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{"created":"2022-01-31T13:23:49.115994+00:00","id":"lit756","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 7: 222-231","fulltext":[{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage des Bewusstseinsumfanges.\nVon\nW. Wundt.\nIn einer Besprechung meiner in Bd. VI, S. 250 dieser Studien ver\u00f6ffentlichten Bemerkungen \u00fcber die Methoden der Messung des Bewusstseinsumfangs sagt F. Schumann, die hei der Mittheilung der Versuche von G. Dietze in meiner Phys. Psych, stillschweigend gemachten Voraussetzungen seien mit meiner jetzigen Darstellung \u00bbdurchaus nicht identisch\u00ab. Die Berechtigung seines Angriffs auf jene fr\u00fcheren Voraussetzungen werde \u00bbalso schon durch diese Modification der Voraussetzungen zugegeben\u00ab (Zeitschr. f\u00fcr Psych, und Physiol, der Sinnesorg. II, S. 116). Nun besteht der Unterschied der fr\u00fcheren von der neueren Behandlung einzig und allein darin, dass ich hier in Worten auseinandergesetzt habe, was dort durch eine einfache graphische Darstellung versinnlicht wurde. An Fig. 193 (Bd. II, S. 250) meines Werkes hatte ich ^erl\u00e4utert, wie ich mir den Zustand einer Reihe rasch auf einander folgender Pendelschl\u00e4ge im Bewusstsein im Moment, wo das letzte Glied der Reihe in dasselbe eingetreten ist, vorstelle. Die Grade der Bewusstheit sind durch verticale Ordinaten \u00fcber der Abscissenlinie versinnlicht. Die Reihe a b c d e f . . . m, in welcher m die zuerst, a die zuletzt eingetretene Vorstellung bezeichnet, kann nach meiner Meinung dann als identisch mit einer vorangegangenen gleichen Reihe unmittelbar anschaulich aufgefasst werden, wenn die Reihe a b c d . ... m in dem Moment, wo a eintritt, als ein simultanes Ganzes","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"223\nim Bewusstsein steht, d. h. wenn m noch nicht verschwunden ist, w\u00e4hrend a eintritt. Nat\u00fcrlich muss das ebenso auch mit der vorangegangenen Reihe der Fall gewesen sein, mit der diese verglichen werden soll. Es geschieht dann die Erkennung der Uebereinstim-mung, wie ich behaupte, ebenso unmittelbar anschaulich, als wenn ich dem Auge zuerst eine zusammengesetzte geometrische Figur darbiete, und ihm dann nach einer kurzen Zeit dieselbe Figur noch einmal darbiete. Selbstverst\u00e4ndlich verstehe ich aber bei den auf einander folgenden Schalleindr\u00fccken unter einem \u00bbsimultan im Bewusstsein anwesenden Ganzen\u00ab nicht etwa ein Ganzes, in welchem die Vorstellung des Zeitverlaufs verschwunden w\u00e4re, sondern eben nur dies, dass die Vorstellungen, die zusammen eine Zeitreihe bilden, in dem Moment, ehe m verschwindet, gleichzeitig im Bewusstsein anwesend sind. Genau dies habe ich nun in der Phys. Psych, durch die angegebene Figur veranschaulicht und in meinem neueren Aufsatze in Worten ausgedr\u00fcckt. Wenn daher Schumann findet, dass beide Male die gemachten Voraussetzungen nicht \u00fcbereinstimmen, so hat er entweder die erste oder die zweite oder beide Darstellungen missverstanden \u2014 ein viertes gibt es nicht.