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{"created":"2022-01-31T12:43:18.762960+00:00","id":"lit779","links":{},"metadata":{"contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Leipzig: Engelmann","fulltext":[{"file":"a0001.txt","language":"de","ocr_de":"GRUNDRISS\nDER\nPSYCHOLOGIE\nWILHELM WUNDT\nLEIPZIG\nVERLAG VON WILHELM ENGELMANN 189C.","page":0},{"file":"a0002.txt","language":"de","ocr_de":"Alle Rechte, besonders das der Uebersetzung, bleiben Vorbehalten.","page":0},{"file":"a0003introduction.txt","language":"de","ocr_de":"Vorwort.\nl/ies Buch ist zun\u00e4chst aus dem Wunsche hervorgegangen, meinen Zuh\u00f6rern einen kurzen, die Vorlesungen \u00fcber Psychologie erg\u00e4nzenden Leitfaden in die Hand zu gehen. Zugleich hat es sich jedoch das weitere Ziel gesteckt, dem allgemeineren Leserkreis wissenschaftlich Gebildeter, denen die Psychologie theils um ihrer selbst, theils um ihrer Anwendung willen von Interesse ist, einen systematischen Ueberbliek \u00fcber die principiell wichtigen Ergebnisse und Anschauungen der neueren Psychologie zu verschallen. Dieser doppelte Zweck brachte es mit sich, dass ich mich in der Mittheilung der einzelnen Thatsachen auf das Wichtigste oder auf m\u00f6glichst einfache erl\u00e4uternde Beispiele beschr\u00e4nkte, und dass ich auf die Veranschaulichung der in die Vorlesung geh\u00f6renden H\u00fclfsmittel der Demonstration und des Experimentes g\u00e4nzlich verzichtete. Wenn ich au\u00dferdem dieser Darstellung diejenigen Anschauungen zu Grunde gelegt habe, die ich selbst in langj\u00e4hriger Besch\u00e4ftigung mit dem Gegenstand als die richtigen erkannt zu haben glaube, so bedarf dies wohl keiner besonderen Rechtfertigung. Doch habe ich nicht unterlassen, auf die haupts\u00e4chlichsten Richtungen, die von der hier vertretenen abweichen, durch eine kurze allgemeine Charakteristik","page":0},{"file":"a0004.txt","language":"de","ocr_de":"IV\nVorwort.\n(Einleitung \u00a7 2) sowie durch Andeutungen im Einzelnen hinzuweisen.\nAus diesen Bemerkungen ergibt sich die Stellung, die dieses Buch zu meinen fr\u00fcheren psychologischen Werken einnimmt. Indem die \u00bbGrundz\u00fcge der physiologischen Psychologie\u00ab die Htilfsmittel der naturwissenschaftlichen, besonders der physiologischen Forschung der Psychologie dienstbar zu machen und die experimentelle psychologische Methodik, die sich in den letzten Jahrzehnten ausgebildet hat, nebst ihren Hauptergebnissen kritisch darzustellen suchen, l\u00e4sst diese besondere Aufgabe nothwendig die allgemeinen psychologischen Gesichtspunkte verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig zur\u00fccktreten. Die zweite, neu bearbeitete Auflage der \u00bbVorlesungen Uber die Menschen- und Thierseele\u00ab aber (die erste ist heute l\u00e4ngst veraltet) sucht in mehr popul\u00e4rer Weise \u00fcber Wesen und Zweck der experimentellen Psychologie Auskunft zu geben, um dann von dem Standpunkte derselben aus solche psychologische Fragen, die zugleich von allgemeinerer philosophischer Bedeutung sind, zu er\u00f6rtern. Ist demnach der Gesichtspunkt der Behandlung in den Grundz\u00fcgen haupts\u00e4chlich von den Beziehungen zur Physiologie, in den Vorlesungen von philosophischen Interessen bestimmt worden, so sucht dieser Grundriss die Psychologie in ihrem eigensten Zusammenhang und in derjenigen systematischen Anordnung, die nach meiner Ansicht durch die Natur des Gegenstandes geboten ist, zugleich aber unter Beschr\u00e4nkung auf das Wichtigste und Wesentliche, vorzuf\u00fchren. So hoffe ich denn, dass dieses Buch auch denjenigen Lesern, denen jene fr\u00fcheren Werke sowie die Ausf\u00fchrungen \u00fcber die \u00bbLogik der Psychologie\u00ab in meiner Logik der Geisteswissen-","page":0},{"file":"a0005.txt","language":"de","ocr_de":"V orwort.\nV\nsch\u00e4ften (Logik, 2. Aufi. II, 2. Abth.) bekannt sind, als eine nicht ganz unwillkommene Erg\u00e4nzung erscheinen m\u00f6chte.\nDa ich in meinen Grundz\u00fcgen bei den einzelnen Gegenst\u00e4nden eingehende Literaturangaben gemacht habe, so glaubte ich mich hier derselben enthalten zu d\u00fcrfen. Der Leser, der sich \u00fcber eine einzelne Frage gr\u00fcndlicher unterrichten will, wird ja ohnehin jenes ausf\u00fchrlichere Werk zu H\u00fclfe nehmen. Ueber die seit dem Erscheinen der vierten Auflage desselben (1893) erschienene Literatur orientirt leicht ein Blick in die letzten B\u00e4nde der der Psychologie gewidmeten periodischen Schriften, der \u00bbPhilosophischen Studien\u00ab, der \u00bbZeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane\u00ab, des \u00bbAmerican Journal for Psychology\u00ab und der \u00bbPsychological Eeview\u00ab, von denen die drei letztgenannten \u00fcberdies Literaturberichte enthalten. Zu ihnen sind in neuester Zeit, besonders f\u00fcr das Gebiet der individuellen Charakterologie und praktischen Psychologie, die von E. Kraepelin herausgegebenen \u00bbPsychologischen Arbeiten\u00ab hinzugetreten.\nLeipzig, im Januar 1896.\nW. Wundt.","page":0},{"file":"a0007content.txt","language":"de","ocr_de":"Inhaltsverzeichnis.\nEinleitung.\n\u00a7 1. Aufgabe der Psychologie............................\n1.\tAeltere Begriffsbestimmungen. 2. Die Psychologie als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung. 3. Verh\u00e4ltnis zu den Geisteswissenschaften und zurNaturwissenschaft.\n\u00a72. Allgemeine Richtungen der Psychologie. .\n1. Metaphysische Psychologie: spiritualistische und materialistische, dualistische und monistische Systeme.\n2.\tEmpirische Psychologie: doppelter Eintheilungsgrund ihrer Richtungen. 3. Die Psychologie des inneren Sinnes. 4. Die Psychologie als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung.' 5. Descriptive Psychologie: Verm\u00f6genspsychologie. 6. Explicative Richtungen: intellectualistische und voluntaristische Psychologie. 7. Intellectualistische Richtungen: logische Theorie und Associationspsychologie. 8. Falsche intellectualistische Verdinglichung der Vorstellungen. 9. Voluntaristische Psychologie. 10. Leitende Principien der folgenden Darstellung.\n\u00a7 3. Methoden der Psychologie ..........................\n1. Allgemeines Verh\u00e4ltnis von Experiment und Beobachtung.- 2: Anwendung auf die Psychologie: specifische Bedeutung der experimentellen Methode f\u00fcr dieselbe.\n3.\tDie reine Beobachtung in der Psychologie. Analyse der Geisteserzeugnisse: V\u00f6lkerpsychologie.\n\u00a7 4. Allgemeine \u00fcebersicbt des Gegenstandes . . >1. Analytische und synthetische Aufgabe der Psychologie. Die psychischen Elemente. 2. Die einzelnen synthetischen Aufgaben in aufsteigender Reihenfolge: Psychische Gebilde, Zusammenh\u00e4nge und Entwicklungen. 3. Die Gesetze des psychischen Geschehens und ihre Gausalit\u00e4t.","page":0},{"file":"a0008.txt","language":"de","ocr_de":"vm\nInhaltsverzeichniss.\nI. Die psychischen Elemente.\nSeite\n\u00a7 5. Hauptformen und allgemeine Eigenschaften\nder psychischen Elemente....................... 33\n1. Gewinnung der psychischen Elemente durch Abstraction. 2. Zwei Arten psychischer Elemente: Empfindungen und einfache Gef\u00fchle. 3. Elementare Natur und specifische Beschaffenheit psychischer Vorg\u00e4nge nicht identisch. 4. Gemeinsame Eigenschaften der psychischenElemente: Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t. 5. Gleichf\u00f6rmige und mannigfaltige, eindimensionale und mehrdimensionale Qualit\u00e4tensysteme.\n6. Unterscheidende Merkmale der Empfindlings- und Gef\u00fchlselemente. 6a. Zur Geschichte der Begriffe Empfindung und Gef\u00fchl.\n\u00a7 6. Die reinen Empfindungen......................... 45\n1. Begriff der reinen Empfindung. 2. Entstehung der Empfindungen. Die Empfindungsreize. 3. Physiologische Substrate der Empfindungssysteme. Mechanische und chemische Sinne. 4. Das sogenannte Gesetz der specifischen Energie. 5. Das Gesetz des Parallelismus der Empfindungsunterschiede und der physiologischen Reizungsunterschiede.\nA. Die Empfindungen des allgemeinen Sinnes........... 54\n6. Begriff des allgemeinen Sinnes und Empfindungs-systeme desselben. 7. Eigenschaften und Unterschiede der verschiedenen Theile des allgemeinen Sinnesorgans. 8. Spe-\ncielles \u00fcber die vier Qualit\u00e4tensysteme des allgemeinen Sinnes.\nB. Die Sehallempfindungen...................* . . . . 5S\n9. Einfache Ger\u00e4uschempfindungen. 10. Tonempfindungen. 11. Das System der Tonempfindungen.\nG. Die Geruchs- und Geschmacksempfindungen.............. 62\n12. Geruchsempfindungen. 12a. Die Geruchsclassen. Wechselseitige Neutralisation von Geruchsreizen. 13. Geschmacksempfindungen. Die vier Hauptqualit\u00e4ten 13 a. Mischung und Aufhebung von Geschmacksreizen.\nD. Die Lichtempfindungen................................... 65\n14. Die farblosen Empfindungen. 15. Die Farben-empfindungen. 16. S\u00e4ttigung der Farben. 17. Helligkeit der Farben. 18. Beziehungen zwischen farblosen und farbigen Helligkeitsempfindungen. 19. Dreidimensionales","page":0},{"file":"a0009.txt","language":"de","ocr_de":"Inhaltsverzeichnis.\nIX\nSystem der Lichtempfindungen. 20. Die vier Hauptempfindungen. 21. Beziehungen zwischen Empfindung und Reiz f\u00fcr den Lichtsinn. 22. Erg\u00e4nzungsfarben und Farbenmischungen. 23. Die drei Grundfarben. 24. Schl\u00fcsse auf die photochemische Reizung der Netzhaut. 25. Nachdauer der Reizung. 26. Licht- und Farbencontraste. 2Ga. Physiologische Theorien.\n7. Die einfachen Gef\u00fchle............................. 87\n1. Allgemeine Charakteristik der einfachen Gef\u00fchle.\n2. Sinnliche Gef\u00fchle (Gef\u00fchlston der Empfindung). 3. Beziehungen zwischen Empfindungs- und Gef\u00fchls\u00e4nderung.\n4. Einfluss qualitativer Empfindungs\u00e4nderungen auf den Gef\u00fchlswechsel. 5. Einfluss der Empfindungsintensit\u00e4t auf die Gef\u00fchle. 6. Mannigfaltigkeit der einfachen Gef\u00fchle.\n7. Die drei Hauptrichtungen des Gef\u00fchls. 8. Beispiele der einzelnen Formen. 9. Zusammenhang der drei Gef\u00fchlsrichtungen mit dem Verlauf der psychischen Vorg\u00e4nge.\n10. Physiologische Begleiterscheinungen der G ef\u00fchle. 11. Spe-cielle Beziehung zu den Pulsbewegungen. 11a. Physiologisches Schema der Pulswirkungen.\nII. Die psychischen Gebilde.\n\u00a7 8. Begriff und Eintheilung der psychischen Ge-\nbilde.......................................106\n1. Definition des Begriffs \u00bbpsychisches Gebilde\u00ab. 2. Zusammensetzung der psychischen Gebilde. 3. Eintheilung derselben.\n\u00a79. Die intensiven Vorstellungen.................109\n1. Allgemeine Eigenschaften der intensiven Vorstellungen. Die Verschmelzung. 2. Uebersicht der intensiven Verschmelzungen in den einzelnen Sinnesgebieten. 3. Intensive Geh\u00f6rsvorstellungen: Der Einzelklang. 4. Bedingungen der vollst\u00e4ndigen Klangverschmelzung. 5. Der Zusammenklang. 6. Die Differenzt\u00f6ne. 7. Das Ger\u00e4usch. 7 a. Theorien \u00fcber Klanganalyse und Tonverschmelzung.\n\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen......................120\n1. Allgemeiner Begriff der extensiven Vorstellungen. Besondere Merkmale der r\u00e4umlichen Vorstellungen. 2. Psychologische Aufgabe einer Analyse der r\u00e4umlichen Vorstellungen. 3. Arten der r\u00e4umlichen Vorstellungen.","page":0},{"file":"a0010.txt","language":"de","ocr_de":"X\nInhaltsverzeichnis.\nA.\tDie r\u00e4umlichen Tastvorstellungen.........................\n4. Localisation der Tastreize. Die qualitativen Localzeichen. 5. Entstehung der r\u00e4umlichen Tastvorstellungen des Sehenden. 0. Der Tastsinn des Blinden. 7. Theorie der r\u00e4umlichen Vorstellungen des Blinden. 8. Allgemeiner Charakter der Raumverschmelzungen des Tastsinnes. 9. Verschmelzungen mit Erinnerungselementen, l\u00fc. Die Vorstellungen der eigenen Bewegung beim Sehenden. 11. Dieselben Vorstellungen beim Blindgeborenen. 12. Die Vorstellungen von der Lage und Bewegung des Gesammtk\u00f6rpers. 12a. Theorien \u00fcber die Entstehung der r\u00e4umlichen Tastvorstellungen.\nB.\tDie r\u00e4umlichen Gesichtsvorstellungen.....................\n13.\tAllgemeiner Charakter der Gesichtsvorstellungen.\n14.\tAllgemeine Factoren derselben.\na.\tDie wechselseitige Orientirung der Elemente einer Ge-\nsichtsvorstellung ....................................\n15.\tLocalisation im Sehfeld. 16. Localisationssch\u00e4rfe in den verschiedenen Regionen des Sehfeldes. Directes und indirectes Sehen. 17. Die Bewegungen des Auges.\n18.\tBeziehung der Augenbewegungen zur Localisation.\n19.\tConstante Richtungs- und Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen im Sehfeld in Folge der Bewegungsgesetze des Auges. 20. Variable Richtungs- und Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen in Folge allgemeing\u00fcltiger Eigenschaften der willk\u00fcrlichen Bewegung. 21. Unabh\u00e4ngigkeit der r\u00e4umlichen Gr\u00f6\u00dfen im Sehfeld von der Dichtigkeit der Netzhautelemente. 22. Das r\u00e4umliche Sehen eine Function zweier Factoren. Nothwendigkeit der Annahme von Localzeichen der Netzhaut und empirische Nachweisung derselben. 23. Allgemeine Theorie des r\u00e4umlichen Sehens.\nb.\tDie Orientirung der Gesichtsvorstellungen zum vorstelleu-\nden Subjecte..........................................\n24. Orientirungspunkt beim binocularen Sehen. Richtung der Orientirungslinie. 25. Vorstellung der Gr\u00f6\u00dfe der Orientirungslinie. 26. Unterscheidung von fern und nah.\n27.\tAuffassung von Punkten verschiedener Entfernung.\n28.\tTheorie der binocularen k\u00f6rperlichen Vorstellungen.\n29.\tWechselnde Bedingungen der Tiefenvorstellungen. Einfluss der Fixationslinien. 30. Die binocularen Doppelbilder und die Entfernungslocalisation.","page":0},{"file":"a0011.txt","language":"de","ocr_de":"Inhalts verzeichniss.\nXI\nSeite\no. Die Beziehungen zwischen der wechselseitigen Orientirung\nder Elemente und ihrer Orientirung zum Subject .\t160\n31. Das Aufrechtsehen. 32. Die Sehfeldfl\u00e4che. 32 a. Die complexen Localzeichen der Tiefe und die binoculare Parallaxe. 33. Das Stereoskop. 34. Monoculare Tiefenvorstellungen. Der Einfluss der Accommodation. 35. Die Elemente der Perspective. 35 a. Uebersicht der Theorien.\n\u00a711. Die zeitlichen Vorstellungen.............................167\n1. Allgemeine Bedingungen der zeitlichen Vorstellungen. 2. Merkmale der zeitlichen gegen\u00fcber der r\u00e4umlichen Ordnung. 2 a. Die Formen der Zeitvorstellungen und ihre sprachlichen Bezeichnungen.\nA.\tDie zeitlichen Tastvorstellungen..........................170\n3. Beziehung der mechanischen Eigenschaften der Tastapparate zu den Zeitvorstellungen. 4. Die rhythmischen Tastbewegungen. 5. Die Taktvorstellungen des Tastsinns.\nB.\tDie zeitlichen Geh\u00f6rsvorstellungen........................174\n\u00dc. Beg\u00fcnstigende Eigenschaften des Geh\u00f6rssinns. Con-tinuirliche und discontinuirliche Rhythmen. 