Fall um eine Grundfunction oder um eine abgeleitete handelt, die auf andere, einfachere Grundfunctionen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden kann.\nNun behauptet man freilich \u2014 und Kant selbst hat, wie ich zugeben muss, Aeu\u00dferungen gethan, die sich so deuten lassen \u2014 die Kategorien seien Begriffe, die bei jeder Erfahrung in Wirksamkeit treten, man k\u00f6nne \u00fcberhaupt keinen Gegenstand wahrnehmen, ohne damit sofort die Begriffe Einheit, Realit\u00e4t, Dasein, Substanz zu verbinden, keine Aufeinanderfolge von Ereignissen,","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n27\nohne sie auf Causalit\u00e4t zu beziehen u. s. w. Aber diese Behauptung steht doch in einem so offenkundigen Widerspruch mit den That-sachen unserer Wahrnehmung, dass, wie ich glaube, selbst der strengste Kantianer bei n\u00e4herer Ueberlegung sie auf das Zuge-st\u00e4ndniss einschr\u00e4nken wird, dass die Erfahrung uns die Gelegenheit bieten kann, diese Begriffe anzuwenden, dass wir sie aber keineswegs sofort jeder Erfahrung gegen\u00fcber anwenden m\u00fcssen. Gesetzt z. B., wir nehmen einen Gegenstand wahr, und zugegeben, dass wir auf ihn die Kategorie der Einheit anwenden, was geschieht, wenn wir in Folge genauerer Betrachtung oder selbst\u00e4ndiger Bewegungen eines Theils des Gegenstandes auch diesen Theil als ein Einzelnes, also als eine Einheit auffassen? Wir haben offenbar in Folge hinzutretender Anschauungsbedingungen die Kategorie der Einheit jetzt auf ein Object angewandt, auf das wir sie zuvor nicht anwandten. Gerade so m\u00fcssen aber von Anfang an bestimmte Merkmale uns bewegen, \u00fcberhaupt den Gegenstand als einen einzelnen aufzufassen. Oder es sei uns ein K\u00f6rper gegeben. Warum wenden wir auf ihn den Begriff der Substanz an? Gewiss nicht, weil uns der K\u00f6rper a priori als K\u00f6rper gegeben ist, denn das ist er \u00fcberhaupt nicht, sondern weil er sich durch gewisse Merkmale als relativ beharrend unterscheidet von andern Vorstellungen. Nicht minder bedarf es bestimmter Kriterien, um zwei auf einander folgende Ereignisse in das Verh\u00e4ltniss der Causalit\u00e4t zu bringen. Kurz, in allen F\u00e4llen sehen wir, dass die Anwendung der Kategorien bestimmte Eigenschaften der Gegenst\u00e4nde voraussetzt, welche \u00fcberall erst die logischen Kriterien f\u00fcr jene Anwendung abgeben. Gibt man dies zu, so wird es aber auch eine unerl\u00e4ssliche Aufgabe der Erkenntnisstheorie sein, von diesen realen Anwendungsbedingungen der Kategorien Rechenschaft zu geben. Da- nun ferner die Kategorien, wie Kant gezeigt hat, immer nur gebunden an die Anschauung Vorkommen k\u00f6nnen, so werden diese Anwendungsbedingungen immer zugleich als ihre Entstehungsbedingungen angesehen werden k\u00f6nnen, d. h. sie werden die in der Anschauung gelegenen Bedingungen sein, welche unser Denken zur Bildung des Begriffs n\u00f6thigen. Sollte die Erf\u00fcllung dieser Forderung ergeben,, dass nicht die fertigen Kategorien in uns Fegen, sondern eben nur jene Denkfunctionen, aus denen unter","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nW. Wundt.\nbestimmten durch die Anschauung gesetzten Bedingungen die Kategorien entstehen, so w\u00fcrde das ein Verlust wahrlich nicht sein. Denn so allein wird es m\u00f6glich werden, verschiedene Kategorien auf eine Quelle zur\u00fcckzuf\u00fchren. Auch w\u00fcrde dann erst mit einem gewissen Recht von einer \u00bbDeduction\u00ab der Stammbegriffe des Verstandes geredet werden k\u00f6nnen.\nIch muss es mir hier versagen, diese Gesichtspunkte in einer eingehenden Betrachtung aller Kant\u2019schen Kategorien durchzuf\u00fchren, ein Gesch\u00e4ft, das durch die nothwendig damit siph verbindende Frage, inwiefern gewisse dieser Kategorien keine selbst\u00e4ndige Bedeutung besitzen, andere aber etwa hinzuzuf\u00fcgen w\u00e4ren, ein sehr weitl\u00e4ufiges sein m\u00fcsste. Ich hoffe, dass die Durchf\u00fchrung an einer Kategorie von hervorragender Bedeutung, an dem Begriff der Substanz, f\u00fcr den vorliegenden Zweck gen\u00fcgt. Den Leser, der durch dieses Beispiel \u00fcberzeugt werden sollte, darf ich wohl hinsichtlich der \u00fcbrigen Verstandesbegriffe auf meine ohne diese R\u00fcckbeziehung auf Kant gegebene Darstellung verweisen. Wer aber in diesem einen Fall nicht \u00fcberzeugt werden sollte, bei dem darf ich kaum hoffen, durch eine weitere H\u00e4ufung von Beispielen dies zu erreichen.\nDer Begriff der Substanz setzt gleich allen Verstandesbegriffen, wie Kant einleuchtend nachgewiesen hat, die Synthesis der Anschauung und die Einheit der Apperception in Bezug auf diese Synthesis voraus. Denn jeder Verstandesbegriff ist eine Einheitsfunction, die sich auf ein Mannigfaltiges in der Anschauung bezieht. Er bedarf also einer schon in der Anschauung vorbereiteten Verbindung des Mannigfaltigen. Der Begriff selbst aber besteht dann in einer logischen Ordnung der Theile des Mannigfaltigen zur Einheit. Eine solche Ordnung w\u00fcrde nicht m\u00f6glich sein, wenn nicht, nach Kant\u2019s Ausdruck, \u00bbdas stehende und bleibende Ich das Correlatum aller unserer Vorstellungen\u00ab ausmachte. Nur diese Einheit unseres Ich macht Zusammenhang der Erfahrung und macht wieder innerhalb des letzteren die Auffassung einzelner Gegenst\u00e4nde m\u00f6glich, die eine dem Ich \u00e4hnliche Einheit und Selbst\u00e4ndigkeit besitzen. Nat\u00fcrlich aber ist dies nicht etwa als eine nachtr\u00e4gliche Uebertragung zu denken, sondern die Einheit unseres Ich besteht eben selbst nur in dieser durchg\u00e4ngigen Einheit","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n29\nseiner Functionen. Damit ist von selbst auch gegeben, dass alle ordnenden Formen der Apperception der Anlage nach in dem denkenden Ich vorhanden sein m\u00fcssen. Aber freilich auch nur der Anlage nach. Die wirkliche Entwicklung jener Functionen wird \u00fcberall erst durch bestimmte Bedingungen der Anschauung zu Stande kommen k\u00f6nnen, nicht blo\u00df deshalb, weil \u00fcberhaupt Begriffe ohne Anschauungen unm\u00f6glich sind, sondern weil jene Einheit der Apperception selbst immer eines anschaulichen Substrates bedarf.