\nGegen diese meine Interpretation der Erscheinungen bringt nun Schumann zwei Argumente bei. Das erste ergibt sich ihm aus der Selbstbeobachtung, das zweite aus den \u00bbmodernen psychophysischen\u00ab Anschauungen. Folgten die Schl\u00e4ge nicht zu schnell auf einander, so konnte S chuman n nach seiner und seiner Mitarbeiter, Selbstbeobachtung constatiren, \u00bbdass beim Auftauchen eines Eindrucks nichts mehr von dem vorangegangenen vorhanden war\u00ab. Leider hat er nicht angegeben, bei welcher Geschwindigkeit jeder einzelne Eindruck nach seiner Beobachtung singul\u00e4r im Bewusstsein stand. Ich habe diese Grenze zu ermitteln gesucht und \u00fcbereinstimmend mit meinen Mitarbeitern gefunden, dass sie bei einem Intervall von etwa 4 Sec. zwischen zwei Taktschl\u00e4gen liegt. Dies war aber auch die Grenze, bei welcher eine Vergleichung von Reihen unm\u00f6glich wurde, und ich erblicke daher in diesem Umstande eine Best\u00e4tigung meiner Auffassung. Nach Schumann\u2019s Mittheilung muss man annehmen, dass er und seine Mitarbeiter jene Grenze bei weit kleineren Intervallen schon gefunden haben. Hier steht also","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nW. Wundt.\nSelbstbeobachtung gegen Selbstbeobachtung. Entweder haben Schumann und die Seinen sich get\u00e4uscht, oder wir haben uns get\u00e4uscht. Ich wage es nicht diese Frage zu entscheiden. Nur das Eine scheint sie mir wieder einmal zu lehren, dass die Selbstbeobachtung allein ein allzu unsicherer Grund ist, um darauf weit tragende Schl\u00fcsse zu bauen. Eben deshalb habe ich auf die aus anderweitigen Thatsachen zu erschlie\u00dfenden Bedingungen f\u00fcr die Entstehung der Vorstellung von Identit\u00e4t oder Nicht-Identit\u00e4t zweier Reihen den Hauptwerth gelegt. Ich finde, dass unmittelbar und anschaulich \u00fcberall eine Vergleichung zweier complexer Vorstellungen A und B nur dann m\u00f6glich ist, wenn jede von ihnen als ein \u00bbsimultanes\u00ab Ganzes im Bewusstsein war. Nat\u00fcrlich brauchen sie nicht beide zusammen im Bewusstsein gewesen sein. Es kann sogar unter Umst\u00e4nden zwischen der einen und der anderen eine erhebliche Zeit verflie\u00dfen, immer aber finde ich, dass, wenn etwa A oder B oder beide nicht ein jedes als simultanes Ganzes im Bewusstsein war, sondern in einzelnen Bruchst\u00fccken, dann auch ein unmittelbares Gleichheits- oder Verschiedenheitsurtheil nicht m\u00f6glich ist, sondern ein in unserer Selbstauffassung unverkennbarer Zwischenvorgang, eine \u00bbReflexion\u00ab sich einschiebt. 11a ich nun nicht annehmen kann, dass f\u00fcr den Geh\u00f6rssinn andere Gesetze der unmittelbaren Vergleichung der Vorstellungen gelten als f\u00fcr den Gesichtssinn oder Tastsinn, so werde ich zu der Auffassung gedr\u00e4ngt, dass die in Rede stehende Erscheinung von dem Umfang des Bewusstseins direct abh\u00e4ngig ist. Auch bietet diese Erkl\u00e4rung den Vortheil dar, dass sie die bestimmte Begrenzung der noch zu einem Ganzen zusammenzuhaltenden Reihen leicht verst\u00e4ndlich macht. Ebenso wei\u00df ich die folgende Erscheinung nur unter der hier gemachten Voraussetzung zu erkl\u00e4ren : nach einiger Uebung hat man unmittelbar nach dem Ablauf einer Taktreihe, wenn eben erst die zweite beginnt, das bestimmte Gef\u00fchl, dass man im Stande sein werde, diese zweite nun folgende mit ihr zu vergleichen, oder man hat auch umgekehrt, falls die Reihe zu gro\u00df ist, das Gef\u00fchl, dass dies nicht