7. Analyse einfacher Taktvorstellungen. Einfluss des Empfindungsverlaufs auf dieselben. 8. Ver\u00e4nderungen der rhythmischen Zeitauffassung durch wechselnde objective Bedingungen.\n9.\tSubjective Bedingungen der rhythmischen Zeitvorstellungen.\nC.\tDie allgemeinen Bedingungen der zeitlichen Vorstellungen 180\n10.\tSpecifischer Charakter der zeitlichen Vorstellungen.\n11.\tDer innere Blickpunkt. 12. Das stetige Flie\u00dfen und die eindimensionale Beschaffenheit der Zeit. 13. Allgemeine Theorie der Zeitvorstellungen. Die Zeitzeichen. 13a. Geometrische Versinnlichung der Zeit. Nativistisclie und genetische Theorien.\n\u00a7 12. Die zusammengesetzten Gef\u00fchle.......................186\n1. Die Gem\u00fcthsbewegungen im allgemeinen. 2. Charakter der intensiven Gef\u00fchlsverbindungen. 3. Gef\u00fclils-componenten und Gef\u00fchlsresultanten: Partial- und Totalgef\u00fchle. Verwebungen der Gef\u00fchlselemente. 3 a. Erl\u00e4uterung an musikalischen Zusammenkl\u00e4ngen. 4. Das Gemeingef\u00fchl.\n4 a. Unzul\u00e4nglichkeit der physiologischen Theorien des Gemeingef\u00fchls. 5. Lust- und Unlustgef\u00fchle. 6. Contrast-","page":0},{"file":"a0012.txt","language":"de","ocr_de":"XII\nInhaltsverzeichnis.\ngef\u00fchle. 7. Die \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchle. Gefallen und Missfallen. 8. Intensive und extensive Gef\u00fchle. 9. Die intensiven Gef\u00fchle: Farben- und Klangverbindungen. 10. Die extensiven Gef\u00fchle: Formgef\u00fchle und rhythmische Gef\u00fchle. 11. Psychologische Theorie der zusammengesetzten Gef\u00fchle. 12. Princip der Einheit der Gem\u00fcthslage.\n\u00a7 13. Die Affecte.......................................\n1. Begriff der Affecte. 2. Benennungen der Affecte. 3. Allgemeiner Verfauf der Affecte. 4. Physische Begleiterscheinungen: Ausdrucksbewegungen. 5. Classification der Ausdrucksbewegungen. 5a. Symptomatische Bedeutung derselben. 6. Ver\u00e4nderungen der Puls- und Athmungs-bewegungen. Ruhige, sthenische und asthenische, schnelle und langsame Affecte. 7. Zusammenhang der Innervations\u00e4nderungen mit den formalen Eigenschaften der Affecte. 8. Affectverst\u00e4rkung durch die physischen Begleiterscheinungen. 9. Psychologische Classification der Affecte.\n10.\tAffectformen der Gef\u00fchlsqualit\u00e4t. Lust- und Unlust-affecte, excitirende und deprimirende, spannende und l\u00f6sende Affecte. 11. Die Affectbezeichnungen der Sprache. 12. Affect -formen der Gef\u00fchlsintensit\u00e4t: schwache und starke Affecte. 13. Verlaufsformen: pl\u00f6tzliche, allm\u00e4hlich ansteigende, intermittirende Affecte. 13 a. Vorherrschende Bedeutung der Gef\u00fchlsqualit\u00e4t f\u00fcr die Affectunterscheidung.\n\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge...............................\n1. Beziehung zu den Affecten. 2. Aeu\u00dfere Willenshandlungen. 3. Beziehung zu den Gef\u00fchlen. 4. Die Willensmotive. 5. Entwicklung des Willens. Triebhandlungen. 6. Willk\u00fcr- und Wahlhandlungen. 7. Entscheidung und Entschlie\u00dfung. Die Th\u00e4tigkeitsgef\u00fchle. 8. Abschw\u00e4chung der Affecte durch intellectuelle Processe. 9. Entwicklung innerer Willenshandlungen. 10. Regressive Entwicklungen. Mechanisirung der Willensprocesse. Zweckm\u00e4\u00dfiger Charakter der Reflexbewegungen. 10 a. Kritik der Willenstheorien.\n11.\tZeitlicher Verlauf der WGllenserregungen. Die Reac-tionsversuche. Sensorielle und muscul\u00e4re Reaction. 12. Zusammengesetzte Reactionsvorg\u00e4nge. 13. Automatisirung der Reactionen. 13 a. Allgemeine Bedeutung der Reactions-versuche. Chronometrische H\u00fclfsmittel.\nSaite\n198\n214","page":0},{"file":"a0013.txt","language":"de","ocr_de":"Inhaltsverzeichnis.\nXIII\nIII. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nSeite\n\u00a7 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit ....\t238\n1. Begriff des Bewusstseins. 2. Physiologische Bedingungen. 2 a. Localisation psychischer Functionen im Gehirn. 3. Simultaner und successiver Zusammenhang der Bewusstseinsvorg\u00e4nge. Grade des Bewusstseins. Unbe-bewusstwerden psychischer Vorg\u00e4nge. 4. Apperception und Aufmerksamkeit. 5. Klarheitsgrade der Bewusstseinsinhalte.\n0. Lmfang der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins, \u00f6a. Methoden zur Untersuchung des momentanen Bewusstseinszustandes. 6b. Methoden zur Untersuchung des Bewusstseinsumfangs. 7. Gef\u00fchlswirkungen der percipirten Bewusstseinsinhalte. 8. Apperceptionsgef\u00fchle. Passive und active Apperception. 8 a. Experimentelle Methoden. 9. Zusammenhang der Aufmerksamkeits- und Willensvorg\u00e4nge.\n10. Die Begriffe von Subject und Object. 11. Das Selbstbewusstsein. 12. Weitere Entwicklung der Subjects- und Objectsunterscheidung. 12a. Kritik der dualistischen Hypothesen. 13. Uebergang zu den einzelnen psychischen Verbindungsprocessen.\n\u00a7 16. Die Associationen....................................262\n1. Geschichte des Begriffs der Association. 2. Die gew\u00f6hnlich so genannten Associationen complexe Producte elementarer Associationsprocesse. 3. Hauptformen der associativen Elementarprocesse.\nA. Die simultanen Associationen............................267\n4.\tHauptformen: Assimilation und Complication.\na. Die Assimilationen......................................267\n5.\tAllgemeiner Charakter der Assimilationen. 6. Geh\u00f6rsassimilationen. 7. Assimilationen im Gebiet der intensiven Gef\u00fchlsprocesse. 8. R\u00e4umliche Assimilationen des Tastsinns. 9. Assimilationen bei den Gesichtsvorstellungen.\n10. Psychologische Analyse der Assimilationsvorg\u00e4nge.\n11. Einzelne Unterschiede derselben. Illusion.\nb. Die Complicationen......................................275\n12. Eigenschaften und Hauptformen der Complicationen.\nB. Die successiven Associationen...........................276\n13. Zusammenhang mit den Assimilationen. 14. Allgemeiner Charakter der successiven Associationen. 14 a. Die reihenweise Association.","page":0},{"file":"a0014.txt","language":"de","ocr_de":"XIV\nlnhaltsverzeichniss.\na.\tDie sinnlichen Wiedererkennungs- und Erkennungsvorg\u00e4nge\n15. Eigenschaften und Unterschiede derselben, loa. Experimentelle Untersuchung des Einflusses der Compli-cationen. 16. Umwandlung aus simultanen in successive Vorg\u00e4nge. 17. Unterschiede des Wiedererkennungs- und des Erkennungsvorgangs.\nb.\tDie Erinnerungsvorg\u00e4nge...............................\n18. Entstehung aus dem Wiedererkennungsvorgang. 18a. Zusammenhang und allgemeine Bedeutung der Erinnerungsvorg\u00e4nge. 19. Stufen des Erinnerungsvorganges: Mischformen zwischen Wiedererkennung und Erinnerung. 19a. Die so genannte \u00bbmittelbare Association\u00ab. 2U. Erinnerungen auf Grund von mehrfachen Wiedererkennungen und Erkennungen. 21. Elemente der Erinnerungsvorg\u00e4nge. 21 a. Die Classification der zusammengesetzten Associationsformen. 22. Beschaffenheit der Erinnerungsvorstellungen. 23. Der Begriff des Ged\u00e4chtnisses.\n\u00a7 17. Die Ap perceptionsverbindungen.....................\n1. Subjective Eigenschaften der Apperceptionsverbin-dungen. 2. Beziehung zu den Associationen. 3. Allgemeine Eintheilung der Apperceptionsverbindungen.\nA.\tDie einfachen Apperceptionsfunctionen. (Beziehung und\nVergleichung.)....................................\n4. Der Beziehungsvorgang. 5. Der Vergleichungsvorgang. 6. Uebereinstimmung und Unterscheidung. 7. Die Gr\u00f6\u00dfenbestimmung psychischer Elemente und Gebilde. 8. Unterschiede psychischer und physischer Gr\u00f6\u00dfenbestimmung. 9. Methoden psychischer Gr\u00f6\u00dfenmessung. 10. Reiz-und Unterschiedsschwelle. DasWeber\u2019sche Gesetz. 10a. Spe-cielles \u00fcber das Weber\u2019sche Gesetz und die Methoden seiner Nachweisung. 11. Die psychologischen Contrast-erseheinungen. Zusammenwirken mit den physiologischen Contrastersclieinungen beim Gesichtssinn. 12. Sonstige Con-trasterscheinungen. 13. Contrast zwischen Eindruck und Erwartung.\nB.\tDie zusammengesetzten Apperceptionsfunctionen. (Syn-\nthese und Analyse.)...............................\n14. Die Gesammtvorstellungen. 15. Psychologische Analyse der \u00bbPhantasieth\u00e4tigkeit\u00ab. 16. Psychologie der\nSeite\n278\n283\n291\n294\n305","page":0},{"file":"a0015.txt","language":"de","ocr_de":"lnlialtsverzeichniss.\nXV\nSeite\n\u00bbVerstandesth\u00e4tigkeit\u00ab. 17. Psychologischer Charakter der Begriffe. 18. Phantasie und Verstand als individuelle Anlagen. Das Talent.\n\u00a7 18. Psychische Zust\u00e4nde................................314\n1. Allgemeine Bedingungen abnormer Zust\u00e4nde. 2. Ver\u00e4nderungen der Elemente. 11. Ver\u00e4nderungen der Vorstellungsgebilde: Hallucinationen und Illusionen. 4. Abweichungen der Gef\u00fchls- und Willensvorg\u00e4nge: Depressionsund Exaltationszust\u00e4nde. 5. Abnormit\u00e4ten des Bewusstseins.\n6. Associations- und Apperceptions\u00e4nderungen. 7. Der Traum. 8. Die Hypnose. 9. Beziehungen zwischen Schlaf und Hypnose. 9a. Physiologische Theorie von Schlaf, Traum und Hypnose.\nIV. Die psychischeu Entwicklungen.\n\u00a7 19. Die psychischen Eigenschaften der Thiere 324 1. Allgemeines \u00fcber die geistige Entwicklung der Thiere. 2. Geschwindigkeit der tbierischen Entwicklung und einseitige Functionsrichtungen. 3. Die thierischen Distincte. 4. Entwicklung der Instincte. 5. Genetisches Verh\u00e4ltnis der Thiere zum Menschen in psychologischer Hinsicht. 5 a. Unzul\u00e4nglichkeit psychologischer Grenzbestimmungen. Die Theorien der Instincte.\n\u00a7 20. Die psychische Entwicklung des Kindes . .\t332\n1. Ausbildung der Sinnesfunctionen. 2. Die psychischen Elemente in der individuellen Entwicklung. 3. Entstehung r\u00e4umlicher Vorstellungen. 4. Entwicklung der zeitlichen Vorstellungen. 5. Associationen und Apperceptionsverbin-dungen. (i. Entwicklung des Selbstbewusstseins. 7. Entwicklung desWillens. 8. Entwicklung der Sprache. 9. Phan-tasieth\u00e4tigkeit des Kindes. Spieltrieb. 10. Verstandesfunctionen. 10 a. lrrth\u00fcmer der Kinderpsychologie.\n\u00a721. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften 347 1. Unterschiede menschlicher und thierischer Gemeinschaften. 2. Die menschlichen Gemeinschaftserzeugnisse.\nA. Die Sprache...........................................350\n3. Die Geberdensprache. 4. Allgemeine Entwicklung der Lautsprache. 5. Lautwandel und Bedeutungswandel.\n6. Psychologische Bedeutung der Wortfolge.","page":0},{"file":"a0016.txt","language":"de","ocr_de":"XVI\nInhaltsverzeichnis.\nSeite\nB.\tDer Mythus.............................................355\n7. Die personificirende Apperception. 8. Allgemeine Entwicklungsbedingungen derselben. 9. Animismus und Fetischismus. 10. Der Naturmythus.\nC.\tDie Sitte..............................................359\n11. Beziehungen zum Mythus. 12. Bedeutungswandel der Sitte. 13. Differenzirung in Sitte, Recht und Sittlichkeit. 14. Gesammtbewusstsein undGesammtwille. 14a. Kritische Zus\u00e4tze.\nV. Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\n\u00a7 22. Der Begriff der Seele..........................363\n1. Das allgemeine Princip der Causalit\u00e4t. 2. Die Begriffe der Materie, Kraft und Energie. 3. Die Seele als H\u00fclfsbegriff der Psychologie. 4. Der substantielle Seelenbegriff. 5. Der materialistische und der spiritualises che Seelenbegriff'. 6. Der Actualit\u00e4tsbegriff der Seele. 7. Wissenschaftliche Entwicklung des Actualit\u00e4tsbegriffs. 8. Das Problem des Verh\u00e4ltnisses zwischen Leib und Seele. 9. Das Princip des psycho-physischen Parallelismus. 10. Forderung einer selbst\u00e4ndigen psychischen Causalit\u00e4t.\n\u00a723. Die psychologischen Beziehungsgesetze .\t375\n1. Die drei allgemeinen Beziehungsgesetze. 2. Das Gesetz der psychischen Resultanten. 3. Princip der sch\u00f6pferischen Synthese. 4. Zunahme der psychischen und Con-stanz der physischen Energie. 5. Das Gesetz der psychischen Relationen. 6. Das Gesetz der psychischen Contraste. 7. Verh\u00e4ltniss des Contrastgesetzes zu den beiden vorangegangenen Gesetzen.\n*\t\u00a7 24. Die psychologischen Entwicklungsgesetze .\t381\n1. Die drei allgemeinen Entwicklungsgesetze. 2. Das Gesetz des geistigen Wachsthums. 3. Das Gesetz der Hetero-gonie der Zwecke. 4. Das Gesetz der Entwicklung in Gegens\u00e4tzen.","page":0},{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\n\u00a7 1. Aufgabe der Psychologie.\n1. Zwei Begriffsbestimmungen der Psychologie sind in der Geschichte dieser Wissenschaft die vorherrschenden. Nach der einen ist die Psychologie \u00bbWissenschaft von der Seele\u00bb: die psychischen Vorg\u00e4nge werden als Erscheinungen betrachtet, aus denen auf das Wesen einer ihnen zu Grunde liegenden metaphysischen Seelensubstanz zur\u00fcckzuschlie\u00dfen sei. Nach der andern ist die Psychologie \u00bbWissenschaft der innem Erfahrung\u00ab. Nach ihr geh\u00f6ren die psychischen Vorg\u00e4nge einer besondern Art von Erfahrung an, die ohne weiteres daran zu unterscheiden sei, dass ihre Objecte der \u00bbSelbstbeobachtung\u00ab oder, wie man diese auch im Gegensatz zur Wahrnehmung durch die \u00e4u\u00dferen Sinne nennt, dem \u00bbinneren Sinne\u00ab gegeben seien.\nKeine dieser Begriffsbestimmungen gen\u00fcgt jedoch dem heutigen Standpunkt der Wissenschaft. Die erste, die metaphysische Definition entspricht einem Zustand, der f\u00fcr die Psychologie l\u00e4nger als f\u00fcr andere Gebiete bestanden hat, der aber auch f\u00fcr sie endg\u00fcltig vor\u00fcber ist, nachdem sie sich zu einer mit eigent\u00fcmlichen Methoden arbeitenden empirischen Disciplin entwickelt hat, und seitdem die \u00bbGeisteswissenschaften\u00ab als ein gro\u00dfes den Naturwissenschaften gegen\u00fcberstehendes Wissenschaftsgebiet anerkannt\nWundt, Psychologie.\t\\","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nEinleitung.\nsind, das eine selbst\u00e4ndige, von metaphysischen Theorien unabh\u00e4ngige Psychologie als seine allgemeine Grundlage fordert.