\nBis zu diesem Punkte kann ich, so viel ich sehe, vollst\u00e4ndig den allgemeinen Ausf\u00fchrungen Kant\u2019s mich anschlie\u00dfen, wenn ich auch geneigt sein mag, mehr als es von Kant geschehen ist, zu betonen, dass das Ich selbst nichts von jenen Einheitsfunctionen verschiedenes, sondern eben nur der Zusammenhang der Denkfunctionen selbst ist, der zugleich \u00fcberall ein sinnliches Substrat zu seiner Beth\u00e4tigung fordert. Dagegen meine ich, dass Kant die an diese allgemeinen Feststellungen sich anschlie\u00dfende Aufgabe der Nachweisung des Ursprungs der einzelnen Grundbegriffe auch hier wiederum, gerade so wie bei den Anschauungsformen, nicht gel\u00f6st, sondern statt dessen die Begriffe als gegeben vorausgesetzt hat. Die Ableitung, die er f\u00fcr den Begriff der Substanz gibt, kann in dieser Beziehung als typisches Beispiel f\u00fcr alle Kategorien dienen. Der \u00bbGrundsatz der Beharrlichkeit\u00ab wird aus der Anschauungsform der Zeit bewiesen. Das Mannigfaltige, meint Kant, k\u00f6nne nicht nach einander vorgestellt werden, wenn nicht etwas das jederzeit ist, d. h. etwas Bleibendes und Beharrliches zu Grunde liege. Das Beharrliche sei daher \u00bbdas Substratum der empirischen Vorstellung der Zeit selbst, an welchem alle Zeitbestimmung allein m\u00f6glich ist\u00ab. Der Wechsel treffe \u00bbdie Zeit selbst nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit\u00ab. \u00bbWollte man der Zeit selbst eine Folge nach einander beilegen, so m\u00fcsste man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge m\u00f6glich w\u00e4re\u00ab. Durch das Beharrliche endlich bekomme allein \u00bbdas Dasein in verschiedenen Theilen der Zeitreihe nach einander eine Gr\u00f6\u00dfe, die man Dauer nennt\u00ab. \u00bbNun kann\u00ab \u2014 so lautet der wichtige Schluss dieses \u00bbBeweises\u00ab \u2014 \u00bbdie Zeit an sich selbst nicht wahrgenommen weiden; mithin ist dieses Beharrliche an den Erscheinungen das","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nW. Wundt.\nSubstratum aller Zeitbestimmung\u00ab, oder, wie es in der zweiten Auflage heisst: \u00bbfolglich muss in den Gegenst\u00e4nden der Wahrnehmung, d. h. den Erscheinungen, das Substrat anzutreffen sein, welches die Zeit \u00fcberhaupt vorstellt, und an dem aller Wechsel oder Zugleichsein durch das Verh\u00e4ltniss der Erscheinungen zu demselben in der Apprehension wahrgenommen werden kann\u00ab.\nIn diesem Beweis ist mit Recht darauf hingewiesen, dass die Zeitanschauung \u00bbDauer im Wechsel\u00ab voraussetzt, und namentlich der Schluss hebt treffend hervor, dass das Substrat hierzu '\u00fcberall in den \u00bbErscheinungen\u00ab anzutreffen sein muss. Gewiss, eine Zeitanschauung w\u00fcrde weder entstehen k\u00f6nnen, wenn absolut gar keine Ver\u00e4nderung in unseren Wahrnehmungen stattf\u00e4nde, noch auch dann, wenn dieselben fortw\u00e4hrend s\u00e4mmtlich in Ver\u00e4nderung begriffen w\u00e4ren. Dass in der Erscheinungswelt Ver\u00e4nderliches neben relativ Beharrendem vorkommt, ist also eine Bedingung unserer Zeitvorstellung. Ja man wird noch weitergehen und sagen m\u00fcssen, dass zur Auffassung dieses Beharrlichen im Wechsel die \u00bbtranscen-dentalen\u00ab Bedingungen in uns liegen m\u00fcssen, und dass sie in der oben hervorgehobenen allgemeinen Einheitsfunction unserer Apperception gefunden werden k\u00f6nnen. Aber mit allem dem ist doch nur bewiesen : 1) dass zur Zeitvorstellung wechselnde neben relativ beharrenden Erscheinungen uns gegeben sein m\u00fcssen, wie uns denn solche in der That stets in der Erfahrung gegeben sind, und 2) dass unsere Erkenntnissfunctionen zur Auffassung dieses Beharrens im Wechsel geeignet sein m\u00fcssen. Aber dass ein absolut beharrendes Substratum aller Erscheinungen vorauszusetzen sei, ist nicht im allergeringsten bewiesen, und wenn darum Kant den \u00bbGrundsatz der Beharrlichkeit\u00ab in der zweiten Auflage der Kritik in der Form aufstellt: \u00bbBei allem Wechsel der Erscheinungen be-harrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert\u00ab, so ist namentlich zu dem zweiten Theil dieses Satzes jener Beweis sicherlich nicht zureichend. Wohl aber weist der so formulirte Grundsatz auf Bedingungen der Erscheinungen hin, ohne deren Verwirklichung der Begriff der Substanz \u00fcberhaupt nicht entstehen k\u00f6nnte.\nVon diesen Bedingungen der Erscheinungswelt und zwar zun\u00e4chst, wegen der Ver\u00e4nderlichkeit des Empfindungsinhaltes, von","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n31\nden in dem Verhalten der Anschauungsformen gegebenen Bedingungen werden wir ausgehen m\u00fcssen, wenn wir den wirklichen logischen wie anschaulichen Ursprung des Substanzbegriffs auffinden wollen. Dazu ist jedoch vor allem nothwendig, dass wir die Stufe der gew\u00f6hnlichen Erfahrung und die des wissenschaftlichen Denkens auseinanderhalten. Beide wenden den Substanzbegriff an. Aber f\u00fcr beide ist dieser Begriff nicht der n\u00e4mliche, obgleich Kant dies annimmt. Meint er doch, dass zu allen Zeiten \u00bbnicht blo\u00df der Philosoph, sondern auch der gemeine Verstand\u00ab die Beharrlichkeit der Substanz vorausgesetzt habe. Wenn er aber gleich darauf zum Beleg dessen die zwei S\u00e4tze anf\u00fchrt: \u00bbgigni de nihilo nihil(t und \u00bbin nihilum nil posse reverti\u00ab, \u00bbwelche die Alten unzer-trennt verkn\u00fcpften\u00ab, so scheint es mir unzweifelhaft, dass der zweite dieser S\u00e4tze bei der gro\u00dfen Mehrzahl der alten Philosophen sowie in den herrschenden Schulmeinungen des Mittelalters keineswegs eine Beharrlichkeit der Substanz im Sinne des von Kant der modernen Naturwissenschaft entnommenen Erhaltungsprincips bedeutet hat, sondern dass derselbe dort der qualitativen Ver\u00e4nderung des Substrates den weitesten Spielraum liess. Wenn Kant in diesem Falle verm\u00f6ge jenes Mangels an geschichtlichem und psychologischem Sinn, der seinem Zeitalter eigen ist, die Anschauungen seiner Zeit in die Wissenschaft aller Zeiten und sogar in die gew\u00f6hnliche Lebenserfahrung hin\u00fcbertr\u00e4gt, so sollten wir doch heute, wo wir ziemlich genau wissen, mit wie gro\u00dfen Schwierigkeiten der Satz von der quantitativen und qualitativen Constanz der Materie zu k\u00e4mpfen hatte, diese Irrth\u00fcmer nicht mehr mitmachen.\nDemnach werden zwei Formen oder Entwicklungsstufen des Substanzbegriffs vor allem von einander zu trennen sein : der Substanzbegriff der Erfahrung im gew\u00f6hnlichen Sinne des Wortes, und der Substanzbegriff der Wissenschaft. Der erstere ist nat\u00fcrlich derjenige, von dem allein gesagt werden kann, dass er ein unerl\u00e4sslicher Bestandtheil aller Erfahrung sei. Der zweite dagegen ist zuerst auf rein speculativem Wege in der Philosophie entstanden und dann von hier aus in die \u00fcbrigen Wissenschaften \u00fcbertragen worden. Schon diese Entstehungsweise beweist, dass er ebenso wenig wie der Substanzhegriff der gew\u00f6hnlichen Erfahrung aus","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nW. Wundt.\nspecifisch wissenschaftlichen Erfahrungen hervorgegangen ist, sondern dass er zun\u00e4chst auf rein logischen Erw\u00e4gungen beruht, worauf dann aber allerdings weiterhin auf seine Ausbildung und Anwendung die Bed\u00fcrfnisse der Erfahrungswissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, einen gro\u00dfen Einfluss ausge\u00fcbt haben. Nun wird man sich nicht verhehlen k\u00f6nnen, dass Kant diese beiden Substanzbegriffe, die wir kurz als den empirischen und den speculativen bezeichnen wollen,\u00bb nicht zureichend von einander geschieden hat. Der Anwendung nach deckt sich zwar seine Kategorie der Substanz mit dem empirischen Substanzbegriff. Denn sie soll ja der Begriff sein, durch welchen \u00fcberhaupt erst die empirische Auffassung einzelner Gegenst\u00e4nde m\u00f6glich werde. Auch werden die transcendenten Gestaltungen des speculativen Substanzbegriffs, wie sie in der vorangegangenen rationalistischen Philosophie entstanden waren, ausdr\u00fccklich von Kant abgelehnt und dem Begriff des unerkennbaren \u00bbDings an sich\u00ab subsumirt. Dass aber gleichwohl die Ausl\u00e4ufer dieses speculativen Substanzhegriffs in der Naturwissenschaft von ihm mit dem urspr\u00fcnglichen empirischen Substanzbegriff vermengt wurden, geht klar aus seiner Formulirung des Gesetzes des \u00bbBeharrens der Substanz\u00ab und aus seinen Erl\u00e4uterungen hierzu hervor.