m\u00f6glich sein werde. Das erste Gef\u00fchl ist aber regelm\u00e4\u00dfig mit dem Bewusstsein eines Zusammenhanges der ganzen Reihe, das letztere mit dem des Mangels eines solchen Zusammenhanges verbunden. Diese Erscheinungen sind unter den von mir","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"225\ngemachten Voraussetzungen ohne Weiteres verst\u00e4ndlich, w\u00e4hrend es unbegreiflich hleibt, wie die eine Vorstellungsreihe nach ihrem Ablauf zusammenh\u00e4ngend erscheinen kann, die andere nicht, wenn beide in diesem Moment schon ganz aus dem Bewusstsein verschwunden sind.\nDie zweite gegen meine Erkl\u00e4rung beigebrachte Instanz bilden die \u00bbmodernen psychophysischen Anschauungen\u00ab. Nach diesen m\u00fcsse man annehmen, \u00bbdass unter normalen Verh\u00e4ltnissen gleiche successive Eindr\u00fccke Nervenprocesse in denselben Centralorganen hervorrufen. Es m\u00fcsste demnach der von jedem folgenden Eindruck hervorgerufene psychophysische Process mit etwaigen von den vorangegangenen Eindr\u00fccken zur\u00fcckgebliebenen Nacherregungen zu einem Process verschmelzen\u00ab. Es ist mir nicht ganz klar, was Schumann mit diesem etwas dunkeln Satze sagen will. Aber was er auch damit gemeint haben mag, gewiss ist, dass derselbe schon deshalb kein ernstlicher Einwand sein kann, weil Schumann selbst zugibt, dass bei einer \u00bbgewissen Geschwindigkeit der Eindr\u00fccke\u00ab mehrere auf einander folgende zusammen im Bewusstsein sein k\u00f6nnen. Auch hie\u00dfe es ja gar zu sehr die Thatsachen zu Gunsten \u00bbmoderner psychophysischer Anschauungen\u00ab ignoriren, wenn man etwa behaupten wollte, bei Schallreizen, die in Intervallen von 0,002\u20140,005 Sec. aufeinanderfolgen \u2014 hei solcher Geschwindigkeit k\u00f6nnen wir bekanntlich die Intermissionen noch wahrnehmen \u2014 bliebe jeder einzelne v\u00f6llig isolirt im Bewusstsein. Sobald aber einmal eine Reihe von Eindr\u00fccken mit Intervallen einen \u00bbzusammengeh\u00f6rigen psychophysischen Process\u00ab bilden, so ist doch wahrlich nicht einzusehen, warum das nun nicht mehr m\u00f6glich sein soll, wenn die Intervalle l\u00e4nger werden. Nat\u00fcrlich kann man die Vergleichung zweier Reihen A und B, das Erkennen ob sie gleich oder verschieden sind, bis jetzt aus psychophysischen Processen nicht erkl\u00e4ren. Die einzige psychophysische Voraussetzung, die in diesem Fall gemacht werden muss, und die auch mit Fug und Recht gemacht werden kann, besteht darin, dass, wenn die obige Reihe m . . . d c b a abgelaufen ist, der von m herr\u00fchrende psychophysische Process noch wirksam ist, wenn der Reiz a eintritt. Wie der Mechanismus, der dies m\u00f6glich macht, beschaffen ist, wissen wir wicht. Aber wenn sehr rasch auf einander folgende Eindr\u00fccke im","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nW. Wundt.\nBewusstsein gleichzeitig anwesend sein und aus einander gehalten werden k\u00f6nnen, so ist doch wahrlich nicht zu verstehen, warum dies nicht bei langsamerer Aufeinanderfolge auch noch m\u00f6glich sein soll. Im Gegentheil, je rascher die Eindr\u00fccke folgen, um so eher w\u00fcrde man f\u00fcrchten m\u00fcssen, dass sie zu einem nicht mehr unterscheidbaren Process verschmelzen.