\nDie zweite, die empirische Definition, die in der Psychologie eine \u00bbWissenschaft der innern Erfahrung\u00ab sieht, ist deshalb unzul\u00e4nglich, weil sie das Missverst\u00e4ndnis erwecken kann, als habe sich diese mit Gegenst\u00e4nden zu besch\u00e4ftigen, die von denen der so genannten \u00bb\u00e4u\u00dferen Erfahrung\u00ab durchg\u00e4ngig verschieden seien. Nun ist es zwar richtig, dass es Erfahrungsinhalte gibt, die der psychologischen Untersuchung zufallen, w\u00e4hrend sie unter den Objecten und Vorg\u00e4ngen derjenigen Erfahrung, mit der sich die Naturforschung besch\u00e4ftigt, nicht Vorkommen: so unsere Gef\u00fchle, Affecte, Willensentschl\u00fcsse. Dagegen gibt es keine einzige Naturerscheinung, die nicht auch unter einem ver\u00e4nderten Gesichtspunkt Gegenstand psychologischer Untersuchung sein k\u00f6nnte. Ein Stein, eine Pflanze, ein Ton, ein Lichtstrahl sind als Naturerscheinungen Objecte der Mineralogie, Botanik, Physik u. s. w. Aber insofern diese Naturerscheinungen Vorstellungen in uns erwecken, sind sie zugleich Objecte der Psychologie, die \u00fcber die Entstehungsweise dieser Vorstellungen und \u00fcber ihr Verh\u00e4ltniss zu andern Vorstellungen sowie z u den nicht auf \u00e4u\u00dfere Gegenst\u00e4nde bezogenen Vorg\u00e4ngen, den Gef\u00fchlen, Willensregungen u. s. w., Rechenschaft zu geben sucht. Einen \u00bbinneren Sinn\u00ab, der als Organ der psychischen Wahrnehmung den \u00e4u\u00dferen Sinnen als den Organen der Naturerkenntniss gegen\u00fcbergestellt werden k\u00f6nnte, gibt es demnach \u00fcberhaupt nicht. Die Vorstellungen, deren Eigenschaften die Psychologie zu erforschen sucht, entstehen gerade so gut mit H\u00fclfe der \u00e4u\u00dferen Sinne wie die Wahrnehmungen, von denen die Naturforschung ausgeht; und die subjectiven Regungen, die bei der naturwissenschaftlichen Auffassung der","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 1. Aufgabe der Psychologie.\n3\nDinge au\u00dfer Betracht bleiben, die Gef\u00fchle, Affecte, Willensacte. sind uns nicht mittelst besonderer Wahrnehmungs-organe gegeben, sondern sie verbinden sich f\u00fcr uns unmittelbar und untrennbar mit den auf \u00e4u\u00dfere Gegenst\u00e4nde bezogenen Vorstellungen.\n2.\tHieraus ergibt sich, dass die Ausdr\u00fccke \u00e4u\u00dfere und innere Erfahrung nicht verschiedene Objecte, sondern verschiedene Gesichtspunkte andeuten, die wir bei der Auffassung und wissenschaftlichen Bearbeitung der an sich einheitlichen Erfahrung anwenden. Diese Gesichtspunkte werden aber dadurch nahe gelegt, dass sich jede Erfahrung unmittelbar in zwei Factoren sondert: in einen Inhalt, der uns gegeben wird, und in unsere Auffassung dieses Inhalts. Wir bezeichnen den ersten dieser Factoren als die Objecte der Erfahrung, den zweiten als das erfahrende Subject. Daraus entspringen zwei Richtungen f\u00fcr die Bearbeitung der Erfahrung. Die eine ist die der Naturwissenschaft: sie betrachtet die Objecte der Erfahrung in ihrer von dem Subject unabh\u00e4ngig gedachten Beschaffenheit. Die andere ist die der Psychologie: sie untersucht den gesammten Inhalt der Erfahrung in seinen Beziehungen zum Subject und in den ihm von diesem unmittelbar beigelegten Eigenschaften. Demgem\u00e4\u00df l\u00e4sst sich auch der naturwissenschaftliche Standpunkt, insofern er erst mittelst der Abstraction von dem in jeder wirklichen Erfahrung enthaltenen subjectiven Factor m\u00f6glich ist, als derjenige der mittelbaren Erfahrung, der psychologische dagegen, der diese Abstraction und alle aus ihr entspringenden Folgen geflissentlich wiederaufhebt, als derjenige der unmittelbaren Erfahrung bezeichnen.\n3.\tDie daraus entspringende Aufgabe der Psychologie als einer allgemeinen, der Naturwissenschaft coordinirten und sie erg\u00e4nzenden empirischen Wissenschaft findet ihre\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nEinleitung.\nBest\u00e4tigung in der Betrachtungsweise der s\u00e4mmtlichen Geisteswissenschaften, denen die Psychologie als Grundlage dient. Alle diese Wissenschaften, Philologie, Geschichte, Staats- und Gesellschaftslehre, haben zu ihrem Inhalt die unmittelbare Erfahrung, wie sie durch die Wechselwirkung der Objecte mit erkennenden und handelnden Subjecten bestimmt wird. Alle Geisteswissenschaften bedienen sich daher nicht der Abstractionen und der hypothetischen H\u00fclfsbegrifFe der Naturwissenschaft, sondern die Vorstellungsobjecte und die sie begleitenden subjectiven Regungen gelten ihnen als unmittelbare Wirklichkeit, und sie suchen die einzelnen Be-standtheile dieser Wirklichkeit aus ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu erkl\u00e4ren. Dies Verfahren der psychologischen Interpretation in den einzelnen Geisteswissenschaften muss demnach auch das Verfahren der Psychologie selbst sein, wie es durch ihren Gegenstand, die unmittelbare Wirklichkeit der Erfahrung, gefordert wird.\n3 a. Da die Naturwissenschaft den Inhalt der Erfahrung unter Abstraction von dem erfahrenden Subjecte erforscht, so pflegt man ihr auch die \u00bbErkenntniss der Au\u00dfenwelt\u00ab als ihre Aufgabe zuzuweisen, wobei unter Au\u00dfenwelt die Gesammtheit der uns in der Erfahrung gegebenen Objecte verstanden wird. Dem entsprechend hat man dann zuweilen die Aufgabe der Psychologie als die \u00bbSelbsterkenntniss des Subjectes\u00ab definirt. Diese Begriffsbestimmung ist jedoch deshalb ungen\u00fcgend, weil neben den Eigenschaften des einzelnen Subjectes airch die Wechselwirkungen desselben mit der Au\u00dfenwelt und mit andern \u00e4hnlichen Subjecten zur Aufgabe der Psychologie geh\u00f6ren. Ueberdies kann jener Ausdruck leicht so gedeutet werden, als wenn Au\u00dfenwelt und Subject getrennte Bestandtheile der Erfahrung w\u00e4ren oder mindestens in von einander unabh\u00e4ngige Erfahrungsinhalte gesondert werden k\u00f6nnten, w\u00e4hrend doch die \u00e4u\u00dfere Erfahrung stets an die Auffassungs- und Erkenntnissfunctionen des Subjectes gebunden bleibt und die innere Erfahrung die Vorstellungen von der Au\u00dfenwelt als einen unver\u00e4u\u00dferlichen Bestandtheil enth\u00e4lt. Dieses Ver-","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 1. Aufgabe der Psychologie.\n5\nh\u00e4ltniss entspringt aber mit Notwendigkeit daraus, dass in Wahrheit die Erfahrung nicht ein Nebeneinander verschiedener Gebiete, sondern ein einziges zusammenh\u00e4ngendes Ganzes ist, das in jedem seiner Bestandtheile sowohl das Subject, das die Erfahrungs-iuhalte auffasst, wie die Objecte, die dem Subject als Erfahrungsinhalte gegeben werden, voraussetzt. Darum kann auch die Naturwissenschaft nicht von dem erkennenden Subject \u00fcberhaupt, sondern sie kann nur von denjenigen Eigenschaften desselben abstrahiren, die entweder, wie die Gef\u00fchle, verschwinden, sobald man sich das Subject hinwegdenkt, oder die, wie die Qualit\u00e4ten der Empfindungen, auf Grund der physikalischen Untersuchung dem Subject zugeschrieben werden m\u00fcssen. Die Psychologie dagegen hat den gesammten Inhalt der Erfahrung in seiner unmittelbaren Beschaffenheit zu ihrem Gegenstand.\nWenn hiernach der letzte Grund f\u00fcr die Scheidung der Naturwissenschaften von der Psychologie und den Geisteswissenschaften nur darin gesucht werden kann, dass jede Erfahrung einen objectiv gegebenen Erfahrungsinhalt und ein erfahrendes Subject als Factoren enth\u00e4lt, so ist \u00fcbrigens damit selbstverst\u00e4ndlich durchaus nicht gefordert, dass jene Scheidung bereits eine logische Begriffsbestimmung beider Factoren voraussetze. Denn es ist klar, dass eine solche \u00fcberhaupt erst auf Grund der naturwissenschaftlichen und der psychologischen Untersuchung m\u00f6glich ist, also keinesfalls dieser vorangehen kann. Die einzige Voraussetzung, die der Naturwissenschaft und der Psychologie von Anfang an gemeinsam ist, besteht vielmehr in dem jede Erfahrung begleitenden Bewusstsein, dass durch sie Objecte einem Subject gegeben werden, ohne dass jedoch von einer Kenntniss der Bedingungen, die dieser Unterscheidung zu Grunde liegen, oder von bestimmten Merkmalen, mittelst deren sich der eine Factor von dem andern sondern lie\u00dfe, die Rede sein kann. Auch die Ausdr\u00fccke Object und Subject sind daher in diesem Zusammenh\u00e4nge nur als die R\u00fcck\u00fcbertragung von Unterschieden, die einer bereits ausgebildeten logischen Reflexion angeh\u00f6ren, auf die Stufe der urspr\u00fcnglichen Erfahrung anzusehen.\nIn Folge dieses Verh\u00e4ltnisses erg\u00e4nzen sich nun die naturwissenschaftliche und die psychologische Interpretation der Erfahrung nicht blo\u00df insofern, als die erstere die Objecte unter","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nEinleitung.\nm\u00f6glichster Abstraction von dem Subject, die letztere den An-theil des Subjectes an der Entstehung der Erfahrung ber\u00fccksichtigt, sondern auch in dem Sinne, dass beide jedem einzelnen Erfahrungsinhalte gegen\u00fcber einen abweichenden Standpunkt der Betrachtung einnehmen. Indem die Naturwissenschaft zu ermitteln sucht, wie die Objecte ohne R\u00fccksicht auf das Subject beschaffen sind, ist die Erkenntniss, die sie zu Stande bringt, eine mittelbare oder begriffliche: an Stelle der unmittelbaren Erfahrungsobjecte bleiben ihr die aus diesen Objecten mittelst der Abstraction von den suhjectiven Bestandtheilen unserer Vorstellungen gewonnenen Begriffsinhalte. Diese Abstraction macht aber stets zugleich hypothetische Erg\u00e4nzungen der Wirklichkeit erforderlich. Da n\u00e4mlich die naturwissenschaftliche Analyse zahlreiche Bestandteile der Erfahrung, wie z. B. die Empfindungsinhalte, als subjective Wirkungen objectiver Vorg\u00e4nge nachweist, so k\u00f6nnen diese letzteren in ihrer von dem Sub-jecte unabh\u00e4ngigen Beschaffenheit nicht in der Erfahrung enthalten sein. Man pflegt sie deshalb mittelst hypothetischer H\u00fclfsbegriffe \u00fcber die objectiven Eigenschaften der Materie zu gewinnen. Indem dagegen die Psychologie den Inhalt der Erfahrung in seiner vollen Wirklichkeit, die auf Objecte bezogenen Vorstellungen samt allen ihnen anhaftenden suhjectiven Regungen, untersucht, ist ihre Erkenntnissweise eine unmittelbare oder anschauliche: eine anschauliche in der erweiterten Bedeutung, die dieser Begriff in der neueren wissenschaftlichen Terminologie angenommen hat, und in der er nicht mehr blo\u00df die unmittelbaren Wahrnehmungsinhalte der \u00e4u\u00dferen Sinne, namentlich des Gesichtssinns, sondern alles concret Wirkliche, im Gegensatz zum abstract und begrifflich Gedachten, bezeichnet. Den Zusammenhang der Erfahrungsinhalte, wie er dem Subject wirklich gegeben ist, kann nun die Psychologie nur aufzeigen, indem sie sich ihrerseits jener Abstractionen und hypothetischen H\u00fclfsbegriffe der Naturwissenschaft g\u00e4nzlich enth\u00e4lt. Sind also Naturwissenschaft und Psychologie beide in dem Sinne empirische Wissenschaften, dass sie die Erkl\u00e4rung der Erfahrung zu ihrem Inhalte haben, die sie nur von verschiedenen Standpunkten aus unternehmen, so ist doch die Psychologie in Folge der Eigent\u00fcmlichkeit ihrer Aufgabe offenbar die strenger empirische Wissenschaft.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"7\n\u00a7 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie.\n$ 2. Allgemeine Eichtungen der Psychologie.\n1. Die Auffassung der Psychologie als einer Erfahrungswissenschaft, die es nicht mit einem spezifischen Erfahrungsinhalt. sondern mit dem unmittelbaren Inhalt aller Erfahrung zu thun hat, ist neueren Ursprungs. Diese Auffassung begegnet daher noch in der heutigen Wissenschaft widerstreitenden Anschauungen, die im allgemeinen als Ueberlebnisse fr\u00fcherer Entwicklungsstufen anzusehen sind, und die je nach der Stellung, die sie der Psychologie zur Philosophie und zu andern Wissenschaften anweisen, selbst wieder einander bek\u00e4mpfen. Als die beiden Ilauptrichtungen der Psychologie lassen sich hiernach im Anschl\u00fcsse an die oben (\u00a7 1, 1) angef\u00fchrten verbreitetsten Begriffsbestimmungen die der metaphysischen und der empirischen Psychologie unterscheiden. Beide sondern sich dann aber in eine Anzahl speciellerer Richtungen.\nDie metaphysische Psychologie legt im allgemeinen auf die empirische Analyse und die causale Verkn\u00fcpfung der psychischen Vorg\u00e4nge nur geringen Werth. Indem sie die Psychologie als einen Theil der philosophischen Metaphysik behandelt, ist ihre Hauptabsicht darauf gerichtet, eine Begriffsbestimmung vom \u00bbWesen der Seele\u00ab zu gewinnen, die mit der gesammten Weltanschauung des metaphysischen Systems, in das diese Psychologie eingeht, im Einkl\u00e4nge steht. Aus dem so aufgestellten metaphysischen Begriff der Seele wird dann erst der wirkliche Inhalt der psychologischen Erfahrung abzuleiten versucht. Das Unterscheidungsmerkmal der metaphysischen von der empirischen Psychologie besteht daher darin, dass jene die psychischen Vorg\u00e4nge nicht aus andern psychischen Vorg\u00e4ngen, sondern aus einem von ihnen g\u00e4nzlich verschiedenen Substrat, sei es nun aus den Handlungen einer besondern Seelensubstanz,","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nEinleitung.\nsei es aus Eigenschaften oder Vorg\u00e4ngen der Materie, ableitet. Hiernach scheidet sich die metaphysische Psychologie wieder in zwei Richtungen. Die spiritualistische Psychologie betrachtet die psychischen Vorg\u00e4nge als die Wirkungen einer specifischen Seelensubstanz, die entweder als wesentlich verschieden von der Materie (dualistisches System) oder als ihr wesensverwandt (monistisches oder monadologisches System) angesehen wird. Die metaphysische Grundtendenz der spiritualistisehen Psychologie besteht in der Annahme einer \u00fcbersinnlichen Natur der Seele und in der Vereinbarkeit dieser mit der Annahme der Unverg\u00e4nglichkeit, womit sich zuweilen auch noch die weitere einer Pr\u00e4existenz verbindet. Die materialistische Psychologie f\u00fchrt dagegen die psychischen Vorg\u00e4nge auf das n\u00e4mliche materielle Substrat zur\u00fcck, das die Naturwissenschaft hypothetisch der Erkl\u00e4rung der Naturerscheinungen zu Grunde legt. Die psychischen sind ihr ebenso wie die physischen Lebensvorg\u00e4nge an bestimmte, w\u00e4hrend des individuellen Lebens entstehende und am Ende desselben sich wieder aufl\u00f6sende Gruppirungen der materiellen Stoffelemente gebunden. Die metaphysische Tendenz dieser Richtung besteht in der Leugnung der von der spintualisti-schen Psychologie behaupteten \u00fcbersinnlichen Natur der Seele. Dagegen ist sie mit ihr darin einig, dass sie nicht die psychologische Erfahrung aus sich selbst zu interpretiren, sondern aus irgend welchen Voraussetzungen \u00fcber hypothetische Vorg\u00e4nge eines metaphysischen Substrates abzuleiten sucht.\n2. Aus der Bek\u00e4mpfung dieses letzteren Verfahrens ist die empirische Psychologie hervorgegangen. Ueberall, wo sie folgerichtig durchgef\u00fchrt wird, ist sie daher bem\u00fcht, die psychischen Vorg\u00e4nge entweder auf Begriffe zur\u00fcckzuf\u00fchren, die dem Zusammenhang dieser Vorg\u00e4nge direct ent-","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie.\n9\nnommen sind, oder bestimmte und zwar in der Kegel einfachere psychische Vorg\u00e4nge zu benutzen, um aus ihrem Zusammenwirken andere, verwickeltere Vorg\u00e4nge abzuleiten. Die Grundlagen einer solchen empirischen Interpretation k\u00f6nnen nun aber mannigfaltige sein, und die empirische Psychologie zerf\u00e4llt deshalb wieder in verschiedene Richtungen. Im allgemeinen lassen sich diese Richtungen nach einem doppelten Eintheilungsgrunde unterscheiden. Der erste bezieht sich auf das Verh\u00e4ltniss der innern zur \u00e4u\u00dfern Erfahrung und auf die Stellung, welche danach die beiden Erfahrungswissenschaften, Naturwissenschaft und Psychologie, zu einander einnehmen. Der zweite bezieht sich auf die Thatsachen oder die aus ihnen gebildeten Begriffe, von denen man bei der Interpretation der Vorg\u00e4nge ausgelit. Jede concrete Ausf\u00fchrung der empirischen Psychologie repr\u00e4sentirt gleichzeitig eine Richtung der ersten und eine solche der zweiten Art.\n3. Nach der allgemeinen Auffassung \u00fcber die Natur der psychologischen Erfahrung stehen sich diejenigen Anschauungen gegen\u00fcber, die schon oben \u00a7 I) wegen ihrer entscheidenden Bedeutung f\u00fcr die Feststellung der Aufgabe der Psychologie erw\u00e4hnt wurden: die Psychologie des inneren Sinnes, welche die psychischen Vorg\u00e4nge als Inhalte eines besonderen Erfahrungsgebietes behandelt, das der durch die \u00e4u\u00dferen Sinne vermittelten naturwissenschaftlichen Erfahrung coordinirt, aber durchg\u00e4ngig von ihr verschieden sei; und die Psychologie als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung, die eine reale Verschiedenheit innerer und \u00e4u\u00dferer Erfahrung nicht anerkennt, sondern den Unterschied nur in der Verschiedenheit der Gesichtspunkte erblickt, von denen aus hier und dort die an sich selbst einheitliche Erfahrung betrachtet wird.","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nEinleitung.\nVon diesen beiden Gestaltungen der empirischen Psychologie ist die erste die \u00e4ltere. Sie ist zun\u00e4chst aus dem Streben hervorgegangen, gegen\u00fcber den Uebergriffen der Naturphilosophie die Selbst\u00e4ndigkeit der psychologischen Beobachtung zur Geltung zu bringen. Indem sie in Folge dessen Naturwissenschaft und Psychologie einander coordi-nirt, sieht sie die Gleichberechtigung beider Gebiete vor allem in der durchg\u00e4ngigen Verschiedenheit ihrer Objecte und der Formen der Wahrnehmung dieser Objecte begr\u00fcndet. Diese Anschauung hat auf die empirische Psychologie in doppelter Weise eingewirkt: erstens dadurch, dass sie die Meinung beg\u00fcnstigte, die Psychologie habe sich zwar empirischer Methoden zu bedienen, diese Methoden seien aber, wie die psychologischen Erfahrungen selbst, grunds\u00e4tzlich verchieden von denen der Naturwissenschaft; und sodann dadurch, dass sie dazu dr\u00e4ngte, zwischen jenen beiden vermeintlich verschiedenen Erfahrungsgebieten irgend welche Verbindungen herzustellen. In ersterer Beziehung ist es haupts\u00e4chlich die Psychologie des inneren Sinnes gewesen, welche die Methode der reinen Selbstbeobachtung cul-tivirte (\u00a7 3, 2). In letzterer Beziehung f\u00fchrte die Annahme einer Verschiedenheit der physischen und der psychischen Erfahrungsinhalte mit innerer Nothwendigkeit zur metaphysischen Psychologie zur\u00fcck. Denn der Natur der Sache nach lie\u00df sich von dem gew\u00e4hlten Standpunkte aus \u00fcber die Beziehungen der innern zur \u00e4u\u00dfern Erfahrung oder \u00fcber die sogenannten \u00bbWechselwirkungen zwischen Leib und Seele\u00ab nur mittelst metaphysischer Voraussetzungen Rechenschaft geben. Solche Voraussetzungen mussten dann aber auch auf die psychologische Untersuchung selbst einwirken, so dass diese mit metaphysischen H\u00fclfshypothesen vermengt wurde.\n4. Von der Psychologie des inneren Sinnes scheidet sich nun wesentlich diejenige Anschauung, welche die Psy-","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie.\n11\nchologie als \u00bbWissenschaft der unmittelbaren Erfahrung\u00ab definirt. Indem sie \u00e4u\u00dfere und innere Erfahrung nicht als verschiedene Theile, sondern als verschiedene Betrachtungsweisen einer und derselben Erfahrung auffasst, kann sie eine principielle Verschiedenheit der psychologischen und der naturwissenschaftlichen Methoden nicht zugeben. Diese Eichtling hat daher in erster Linie experimentelle Methoden auszubilden gesucht, welche eine \u00e4hnliche, nur dem ver\u00e4nderten Standpunkt der Betrachtung Rechnung tragende exacte Analyse der psychischen Vorg\u00e4nge zu Stande zu bringen suchen, wie eine solche in Bezug auf die Naturerscheinungen die erkl\u00e4renden Naturwissenschaften unternehmen. Weiterhin aber macht diese Richtung geltend, dass die einzelnen Geisteswissenschaften, die sich mit den concreten geistigen Vorg\u00e4ngen und Sch\u00f6pfungen besch\u00e4ftigen, \u00fcberall auf dem n\u00e4mlichen Boden einer wissenschaftlichen Betrachtung unmittelbarer Erfahrungsinhalte und ihrer Beziehungen zu handelnden Subjecten stehen. Daraus ergibt sich dann nothwendig, dass die psychologische Analyse der allgemeinsten geistigen Erzeugnisse, wie der Sprache, der mythologischen Vorstellungen, der Normen der Sitte, zugleich als ein H\u00fclfsmittel f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis der verwickelteren psychischen Vorg\u00e4nge \u00fcberhaupt betrachtet wird. In methodischer Beziehung steht also diese Richtung in enger Beziehung zu andern Wissenschaftsgebieten: als experimentelle Psychologie zu den Naturwissenschaften, als V\u00f6lkerpsychologie zu den spe-cielleren Geisteswissenschaften.\nEndlich kommt f\u00fcr diesen Standpunkt die Frage nach dem Verh\u00e4ltnis der psychischen zu den physischen Objecten v\u00f6llig in Wegfall. Beide sind ja in Wahrheit gar nicht verschiedene Objecte, sondern ein und derselbe Inhalt, nur das eine Mal, bei der naturwissenschaftlichen Untersuchung,","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nEinleitung.\nunter Abstraction von dem Subject, das andere Mal, bei der psychologischen Untersuchung, in Bezug auf seine immittel-bare Beschaffenheit imd in seinen durchg\u00e4ngigen Beziehungen zum Subjecte betrachtet. Alle metaphysischen Hypothesen \u00fcber das Verh\u00e4ltniss der psychischen zu den physischen Objecten sind daher unter diesem Gesichtspunkte L\u00f6sungen eines Problems, das auf einer falschen Fragestellung beruht. Muss die Psychologie im Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge selbst, weil diese unmittelbare Erfahrungsinhalte sind, auf metaphysische H\u00fclfshypothesen verzichten, so steht es ihr dagegen, da innere und \u00e4u\u00dfere Erfahrung einander erg\u00e4nzende Betrachtungsweisen einer und derselben Erfahrung sind, frei, \u00fcberall wo der Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge L\u00fccken darbietet, auf die physische Betrachtungsweise der n\u00e4mlichen Vorg\u00e4nge zur\u00fcckzugehen, um nachzuforschen, ob etwa unter diesem ver\u00e4nderten, der Naturwissenschaft entlehnten Gesichtspunkte die vermisste Continuit\u00e4t herzustellen sei. Das n\u00e4mliche wird dann aber in umgekehrter \u00dfichtung auch f\u00fcr diejenigen L\u00fccken gelten, die in dem Zusammenhang unserer physiologischen Erkenntnisse bestehen, indem man diese eventuell durch Glieder erg\u00e4nzt, die sich unter dem Gesichtspunkt der psychologischen Betrachtung ergeben. So ist es erst auf Grund einer solchen, beide Erkenntnissweisen in ihr richtiges Verh\u00e4ltniss setzenden Anschauung m\u00f6glich, dass nicht nur die Psychologie die Forderung, empirische Wissenschaft zu sein, vollkommen zur Durchf\u00fchrung bringe, sondern dass auch ebenso die Physiologie zur wahren H\u00fclfswissenschaft der Psychologie, wie umgekehrt mit demselben liechte die Psychologie zur H\u00fclfswissenschaft der Physiologie werde.\n5. Nach dem zweiten der oben (2) erw\u00e4hnten Ein-theilungsgr\u00fcnde, nach den der Untersuchung der psychischen Vorg\u00e4nge zu Grunde gelegten Thatsachen","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie.\n13\noder Begriffen, lassen sich zun\u00e4chst zwei Richtungen empirischer Psychologie unterscheiden, die im allgemeinen zugleich auf einander folgende Entwicklungsstufen psychologischer Interpretation sind. Die erste entpricht einem descriptiven, die zweite einem explicativen Standpunkte. Indem man die verschiedenen psychischen Vorg\u00e4nge beschreibend zu unterscheiden suchte, entstand das Bed\u00fcrfniss einer zweckm\u00e4\u00dfigen Classification derselben. Es wurden daher Gattungsbegriffe gebildet, unter die man die verschiedenen Vorg\u00e4nge ordnete ; und dem Interpretations-bed\u00fcrfniss des einzelnen Falles suchte man zu gen\u00fcgen, indem die Bestandtheile eines zusammengesetzten Processes den auf sie anwendbaren Allgemeinbegriffen subsumirt wurden. Solche Begriffe sind z. B. Empfindung, Erkennt-niss, Aufmerksamkeit, Ged\u00e4chtniss, Einbildungskraft, Verstand, Wille u. dergl. Sie entsprechen den aus der unmittelbaren Auffassung der Naturerscheinungen liervorge-gangenen physikalischen Allgemeinbegriffen, wie Schwere, W\u00e4rme, Schall, Licht u. s. w. Wenn sie nun auch, ebenso wie diese, zur ersten Ordnung der Thatsachen dienen k\u00f6nnen, so sind sie doch nicht geeignet, irgend etwas zum Verst\u00e4ndniss derselben beizutragen. Nichts desto weniger hat sich die empirische Psychologie vielfach dieser Verwechslung schuldig gemacht. In diesem Sinne betrachtete die Verm\u00f6genspsychologie jene Gattungsbegriffe als psychische Kr\u00e4fte oder Verm\u00f6gen, auf deren bald wechselnde bald gemeinsame Beth\u00e4tigung sie die psychischen Vorg\u00e4nge zur\u00fcckf\u00fchrte.\n6. Die Versuche einer explicativen Bearbeitung, die dieser descriptiven Verm\u00f6genspsychologie gegen\u00fcbertreten, sind, wenn sie den empirischen Standpunkt wirklich fest-halten, gen\u00f6thigt, bestimmte Thatsachen, die selbst der psychischen Erfahrung angeh\u00f6ren, ihren Interpretationen zu","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"J 4\tEinleitung.\nGrunde zu legen. Indem nun diese Thatsaclien verschiedenen Gebieten psychischer Vorg\u00e4nge entnommen werden k\u00f6nnen, spaltet sich die explicative Bearbeitung wieder in zwei Richtungen, die den beiden an der Entstehung der unmittelbaren Erfahrung betheiligten Factoren, den Objecten und dem Subjecte, entsprechen. Legt man den Hauptwerth auf die Objecte der unmittelbaren Erfahrung, so entsteht die intellectualistische Psychologie, die den Versuch macht, alle psychischen Vorg\u00e4nge, insbesondere also auch die subjectiven Gef\u00fchle, Triebe, Willensregungen, aus den Vorstellungen oder, wie man diese wegen ihrer Bedeutung f\u00fcr die objective Erkenntniss auch nennen kann, aus den intellectuellen Vorg\u00e4ngen abzuleiten. Legt man dagegen den Hauptwerth auf die Entstehungsweise der unmittelbaren Erfahrung im Subject, so entsteht eine Richtung, die den nicht auf \u00e4u\u00dfere Objecte bezogenen subjectiven Regungen eine gleichberechtigte Stellung neben den Vorstellungen einr\u00e4umt: man hat dieselbe wegen der Bedeutung, die unter den subjectiven Processen die Willensvorg\u00e4nge beanspruchen, als voluntaristische Psychologie bezeichnet.\nUnter den beiden nach der allgemeinen Auffassung der innern Erfahrung sich scheidenden Richtungen der empirischen Psychologie (3) ist es die Psychologie des inneren Sinnes, die sich zugleich dem Intellectualismus zuzuneigen pflegt. Indem n\u00e4mlich der innere Sinn den \u00e4u\u00dferen Sinnen coordinirt wird, finden zun\u00e4chst diejenigen psychischen Erfahrungsinhalte Beachtung, die, analog wie die Naturgegenst\u00e4nde den \u00e4u\u00dferen Sinnen, so dem inneren Sinn als Objecte gegeben sein sollen. Die Natur von Objecten glaubt man aber von allen psychischen Erfahrungsinhalten nur den Vorstellungen zuschreiben zu k\u00f6nnen, und zwar deshalb, weil sie als Bilder eben jener den \u00e4u\u00dferen Sinnen","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie.\t| 5\ngegebenen Gegenst\u00e4nde au\u00dfer uns betrachtet werden. Demnach werden nun die Vorstellungen als die einzigen realen Objecte des inneren Sinnes angesehen, w\u00e4hrend alle nicht auf \u00e4u\u00dfere Gegenst\u00e4nde bezogenen Vorg\u00e4nge, wie z. B. die Gef\u00fchle, entweder als undeutliche Vorstellungen oder als Vorstellungen, die sich auf unseren eigenen K\u00f6rper beziehen, oder endlich als Wirkungen, die durch das Zusammentreffen der Vorstellungen entstehen, gedeutet werden.\nWie die Psychologie des inneren Sinnes dem Intellec-tualismus, so ist dagegen die Psychologie der unmittelbaren Erfahrung (4) dem Voluntarismus zugeneigt. Da n\u00e4mlich hier eine Hauptaufgabe der Psychologie in der Untersuchung der subjectiven Entstehung aller Erfahrung gesehen wird, so ist es selbstverst\u00e4ndlich, dass f\u00fcr die Analyse dieser Entstehung besonders die Beachtung derjenigen Factoren der Erfahrung gefordert wird, von denen die Naturwissenschaft abstrahirt.\n7. Die intellectualistische Psychologie hat sich im Laufe ihrer Entwicklung wieder in zwei empirische Einzelrichtungen geschieden. Entweder wurden die logischen Urtheils- und Schlussprocesse als die typischen Grundformen alles psychischen Geschehens betrachtet; oder man nahm als solche gewisse durch ihre H\u00e4ufigkeit vor andern bevorzugte Verbindungen auf einander folgender Erinnerungsvorstellungen, die sogenannten Associationen der Vorstellungen, an. Hiervon ist die erste, die logische Theorie, am n\u00e4chsten der popul\u00e4ren psychologischen Interpretationsweise verwandt; sie ist darum die \u00e4ltere, reicht aber freilich zum Tlieil noch bis in die neueste Zeit. Die Associ\u00e2t ions the orie ist aus dem philosophischen Empirismus des vorigen Jahrhunderts hervor-gegangen. Beide Richtungen bezeichnen insofern wieder Gegens\u00e4tze, als die logische Theorie auf h\u00f6here, die","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nEinleitung.\nAssociationstheorie auf niedere und, wie man annimmt, einfache Formen intellectueller Processe die Gesannntheit der psychischen Vorg\u00e4nge zur\u00fcckzuf\u00fchren sucht. An dieser Einseitigkeit scheitern zugleich beide, da es nicht nur keiner von ihnen gelungen ist, die Gef\u00fchls- und Willensvorg\u00e4nge aus den von ihnen angenommenen Grundgesetzen zu erkl\u00e4ren, sondern da diese nicht einmal f\u00fcr die vollst\u00e4ndige Interpretation der intellectuellen Vorg\u00e4nge selbst ausreichen.\n8. Die Verbindung der Psychologie des inneren Sinnes mit der intellectualistischen Anschauung hat endlich noch zu einer eigeuth\u00fcmlichen Voraussetzung gef\u00fchrt, die vielfach f\u00fcr die psychologische Auffassung verh\u00e4ngnissvoll geworden ist, und die wir kurz als die falsche inteile ctualisti-sche Verdinglichung der Vorstellungen bezeichnen k\u00f6nnen. Indem man n\u00e4mlich nicht nur eine Analogie der Objecte des sogenannten inneren Sinnes und der Objecte der \u00e4u\u00dferen Sinne annahm, sondern auch die ersteren als die Bilder der letzteren betrachtete, wurde man veranlasst, die Eigenschaften, die die Naturwissenschaft den \u00e4u\u00dferen Naturgegenst\u00e4nden zuschreibt, auf die unmittelbaren Gegenst\u00e4nde des \u00bbinneren Sinnes\u00ab, die Vorstellungen, zu \u00fcbertragen. Man nahm daher im allgemeinen an, die Vorstellungen selbst seien, gerade so wie die \u00e4u\u00dferen Objecte, auf die sie von uns bezogen werden, Gegenst\u00e4nde, die aus dem Bewusstsein verschwinden und wieder in dasselbe eintreten, und die auch wohl, je nachdem der innere Sinn durch die \u00e4u\u00dferen Sinne erregt wird oder nicht, und je nach der Aufmerksamkeit, die wir ihnen zuwenden, st\u00e4rker und deutlicher oder schw\u00e4cher und undeutlicher wahrgenommen werden k\u00f6nnen, aber doch im ganzen in ihrer qualitativen Beschaffenheit unver\u00e4ndert bleiben.