\nNun werden wir den empirischen Substanzbegriff in dem oben festgestellten Sinne, d. h. denjenigen, der in der gew\u00f6hnlichen, nicht-wissenschaftlichen Erfahrung vorkommt, nur dann in seiner urspr\u00fcnglichen Gestalt festzustellen verm\u00f6gen, wenn wir von allem abstrahiren, was wissenschaftliche Erfahrung und Ueberlieferung uns zu ihm hinzudenken lassen. Auf diesen urspr\u00fcnglichen Inhalt zur\u00fcckgef\u00fchrt ist der empirische Substanzbegriff identisch mit dem Begriff des empirischen Dings, insofern wir das letztere als ein selbst\u00e4ndiges von andern Dingen unterscheiden und es bei dem Wechsel seiner im Baum gegebenen Eigenschaften als dauernd in der Zeit auffassen. Gewiss ist daher die Vorstellung eines Dings mehr als die Summe der auf dasselbe bezogenen sinnlichen Wahrnehmungen, da eben jener jede empirische Auffassung begleitende Begriff der Verbindung aller in den Wahrnehmungen gegebenen einzelnen und zum Theil wechselnden Eigenschaften hinzukommt, ein Begriff, der nur verm\u00f6ge der Einheitsfunction unseres Denkens","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n33\nm\u00f6glich wird. Offenbar entbindet uns aber die Anerkennung dieser Function nicht im mindesten von der Pflicht, nachzuweisen, wie dieselbe im vorliegenden Falle zu Stande kommt, und welche Motive in den einzelnen auf einen Gegenstand sich beziehenden Wahrnehmungen gelegen sind, um unser begriffliches Denken so anzuregen, dass es dieselben auf einen Gegenstand bezieht. Dass solche specifische Motive vorliegen m\u00fcssen, ist an und f\u00fcr sich klar \u2022 denn wir vollf\u00fchren ja gleichzeitig eine Menge anderer Wahrnehmungen, die wir keineswegs auf den n\u00e4mlichen Gegenstand beziehen. Nur wenn wir \u00fcber diese objectiv gegebenen Motive uns Rechenschaft ahlegen, werden wir aber auch Aussicht haben, die Wirkungsweise jener Einheitsfunction unseres begreifenden Denkens zu verstehen. Thun -wir es nicht, so wird sich der Begriff, der die Einheitsfunction ausdr\u00fcckt, also in diesem Falle der Begriff der Substanz, immer nur wie ein fertig gegebener ausnehmen, den wir wie ein leeres Gef\u00e4\u00df allen Eindr\u00fccken entgegenbringen. M\u00f6gen wir auch noch so laut betonen, dass der Begriff ja immer erst in Function trete, wenn ihm ein Empfindungsinhalt entgegenkomme, in der Sache wird dadurch nicht viel ge\u00e4ndert: der Begriff erscheint als ein \u00bbDeus ex machina\u00ab, der da ist, wo man ihn braucht, ohne dass man wei\u00df, wie und warum er da ist.\nNun l\u00e4sst sich, wie ich meine, \u00fcber die logischen Motive, die uns veranlassen, eine bestimmte Summe von Wahrnehmungen ein Ding zu nennen, leicht Rechenschaft geben. Das erste Merkmal des Dings ist seine r\u00e4umliche Selbst\u00e4ndigkeit: die r\u00e4umliche Umgebung des Dinges ver\u00e4ndert sich, w\u00e4hrend es selbst unver\u00e4ndert bleibt, sei es indem die Umgebung wechselt, sei es indem das Ding selbst seine Lage \u00e4ndert. Das zweite Merkmal ist die zeitliche Stetigkeit der Ver\u00e4nderungen: aller Wechsel der Eigenschaften, sowohl der qualitativen wie der r\u00e4umlichen, muss so erfolgen, dass ein Zustand stetig in den andern \u00fcberf\u00fchrt. Wenn ein Ding stetig vom Orte A nach einem andern Orte B \u00fcbergeht, so ist es f\u00fcr uns dasselbe Ding; wenn aber bei A ein Ding verschwindet, bei B eines entsteht, so gelten uns beide f\u00fcr verschiedene Dinge1). Diese Bedingungen beziehen sich auf die beiden\n1) Vergl. meine Logik, I, S. 413, und System der Phil. S. 271.\nWundt, Philos. Studien. VII.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nW. Wundt.\nformalen Eigenschaften unserer Vorstellungen, den Raum und die Zeit. Sie entsprechen also der oben hervorgehobenen allgemeinen Forderung, dass die allgemeing\u00fcltigen formalen Merkmale, die zeitlich-r\u00e4umlichen, die anschaulichen Grundlagen der Kategorien abgeben m\u00fcssen, weil alle Vorstellungen r\u00e4umlich und zeitlich zugleich sind. Zugleich ersieht man aber, dass, gerade so wie dies bei der Ableitung der Anschauungsformen geschehen war, nun auch bei der Kategorie der Substanz die Apriorit\u00e4t des Begriffs eine wesentlich andere Bedeutung gewinnt, wobei dieselbe au\u00dferdem mit der Voraussetzung, dass er eine a priori wirksame Function, kein in uns feststehender Begriff sei, in bessere Ueber-einstimmung gelangt. Denn offenbar ist es nun auch hier nicht mehr der Begriff der Substanz selbst, der als a priori in uns liegend anzunehmen ist, sondern das vergleichende und beziehende Denken, welches jenen Begriff eines bei dem Wechsel seiner Eigenschaften beharrenden Dings unter dem Einfluss der angegebenen Bedingungen der Anschauung mit innerer logischer Nothwendig-keit entwickelt. Schlie\u00dflich braucht wohl kaum mehr ein Wort dar\u00fcber verloren zu werden, dass bei diesen Anwendungen des empirischen Substanzbegriffs der Gedanke an ein absolutes Beharren v\u00f6llig fern liegt. Das empirische Ding wird \u00fcberall als ein ver\u00e4nderliches gedacht. Das bei ihm vorausgesetzte Beharren besteht im letzten Grunde nur in jener Stetigkeit der r\u00e4umlichzeitlichen Aenderungen, wodurch ein gegebener Zustand immer als zusammenh\u00e4ngend mit den fr\u00fcheren Zust\u00e4nden desselben Gegenstandes angesehen wird. Da diese Stetigkeit ein vollkommen zureichendes Motiv zur Absonderung gewisser Wahrnehmungscomplexe aus der gesammten Summe unserer Wahrnehmungen ist, so existi-ren in dem gew\u00f6hnlichen Dingbegriff die Widerspr\u00fcche, welche Herbart in ihm zu finden meinte, nicht im allermindesten. Sie sind eben aus der n\u00e4mlichen Vermengung des empirischen mit Bestandtheilen des speculativen Substanzbegriffs hervorgegangen, deren sich lange vor Kant bereits Locke schuldig gemacht hatte.\nVon der Entwicklung des speculativen Substanzbegriffs hat uns nun die Geschichte der Philosophie gl\u00fccklicher Weise so deutliche Spuren auf bewahrt, dass man sich \u00fcber jene noch immer","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein ?\n35\nfortwuchemde Vermengung in unserer, historischen Untersuchungen sonst so ergebenen Zeit nicht genug wundem kann. War es zu Rant\u2019s Zeiten verzeihlich, wenn man sich nicht viel darum k\u00fcmmerte, wie die Begriffe thats\u00e4chlich und geschichtlich entstanden sind, so sollte dies doch heute nicht mehr Vorkommen. Aber nicht nur die Geschichte, auch nahe liegende logische Erw\u00e4gungen machen es unzweifelhaft, dass die Entstehungsweise des specula-tiven Substanzbegriffs eine durchaus eigenartige ist.