\nSeine eigene Erkl\u00e4rung hat jetzt Schumann etwas klarer gefasst, als es in seiner ersten Mittheilung geschehen war. Man ersieht daraus, dass er den begleitenden Muskelinnervationen nicht eine causale Bedeutung einr\u00e4umt, wie ich geglaubt hatte, sondern dass er sie im Gegentheil als eine Folgewirkung ansieht. Seine eigentliche Annahme besteht, wie er nunmehr auseinandersetzt, darin, \u00bbdass eine Gruppe gleicher successiver Geh\u00f6rseindr\u00fccke, wie sie durch ihre Anzahl charakterisirt ist, in das Ged\u00e4chtniss aufgenommen werden kann, und dass die Versuchsperson demgem\u00e4\u00df, wenn sie zwei solche Gruppen mit einander vergleicht, hei der zweiten Gruppe unwillk\u00fcrlich die in das Ged\u00e4chtniss aufgenommene erste Gruppe reproducirt und in Folge dessen jedem Schlage mit der Erwartung entgegenkommt, bis die Anzahl der Schl\u00e4ge derjenigen der ersten Gruppe gleich geworden ist\u00ab. Wenn also zwei gleiche Reihen a b c d e f und a' b' c' d! e' f nach einander ablaufen, so ist die Ansicht Schumann\u2019s, wenn ich ihn recht verstehe, die: bei jedem Glied der zweiten Reihe werde das Entsprechende der ersten reproducirt, und sei also auch die Erwartung schon auf dasselbe gespannt, zu a! \u00ab, zu V b u. s. w. ; wenn f vor\u00fcber ist, so gebe es kein zu reproducirendes Glied mehr, welches erwartet werden k\u00f6nnte, und demzufolge werde die Reihe als gleich aufgefasst. Nun ist es, wie oben schon bemerkt, eine missliche Sache \u00fcber Selbstbeobachtungen zu streiten, wenn es keine objec-tiven Beweise zur Entscheidung gibt. Aber in diesem Fall bin ich doch v\u00f6llig gewiss, von dem, was Schumann in seiner Selbstbeobachtung findet, in der meinen schlechterdings nichts finden zu k\u00f6nnen. Ich erwarte bei Ablauf der zweiten Reihe genau wie bei der ersten, dass auf einen beliebigen Pendelschlag ein folgender kommen werde, weil eben \u00fcberhaupt die Schl\u00e4ge regelm\u00e4\u00dfig auf einander folgen; von einer Beziehung eines einzelnen Pendelschlags der zweiten auf einen bestimmten einzelnen Schlag der ersten","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Frage des Bewusstseinsumfanges.\n227.\nReihe ist aber absolut nichts zu entdecken, vorausgesetzt dass man nicht den Fehler begeht, die Taktschl\u00e4ge unwillk\u00fcrlich zu z\u00e4hlen, wo dann freilich zu jedem durch eine bestimmte Zahl ausgezeichneten Taktschlag der zweiten Reihe der entsprechende Schlag bez. die entsprechende Zahl der vorangegangenen Reihe associirt wird. Aber dies unwillk\u00fcrliche Z\u00e4hlen, das Unge\u00fcbten begegnet, muss selbstverst\u00e4ndlich v\u00f6llig beseitigt sein, ehe \u00fcberhaupt brauchbare Versuche gemacht werden k\u00f6nnen. Durch die rhythmische Gliederung der Reihen tritt nur insofern eine Modification ein, als nun die Taktschl\u00e4ge gleicher Hebung n\u00e4her auf einander bezogen werden. Auch diese Association verbindet aber keineswegs immer je zwei Schl\u00e4ge, die in auf einander folgenden Reihen numerisch die gleiche Stelle einnehmen, sondern sie verbindet ein gegebenes Glied mit jedem in Bezug auf den Grad der rhythmischen Hebung ihr gleichwerthigen. Gesetzt z. B. man taktire nach dem 2/s - Takt\nis is is is \u00e0r is is is is\nso bilden alle Hebungen und ebenso alle Senkungen associativ verbundene Eindr\u00fccke, und