\n9. In allen diesen Beziehungen steht die volunta-ristische Psychologie im Gegens\u00e4tze zum Intellectualismus.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie.\t1 7\nWie dieser an die Annahme eines inneren Sinnes mit eigenartigen Objecten der innern Erfahrung, so ist jene eng an die Auffassung gekn\u00fcpft, dass die innere Erfahrung mit der unmittelbaren Erfahrung identisch sei. Indem n\u00e4mlich nach dieser Auffassung der Inhalt der psychologischen Erfahrung nicht in einer Summe von Gegenst\u00e4nden besteht, sondern in allem dem, was den Process der Erfahrung \u00fcberhaupt zusammensetzt, das hei\u00dft in den Erlebnissen des Subjectes in ihrer unmittelbaren, durch keine Abstraction und Reflexion ver\u00e4nderten Beschaffenheit, so wird hier nothwendig der Inhalt der psychologischen Erfahrung als ein Zusammenhang von Processen betrachtet.\nDieser Begriff' des Processes schlie\u00dft die gegenst\u00e4ndliche und damit auch die mehr oder minder beharrliche Beschaffenheit der psychischen Erfahrungsinhalte aus. Die psychischen Thatsachen sind Ereignisse, nicht Gegenst\u00e4nde; sie verlaufen, wie alle Ereignisse, in der Zeit und sind in keinem folgenden Moment die n\u00e4mlichen, die sie in einem vorangegangenen waren. In diesem Sinne haben die Willensvorg\u00e4nge eine typische, f\u00fcr die Auffassung aller psychischen Vorg\u00e4nge ma\u00dfgebende Bedeutung. Die volun-taristische Psychologie behauptet demnach keineswegs, dass das Wollen die einzige real existirende Form des psychischen Geschehens sei, sondern sie behauptet nur, dass es mit den ihm eng verbundenen Gef\u00fchlen und Affecten einen ebenso unver\u00e4u\u00dferlichen Bestandteil der psychologischen Erfahrung ausmache wie die Empfindungen und Vorstellungen, und dass nach Analogie des Willensvorganges alle andern psychischen Processe aufzufassen seien: als ein fortw\u00e4hrend wechselndes Geschehen in der Zeit, nicht aber als eine Summe beharrender Objecte, wie dies meist der Intellec-tualismus in Folge jener falschen Uebertragung der von uns\nW u n d t, Psychologie.\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nEinleitung.\nvorausgesetzten Eigenschaften der \u00e4u\u00dferen Gegenst\u00e4nde auf die Vorstellungen derselben annimmt. Die Anerkennung der unmittelbaren Realit\u00e4t der psychologischen Erfahrung schlie\u00dft n\u00e4mlich von selbst jeden Versuch, bestimmte Bestandteile des psychischen Geschehens aus andern, von ihnen specifisch verschiedenen abzuleiten, ebenso aus, wie die analogen Versuche der metaphysischen Psychologie, die psychologische Erfahrung \u00fcberhaupt auf von ihr verschiedene imagin\u00e4re Processe eines hypothetischen Substrates zur\u00fcckzuf\u00fchren, mit der wirklichen Aufgabe der Psychologie im Widerspruch stehen. Indem sich diese Aufgabe auf die unmittelbare Erfahrung bezieht, verbindet sie sich aber auch von vornherein mit der Voraussetzung, dass jeder psychische Erfahrungsinhalt gleichzeitig objective und subjective Factoren enth\u00e4lt, wobei diese immer nur durch willk\u00fcrliche Abstraction zu unterscheiden sind, niemals als real geschiedene Vorg\u00e4nge Vorkommen k\u00f6nnen. In der That zeigt die unmittelbare Erfahrung, dass es ebenso wenig Vorstellungen gibt, die nicht Gef\u00fchle und Triebe von verschiedener St\u00e4rke in uns erregen, wie ein F\u00fchlen und Wollen m\u00f6glich ist, das sich nicht auf irgend welche vorgestellte Gegenst\u00e4nde bez\u00f6ge.\n10. Die leitenden Principien der in dem Folgenden festzuhaltenden psychologischen Grundanschauung k\u00f6nnen wir hiernach in die drei S\u00e4tze zusammenfassen:\n1)\tDie innere oder psychologische Erfahrung ist kein besonderes Erfahrungsgebiet neben andern, sondern sie ist die unmittelbare Erfahrung \u00fcberhaupt.\n2)\tDiese unmittelbare Erfahrung ist kein ruhender Inhalt, sondern ein Zusammenhang von Vorg\u00e4ngen; sie besteht nicht aus Objecten, sondern aus Processen, n\u00e4mlich aus den allgemeing\u00fcltigen menschlichen Erlebnissen und ihren gesetzm\u00e4\u00dfigen Beziehungen.","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie.\n19\n3) Jeder dieser Processe hat einerseits einen obj ectiven Inhalt und ist anderseits ein subjectiver Vorgang, und er schlie\u00dft auf diese Weise die allgemeinen Bedingungen alles Erkennens sowohl wie aller praktischen Beth\u00e4tigungen des Menschen in sich.\nDiesen drei Bestimmungen entspricht eine dreifache Stellung der Psychologie gegen\u00fcber andern Wissensgebieten :\n1) Als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung ist sie gegen\u00fcber den Naturwissenschaften, die in Folge der bei ihnen obwaltenden Abstraction von dem Subject \u00fcberall nur den obj ectiven, mittelbaren Erfahrungsinhalt zum Gegenst\u00e4nde haben, die erg\u00e4nzende Erfahrungswissenschaft. Nach ihrer vollen Bedeutung kann irgend eine einzelne Erfahrungsthatsache streng genommen immer erst gew\u00fcrdigt werden, wenn sie die Probe der naturwissenschaftlichen und der psychologischen Analyse bestanden hat. In diesem Sinne sind daher auch ebensowohl Physik und Physiologie H\u00fclfswissenschaften der Psychologie, wie diese hinwiederum eine H\u00fclfsdisciplin der Naturforschung ist.\n2; Als Wissenschaft von den allgemeing\u00fcltigen Formen unmittelbarer menschlicher Erfahrung und ihrer gesetzm\u00e4\u00dfigen Verkn\u00fcpfung ist sie die Grundlage der Geisteswissenschaften. Denn der Inhalt der Geisteswissenschaften besteht \u00fcberall in den aus unmittelbaren menschlichen Erlebnissen hervorgehenden Handlungen und ihren Wiikungen. Insofern die Psychologie die Untersuchung der Erscheinungsformen und Gesetze dieser Handlungen zu ihrer Aufgabe hat, ist sie daher selbst die allgemeinste Geisteswissenschaft und zugleich die Grundlage aller einzelnen, wie der Philologie, Geschichte, National\u00f6konomie, liechts-wissenscliaft u. s. w.\n3, Da die Psychologie die beiden fundamentalen\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nEinleitung.\nBedingungen, die dem theoretischen Erkennen wie dem praktischen Handeln zu Grunde liegen, die subjectiven und die objectiven, gleichm\u00e4\u00dfig ber\u00fccksichtigt und in ihrem Wechsel-verh\u00e4ltniss zu bestimmen sucht, so ist sie unter allen empirischen Disciplinen diejenige, deren Ergebnisse zun\u00e4chst der Untersuchung der allgemeinen Probleme der Erken ntniss theorie wie der Ethik, der beiden grundlegenden Gebiete der Philosophie, zu statten kommen. Wie die Psychologie gegen\u00fcber der Naturwissenschaft die erg\u00e4nzende, gegen\u00fcber den Geisteswissenschaften die grundlegende, so ist sie daher gegen\u00fcber der Philosophie die vorbereitende empirische Wissenschaft.\n10a. Obgleich in der neueren Psychologie die Anschauung mehr und mehr zur Anerkennung gelangt, dass es nicht sowohl die Verschiedenheit der Erfahrungsobjecte als die des Standpunktes der Bearbeitung der Erfahrung ist, wodurch sich die Psychologie von der Naturwissenschaft unterscheidet, so wird doch die klare Erkenntniss der wesentlichen Eigenth\u00fcmlichkeiten jenes f\u00fcr die wissenschaftlichen Aufgaben der Psychologie ma\u00dfgebenden Standpunktes noch immer durch die Nachwirkungen \u00e4lterer metaphysischer und naturphilosophischer Richtungen beeintr\u00e4chtigt. Statt davon auszugehen, dass die naturwissenschaftliche Bearbeitung der Erfahrung erst auf Grund einer Abstraction von den in diese eingehenden subjectiven Factoren zu Stande kommt, schreibt man n\u00e4mlich zuweilen der Naturwissenschaft die allgemeinere Aufgabe zu, den Inhalt aller Erfahrung in allgemeing\u00fcltiger Weise festzustellen. Geschieht dies, so wird dann nothwendig auch die Psychologie zu einer nicht der Naturwissenschaft coordinirten, sondern ihr untergeordneten Disciplin. Sie hat dann nicht mehr die von der Naturwissenschaft ge\u00fcbte Abstraction wieder aufzuheben und auf diese Weise erst gemeinsam mit dieser eine Gesammtauffassung der Erfahrung zu gewinnen, sondern sie hat den von der Naturwissenschaft aufgestellten Begriff des \u00bbSubjectes\u00ab zu benutzen, um \u00fcber die Einfl\u00fcsse dieses Sub-jectes auf die Erfahrungsinhalte Rechenschaft zu geben. Statt anzuerkennen, dass eine zureichende Begriffsbestimmung des","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie.\n21\n\u00bbSubjectes\u00ab erst auf Grund psychologischer Untersuchung m\u00f6glich sei (\u00a7 1, 3 a), wird also hier der Psychologie ein fertiger, ausschlie\u00dflich von der Naturwissenschaft ausgepr\u00e4gter Subject-begriff entgegengebracht. Nun ist f\u00fcr diese das Subject identisch mit dem k\u00f6rperlichen Individuum. Demgem\u00e4\u00df definirt man die Psychologie als die Wissenschaft, welche die Abh\u00e4ngigkeit der unmittelbaren Erfahrungsinhalte von dem k\u00f6rperlichen Individuum festzustellen habe. Dieser Standpunkt, den man auch als den des \u00bb psycho - physischen Materialismus\u00ab bezeichnet, ist aber erkenntnisstheoretisch ebenso unhaltbar, wie er psychologisch unfruchtbar ist. Indem die Naturwissenschaft geflissentlich von dem in aller Erfahrung mit enthaltenen erfahrenden Subject ab-strahirt, ist gerade sie am allerwenigsten in der Lage eine endg\u00fcltige Begriffsbestimmung dieses Subjectes zu geben. Eine Psychologie, die von einer solchen rein physiologischen Definition ausgeht, ruht daher nicht auf der Erfahrung, sondern, gerade so gut wie die \u00e4ltere materialistische Psychologie, a,uf einer metaphysischen Voraussetzung. Psychologisch unfruchtbar ist dieser Standpunkt, weil er die causale Interpretation der psychischen Vorg\u00e4nge von vornherein der Physiologie zuschiebt, die eine solche weder jetzt noch, wegen der Verschiedenartigkeit naturwissenschaftlicher und psychologischer Betrachtungsweise, \u00fcberhaupt jemals zu geben vermag. Dass vollends eine solche in hypothetische Gehirnmechanik verwandelte Psychologie auf die Aufgabe, den Geisteswissenschaften als Grundlage zu dienen, ein f\u00fcr allemal verzichten muss, ist ohne weiteres einleuchtend.\nWenn man die im Gegens\u00e4tze zu solchen Erneuerungsversuchen metaphysischer Lehren streng empirische Richtung, die durch die oben formulirten Principien gekennzeichnet ist, eine \u00bbvoluntaristische\u00ab nennen will, so ist \u00fcbrigens dabei nicht zu \u00fcbersehen, dass dieser psychologische Voluntarismus an und f\u00fcr sich mit irgend welchen metaphysischen Willenslehren gar nichts zu thun hat, und dass er insbesondere zu dem einseitigen metaphysischen Voluntarismus Schopenhauer\u2019s, der alles Seiende aus einem transcendenten Unwillen ableitet, ebenso gut im Gegens\u00e4tze steht wie zu den aus dem lutellectualismus hervorgegangenen metaphysischen Systemen eines Spinoza, Herbart u. A. Das Kennzeichnende des im obigen Sinne gefassten psychologischen Voluntarismus ist vielmehr der Metaphysik gegen\u00fcber,","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nEinleitung.\ndass er jede Metaphysik von der Psychologie ausschlie\u00dft; andern psychologischen Richtungen gegen\u00fcber, dass er alle Versuche die Willensvorg\u00e4nge auf blo\u00dfe Vorstellungen zur\u00fcckzuf\u00fchren ablehnt, w\u00e4hrend er zugleich die typische Bedeutung des Willens f\u00fcr die Beschaffenheit der psychologischen Erfahrung \u00fcberhaupt betont. Diese typische Bedeutung besteht darin, dass die bei den Willenshandlungen allgemein anerkannte Eigenschaft, Ereignisse zu sein, deren Verlauf fortw\u00e4hrende qualitative und intensive Ver\u00e4nderungen in sich schlie\u00dft, als g\u00fcltig auch f\u00fcr die andern psychischen Erfahrungsinhalte betrachtet wird.\n\u00a7 3. Methoden der Psychologie.\n1. Da die Psychologie nicht specifische Erfahrungsinhalte, sondern die allgemeine Erfahrung in ihrer unmittelbaren Beschaffenheit zu ihrem Gegenst\u00e4nde hat, so kann sie sich auch keiner andern Methoden bedienen als solcher, wie sie von den Erfahrungswissenschaften \u00fcberhaupt zur Feststellung von Thatsachen sowie zur Analyse und causalen Verkn\u00fcpfung derselben angewandt werden. Insbesondere kann der Umstand, dass die Naturwissenschaft von dem Subject abstrahirt, w\u00e4hrend die Psychologie dies nicht thut, zwar Modificationen in der Anwendungsweise, nicht aber solche in der wesentlichen Beschaffenheit der von beiden angewandten Methoden begr\u00fcnden.\nNun benutzt die Naturwissenschaft, die hier als das fr\u00fcher ausgebildete Forschungsgebiet der Psychologie zum Vorbild dienen kann, zwei Hauptmethoden: das Experiment und die Beobachtung. Das Experiment besteht in einer Beobachtung, die sich mit der willk\u00fcrlichen Einwirkung des Beobachters auf die Entstehung und den Verlauf der zu beobachtenden Erscheinungen verbindet. Die Beobachtung im engeren Sinne untersucht die Erscheinungen ohne derartige Einwirkungen, so wie sie sich in dem","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 3. Methoden der Psychologie.\n23\nZusammenhang der Erfahrung von selbst dem Beobachter darbieten. Wo \u00fcberhaupt eine experimentelle Einwirkung m\u00f6glich ist, da pflegt man diese in der Naturwissenschaft stets anzuwenden, weil es unter allen Umst\u00e4nden, auch wenn die Erscheinungen an und f\u00fcr sich schon einer zureichend exacten Beobachtung zug\u00e4nglich sind, von Vortheil ist, Eintritt und Verlauf derselben willk\u00fcrlich bestimmen oder auch einzelne Theile einer zusammengesetzten Erscheinung willk\u00fcrlich isoliren zu k\u00f6nnen. Zugleich aber hat sich schon in der Naturwissenschaft eine Scheidung dieser beiden Methoden nach gewissen Gebieten vollzogen, insofern man im allgemeinen f\u00fcr bestimmte Probleme die experimentelle Methode f\u00fcr unentbehrlicher h\u00e4lt als f\u00fcr andere, bei denen der gew\u00fcnschte Zweck nicht selten schon durch die blo\u00dfe Beobachtung erreicht werden kann. Diese beiden Gattungen von Problemen richten sich, von wenigen durch besondere Verh\u00e4ltnisse bedingten Ausnahmen abgesehen, nach der allgemeinen Unterscheidung der Naturerscheinungen in Naturvorg\u00e4nge und in Naturgegenst\u00e4nde.