\nDer Ausgangspunkt seiner Entwicklung ist nat\u00fcrlich der empirische Substanzbegriff, wie er in der Auffassung des einzelnen Dings als eines verm\u00f6ge der angef\u00fchrten Merkmale r\u00e4umlicher Selbst\u00e4ndigkeit und zeitlicher Stetigkeit relativ beharrenden gegeben ist. Dieses empirischen Dingbegriffs bem\u00e4chtigt sich nun die Abstraction, indem sie die in ihm vorhandenen Bestimmungen in correlate Begriffe umwandelt, die nach dem Satz des Widerspruchs einander ausschlie\u00dfen. So wird das Ding zun\u00e4chst als ein Seiendes unterschieden von dem Nichtseienden. Dann wird das in dem vorigen Gegensatz zur\u00fcckbleibende Sein als allgemeinster positiver Denkinhalt in zwei neue sich \u00e4hnlich ausschlie\u00dfende Begriffe zerlegt: in das wirklich Seiende und den Schein. Und endlich wird das bei dieser zweiten Trennung als positives Glied zur\u00fcckbleibende Sein abermals zerlegt in das beharrende oder unver\u00e4nderliche Sein und das Werden, die absolute Ver\u00e4nderung. So bestimmt wir heute diese drei Begriffsspaltungen von einander scheiden, so ist es doch unschwer verst\u00e4ndlich, dass dieselben einer'noch unsicher tastenden Dialektik, die zum ersten Mal auf sie gesto\u00dfen war, Zusammenflossen, so dass die Eleaten, die jenen f\u00fcr die Entwicklung des speculativen Substanzbegriffs so wichtigen Schritt gethan, ausdr\u00fccklich behaupteten, das absolut beharrende Sein sei das allein Wirkliche, alles Werden aber sei Schein, und aller Schein nichtig ').\nSelbstverst\u00e4ndlich konnten diese an den empirischen Dingbe-griff sich anlehnenden Dichotomien ebenso wenig wie der Dingbegriff selbst ohne die Anregung der Erfahrung entstehen. Das Nichts fand in dem Verschwinden der Gegenst\u00e4nde aus dem Raum\n1) Vergl. System der Philos. S. 272 \u00a3 und diese Stud. II. S. 16 ff.\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nW. Wundt.\nder sinnlichen Wahrnehmung, der Schein in der Fl\u00fcchtigkeit der Phantasievorstellungen, das Werden in der Ver\u00e4nderung sein anschauliches Substrat. Aber die Kraft, diese empirischen That-sachen zu Gegens\u00e4tzen gegen den Seinsbegriff zu erheben, sch\u00f6pft das Denken aus der ihm innewohnenden Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit. Ist es doch in allen drei F\u00e4llen dieselbe Function der Negation, die sich nur jedesmal in verschiedener Weise beth\u00e4tigt, weil jedesmal das Gegebene unter einem verschiedenen Gesichtspunkte gedacht wird. Denn es ist immer wieder ein anderer Seinsbegriff, aus dem durch die logische Verneinung die drei Begriffe des Nichts, des Scheins und des Werdens hervorgehen. Neben der Function der Verneinung ist es daher die logische Function der Abstraction, die, in verschiedenem Umfange ausge\u00fcbt, jene mannigfaltigen Begriffsspaltungen hervortreibt. Zuerst wird von allem abstrahirt, was \u00fcberhaupt an dem Gedankenobject au\u00dfer der allgemeinen Bestimmung des Pr\u00e4dicirens \u00bbes ist\u00ab noch aufgefasst werden kann. Der Gegensatz dieses abstractesten, die Elimination aller besonderen Pr\u00e4-dicate voraussetzenden Seins kann nur das sein, von dem ein Pr\u00e4dicat \u00fcberhaupt unm\u00f6glich ist: das Nichts. Der zweite Schritt besteht in einer beschr\u00e4nkteren Abstraction. Hier wird von dem Gedankenobject neben der allgemeinen Function des Pr\u00e4dicirens auch noch der Begriff des Objectes, also der gegebenen Wirklichkeit, beibehalten, wodurch der durch Verneinung entstandene Gegensatz sich auf den subjectiven Schein eines Gegebenen einschr\u00e4nkt. Endlich auf der dritten Stufe wird der so gewonnene Begriff des objectiven Gegebenseins zum Gegenstand einer neuen Abstraction, indem aus ihm jede Ver\u00e4nderung eliminirt gedacht wird. So entsteht das Gegensatzpaar des beharrenden Seins und des Werdens oder der absoluten Ver\u00e4nderung ohne ein dauerndes Substrat, das sich ver\u00e4ndert. Das Verh\u00e4ltniss dieser drei Begriffsentwicklungen zu einander ist also folgendes: die bei der ersten ausgef\u00fchrte, weitestgehende Abstraction wird bei der zweiten eingeschr\u00e4nkt auf Grund der Unterscheidung von Subject und Object als den beiden Erkenntnissfactoren ; dann wird diese zweite Abstraction auf der dritten Stufe wieder vervollst\u00e4ndigt, indem aus dem zun\u00e4chst gegebenen Begriff des ver\u00e4nderlichen Objectes die Ver\u00e4nderung eliminirt wird, so dass das Object als ein absolut beharrendes zur\u00fcckbleibt.","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n37\nHiermit ist aber zugleich ein weiterer Fortschritt nahegelegt. Auf dieser letzten Abstractionsstufe ist das Wirkliche in zwei Begriffe zerlegt worden, die als Gegens\u00e4tze sich ausschlie\u00dfen, w\u00e4hrend doch die Erfahrung nur ein relativ Beharrendes und ein relativ Ver\u00e4nderliches aufweist, die, weil bei ihnen von den absoluten Forderungen des Begriffs nicht die Rede ist, \u00fcberall mit einander vereinigt Vorkommen. So betrachtet steht daher der gewonnene Begriffsgegensatz zu der empirischen Wirklichkeit in einem vollendeten Widerspruch. Um aus jener Begriffswelt, auf die sich der Eleatismus zur\u00fcckzog, wieder einen Uebergang zu finden in die Erscheinungswelt, ist nur zweierlei m\u00f6glich: entweder muss der Schritt, den die speculative Abstraction gethan, wieder r\u00fcckw\u00e4rts gemacht, es muss der Versuch einer solchen logisch-antithetischen Bearbeitung der Erfahrungsbegriffe \u00fcberhaupt aufgegeben werden, eben weil er zu reinen Denkbestimmungen f\u00fchrt, die im Widerspruch stehen und in keiner Erfahrung Vorkommen. Oder es muss der Versuch unternommen werden, jene beiden unvers\u00f6hnlich scheinenden Begriffe des beharrenden Seins und des absoluten Werdens durch einen erg\u00e4nzenden Schritt speculativer Begriffsbildung zu verbinden. Das erste ist durch den Empirismus und Skepticismus geschehen, die sich demgem\u00e4\u00df auf den empirischen Dingbegriff beschr\u00e4nken, darin aber wieder sich trennen, dass der Empirismus das objective Gegebensein in dem Dingbegriff postu-lirt, w\u00e4hrend der Skepticismus den Gegensatz zwischen objectivem Sein und subjectivem Schein als einen durch unser Erkennen unl\u00f6sbaren betrachtet. Den zweiten Weg hat die mit Plato und Aristoteles beginnende Entwicklung des speculativen Substanzbegriffs eingeschlagen. Hier wird der Begriff des beharrenden Seins beibehalten. Aber dieses wird nicht mehr als Gegensatz des Werdens, sondern als das f\u00fcr alle Ver\u00e4nderung nothwendige Substrat gedacht. Damit sind an die Stelle der sich ausschlie\u00dfenden Gegensatzbegriffe Sein und Werden die einander erg\u00e4nzenden Begriffe der Substanz und der Causalit\u00e4t getreten. Von einer Substanz im speculativen Sinne kann in der That jetzt erst die Bede sein. Ihre Geburtsstunde f\u00e4llt mit der des philosophischen Causalbegriffs zusammen. Jene verschiedenen Seinsbegriffe aber mit ihren Gegens\u00e4tzen sind nur Vorstufen dieses neu entstandenen","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nW. Wundt.