indem der regelm\u00e4\u00dfige Wechsel der Hebungen und Senkungen unmittelbar wahrgenommen wird, entsteht nach jeder Hebung die Erwartung einer Senkung und nach jeder Senkung die einer Hebung. Aber diese Associationen erstrecken sich vor allem auf die eben stattgehabten, noch im Bewusstsein anwesenden Eindr\u00fccke, und sie treten bei beliebig gro\u00dfen Geschwindigkeiten ein, auch bei solchen, bei denen selbst Schumann annimmt, dass die Taktschl\u00e4ge noch nicht alle aus dem Bewusstsein verschwunden sind.\nKann ich demnach die von Schumann behauptete Association der Glieder zweier Reihen nach ihrem blo\u00dfen numerischen Verh\u00e4ltnisse zu einander keineswegs best\u00e4tigt finden, so gleicht nun aber auch der Zustand meines Bewusstseins nach dem Ablauf der zweiten Reihe nicht im mindesten dem- einer v\u00f6llig mangelnden Erwartung. Im Gegentheil : ich erwarte nun gerade so wie vorher, dass die regelm\u00e4\u00dfigen Taktschl\u00e4ge fortan weiter ablaufen werden. Aber daneben habe ich allerdings \u2014 was bei den vorangegangenen","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nW. Wundt.\nEindr\u00fccken gefehlt hat \u2014 die Vorstellung, dass die zweite Reihe der ersten an Gr\u00f6\u00dfe gleich sei.\nSchumann\u2019s Erkl\u00e4rung widerspricht aber nicht nur der inneren Wahrnehmung, wenigstens der meinigen, sondern sie l\u00e4sst auch, wie ich glaube, das erste Erforderniss einer brauchbaren Theorie vermissen, welches darin besteht, die zu erkl\u00e4renden That-sachen mit anderen bereits bekannten in einen verst\u00e4ndlichen Zusammenhang zu bringen. Denn die Reproduction der Vorstellungen ist zwar eine bekannte Thatsache, dass aber, wenn eine Anzahl v\u00f6llig gleicher Vorstellungen a b c d e f gegeben ist, irgend eine neue diesen allen wiederum gleichende d nicht alle \u00fcbrigen, sondern nur die eine a reproducire, davon hat man bis jetzt nichts gewusst ; ja diese Annahme widerspricht allen bisher bekannten Erfahrungen. Schumann\u2019s Theorie besteht also kurz gesagt darin, dass er dem Ged\u00e4chtniss die neue merkw\u00fcrdige Eigenschaft zuschreibt, Taktschl\u00e4ge z\u00e4hlen zu k\u00f6nnen. Wenn es diese Eigenschaft hat, dann sind nat\u00fcrlich die Erscheinungen erkl\u00e4rt. Nur ist diese Erkl\u00e4rung derjenigen, welche die sogenannte Reproduction der Vorstellungen aus der Existenz des Ged\u00e4chtnisses ableitet, und anderen \u00e4hnlichen ungef\u00e4hr gleichwerthig.\nSchumann bemerkt, meine Schlussfolgerungen seien schon deshalb nicht beweisend, weil \u00bbeine ernsthafte allgemeine Theorie \u00fcber die beim Vergleichen stattfindenden psychischen Vorg\u00e4nge \u00fcberhaupt noch nicht vorliegt\u00ab. Ich kann diesen Einwand nicht als berechtigt anerkennen. Die Thatsache, dass wir Objecte vergleichen k\u00f6nnen, wird wohl Niemand bestreiten, auch wenn es eine \u00bbernsthafte\u00ab Theorie des Vergleichens noch nicht geben sollte. Nun geh\u00f6ren Vorstellungen, wie ich meine, zu den Objecten, die verglichen werden k\u00f6nnen, und Zeitreihen geh\u00f6ren zu den Vorstellungen. Dass eine gr\u00fcndliche Untersuchung der bei der Vergleichung von Vorstellungen und insonderheit bei der Vergleichung von Zeitreihen stattfindenden psychischen Vorg\u00e4nge noch zu w\u00fcnschen