\nIrgend ein Naturvorgang, z. B. eine Licht-, eine Tonbewegung, eine elektrische Entladung, die Entstellung oder Zersetzung einer chemischen Verbindung, ferner eine Reiz-bewecfuns oder eine Stoffwechselerscheinung im Pflanzen-und Thierk\u00f6rper, fordert zum Behuf der exacten Feststellung seines Verlaufs und der Analyse seiner Bestandtheile stets experimentelle Einwirkungen. In der Regel sind diese schon deshalb w\u00fcnschenswertli, weil sich genaue Beobachtungen nur anstellen lassen, wenn man den Augenblick des Eintritts der Erscheinungen selbst zu bestimmen vermag. Sodann aber sind sie unerl\u00e4sslich, um die verschiedenen Bestandtheile einer complexen Erscheinung von einander zu sondern. Denn dies kann in der Regel nur dadurch geschehen, dass","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nEinleitung.\nman willk\u00fcrlich gewisse Bedingungen wegl\u00e4sst oder hinzuf\u00fcgt oder auch in ihrer Gr\u00f6\u00dfe ver\u00e4ndert.\nAnders verh\u00e4lt es sich mit den Naturgegenst\u00e4nden. Da sie relativ constante Objecte sind, die nicht erst in einem bestimmten Moment hervorgebracht werden m\u00fcssen, sondern jederzeit dem Beobachter zur Verf\u00fcgung stehen und der Betrachtung desselben Stand halten, so ist bei ihnen eine experimentelle Untersuchung meist nur dann erforderlich, wenn man die Processe ihrer Entstehung oder ihrer Ver\u00e4nderungen erforschen will, wo die bei dem Studium der Naturvorg\u00e4nge obwaltenden Gesichtspunkte auch auf sie Anwendung finden, indem sie in diesem Fall entweder als Pro-ducte oder als Bestandtheile von Naturvorg\u00e4ngen betrachtet werden. Wo es sich dagegen nur um die thats\u00e4chliche Beschaffenheit von Naturgegenst\u00e4nden handelt, ohne R\u00fccksicht auf ihre Entstehung und ihre Ver\u00e4nderungen, da reicht im allgemeinen die blo\u00dfe Beobachtung aus. In diesem Sinne sind z. B. die Mineralogie, Botanik, Zoologie, Anatomie, Geographie u. a. reine Beobachtungswissenschaften, so lange nicht, was freilich h\u00e4ufig vorkommt, physikalische, chemische, physiologische, kurz solche Probleme in sie hineingetragen werden, die auf gewisse Naturvorg\u00e4nge zur\u00fcckgehen.\n2. Wenden wir diese Gesichtspunkte auf die Psychologie an, so springt in die Augen, dass sie durch ihren Inhalt direct auf die Wege derjenigen Gebiete hingewiesen ist, in denen eine exacte Beobachtung nur in der Form der experimentellen Beobachtung m\u00f6glich ist, dass sie dagegen eine reine Beobachtungswissenschaft nimmermehr sein kann. Denn den Inhalt der Psychologie bilden ausschlie\u00dflich Vorg\u00e4nge, nicht dauernde Objecte. Um den Eintritt und den Verlauf dieser Vorg\u00e4nge, ihre Zusammensetzung aus verschiedenen Bestandtheilen und die Wechselbeziehungen dieser Bestandtheile exact zu untersuchen, m\u00fcssen wir vor allem","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 3. Methoden der Psychologie.\n25\njenen Eintritt willk\u00fcrlich herbeif\u00fchren und die Bedingungen desselben nach unserer Absicht variiren k\u00f6nnen, was hier wie \u00fcberall nur auf dem Wege des Experimentes, nicht auf dem der reinen Selbstbeobachtung m\u00f6glich ist. Zn diesem allgemeinen kommt aber bei der Psychologie noch ein besonderer Grund, der bei den Naturerscheinungen als solchen nicht in gleicher Weise besteht. Indem wir n\u00e4mlich bei diesen geflissentlich von dem wahrnehmenden Subjecte abstrahiren, kann es unter Umst\u00e4nden auch der blo\u00dfen Beobachtung, namentlich wenn sie, wie in der Astronomie, durch die Regelm\u00e4\u00dfigkeit der Erscheinungen beg\u00fcnstigt wird, gelingen, den objectiven Inhalt der Vorg\u00e4nge mit zureichender Sicherheit festzustellen. Da hingegen die Psychologie grunds\u00e4tzlich von dem Subject nicht abstrahiren darf, so w\u00fcrden hei ihr immer nur dann die Bedingungen der zuf\u00e4lligen Beobachtung zureichend g\u00fcnstige sein, wenn in oft wiederholten F\u00e4llen die n\u00e4mlichen objectiven Bestandteile der unmittelbaren Erfahrung mit dem n\u00e4mlichen Zustande des Subjects zusammentr\u00e4fen. Dass dies jemals der Fall sein werde, ist nun hei der gro\u00dfen Verwickelung der psychischen Vorg\u00e4nge um so weniger zu erwarten, als insbesondere die Absicht der Beobachtung die bei jeder exacten Beobachtung vorhanden sein muss, Eintritt und Verlauf der psychischen Vorg\u00e4nge wesentlich ver\u00e4ndert. Die Naturbeobachtung wird durch diese Absicht der Beobachtung deshalb im allgemeinen nicht gest\u00f6rt, weil sie von vornherein von dem Zustand des Subjects geflissentlich abstrahirt. Indem aber eine Hauptaufgabe der Psychologie gerade in der genauen Beobachtung der Entstehungsund Verlaufsweise der subjectiven Vorg\u00e4nge besteht, ist es begreiflich, dass hier die Absicht der Beobachtung die zu beobachtenden Thatsachen entweder wesentlich ver\u00e4ndert oder ganz und gar unterdr\u00fcckt. Dagegen ist die Psychologie","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nEinleitung.\nschon durch die nat\u00fcrliche Entstehungsweise der psychischen Processe, ebenso gut wie die Physik und Physiologie, auf das experimentelle Verfahren angewiesen. Eine Empfindung entsteht in uns unter den f\u00fcr die Beobachtung g\u00fcnstigsten Bedingungen, wenn sie durch einen \u00e4u\u00dferen Sinnesreiz, eine Tonempfindung z. B. durch eine \u00e4u\u00dfere Tonbewegung, eine Lichtempfindung durch einen \u00e4u\u00dferen Lichteindruck, erregt wird. Die Vorstellung eines Gegenstandes wird urspr\u00fcnglich stets durch ein mehr oder minder verwickeltes Zusammenwirken \u00e4u\u00dferer Sinnesreize hervorgebracht. Wollen wir die psychologische Bildungsweise einer Vorstellung studiren, so werden wir daher keinen andern Weg w\u00e4hlen k\u00f6nnen als den, dass wir diese nat\u00fcrliche Entstehungsweise der Vorstellung nachahmen, wodurch wir zugleich den gro\u00dfen Vortheil genie\u00dfen, durch willk\u00fcrlich ver\u00e4nderte Combination der bei einer Vorstellung zusammen wirkenden Eindr\u00fccke die Vorstellung selbst zu ver\u00e4ndern und so \u00fcber den Einfluss, den jede einzelne Bedingung auf das entstehende Product aus\u00fcbt,- Aufschluss zu erhalten. Erinnerungsvorstellungen werden zwar nicht direct durch \u00e4u\u00dfere Sinneseindr\u00fccke hervorgerufen, sondern sie folgen solchen erst nach k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer Zeit. Aber es ist klar, dass man auch \u00fcber ihre Eigenschaften und namentlich \u00fcber ihr Verh\u00e4ltniss zu den durch directe Eindr\u00fccke erweckten prim\u00e4ren Vorstellungen am sichersten Aufschluss erh\u00e4lt, wenn man sich nicht auf ihren zuf\u00e4lligen Eintritt verl\u00e4sst, sondern solche Erinnerungsvorstellungen benutzt, die in einer experimentell geregelten Weise durch vorangehende Eindr\u00fccke veranlasst werden. Nicht anders verh\u00e4lt es sich schlie\u00dflich mit den Gef\u00fchlen, den Willensvorg\u00e4ngen: man wird sie in der f\u00fcr eine exacte Untersuchung geeignetsten Beschaffenheit herstellen, wenn man willk\u00fcrlich diejenigen Einwirkungen hervorbringt, die erfahrungsgem\u00e4\u00df regelm\u00e4\u00dfig mit Gef\u00fchls- und Willens-","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 3. Methoden der Psychologie.\t27\nreactionen verbunden sind. Demnach gibt es keinen der fundamentaleren psychischen Vorg\u00e4nge, auf den nicht die experimentelle Methode anwendbar, und deshalb zugleich keinen, bei dessen Untersuchung sie nicht aus logischen Gr\u00fcnden gefordert w\u00e4re.\n3. Dagegen ist die reine Beobachtung, wie sie in vielen Gebieten der Naturwissenschaft m\u00f6glich ist, innerhalb der individuellen Psychologie im exacten Sinne nach dem ganzen Charakter des psychischen Geschehens unm\u00f6glich. Sie w\u00e4re nur denkbar, wenn es \u00e4hnliche beharrende und von unserer Aufmerksamkeit unabh\u00e4ngige psychische Objecte g\u00e4be, wie es relativ beharrende und durch unsere Beobachtung nicht zu ver\u00e4ndernde Naturobjecte gibt. Nichts desto weniger stehen auch der Psychologie Thatsachen zu Gebote, die, obgleich sie nicht wirkliche Gegenst\u00e4nde sind, doch insofern den Charakter psychischer Objecte besitzen, als ihnen eben jene Merkmale der relativ beharrenden Beschaffenheit und der Unabh\u00e4ngigkeit von dem Beobachter zukommen : und mit dieser verbinden sie \u00fcberdies noch die - andere Eigenschaft, dass sie einer experimentellen Einwirkung im gew\u00f6hnlichen Sinne unzug\u00e4nglich sind. Diese Thatsachen sind die geschichtlich entstandenen geistigen Erzeugnisse, wie die Sprache, die mythologischen Vorstellungen, die Sitten. Ihr Ursprung und ihre Entwicklung beruhen \u00fcberall auf allgemeinen psychischen Bedingungen, auf die sich aus ihren objectiven Eigenschaften zur\u00fcckschlie\u00dfen l\u00e4sst. In Folge dessen vermag dann aber die psychologische Analyse dieser Erzeugnisse \u00fcber die bei ihrer Entstehung und Entwicklung wirksamen psychischen Vorg\u00e4nge Aufschluss zu geben. Alle solche Geisteserzengnisse von allgemeing\u00fcltiger Beschaffenheit setzen \u00fcbrigens als Bedingung die Existenz einer geistigen Gemeinschaft vieler Individuen voraus, wenn sie auch selbstverst\u00e4ndlich ihre letzten Quellen in den","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nEinleitung.\nschon dem .einzelnen Menschen zukommenden psychischen Eigenschaften haben. Wegen dieser Gebundenheit an die Gemeinschaft, speciell an die Volksgemeinschaft, pflegt man das ganze Gebiet dieser psychologischen Untersuchung der Geisteserzeugnisse als V\u00f6lkerpsychologie zu bezeichnen und der individuellen oder, wie sie nach der in ihr vorherrschenden Methode auch genannt werden kann, experimentellen Psychologie gegen\u00fcberzustellen. Obgleich nun bei dem heutigen Zustande der Wissenschaft diese beiden Theile der Psychologie zumeist noch in getrennten Darstellungen behandelt werden, so bilden sie doch nicht-sowohl verschiedene Gebiete als vielmehr verschiedene Methoden, wobei die sogenannte V\u00f6lkerpsychologie der Methode reiner Beobachtung entspricht, nur dadurch ausgezeichnet, dass in diesem Fall geistige Erzeugnisse die Objecte der Beobachtung sind. Die Gebundenheit dieser Erzeugnisse an geistige Gemeinschaften, die der V\u00f6lkerpsychologie ihren Namen gegeben hat, entspringt aber aus der Nebenbedingung, dass die individuellen Geisteserzeugnisse von allzu ver\u00e4nderlicher Beschaffenheit sind, um sie einer objectiven Beobachtung zug\u00e4nglich zu machen, und dass also hier die Erscheinungen erst dann die erforderliche Constanz annehmen, wenn sie zu Collectiv- oder Massenerscheinungen werden.\nDemnach verf\u00fcgt die Psychologie, \u00e4hnlich der Naturwissenschaft, \u00fcber zwei exacte Methoden: die erste, die experimentelle Methode, dient der Analyse der einfacheren psychischen Vorg\u00e4nge; die zweite, die Beobachtung der allgemeing\u00fcltigen Geisteserzeugnisse, dient der Untersuchung der h\u00f6heren psychischen Vorg\u00e4nge und Entwicklungen.\n3 a. Da die Anwendung der experimentellen Methode in der Psychologie urspr\u00fcnglich aus den in der Physiologie, namentlich der Physiologie der Sinnesorgane und des Nervensystems, ge\u00fcbten Verfahrungsweisen hervorgegangen ist, so pflegt man","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 4. Allgemeine Uebersicht des Gegenstandes.\n29\ndie experimentelle wohl auch als \u00bbphysiologische Psychologie\u00ab zu bezeichnen, und den Darstellungen der letzteren werden dann in der Regel auch noch diejenigen physiologischen H\u00fclfskennt-nisse aus der Physiologie des Nervensystems und der Sinnesorgane zugewiesen, die zwar an sich nur der Physiologie angeh\u00f6ren , dabei aber doch eine Behandlung w\u00fcnschenswerth machen, die dem psychologischen Interesse besonders Rechnung tr\u00e4gt. Demnach besitzt die \u00bbphysiologische Psychologie\u00ab den Charakter einer Uebergangsdisciplin, die jedoch, wie ihr Name andeutet, der Hauptsache nach Psychologie ist, und die, abgesehen von jenen physiologischen Iliilfskenntnissen, durchaus mit der \u00bbexperimentelllen Psychologie\u00ab in dem oben definirten Sinne zusammenf\u00e4llt. Wenn daher von einigen Seiten versucht wurde, zwischen eigentlicher Psychologie und physiologischer Psychologie in dem Sinne zu unterscheiden, dass nur der ersten die psychologische Interpretation der innern Erfahrung, der zweiten aber die Ableitung derselben aus physiologischen Vorg\u00e4ngen obliege, so ist eine solche Grenzbestimmung als unstatthaft zur\u00fcckzuweisen. Es gibt nur eine Art psychologischer Causalerkl\u00e4rung, und diese besteht in der Ableitung complexerer psychischer Vorg\u00e4nge aus einfacheren, in welche Interpretationsweise verm\u00f6ge des oben festgestellten Verh\u00e4ltnisses der naturwissenschaftlichen zur psychologischen Erfahrung physiologische Zwischenglieder immer nur aush\u00fclfswreise eingehen k\u00f6nnen (\u00a7 2, 4,. An die Stelle dieser Aufgabe hat allerdings die materialistische Psychologie, indem sie die Existenz einer psychischen Gausalit\u00e4t leugnete, die andere gesetzt, die psychischen Vorg\u00e4nge aus der Gehirnphysiologie abzuleiten. Diese aus den oben (\u00a7 2, 10 a) angef\u00fchrten Gr\u00fcnden erkenntnisstheoretisch wie psychologisch unhaltbare Richtung kommt aber ebenso gut unter den Vertretern der \u00bbreinen\u00ab wie unter denen der \u00bbphysiologischen Psychologie\u00ab vor.\n\u00a7 4. Allgemeine Uebersicht des Gegenstandes.\n1. Die unmittelbaren Erfalirungsinhalte, die den Gegenstand der Ps37cliologie bilden, sind unter allen Umst\u00e4nden Vorg\u00e4nge von zusammengesetzter Beschaffenheit.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nEinleitung.\nWahrnehmungen \u00e4u\u00dferer Gegenst\u00e4nde, Erinnerungen an solche Wahrnehmungen, Gef\u00fchle, Affecte, Willensacte sind nicht nur fortw\u00e4hrend in der mannigfaltigsten Weise mit einander verbunden, sondern jeder dieser Vorg\u00e4nge ist regelm\u00e4\u00dfig selbst wieder ein mehr oder weniger zusammengesetztes Ganzes. Die Vorstellung eines \u00e4u\u00dferen K\u00f6rpers z. B. besteht aus den Partialvorstellungen seiner Theile. Einen noch so einfachen Ton verlegen wir in irgend eine r\u00e4umliche Richtung; wir bringen ihn also in Verbindung mit der selbst wieder h\u00f6chst zusammengesetzten Vorstellung des \u00e4u\u00dferen Raumes. Ein Gef\u00fchl, ein Wollen beziehen wir auf irgend eine Empfindung, die das Gef\u00fchl erregt, auf ein Object, das gewollt wird, u. s. w. Einem derartig complexen That-bestande gegen\u00fcber hat nun die wissenschaftliche Untersuchung drei Aufgaben nach einander zu l\u00f6sen. Die erste besteht in der Analyse der zusammengesetzten Vorg\u00e4nge, die zweite in der Nachweisung der Verbindungen, welche die durch diese Analyse aufgefundenen Elemente mit einander eingehen, die dritte in der Erforschung der Gesetze, die bei der Entstehung solcher Verbindungen wirksam sind.