\nBegriffspaares, durch ihr sich ausschlie\u00dfendes Verhalten unf\u00e4hig, der Philosophie wie der Einzelwissenschaft die Dienste zu leisten, welche der Substanzbegriff ihr zu leisten berufen war. Der logische Vorgang, welcher zu diesem neuen Begriffspaar gef\u00fchrt hat, besteht in einer Synthese der urspr\u00fcnglichen Gegens\u00e4tze, durch welche jeder der beiden Gegensatzbegriffe ver\u00e4ndert worden ist. Denn die Substanz unterscheidet sich gerade dadurch von dem beharrenden Sein, dass sie als das Substrat der Causalit\u00e4t gedacht wird und ohne diese Beziehung \u00fcberhaupt keine Berechtigung hat.\nMit dem so gewonnenen Substanzbegriff war nun aber zugleich eine doppelte Aufgabe gestellt. Erstens konnte gefragt werden, wie dieser Begriff gedacht werden m\u00fcsse, um der Forderung der Beharrlichkeit trotz der in der Erscheinungswelt herrschenden Mannigfaltigkeit zu gen\u00fcgen. Zweitens konnte gefragt werden, wie die Causalit\u00e4t der Erscheinungen zu denken sei, um ihre Zu-r\u00fcckf\u00fchrung auf eine beharrende Substanz zu gestatten. Dm die erste dieser Fragen hat sich die speculative Philosophie bem\u00fcht. Wenn auch nicht selten dabei Gesichtspunkte mit unterliefen, die eigentlich dem zweiten Kreis von Betrachtungen angeh\u00f6ren, so blieb doch immer das vorherrschende Streben auf die logische Denkbarkeit der Substanz gerichtet. Es war unvermeidlich, dass diese Behandlung schlie\u00dflich zu v\u00f6llig transcendenten L\u00f6sungen des Problems f\u00fchrte. Die beiden Hauptl\u00f6sungen, nach deren einer die Substanz, um nicht in Widerspruch mit der Mannigfaltigkeit des Gegebenen zu gerathen, absolut unendlich, und nach deren anderer sie aus demselben Grunde absolut einfach gedacht wurde, zeigen deutlich die innere Nothwendigkeit dieses Erfolgs. Die zweite der obigen Fragen stand im Vordergrund aller Erkl\u00e4rungsversuche der theoretischen Naturwissenschaft. Ihr handelte es sich vor allem um eine zusammenh\u00e4ngende Causalerkl\u00e4rung der Naturerscheinungen, und diejenige L\u00f6sung des Substanzproblems betrachtete sie daher als die vollkommenste, welche diesem Anspruch am besten gen\u00fcge. Dabei hat nun aber wieder zwischen beiden L\u00f6sungsversuchen regelm\u00e4\u00dfig das Verh\u00e4ltnis stattgefunden, dass die Naturwissenschaft gewisse ihr von der Philosophie entgegengebrachte Auffassungen des Substanzbegriffs als vorl\u00e4ufige Hypothesen ben\u00fctzte, um zu erproben, ob sie jener Forderung nach","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Was soli uns Kant nicht sein?\n39\nbefriedigender Erkl\u00e4rung des causalen Zusammenhangs der Erscheinungen entsprachen. Darum gibt es keine einzige unter den naturwissenschaftlichen Hypothesen \u00fcber die materielle Substanz, die nicht bereits in der Philosophie ihre Vorgeschichte h\u00e4tte, wogegen manche Entwicklungen des speculativen Substanzbegriffs nur eine philosophische Geschichte besitzen, weil sie von vornherein auf eine transcendente, also f\u00fcr den speciellen Erkl\u00e4rungszweck der Naturwissenschaft unverwerthbare L\u00f6sung ausgingen. Dies gilt namentlich von demjenigen Substanzbegriff, der durch das Pr\u00e4dicat der absoluten Unendlichkeit dem Fluss der wechselnden Erscheinungen entzogen wurde, w\u00e4hrend die entgegengesetzte Auffassung von der absoluten Einfachheit der Substanz solche R\u00fcckwirkungen mehrfach ausge\u00fcbt hat.\nIch kann es hier unterlassen, auf diese verschiedenen Entwicklungen des Substanzbegriffs historisch und logisch n\u00e4her einzugehen, da dies anderw\u00e4rts geschehen ist1). Nur auf das eine sei hier nochmals hingewiesen, dass der naturwissenschaftliche Begriff der Materie, obgleich er nur ein H\u00fclfsmittel zur Erkl\u00e4rung der empirischen Thatsachen sein soll, dennoch zu den speculativen Substanzbegriffen geh\u00f6rt. Nicht blo\u00df sein Ursprung aus der philosophischen Substanz beweist dies, sondern auch der Zweck, dem er zu dienen sucht. Denn dieser Zweck besteht in einer widerspruchslosen Causalerkl\u00e4rung aller Naturerscheinungen. Die Forderung einer solchen ist aber ein logisches Postulat, und zwar kein urspr\u00fcngliches, welches etwa zum Zustandekommen jeder Erfahrung unerl\u00e4sslich w\u00e4re, sondern ein allm\u00e4hlich entstandenes, welches sich selbst im wissenschaftlichen Denken nur langsam entwickelt hat. Gewiss liegt in unseren Denkgesetzen jenes Princip des widerspruchslosen Zusammenhangs, wenn auch latent, von Anfang an vorgebildet, da \u00fcberall, wo unser Denken auf einen Widerspruch st\u00f6\u00dft, es sich nach dem Gesetz des Zusammenhangs von Grund und Folge nicht bei demselben beruhigen kann. Aber eine solche virtuelle Existenz des Princips ist doch weit verschieden von seiner actuellen Anwendung und von seiner klar bewussten Erkenntniss.\n1) Vergl. Logik, I, S. 474 ff., II, S. 352 ff., System der Phil. S. 267, 445 ff.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nW. Wundt.\nUnd hier scheint es mir nun wiederum die Aufgabe der Erkennt-nisslehre zu sein, die logischen Motive nachzuweisen, aus denen eine solche Erkenntniss entstanden ist. Wer da behauptet, Substanz und Causalit\u00e4t l\u00e4gen fix und fertig als Begriffe a priori oder doch mindestens als Functionen a priori in uns, und schon in der gemeinen Lebenserfahrung komme daher der n\u00e4mliche Begriff zur Anwendung, dessen wir uns in der Wissenschaft bedienen, der muss sich nicht nur \u00fcber die offenkundigen Thatsachen der Wissenschaftsgeschichte hinwegsetzen, sondern er verzichtet auch auf die Nachweisung des wahren logischen Ursprungs der Begriffe. Ich bin nicht geneigt, den Schlagworten \u00bbnaiver Realismus\u00ab und \u00bbdogmatischer Realismus\u00ab einen Werth beizumessen. Wenn ich aber gezwungen w\u00fcrde, sie zu gebrauchen, so w\u00fcrde ich eher meinen, diejenige Anschauung, welche fertige Begriffe oder ihnen entsprechende complexe Functionsweisen unseres Denkens als a priori vorhandene annimmt, sei allenfalls eine \u00bbnaive\u00ab oder eine \u00bbdogmatische\u00ab zu nennen. Angewandt auf einen Versuch, diese Apriorit\u00e4t aus den wirklichen letzten Fundamentalgesetzen des Denkens und der Anschauung abzuleiten, w\u00fcrden mir aber jene Ausdr\u00fccke, selbst vom Standpunkte der herk\u00f6mmlichen schablonenhaften Behandlung philosophischer Anschauungen aus, nicht passend erscheinen.\nV.\nDoch ich thue vielleicht Unrecht, wenn ich in diesen Einzelauff\u00fchrungen \u00fcber Anschauungsformen und Kategorien den Grund der zuletzt ber\u00fchrten Auffassung meines Standpunktes erblicke Etwas m\u00f6gen ja diese Dinge mitspielen. Denn in philosophischen geht es nicht selten wie in Glaubenssachen. Wer f\u00fcr einen richtigen Gl\u00e4ubigen gelten will, soll alles mit einem Mal glauben, was man ihm vorschreibt, ohne \u00fcber dies und jenes erst nachzudenken. Und wer sicher gehen will, nicht f\u00fcr einen \u00bbnaiven\u00ab oder \u00bbdogmatischen\u00ab Philosophen zu gelten, der thut gut, nicht erst nach \u2022logischen Gr\u00fcnden f\u00fcr die Entstehung gewisser Begriffe zu suchen, sondern lieber gleich die ganzen Begriffe, sozusagen mit Haut und Haaren, wenn es geht auch noch einige Anschauungen dazu, in den menschlichen Intellect hineinzuverlegen. Je vollwichtiger ein","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kaut nicht sein?