ist, bestreite ich nicht im mindesten. In meinen Bemerkungen \u00fcber den Bewusstseinsumfang habe ich mich aber vorl\u00e4ufig einerseits auf die Thatsache beschr\u00e4nkt, dass wir Zeitreihen ebenso wie andere Vorstellungen, falls nur ihre Gr\u00f6\u00dfe und Zusammensetzung gewisse Grenzen nicht \u00fcberschreiten, vergleichen k\u00f6nnen, und anderseits","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"229\nhabe ich versucht nachzuweisen, dass solche Vergleichungen \u00fcberall nur m\u00f6glich sind, wenn jede der verglichenen Vorstellungen einzeln als ein simultanes Ganzes im Bewusstsein war. Ich glaube auch, dass dies f\u00fcr den vorliegenden Zweck vollst\u00e4ndig gen\u00fcgte, und dass es nicht n\u00f6thig war, erst eine Theorie dar\u00fcber zu entwickeln, wie psychologisch eine Vergleichung zu Stande komme, um die That-sache, dass unter den angegebenen Bedingungen verglichen wird, zu Folgerungen auf den Umfang des Bewusstseins zu benutzen. Auch jetzt muss ich es mir versagen, auf diesen Punkt n\u00e4her einzugehen. Gleichwohl will ich es nicht unterlassen, im allgemeinen wenigstens anzudeuten, wie nach meiner Meinung speciell Vergleichungen zeitlicher Vorstellungsreihen zu Stande kommen.\nDie Frage w\u00fcrde vielleicht einfacher zu liegen scheinen, wenn nicht blo\u00df jede der verglichenen Vorstellungen einzeln, sondern wenn beide zusammen gleichzeitig im Bewusstsein gewesen sein m\u00fcssten, um sie vergleichen zu k\u00f6nnen. Diese Bedingung, die man a priori geneigt sein k\u00f6nnte vorauszusetzen,, ist aber, wie namentlich auch die Vergleichungen von Gesichtsvorstellungen lehren, nicht erforderlich. Eine unmittelbar anschauliche, d. h. nicht durch successive Addition der Theile und discursive Reflexion vermittelte, Vergleichung ist m\u00f6glich und wird in unz\u00e4hligen F\u00e4llen von uns ausgef\u00fchrt, wenn von zwei complexen Vorstellungen A und B nur jede f\u00fcr sich als ein simultanes Ganzes im Bewusstsein war. Werden A und B als gleich erkannt, so nennen wir den Vor- r gang ein Wiedererkennen. H\u00f6ffding hat in seinen k\u00fcrzlich ' erschienenen Er\u00f6rterungen \u00fcber das Wiedererkennen auf die mit den gew\u00f6hnlich angenommenen logischen Vergleichungsacten im Widerspruch stehende Pl\u00f6tzlichkeit dieser Vorg\u00e4nge und zugleich auf die an dieselben gebundenen Gef\u00fchle, welche geeignet sind dies zu erkl\u00e4ren, hingewiesen. In analogem Sinne habe ich das logische Gef\u00fchl den \u00bbPionier der Erkenntnisse genannt1). Ich glaube nun, dass\n1} H\u00f6ffding, Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. XIV; Phys. Psych., 3. Aufl., II, S. 424. Bei Erw\u00e4hnung der verdienstvollen Abhandlung von Hoff ding sei es mir verg\u00f6nnt zu bemerken, dass meine Ausf\u00fchrungen \u00fcber das Verh\u00e4ltniss der appereeptiven und associativen Processe in der 3. Aufl. meiner phys. Psych, von H\u00f6ffding missverstanden worden sind. Wenn ich sage, dass die Trennung","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nW. Wundt.