\n2. Unter diesen drei Aufgaben ist es vor allem die zweite, synthetische, die wieder eine Reihe von Problemen in sich schlie\u00dft. Zun\u00e4chst verbinden sich die psychischen Elemente zu zusammengesetzten psychischen Gebilden, die sich in dem fortw\u00e4hrenden Fluss des Geschehens relativ selbst\u00e4ndig von einander sondern. Solche Gebilde sind z. B. die Vorstellungen, m\u00f6gen sie nun direct auf \u00e4u\u00dfere Eindr\u00fccke oder Objecte bezogen oder von uns als Erneuerungen fr\u00fcher wahrgenommener Eindr\u00fccke und Objecte gedeutet werden, ferner die zusammengesetzten Gef\u00fchle, die Affecte, die Willensvorg\u00e4nge. Weiterhin stehen dann aber diese psychischen Gebilde unter einander in den mannigfaltigsten","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 4. Allgemeine \u00dcebersicht des Gegenstandes.\n31\nZusammenh\u00e4ngen: so verbinden sich die Vorstellungen theils zu gr\u00f6\u00dferen gleichzeitigen Vorstellungscomplexen, theils zu regelm\u00e4\u00dfigen Vorstellungsfolgen; nicht minder bilden die Gef\u00fchls- und Willensvorg\u00e4nge sowohl unter einander wie mit den Vorstellungsprocessen mannigfaltige Verbindungen. Auf diese Weise entsteht der Zusammenhang der psychischen Gebilde als eine Classe syn-thetischer Vorg\u00e4nge zweiter Stufe, die sich auf den einfacheren Verbindungen der Elemente zu psychischen Gebilden erhebt. Indem ferner einzelne psychische Zusammenh\u00e4nge selbst wieder umfassendere Verbindungen mit einander bilden, die in der Ordnung ihrer Bestandteile ebenfalls eine bestimmte Regelm\u00e4\u00dfigkeit erkennen lassen, gehen aus diesen Zusammenh\u00e4ngen Verbindungen dritter Stufe hervor, die wir mit dem allgemeinen Namen der psychischen Entwicklungen bezeichnen. Sie lassen sich in Entwicklungen verschiedenen Umfanges unterscheiden. Entwicklungsvorg\u00e4nge beschr\u00e4nktester Art sind solche, die sich auf eine einzelne psychische Richtung, z. B. auf die Entwicklung der intellectuellen Functionen, des Willens, der Gef\u00fchle oder auch etwa blo\u00df eines besonderen Bestandteils dieser Functionsformen, wie etwa der \u00e4sthetischen, der moralischen Gef\u00fchle u. dergl., beziehen. Daran schlie\u00dft sich dann die aus einer Menge solcher Partialentwicklungen bestehende Gesammtentwicklung der einzelnen psychischen Individualit\u00e4t. Indem sich endlich schon das tierische Individuum und in h\u00f6herem Ma\u00dfe noch der einzelne Mensch in fortw\u00e4hrenden Wechselwirkungen mit Wesen gleicher Art befindet, erheben sich zuletzt \u00fcber diesen individuellen die generellen psychischen Entwicklungen. Diese mannigfachen Zweige der psychologischen Entwicklungsgeschichte bilden theils die psychologischen Grundlagen anderer Wissenschaften, wie der","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nEinleitung.\nErkenntnisstlieorie, P\u00e4dagogik, Aesthetik, Ethik, und werden darum zweckm\u00e4\u00dfiger im Zusammenhang mit diesen behandelt; theils haben sie sich zu besonderen psychologischen Wissenschaften entwickelt: so die Psychologie des Kindes, die Thier- und die V\u00f6lkerpsychologie. Es werden daher im Folgenden nur die f\u00fcr die allgemeine Psychologie wichtigsten Ergebnisse der drei letztgenannten Gebiete er\u00f6rtert werden.\n3. Auf die Untersuchung der s\u00e4mmtlichen Verbindungen verschiedener Stufen, der Verbindungen der Elemente zu Gebilden, der Gebilde zu Zusammenh\u00e4ngen, der Zusammenh\u00e4nge zu Entwicklungen, gr\u00fcndet sich die L\u00f6sung der letzten und allgemeinsten psychologischen Aufgabe: die Ermittelung der Gesetze des psychischen Geschehens. Lehrt uns die Untersuchung der psychischen Verbindungen verschiedener Stufen die thats\u00e4chliche Beschaffenheit der psychischen Vorg\u00e4nge kennen, so lassen sich die Eigenschaften der in diesen Vorg\u00e4ngen zum Ausdruck kommenden psychischen Causalit\u00e4t nur den Gesetzen entnehmen, auf welche die Verbindungsformen der psychischen Erfahrungsinhalte und ihrer Bestandtheile zur\u00fcckweisen.\nHiernach werden wir im Folgenden betrachten:\n1)\tdie psychischen Elemente,\n2)\tdie psychischen Gebilde,\n3)\tden Zusammenhang der psychischen Gebilde,\n4)\tdie psychischen Entwicklungen,\n5)\tdie psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"I. Die psychischen Elemente.\n\u00a7 5. Hauptformen und allgemeine Eigenschaften der psychischen Elemente.\nI. Da alle psychischen Erfahrungsinhalte von zusammengesetzter Beschaffenheit sind, so sind psychische Elemente im Sinne absolut einfacher und unzerlegbarer Be-standtheile des psychischen Geschehens die Erzeugnisse nicht nur einer Analyse, sondern auch einer Abstraction, die nur dadurch m\u00f6glich ist, dass die Elemente thats\u00e4chlich in wechselnder Weise mit einander verbunden sind. Befindet sich ein Element a in einem ersten Fall zusammen mit andern Elementen b} c, d . . ,, in einem zweiten mit b', c, d' . . u. s. w.. so kann eben deshalb, weil keines der Elemente b, b , c, c , . , constant an a gebunden ist, von ihnen allen abstrahirt werden. Wenn wir z. B. einen einfachen Ton von bestimmter H\u00f6he und St\u00e4rke h\u00f6ren, so kann derselbe bald nach dieser, bald nach jener Richtung des Raumes verlegt, und es kann bald dieser, bald jener andere Ton zugleich geh\u00f6rt werden. Weil es aber weder eine constante r\u00e4umliche Richtung noch einen constanten Begleitton gibt, so l\u00e4sst sich von diesen variablen Bestandteilen ab-strahiren, so dass der einzelne Ton allein als psychisches Element zur\u00fcckbleibt.\n2. Der Thatsache, dass die unmittelbare Erfahrung nach S 1 (2) zwei Factoren enth\u00e4lt, einen objectiven Erfahrungsinhalt und das erfahrende Subject, entsprechen zwei Arten\nWundt, Psychologie.\n3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nI. Die psychischen Elemente.\npsychischer Elemente, die sich als Producte der psychologischen Analyse ergeben. Die Elemente des objectiven Erfahrungsinhaltes bezeichnen wir als E mpfindungs-elemente oder schlechthin als Empfindungen, so z. B. einen Ton, eine bestimmte W\u00e4rme-, K\u00e4lte-, Lichtempfindung u. s. w., wobei jedesmal von allen Verbindungen dieser Empfindungen mit anderen, sowie nicht minder von jeder r\u00e4umlichen und zeitlichen Ordnung derselben abgesehen wird. Die subjectiven Elemente bezeichnen wir dagegen als Gef\u00fchlselemente oder einfache Gef\u00fchle. Beispiele solcher Gef\u00fchlselemente sind: das Gef\u00fchl, das irgend eine Licht-, Schall-, Geschmacks-, Geruchs-, W\u00e4rme-, K\u00e4lte-, Schmerzempfindung begleitet, oder das Gef\u00fchl beim Anblick eines wohlgef\u00e4lligen oder missf\u00e4lligen Objectes, die Gef\u00fchle im Zustand der Aufmerksamkeit, im Moment eines Willensactes u. s. w, Solche einfache Gef\u00fchle sind in doppelter Beziehung Producte der Abstraction: jedes Gef\u00fchl ist n\u00e4mlich nicht nur mit Vorstellungselementen verbunden, sondern es bildet auch einen Bestandteil eines in der Zeit verlaufenden psychischen Processes, w\u00e4hrend dessen es sich selbst von einem Zeitpunkt zum andern ver\u00e4ndert.\n3. Da die wirklichen psychischen Erfahrungsinhalte stets aus mannigfachen Verbindungen von Empfindungs- und Gef\u00fchlselementen bestehen, so liegt der specifisclie Charakter der einzelnen psychischen Vorg\u00e4nge zum gr\u00f6\u00dften Theile durchaus nicht in der Beschaffenheit jener Elemente, sondern vielmehr in ihren Verbindungen zu zusammengesetzten psychischen Gebilden begr\u00fcndet, feo sind z. B. die Vorstellung eines r\u00e4umlich ausgedehnten Gegenstandes, einer zeitlichen Reihe von Empfindungen, ein Affect, ein Willensact eigenartige Formen psychischer Erfahrung, die aber als solche ebenso wenig mit den Empfindungs- und Gef\u00fchlselementen unmittelbar schon gegeben sind, wie etwa die","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 5. Ilauptforinen und allgemeine Eigenschaften etc.\n35\nchemischen Eigenschaften der zusammengesetzten K\u00f6rper dadurch bestimmt werden k\u00f6nnen, dass man die Eigenschaften der chemischen Elemente aufz\u00e4hlt. Specifische Beschaffenheit und elementare Natur psychischer Vorg\u00e4nge sind daher v\u00f6llig von einander verschiedene Begriffe. Jedes ps)y-chische Element ist ein specifischer Erfahrungsinhalt, aber nicht jeder specifische Inhalt der unmittelbaren Erfahrung ist zugleich ein psychisches Element. So sind namentlich die r\u00e4umlichen, die zeitlichen Vorstellungen, die Affecte, die Willenshandlungen specifische, aber nicht elementare Pro-cesse. Manche Elemente haben zwar die Eigenschaft nur in psychischen Gebilden bestimmter Art vorzukommen; da jedoch die letzteren regelm\u00e4\u00dfig noch andere Elemente enthalten, so kann auch hier die eigenartige Natur der Gebilde nicht aus den abstracten Eigenschaften der Elemente, sondern nur aus ihrer Verbindungsweise abgeleitet werden. So beziehen wir z. B. eine momentane Schallempfindung stets auf einen bestimmten Zeitpunkt. Da aber diese zeitliche Auffassung von der Beziehung auf andere vorausgehende und nachfolgende Empfindungen abh\u00e4ngig ist, so kann auch der besondere Charakter der Zeitvorstellung nicht in der einzelnen isolirt gedachten Schallempfindung, sondern nur in jener Verbindung begr\u00fcndet sein. So enth\u00e4lt ferner ein Affect wie der Zorn oder ein Willensvorgang gewisse einfache Gef\u00fchle, die in keinem andern psychischen Gebilde Vorkommen; dennoch ist jeder dieser Processe zusammengesetzt. denn er hat einen zeitlichen Verlauf, in welchem bestimmte Gef\u00fchle mit einer gewissen Regelm\u00e4\u00dfigkeit einander folgen, und der Process selbst wird immer erst durch die ganze Folge dieser Gef\u00fchle gekennzeichnet.\n4. Die Empfindungen und die einfachen Gef\u00fchle zeigen nun sowohl gemeinsame Eigenschaften wie charakteristische Interschiede. Eine beiden Elementen gemeinsame Eigen-","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nI. Die psychischen Elemente.\nscliaft ist es, dass jedem Elemente zwei Bestimmungs-st\u00fccke zukommen. Diese beiden unerl\u00e4sslichen Bestim-mungsst\u00fccke aller psychischen Elemente bezeichnen wir als Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t. Jede einfache Empfindung, jedes einfache Gef\u00fchl hat eine bestimmte qualitative Beschaffenheit, die es allen andern Empfindungen und Gef\u00fchlen gegen\u00fcber charakterisirt; diese qualitative Beschaffenheit ist aber immer zugleich in irgend einer St\u00e4rke gegeben. Darum unterscheiden wir an der Qualit\u00e4t die verschiedenen psychischen Elemente von einander; die Intensit\u00e4t dagegen fassen wir als den einem bestimmten Element in einem concreten Fall zukommenden Gr\u00f6\u00dfenwerth auf. Unsere Benennungen der psychischen Elemente richten sich daher ausschlie\u00dflich nach der Qualit\u00e4t derselben: so unterscheiden wir Empfindungen als blau, gelb, warm, kalt u. dergl., oder Gef\u00fchle als ernst, heiter, traurig, d\u00fcster, weh-m\u00fcthig u. s. w. Dagegen dr\u00fccken wir die Intensit\u00e4tsunterschiede der psychischen Elemente immer durch die n\u00e4mlichen Gr\u00f6\u00dfenbezeichnungen aus, wie schwach, stark, m\u00e4\u00dfig-stark, sehr stark. In beiden F\u00e4llen sind diese Ausdr\u00fccke Classenbegriffe, die einer ersten oberfl\u00e4chlichen Ordnung der Elemente dienen, und deren jeder daher im allgemeinen eine unbegrenzt gro\u00dfe Zahl concreter Elemente umfasst. Verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig am vollst\u00e4ndigsten hat die Sprache diese Classenbegriffe f\u00fcr die Qualit\u00e4ten der einfachen Empfindungen, namentlich f\u00fcr die Farben und die T\u00f6ne, entwickelt. Dagegen sind die Benennungen der Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten und der Intensit\u00e4tsstufen weit zur\u00fcckgeblieben. Zuweilen werden neben der Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t auch noch die Klarheit oder Dunkelheit sowie die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit unterschieden. Da diese Eigenschaften aber, wie sich unten (\u00a7 15, 4) zeigen wird, immer erst aus dem Zusammenh\u00e4nge der psychischen Gebilde hervorgehen, so","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 Hauptfomien und allgemeine Eigenschaften etc.\n37\nk\u00f6nnen sie nicht als Bestimmungsst\u00fccke der psychischen Elemente betrachtet werden.\n5. In Folge seiner Zusammensetzung aus den zwei Bestimmungsst\u00fccken der Qualit\u00e4t und der Intensit\u00e4t besitzt jedes psychische Element innerhalb der ihm zukommenden Qualit\u00e4t einen bestimmten Intensit\u00e4tsgrad, den man sich in einen beliebigen andern Intensit\u00e4tsgrad des n\u00e4mlichen qualitativen Elements durch stetige Abstufung \u00fcbergef\u00fchrt denken kann. Hierbei ist aber eine solche Abstufung immer nur nach zwei Richtungen m\u00f6glich, deren eine wir als Zunahme, und deren andere wir als Abnahme an Intensit\u00e4t bezeichnen. Die Intensit\u00e4tsgrade jedes qualitativen Elementes bilden also eine einzige Dimension, in der man sich von jedem Punkte nach zwei entgegengesetzten Richtungen bewegen kann, \u00e4hnlich wie von einem beliebigen Punkt einer geraden Linie aus. Man kann dies in dem Satze ausdr\u00fccken: Die Intensit\u00e4tsgrade jedes psychischen Elementes bilden ein geradliniges Continuum. Die Endpunkte dieses Continuums nennen wir bei den Empfindungen Minimal- und Maximalempfindung, bei den Gef\u00fchlen Minimal- und Maximalgef\u00fchl.\nDiesem gleichf\u00f6rmigen A erhalten der Intensit\u00e4t gegen\u00fcber besitzen die Qualit\u00e4ten wechselndere Eigenschaften. Zwar l\u00e4sst sich auch jede Qualit\u00e4t in ein bestimmtes Continuum derart einordnen, dass man von einem bestimmten Punkte eines solchen zu jedem beliebigen anderen Punkte desselben durch stetige Ueberg\u00e4nge gelangen kann. Aber diese Continua der Qualit\u00e4ten, die sich als Qualit\u00e4ten-systeme bezeichnen lassen, zeigen Unterschiede sowohl in der Mannigfaltigkeit ihrer Abstufungen wie in der Zahl der in ihnen m\u00f6glichen Richtungen. In ersterer Hinsicht k\u00f6nnen wir gleichf\u00f6rmige und mannigfaltige, in letzterer Hinsicht eindimensionale und mehrdimensionale","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nI. Die psychischen Elemente.