\n41\nsolches -Inventar a priori ist, um so weniger kann es ja \u00fcbersehen werden. Immerhin vermuthe ich, dass mehr als dieses alles die allgemeinen Ansichten, die ich \u00fcber das Verh\u00e4ltniss von Subject und Object und \u00fcber die allm\u00e4hliche logische Scheidung des \u00bbVorstellungsobjectes\u00ab entwickelt habe, an den erw\u00e4hnten Missverst\u00e4ndnissen die Schuld tragen. Dennoch sind es merkw\u00fcrdiger Weise gerade diese Grundfragen, in denen ich nicht nur nach meiner Meinung die nothwendigen Folgerungen aus der Kant\u2019schen Lehre gezogen habe, sondern in denen ich mich der Uebereinstimmung mit Kant\u2019s eigener Anschauung, wo diese ungetr\u00fcbt durch R\u00fcckf\u00e4lle in von ihm \u00fcberwundene Auffassungen zum Ausdruck kommt, zu erfreuen glaube.\nDass Kant die Anschauungsformen und Kategorien nicht f\u00fcr subjective Formen im Sinne des gew\u00f6hnlich so genannten \u00bbsub-jectiven Idealismus\u00ab gehalten habe, kann heute als ausgemacht gelten. Um so merkw\u00fcrdiger aber scheint es mir, dass man trotzdem immer wieder in eine Deutung Kant\u2019s zur\u00fcckverf\u00e4llt, welche sich von jenem subjectiven Idealismus kaum wesentlich unterscheidet. Das Vorbild dazu hat Trendelenburg mit seiner vermeintlichen Entdeckung einer \u00bbL\u00fccke in Kant\u2019s Beweis von der ausschlie\u00dflichen Subjectivit\u00e4t des Raums und der Zeit\u00ab gegeben; und indem sich die gegen diesen Autor gerichteten Widerlegungen haupts\u00e4chlich auf die Apriorit\u00e4t der mathematischen S\u00e4tze beriefen, waren sie kaum geeignet, seinen Einwand endg\u00fcltig zu beseitigen. Wenn Raum und Zeit subjectiv und objectiv zugleich sind, wie Trendelenburg meinte, so steht ja nichts im Wege, mit diesem die Mathematik auf eine constructive Th\u00e4tigkeit des Subjectes zur\u00fcckzuf\u00fchren, das allenfalls auch als eine Function a priori sich denken lie\u00dfe 1). Der entscheidende Punkt liegt aber darin, dass jene dreifache Unterscheidung einer blo\u00df subjectiven, einer blo\u00df objectiven und einer sowohl subjectiven wie objectiven Existenz von Raum und Zeit \u00fcberhaupt die Kant\u2019sehe Auffassung vom Wesen des Er-kennens aufhebt. Anschauungsformen und Kategorien sind im Sinne Kant\u2019s Formen des objectiven Erkennens. Wir k\u00f6nnen\nt) Trendelenburg, Logische Untersuchungen, 2. Aufl., S. 156 ff. ; Historische Beitr\u00e4ge zur Philosophie. Ill, S. 215 ff.","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nVV. Wundt.\nRaum und Zeit, Einheit, Vielheit, Realit\u00e4t, Substanz u. s. w. gar nicht denken, ausgenommen bezogen auf Gegenst\u00e4nde, gebunden an einen sinnlichen Stoff, der uns in der Empfindung gegeben wird. Die Trennung der Erfahrung in diesen sinnlichen Stoff und in jene a priori in uns liegenden ordnenden Formen ist ein Resultat der kritischen Analyse unseres Erkenntnisverm\u00f6gens, das aber eben darum, weil es in den Erfahrungsgegenst\u00e4nden selber nicht vorliegt, auch die Annahme eines von dem Object unabh\u00e4ngigen ebenso wie die eines von dem Subject unabh\u00e4ngigen Daseins jener Formen unm\u00f6glich macht. Eine solche Auffassung f\u00e4llt daher ohne weiteres in den reflectirenden Empirismus zur\u00fcck, der die Erfahrungsobjecte zuerst au\u00dfer uns, und dann noch einmal subjective Abbilder dieser Objecte in uns annahm. Eine solche Verdoppelung ist nach Kant\u2019s Auffassung unm\u00f6glich, denn die Er-kenntnissformen haben von vornherein eine objectiv gesetzgebende Bedeutung, nicht in dem Sinne, dass sie zuerst im Subjecte w\u00e4ren und dann von ihm auf das Object \u00fcbertragen w\u00fcrden, sondern so, dass es ein Object ohne diese Formen \u00fcberhaupt nicht gibt, dass sie also wesentlich und von Anfang an zum empirischen Object mit geh\u00f6ren.\nKant selbst hat dies unzweideutig als den Sinn seiner Lehre und zugleich als den wesentlichen Differenzpunkt derselben von dem Idealismus Berkeley\u2019s bezeichnet, wobei hieruner\u00f6rtert bleiben mag, ob er Berkeley richtig verstanden hat oder nicht. \u00bbAlle Zeitbestimmung\u00ab, sagt er, \u00bbsetzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. Dieses Beharrliche kann aber nicht etwas in mir sein, weil eben mein Dasein in der Zeit durch dieses Beharrliche allererst bestimmt werden kann. Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding au\u00dfer mir und nicht durch die blo\u00dfe Vorstellung eines Dings au\u00dfer mir m\u00f6glich\u00ab. Und von diesem der \u00bbWiderlegung des Idealismus\u00ab gewidmeten Beweise meint er, dass in ihm \u00bbdas Spiel, welches der Idealismus trieb, ihm mit mehrerem Rechte umgekehrt vergolten wird\u00ab. Dieser nahm an, dass die einzige unmittelbare Erfahrung die innere sei, und daraus auf \u00e4u\u00dfere Dinge nur geschlossen werde. Allein hier wird bewiesen, dass \u00e4u\u00dferliche Erfahrung eigentlich unmittelbar sei, dass nur vermittelst ihrer, zwar nicht das Bewusstsein","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n43\nunserer eigenen Existenz, aber doch die Bestimmung derselben in der Zeit, d. h. innere Erfahrung, m\u00f6glich sei\u00ab *).\nIch will bei dem am Schluss dieses Satzes hervortretenden Widerspruch gegen Kant\u2019s Grundanschauung von den Einheitsfunctionen der \u00bbtranscendentalen Apperception\u00ab nicht eingehender verweilen. Ich meine in der That, wenn Kant hier ein Bewusstsein des Ich ohne innere Erfahrung, ohne Zeitanschauung f\u00fcr m\u00f6glich und sogar nothwendig h\u00e4lt, so ist ein solcher \u00bbGedanke von etwas Existirendem\u00ab, wie er nachher von ihm genannt wird, nicht blo\u00df an sich undenkbar, sondern auch im inneren Widerspruch gegen Kant\u2019s eigene Lehre. Wenn die \u00bbFunctionen der Apperception\u00ab immer erst in der empirischen Erkenntniss zur Wirklichkeit gelangen, so ist es unbegreiflich, wie die reine Apperception \u00abselbst ohne diese Functionen uns zum Bewusstsein kommen soll. Kant hat hier unzweifelhaft die nat\u00fcrlich in uns vorauszusetzende und aus \u00e4u\u00dferen Bedingungen niemals abzuleitende F\u00e4higkeit der Selbstauffassung mit der wirklichen Selbstauffassung verwechselt, welche-gerade so an die Functionen der Apperception gebunden sein muss, wie diese Functionen selbst an den Stoff der Erfahrung gebunden sind. Doch abgesehen von diesem Widerspruch kann es wahrlich nicht klarer und deutlicher gesagt werden, als es von Kant in der obigen Stelle geschehen ist, dass die Erfahrung objectiv gegebener Gegenst\u00e4nde eine unmittelbare ist, nicht erst auf Schl\u00fcssen oder sonstigen das Object erst wieder aus dem Subject hinausversetzenden Functionen beruht. Das ist aber genau dasselbe, was ich mit den Worten ausgedr\u00fcckt habe : \u00bbDem urspr\u00fcnglichen Vorstellungsobject kommt das Merkmal Object zu sein unmittelbar zu, und die Trennung von Vorstellung und Object ist erst ein sp\u00e4terer Act des unterscheidenden Denkens\u00ab. Gewiss w\u00fcrde darum auch Kant die Lehre Schopenhauer\u2019s, dass das Object auf dem Wege eines Schlusses und nach dem Princip der Causalit\u00e4t aus der Vorstellung in die Au\u00dfenwelt verlegt werde, indem man es nun als die Ursache der Vorstellung denke, nicht als eine zutreffende Erg\u00e4nzung seiner Ansicht betrachtet haben. Gerade dies,\n1) System. Vorstellung aller synthet. Grunds\u00e4tze, Postulate des empir. Denkens. 