\ndie Vergleichung von Zeitreihen einen besonders ausgepr\u00e4gten Fall dieser Gef\u00fchlswirkungen darbietet. Wenn eine Reihe von Taktschl\u00e4gen ahgelaufen ist, so entspricht ihr eine bestimmte Gef\u00fchlswirkung, die nach der L\u00e4nge der Reihe und der Art ihrer Gliederung qualitativ verschieden ist, immer aber, so lange die Reihe zusammengehalten werden kann, einen befriedigenden Charakter besitzt, w\u00e4hrend, sobald die Reihe nicht mehr zusammenh\u00e4lt, das Gef\u00fchl einer St\u00f6rung zur\u00fcckbleibt. Bei dem Ablauf einer zweiten der ersten gleichen Reihe kehrt nun auch dasselbe Gef\u00fchl wieder, und so erscheint es mir als ein ganz richtiger Ausdruck, wenn ein Beobachter, was nicht selten geschieht, sagt, er habe es \u00bbim Gef\u00fchl\u00ab, dass die Reihen gleich oder ungleich seien. Ich nehme aber weiterhin an, dass dies Gef\u00fchl im vorliegenden Fall mit dem rhythmischen Gef\u00fchl vollkommen identisch ist. Auch dieses ist ja qualitativ in der mannigfaltigsten Weise gef\u00e4rbt, je nach der L\u00e4nge und Gliederung der rhythmischen Reihen. Zugleich setzt dasselbe voraus, dass eine rhythmische Reihe im Bewusstsein zusammengehalten werden kann, und es unterscheiden sich daher auch in ihrer Gef\u00fchlswirkung die auf musikalischem und poetischem Gebiet vorkommenden Wiederholungen gr\u00f6\u00dferer nicht mehr \u00fcberschaubarer Perioden sehr wesentlich von dieser unmittelbaren rhythmischen Wirkung').\nzwischen beiden auf \u00bb einer Abstraction beruht, der sich die Wirklichkeit immer nur mehr oder weniger ann\u00e4hern kann\u00ab, so hei\u00dft das nicht, wie H\u00f6ffding (a. a. O., S. 193, Anm. 2) anzunehmen scheint, dass ich beide \u00fcberhaupt nicht f\u00fcr verschiedene Processe halte, sondern eben nur, dass sie thats\u00e4chlich immer zusammen Vorkommen, wie sich denn auch meiner Meinung nach die apperceptiven aus den associativen Vorstellungsverkn\u00fcpfungen entwickeln. Meine neueren finden sich hierin mit meinen fr\u00fcheren Aeu\u00dferungen in vollst\u00e4ndiger Uebereinstim-mung. Nur habe ich, um falsche Auffassungen zu verh\u00fcten, einige Punkte mehr betont und ausgef\u00fchrt, als es fr\u00fcher geschehen war.\n1) Vergl. die Bemerkungen \u00fcber das rhythmische Gef\u00fchl in meiner phys. Psych. II, S. 72 ff., wo bereits auf diese Beziehungen zum Bewusstseinsumfang hingewiesen ist. \u2014 Die obigen Bemerkungen waren seit l\u00e4ngerer Zeit niedergeschrieben, als mir die dieses Heft der Studien er\u00f6ffnende Arbeit Alfr. Lehmann\u2019s in die H\u00e4nde kam. Ich freue mich, in derselben (S. 183 f.) einer Auffassung der \u00bbBekanntheitsqualit\u00e4t\u00ab zu begegnen, welche mit meiner oben entwickelten Ansicht vollst\u00e4ndig \u00fcbereinstimmt.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"231\nIch glaube hiermit meinerseits diese Discussion schlie\u00dfen zu k\u00f6nnen. Sollten noch hier oder dort kleine scheinbare oder wirkliche Missverst\u00e4ndnisse auf Schumann\u2019s Seite oder auf der meinen zur\u00fcckgeblieben sein, so kann die Hauptfrage davon kaum mehr ber\u00fchrt werden. Ueber diese aber d\u00fcrfte der Leser nunmehr zureichend unterrichtet sein, um sich ein eigenes Urtheil bilden zu k\u00f6nnen.","page":231}],"identifier":"lit756","issued":"1892","language":"de","pages":"222-231","startpages":"222","title":"Zur Frage des Bewusstseinsumfanges","type":"Journal Article","volume":"7"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:23:49.116000+00:00"}