2. Aufl. Widerlegung des Idealismus.","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nVV. Wundt.\ndass die \u00e4u\u00dfere Erfahrung erst erschlossen werde, hat er ja ausdr\u00fccklich abgelehnt.\nNun muss man freilich zugestehen, dass Kant keineswegs \u00fcberall so klar und unzweideutig sich ausgesprochen hat, wie in den oben angef\u00fchrten S\u00e4tzen der zweiten Auflage, ja dass die ganze erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft keine einzige Stelle enth\u00e4lt, in der er in \u00e4hnlich bestimmter Weise das Missverst\u00e4ndnis einer Verwechslung a priori g\u00fcltiger transcendentalev Functionen mit subjectiven Formen abgelehnt h\u00e4tte. Wohl aber finden sich zahlreiche Stellen, die auch in der zweiten Auflage stehen gebliehen sind, welche jenes Missverst\u00e4ndniss beg\u00fcnstigen k\u00f6nnen. So werden Raum und Zeit als Bestimmungen oder Verh\u00e4ltnisse der Dinge bezeichnet, \u00bbdie nur an der Form der Anschauung allein haften und mithin an der subjectiven Beschaffenheit unseres Gem\u00fcths, ohne welche diese Pr\u00e4dicate gar keinem Ding beigelegt werden k\u00f6nnen\u00ab. So wird ferner von den Kategorien hervorgehoben, dass sie sich auf einen \u00bbGegenstand\u00ab beziehen, \u00bbder blo\u00df in uns ist, weil eine blo\u00dfe Modification unserer Sinnlichkeit au\u00dfer uns gar nicht angetroffen wird\u00ab. Stellen dieser Art, in denen alles Erkennen ausdr\u00fccklich als ein subjectiver Vorgang im \u00bbGem\u00fcth\u00ab bezeichnet wird, sind an Zahl so \u00fcberwiegend in Kant\u2019s Erkenntnisslehre, dass man sich in der That nicht wundem kann, wenn sie auf die Auffassung der Grundgedanken einen ma\u00dfgebenden Einfluss gewonnen haben,' und wenn Viele wohl mit Schopenhauer geneigt sind, jene S\u00e4tze in der zweiten Auflage der Kritik, welche damit nicht \u00fcbereinstimmen, als Zugest\u00e4ndnisse des Philosophen an die gemeine Weltansicht zu betrachten, in denen er seiner eigenen Lehre untreu geworden sei. Will man nach der Zahl der Stellen urtheilen, so muss man vielleicht zugestehen, dass bei Kant jener Gedanke von dem unmittelbaren Gegebensein der \u00e4u\u00dferen Erfahrung nur vereinzelt zum Durchbruch gekommen, ja m\u00f6glicher Weise \u00fcberhaupt erst durch das Bestreben, den Unterschied seiner Lehre von derjenigen Berkeley\u2019s so klar wie m\u00f6glich hervorzuheben, in ihm angeregt worden ist. Aber im Sinne der Bedeutung, die er von Anfang an den Anschauungsformen und Kategorien heilegt, ist sicherlich die in der \u00bbWiderlegung des Idealismus\u00ab gegebene Auffassung die richtige, nicht die entgegengesetzte, die","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n45\nin den von Kant im Princip beseitigten subjectiven Idealismus\nzur\u00fcckf\u00e4llt.\nDoch \u00fcberwundene Anschauungen \u00fcben, auch wenn sie kein Existenzrecht mehr besitzen, durch die Denkgewohnheiten, die sie erzeugt haben, fortan ihre Macht aus. Zudem wurde der R\u00fcckfall in die Vorstellungsweise des Subjectivismus in diesem Fall noch durch den Umstand beg\u00fcnstigt, dass Kant auf das nachdr\u00fccklichste den Stoff der Empfindung als einen \u00bbgegebenen\u00ab von den dem erkennenden Subject angeh\u00f6renden Formen der Ordnung und Auffassung der Dinge trennt. Je mehr aber diese Formen als fertig vorhandene, keiner weiteren Ableitung zug\u00e4ngliche von ihm angesehen wurden, um so mehr musste hier die falsche Vorstellung sich unterschieben, dass die Unterscheidung von Subject und Object aller Erfahrung vorausgehe, eine Vorstellung, zu der \u00fcberdies Kant\u2019s Ansicht, dass das \u00bbBewusstsein unserer eigenen Existenz\u00ab fr\u00fcher sei als jede \u00e4u\u00dfere Erfahrung, fast mit Nothwendigkeit hindr\u00e4ngte. So kam das \u00bbDing an sich\u00ab zu seiner ungl\u00fccklichen Doppelrolle. Einerseits bezeich-nete es die absolute \u00bbSubstanz\u00ab der \u00e4lteren speculativen Philosophie, eine Idee, welche durch die ihr beigelegten Pr\u00e4dicate der absoluten Unendlichkeit oder Einfachheit u. s. w. von vornherein au\u00dferhalb der Erfahrungserkenntniss liegt, so dass auch Verstandesbegriffe und Anschauungsformen selbstverst\u00e4ndlich keine Anwendung auf sie finden k\u00f6nnen. Anderseits ist das Ding an sich das unbekannte Substrat, von dem wir in der Empfindung \u00bbafficirt\u00ab werden, und das sich durch die ordnenden Formen unseres Erkennens in die \u00bbErscheinung\u00ab umwandelt. Wenn aber Erfahrung ein \u00bbunmittelbares\u00ab Erkennen ist, so ist es klar, dass der Begriff des Dinges an sich auf dieselbe \u00fcberhaupt keine Anwendung finden kann, und dass auch der Begriff der Erscheinung keine prim\u00e4re Bedeutung besitzt, sondern erst da mit Recht aufgestellt werden kann, wo die Erfahrung f\u00fcr uns irgend welche Motive darbietet, die uns veranlassen, unsere urspr\u00fcnglichen unmittelbaren Erfahrungen zu berichtigen und so zwischen den Objecten und der Art, wie sie uns erscheinen, zu unterscheiden. Der wahre Gegensatz zu der Erscheinung ist daher nicht ein uns f\u00fcr immer unerkennbar bleibendes \u00bbDing an sich\u00ab, sondern die Wirklichkeit, auf deren Erkenntniss alle Bearbeitung unserer unmittelbaren Erfahrung gerichtet ist.","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nW. Wundt.\nDiese Vertauschung des wahren Gegensatzes \u00bbErscheinung und Wirklichkeit\u00ab mit dem falschen \u00bbErscheinung und Ding an sich\u00ab halte ich f\u00fcr einen der schwersten Fehler der Kant\u2019sehen Philosophie. Er bildet das Gegenst\u00fcck zu dem andern fr\u00fcher ber\u00fchrten Mangel: zu dem g\u00e4nzlichen Fehlen des Versuchs einer logischen Ableitung der ordnenden Formen unserer Anschauung und unseres Denkens. Indem Kant durch jenen falschen Gegensatz veranlasst wird, alle Erkenntniss principiell auf \u00bbErscheinungen\u00ab einzuschr\u00e4nken, eine Beschr\u00e4nkung, gegen die sich ja, sobald man den Begriff der Erscheinung in dem durch jenen falschen Gegensatz hervorgebrachten Sinne nimmt, nat\u00fcrlich nichts einwenden l\u00e4sst, bleibt seine Erkennt-nisslehre da stehen, wo die gemeine Erfahrung aufh\u00f6rt. Der Umstand, dass in die \u00bbGrunds\u00e4tze des reinen Verstandes\u00ab Bestimmungen eingehen, die erst einer fortgeschrittenen wissenschaftlichen Erkenntniss angeh\u00f6ren, wie wir das bei der Substanz gesehen haben, kann wahrlich f\u00fcr diese Beschr\u00e4nkung nicht entsch\u00e4digen. Denn solche Bestimmungen sind eben nur deshalb hereingekommen, weil Kant der gemeinen Erfahrung Begriffe zuschreibt, die erst aus der logischen Arbeit der Wissenschaft hervorgegangen sind, einer Arbeit, deren Darlegung und kritische Pr\u00fcfung, wie ich meine, nicht die unwichtigste Aufgabe der Erkenntnisstheorie ist. Wenn man f\u00fcr diese Fragen in der neueren Erkenntnisslehre wenig Sinn hat, so trifft daf\u00fcr vielleicht Kant einige Schuld. Nachdem er einmal die Objecte der Erfahrung als \u00bbErscheinungen\u00ab bezeichnet hatte, die nur im \u00bbGem\u00fcth\u00ab des erkennenden Subjectes ihre Stelle haben, drehte sich von nun an ein nicht unwesentlicher Theil der Bem\u00fchungen aller Erkenntnisstheoretiker um die Frage, wie es doch kommen m\u00f6ge, dass die Objecte aus dem \u00bbGem\u00fcth\u00ab wiederum nach au\u00dfen versetzt werden. Und doch hatte Kant selbst schon die L\u00f6sung gegeben, die diese Frage zu einer v\u00f6llig eiteln macht. Ist alle \u00e4u\u00dfere Erfahrung, wie Kant selbst sagt, eine \u00bbunmittelbare\u00ab, so muss offenbar umgekehrt gefragt werden, wie es denn kommt, dass wir allm\u00e4hlich im Laufe der Entwicklung unserer Erkenntniss gewisse Eigenschaften des unmittelbar erkannten Objectes nicht mehr als objectiv gegeben anerkennen, sondern in das Subject verlegen, und wie sodann, diese schon in der gew\u00f6hnlichen Erfahrung beginnenden Unterscheidungen weiterf\u00fchrend, die Wissenschaft","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n47\nallm\u00e4hlich' zu rein begrifflichen Feststellungen \u00fcber das \u00bbObject\u00ab gelangt, und welches endlich die logische Berechtigung dieser Feststellungen ist.\nDen hier angedeuteten Weg habe ich in den der Erkenntniss-lehre gewidmeten Theilen meines Werkes einzuschlagen versucht. Man wird es darum vielleicht verstehen, wenn ich sage, dass kein Urtheil mir \u00fcberraschender h\u00e4tte sein k\u00f6nnen als dieses, ein solches Unternehmen bedeute einen R\u00fcckfall in vorkantische \u00bbdogmatische\u00ab Anschauungen. In doppelter Beziehung hatte ich gerade geglaubt weiter gegangen zu sein als Kant: erstens in dem Versuch, Anschauungsformen und Verstandesbegriffe nicht als fertig gegeben vorauszusetzen, sondern nach den logischen Gr\u00fcnden ihrer Entstehung zu suchen; und zweitens darin, dass ich das Erkennt-nissproblem nicht auf die gemeine Erfahrung beschr\u00e4nkte, sondern nachzuweisen bem\u00fcht war, wie diese mit innerer Nothwendigkeit sich weiter entwickle zur wissenschaftlichen Erkenntniss, und von welchen logischen Motiven hinwiederum die letztere bei der Bildung ihrer Begriffe theils thats\u00e4chlich geleitet worden sei, theils nothwendig geleitet werden m\u00fcsse. Dass in diesem Fall auch die mannigfachen Irrwege und logisch verfehlten L\u00f6sungsversuche nicht ganz unber\u00fccksichtigt bleiben k\u00f6nnen, versteht sich von selbst. Sind doch sie unter Umst\u00e4nden nicht minder belehrend wie verfehlte philosophische L\u00f6sungen, und stehen doch in ihren Fehlern wie in ihren wirklichen Fortschritten Philosophie und Einzelwissenschaften in einem innigeren Zusammenhang, als man nach den eigenen Meinungs\u00e4u\u00dferungen sowohl der Philosophen wie der Vertreter der \u00fcbrigen Wissenschaften annehmen sollte.\nWenn meine gute Absicht so sehr verkannt wurde, so glaube ich daher den Grund hievon haupts\u00e4chlich in dem Umstande suchen zu d\u00fcrfen, dass viele meiner philosophischen Collegen vom Fach der Erkenntnisstheorie gerade dieser Aufgabe der letzteren, den Problemen der wissenschaftlichen Erkenntniss nachzugehen und die hier gewonnenen Begriffe auf ihre logische Berechtigung zu pr\u00fcfen, allzu wenig Werth heilegen. Nur so kann ich mir z. B. die merkw\u00fcrdige Behauptung Ed. von Hartmann\u2019s erkl\u00e4ren, es werde von mir die \u00bbtranscendentale Idealit\u00e4t der Anschauungsformen\u00ab aufrecht erhalten, ich bleibe also in Bezug auf diese \u00bbim trans-","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nW. Wundt.\ncendentalen Idealismus stehen\u00ab, da ich behauptete, dass auch die anschaulichen Formen der r\u00e4umlich-zeitlichen Ordnung der Empfindungen in das Subject \u00bbzur\u00fcckgenommen werden m\u00fcssen\u00ab1). An der von Hartmann citirten Stelle ist ausdr\u00fccklich gesagt, der ganze \u00bbEmpfindungsinhalt der Vorstellungen\u00ab werde in Folge des von der Wissenschaft befolgten Princips der Ausgleichung der Widerspr\u00fcche der Einzelerfahrungen allm\u00e4hlich in das Subject zur\u00fcckgenommen, die Eigenschaften von Raum und Zeit w\u00fcrden also nur in ihrem begrifflichen Wesen als objectiv gegeben festgehalten, w\u00e4hrend die anschaulichen Vorstellungen derselben lediglich die Bedeutung subjectiver Symbole f\u00fcr diese Begriffe bes\u00e4\u00dfen2). Ich habe damit, wie ich glaube, nur die allen naturwissenschaftlichen Anwendungen der Begriffe Raum und Zeit zu Grunde liegende Auffassung in einen kurzen Ausdruck zusammengefasst, indem ich darauf hinwies, dass wir hier wie \u00fcberall den objectiven Gegenstand blo\u00df begrifflich, nicht anschaulich d. h. mit einem bestimmten Empfindungsinhalt als objectiv gegeben festzuhalten verm\u00f6gen. Dass jenes die wirkliche naturwissenschaftliche Auffassung ist, scheint aber Ed. von Hartmann bisher gar nicht zum Bewusstsein gekommen zu sein. Weil nun einmal seit Kant der Raum und die Zeit als Anschauungsformen und nicht als Begriffe gelten, so verwechselt er jene von mir behauptete Zur\u00fccknahme des Empfindungsinhaltes der r\u00e4umlichen und zeitlichen Vorstellungen in das Subject mit einem Subjectiviren von Raum und Zeit \u00fcberhaupt. So erhalte ich denn meine Etikette als \u00bbtranscendentaler Idealist\u00ab in Bezug auf Raum und Zeit, und eine \u00bbHalbheit\u00ab mehr ist gewonnen.\nOb meine obigen Bemerkungen mehr \u00fcberzeugen werden als die fr\u00fchere, der kritischen Auseinandersetzung mit Kant und dem Kantianismus zumeist aus dem Wege gehende Darstellung, wage ich kaum zu hoffen. Denkgewohnheiten sind manchmal st\u00e4rker als Gr\u00fcnde. Sollte aber erst einmal die Zeit kommen, wo man mehr als gegenw\u00e4rtig geneigt ist, auch die positive Arbeit der Einzelwissenschaften als eine Bem\u00fchung um das Erkenntnissproblem\n1)\tPreu\u00df. Jahrb. a. a. O. S. 10.\n2)\tSystem der Phil. S. 152 f.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Was soll uns Kant nicht sein?\n49\nanzusehen, die f\u00fcr die allgemeine Erkenntnistheorie nicht vergeblich o-ethan sein sollte, dann wird man vielleicht besser als jetzt zu he-urtheilen im Stande sein, dass ich im Grunde nichts anderes gethan habe, als diejenigen Gesichtspunkte, welche sich in der Einzelforschung als die f\u00fcr alle objective Erkenntniss ma\u00dfgebenden herausgestellt haben, logisch zu entwickeln. Vorl\u00e4ufig muss ich mich freilich darauf gefasst machen, dass dieses Bekenntniss nun erst recht als ein unfehlbares Zeichen \u00bbdogmatischer\u00ab Verirrung betrachtet wird.\nWundt, Philos. Studien. VII.\n4","page":49}],"identifier":"lit755","issued":"1892","language":"de","pages":"1-49","startpages":"1","title":"Was soll uns Kant nicht sein?","type":"Journal Article","volume":"7"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:24:41.854777+00:00"}