\nQualit\u00e4tensysteme unterscheiden. Innerhalb eines gleichf\u00f6rmigen Qualit\u00e4tensystems sind nur so geringe Differenzen m\u00f6glich, dass im allgemeinen kein praktisches Bed\u00fcrfniss zur sprachlichen Unterscheidung verschiedener Qualit\u00e4ten entstanden ist. So unterscheiden wir qualitativ nur eine Druck-, W\u00e4rme-, K\u00e4lte- und Schmerzempfinclung, nur ein Gef\u00fchl der Airfmerksamkeit, der Th\u00e4tigkeit u. s. w., w\u00e4hrend aber jede dieser Qualit\u00e4ten in sehr verschiedenen Intensit\u00e4tsgraden m\u00f6glich ist. Daraus ist nun nicht zu schlie\u00dfen, dass es in jedem dieser Systeme nur eine Qualit\u00e4t gebe. Vielmehr scheint es, dass in diesen F\u00e4llen die Mannigfaltigkeit der Qualit\u00e4ten nur eine beschr\u00e4nktere ist, so dass das System, wenn wir es uns r\u00e4umlich versinnlicht denken, wahrscheinlich niemals v\u00f6llig auf einen Punkt reducirt w\u00fcrde. So zeigen z. B. die Druckempfindungen der verschiedenen Hautstellen zweifellos geringe qualitative Unterschiede, die gro\u00df genug sind, dass wir daran jede Hautstelle von einer andern erheblich von ihr entfernten deutlich unterscheiden k\u00f6nnen. Dagegen sind allerdings solche Unterschiede wie die bei der Ber\u00fchrung eines spitzen oder stumpfen, rauhen oder glatten K\u00f6rpers nicht zu den Qualit\u00e4tsunterschieden zu rechnen, da sie immer auf einer gr\u00f6\u00dferen Zahl gleichzeitig vorhandener Empfindungen beruhen, aus deren verschiedener Verbindung zu zusammengesetzten psychischen Gebilden erst jene Eindr\u00fccke hervorgehen.\nVon diesen gleichf\u00f6rmigen unterscheiden sich nun die mannigfaltigen Qualit\u00e4tensysteme dadurch, dass sie eine trr\u00f6\u00dfere Zahl deutlich unterscheidbarer Elemente umschlie\u00dfen, zwischen denen stetige Ueberg\u00e4nge m\u00f6glich sind. Hierher geh\u00f6ren unter den Empfindungssystemen das Tonsystem, das Farbensystem, die Systeme der Geruchs- und der Geschmacksqualit\u00e4ten, unter den Gef\u00fchlssystemen jedenfalls diejenigen,","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 5. Hauptformen und allgemeine Eigenschaften etc.\n39\ndie die subjectiven Complemente jener Empfindungssysteme bilden, die Systeme der Tongef\u00fchle, der Farbengef\u00fchle u. s. w. au\u00dferdem aber wahrscheinlich zahlreiche Gef\u00fchle, die zwar objectiv an zusammengesetzte Eindr\u00fccke gebunden, als Gef\u00fchle aber von einfacher Beschaffenheit sind, wie z. B. die den verschiedenen Tonverbindungen entsprechenden mannigfaltigen Harmonie- und Disharmoniegef\u00fchle. Die Unterschiede der Dimensionszahl lassen sich jedoch mit Sicherheit bis jetzt nur bei gewissen Empfindungssystemen feststellen. So ist z. B. das Tonsystem ein eindimensionales, das gew\u00f6hnliche Farbensystem, welches die Farben samt ihren Ueberg\u00e4ngen zu Wei\u00df umfasst, ein zweidimensionales System; das vollst\u00e4ndige System der Lichtempfindungen, welches auch noch die dunkeln Farbent\u00f6ne und die Ueber-g\u00e4nge zu Schwarz enth\u00e4lt, ist ein dreidimensionales Empfindungssystem.\n6. Zeigen in den bisher erw\u00e4hnten Beziehungen die Empfindungs- und die Gef\u00fchlselemente im allgemeinen ein \u00fcbereinstimmendes Verhalten, so unterscheiden sich nun aber beide in einigen wesentlichen Eigenschaften, die mit der unmittelbaren Beziehung der Empfindungen auf die Objecte und der Gef\u00fchle auf das Subject Zusammenh\u00e4ngen.\n1) Die Empfindungselemente bieten, wenn sie innerhalb einer und derselben Qualit\u00e4tsdimension ver\u00e4ndert werden, reine Qualit\u00e4tsunterschiede dar, die immer zugleich Unterschiede gleicher Richtung sind, und die, wenn sie die in dieser Richtung m\u00f6glichen Grenzen erreichen, zu Maximalunterschieden werden. So sind z. B. in der Reihe der Farbenempfindungen Roth und Gr\u00fcn oder Blau und Gelb, in der Reihe der T\u00f6ne der tiefste und der h\u00f6chste h\u00f6rbare Ton Maximalunterschiede, und sie sind zugleich reine Qualit\u00e4tsunterschiede. Jedes Gef\u00fchlselement dagegen ver\u00e4ndert sich, wenn es in seiner Qualit\u00e4t stetig abgestuft wird,","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nI. Die psychischen Elemente.\nderart, dass es allm\u00e4hlich in ein Gef\u00fchl von entgegen\"e-setzter Qualit\u00e4t \u00fcbergeht. Am deutlichsten ist das bei den Gef\u00fchlselementen, die regelm\u00e4\u00dfig mit bestimmten Empfindungselementen verbunden sind, wie z. 11. bei den Ton-und Farbengef\u00fchlen. Ein hoher und ein tiefer Ton sind als Empfindungen Unterschiede, die sich mehr oder weniger den Maximalunterschieden der Tonempfindung n\u00e4hern; die entsprechenden Tongef\u00fchle sind aber Gegens\u00e4tze. Allgemein also werden die Empfindungsqualit\u00e4ten durch gr\u00f6\u00dfte Unterschiede, die Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten durch gr\u00f6\u00dfte Gegens\u00e4tze begrenzt. Zwischen diesen Gegens\u00e4tzen liegt eine mittlere Zone, wo das Gef\u00fchl \u00fcberhaupt unmerklich wird. Diese Indifferenzzone ist aber h\u00e4ufig deshalb nicht nachzuweisen, weil bei dem Verschwinden bestimmter einfacher Gef\u00fchle andere Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten fortbestehen oder selbst neu entstehen k\u00f6nnen. Letzteres kommt namentlich dann vor, wenn der Uebergang des Gef\u00fchls in die Indifferenzzone von einer Empfindungs\u00e4nderung abh\u00e4ngt. So verschwinden z. B. bei den mittleren T\u00f6nen der musikalischen Scala die den hohen und tiefen T\u00f6nen entsprechenden Gef\u00fchle; aber den mittleren T\u00f6nen selbst kommt au\u00dferdem noch eine selbst\u00e4ndige Gef\u00fchlsqualit\u00e4t zu, die mit jenen Gegens\u00e4tzen nicht verschwindet. Dies ist dadurch erkl\u00e4rlich. dass das einer bestimmten Empfindungsqualit\u00e4t entsprechende Gef\u00fchl in der ltegel Bestandtheil eines zusammengesetzten Gef\u00fchlssystems ist. in welchem es gleichzeitig verschiedenen Gef\u00fchlsrichtungen angeh\u00f6rt. So liegt die Gef\u00fchlsqualit\u00e4t eines Tons von bestimmter H\u00f6he nicht blo\u00df in der Dimension der H\u00f6hengef\u00fchle, sondern auch in der der Intensit\u00e4tsgef\u00fcble, und endlich in den verschiedenen Dimensionen, nach denen sich der Klangcharakter der T\u00f6ne ordnen l\u00e4sst. Ein Ton von mittlerer H\u00f6he und St\u00e4rke kann sich also in Bezug auf die H\u00f6hen- und die Intensit\u00e4tsgef\u00fchle","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 5. Hauptformen und allgemeine Eigenschaften etc.\n41\nin der Indifferenzzone befinden, w\u00e4hrend doch das Klang-geftthl bei ihm sehr ausgepr\u00e4gt sein kann. Direct beobachten l\u00e4sst sich daher die Bewegung der Gef\u00fchlselemente durch die Indifferenzzone \u00fcberhaupt nur. wenn man gleichzeitig- auf eine Abstraction von andern begleitenden Gef\u00fchlselementen Bedacht nimmt, und solche F\u00e4lle, wo diese begleitenden Elemente ganz oder nahezu verschwinden, sind deshalb f\u00fcr die Feststellung jenes eigenth\u00fcmlichen Verhaltens der Gef\u00fchle die g\u00fcnstigsten. In allen F\u00e4llen, wo eine Indifferenzzone ohne St\u00f6rung durch andere Gef\u00fchlselemente zur Geltung kommt, bezeichnen wir nun unseren Zustand als gef\u00fchlsfrei, und die in diesem Zustande vorhandenen Empfindungen und Vorstellungen als gleichg\u00fcltig.\n2) Gef\u00fchle von specifischer und zugleich von einfacher, unzerlegbarer Qualit\u00e4t kommen nicht blo\u00df als subjective Complemente einfacher Empfindungen, sondern auch als charakteristische Begleiter zusammengesetzter Vorstellungen oder selbst verwickelter Vorstellungsprocesse vor. So gibt es z. B. nicht blo\u00df ein einfaches Tongef\u00fchl, welches sich mit der H\u00f6he und der Intensit\u00e4t der T\u00f6ne \u00e4ndert, sondern auch ein Harmoniegef\u00fchl, welches, als Gef\u00fchl betrachtet, durchaus ebenso unzerlegbar ist und sich nach dem Charakter der Zusammenkl\u00e4nge \u00e4ndert. Weitere Gef\u00fchle, die wieder von sehr mannigfaltiger Art sein k\u00f6nnen, entstehen durch die melodische Klangfolge, und auch hier erscheint jedes einzelne Gef\u00fchl, in einem bestimmten Momente f\u00fcr sich allein betrachtet, als eine unzerlegbare Einheit. Hieraus folgt, dass die einfachen Gef\u00fchle viel mannigfaltiger und zahlreicher sind als die einfachen Empfindungen.\n\u00df Die Mannigfaltigkeit der reinen Empfindungen zerf\u00e4llt in eine Anzahl von einander getrennter Systeme, zwischen deren Elementen durchaus keine qualitativen Beziehungen stattfinden. Empfindungen, die verschiedenen","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nI. Die psychischen Elemente.\nSystemen angeboren, werden daher auch als disparate bezeichnet. In diesem Sinne sind ein Ton und eine Farbe, aber auch eine W\u00e4rme- und eine Druckempfindung, \u00fcberhaupt je zwei Empfindungen, zwischen denen keine stetigen qualitativen Ueberg\u00e4nge existiren, disparat. Nach diesem Kriterium repr\u00e4sentirt jeder der vier Specialsinne 'Geruch, Geschmack, Geh\u00f6r und Gesicht) ein in sich geschlossenes, gegen jedes andere Sinnesgebiet disparates, aber mannigfaltiges Empfindungssystem, w\u00e4hrend der allgemeine Sinn (Tastsinn) selbst schon vier gleichf\u00f6rmige Empfindungssysteme (Druck-, W\u00e4rme-, K\u00e4lte-, Schmerzempfindungen) enth\u00e4lt. Im Gegens\u00e4tze hierzu bilden nun alle einfachen Gef\u00fchle eine einzige zusammenh\u00e4ngende Mannigfaltigkeit, insofern es kein Gef\u00fchl gibt, von dem aus man nicht durch Zwischenstufen und Indifferenzzonen zu irgend einem andern Gef\u00fchle gelangen k\u00f6nnte. Obgleich darum auch hier gewisse Systeme unterschieden werden k\u00f6nnen, deren Elemente n\u00e4her mit einander Zusammenh\u00e4ngen, wie z. B. das der Farbengef\u00fchle, Tongef\u00fchle, Harmoniegef\u00fchle, rhythmischen Gef\u00fchle u. dergl., so sind doch diese Systeme nicht absolut in sich abgeschlossen, sondern es finden \u00fcberall Beziehungen theils der Verwandtschaft theils des Gegensatzes zu andern Systemen statt. So zeigen sich z. B. das angenehme Gef\u00fchl bei einer m\u00e4\u00dfigen W\u00e4rmeempfindung, das Gef\u00fchl der Tonharmonie, das Gef\u00fchl befriedigter Erwartung ir. a., so gro\u00df ihre qualitative Verschiedenheit auch sein mag, doch darin verwandt, dass wir auf sie alle die allgemeine Bezeichnung \u00bbLustgef\u00fchle\u00ab anwendbar finden. Noch n\u00e4here Beziehungen finden sich zwischen gewissen einzelnen Gef\u00fchlssystemen, z. B. zwischen den Ton- und Farbengef\u00fchlen, wo tiefe T\u00f6ne den dunkeln, hohe den hellen Lichtqualit\u00e4ten verwandt erscheinen. Wenn man hierbei meist den Empfindungen selbst eine gewisse Verwandtschaft zuschreibt, so beruht das wahr-","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 5. Hauptforiuen und allgemeine Eigenschaften etc.\n43\ngcheinlich durchaus nur auf einer Uebertragung der begleitenden Gef\u00fchle.\nDieses dritte Unterscheidungsmerkmal weist entschieden darauf hin, dass der Ursprung der Gef\u00fchle ein einheitlicher ist, gegen\u00fcber den auf einer Mehrheit verschiedener zum Tlieil von einander isolirbarer Bedingungen beruhenden Empfindungen, wie denn ja auch die unmittelbare Beziehung der Gef\u00fchle auf das Subject, der Empfindungen auf die Objecte in der Gegen\u00fcberstellung jenes als einer Einheit und dieser als einer Vielheit auf den gleichen Unterschied hinweist.\n6a. Die Bezeichnungen \u00bbEmpfindung\u00ab und \u00bbGef\u00fchl\u00ab haben erst in der neueren Psychologie die ihnen in den obigen Begriffsbestimmungen angewiesene Bedeutung gewonnen. In der \u00e4lteren psychologischen Literatur werden sie theils mangelhaft unterschieden, theils sogar mit einander vertauscht; ebenso werden von den Physiologen noch jetzt gewisse Empfindungen, n\u00e4mlich die des Tastsinns und der inneren Organe, als Gef\u00fchle und darum auch der Tastsinn selbst als der \u00bbGef\u00fchlssinn\u00ab bezeichnet. Mag dies aber auch der urspr\u00fcnglichen Wortbedeutung F\u00fchlen = Tasten entsprechen, so sollten doch, nachdem einmal jene zweckm\u00e4\u00dfige Differenzirung der Bedeutungen eingetreten ist, derartige Vermengungen vermieden werden. Ferner wird das Wort \u00bbEmpfindung\u00ab selbst von Psychologen nicht blo\u00df f\u00fcr einfache, sondern auch f\u00fcr zusammengesetzte Qualit\u00e4ten, wie z. B. f\u00fcr Zusammenkl\u00e4nge, f\u00fcr r\u00e4umliche und zeitliche Vorstellungen, gebraucht. Da wir f\u00fcr diese zusammengesetzten Gebilde ohnehin schon die vollkommen geeignete Bezeichnung \u00bbVorstellungen\u00ab besitzen, so ist aber die Einschr\u00e4nkung des Begriffs der Empfindung auf die psychologisch einfachen Sinnesqualit\u00e4ten zweckm\u00e4\u00dfiger. Zuweilen hat man endlich auch den Begriff \u00bbEmpfindung\u00ab auf solche Erregungen eingeschr\u00e4nkt, die direct von \u00e4u\u00dferen Sinnesreizen herr\u00fchren. Da f\u00fcr die psychologischen Eigenschaften der Empfindung dieser Umstand irrelevant ist, so ist jedoch eine solche Begrenzung des Begriffs nicht zu rechtfertigen.\nDie concrete Unterscheidung der Empfindungs- und Gef\u00fchls-elemente wird durch die Existenz der Indifferenzzone der Gef\u00fchle","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nI. Die psychischen Elemente.\nwesentlich unterst\u00fctzt. Zugleich h\u00e4ngt es mit diesem Verh\u00e4ltnis der Abstufung zwischen Unterschieden und der Abstufung zwischen Gegens\u00e4tzen zusammen, dass die Gef\u00fchle sehr viel variablere Elemente unserer unmittelbaren Erfahrung sind. Auf dieser wechselnden Beschaffenheit, die es kaum gestattet einen Gef\u00fchlszustand in unver\u00e4nderter Qualit\u00e4t oder St\u00e4rke festzuhalten, beruhen dann aber auch die gr\u00f6\u00dferen Schwierigkeiten, denen die exacte Untersuchung der Gef\u00fchle begegnet.\nDa die Empfindungen jedem unmittelbaren Erfahrungsinhalte zukommen, die Gef\u00fchle aber verm\u00f6ge ihrer Oscillationen durch eine Indifferenzzone in gewissen Grenzf\u00e4llen verschwinden k\u00f6nnen, so ist es begreiflich, dass wir zwar bei den Empfindungen von den begleitenden Gef\u00fchlen, niemals aber umgekehrt bei diesen von jenen abstrahiren k\u00f6nnen. Hierdurch entsteht dann leicht entweder die falsche Auffassung, die Empfindungen seien die Ursachen der Gef\u00fchle, oder die andere, die Gef\u00fchle seien eine besondere Sjjecies der Empfindungen. Die erste dieser Meinungen ist deshalb unzul\u00e4ssig, weil die Gef\u00fchlselemente niemals aus den \u2022Empfindungen als solchen, sondern nur aus dem Verhalten des Subjects abzuleiten sind, daher auch unter verschiedenen sub-jectiven Bedingungen eine und dieselbe Empfindung von verschiedenen Gef\u00fchlen begleitet sein kann. Die zweite Meinung ist unhaltbar, weil theils die unmittelbare Beziehung der Empfindungen auf den objectiven Erfahrungsinhalt, der Gef\u00fchle auf das Subject, theils die Eigenschaften der Abstufung zwischen gr\u00f6\u00dften Unterschieden und zwischen gr\u00f6\u00dften Gegens\u00e4tzen beide wesentlich imterscheiden. Demnach sind, verm\u00f6ge der zu jeder psychologischen Erfahrung geh\u00f6rigen objectiven und subjektiven Factoren, Empfindungen und Gef\u00fchle als reale und gleich wesentliche Elemente des psychischen Geschehens anzusehen, die aber in durchg\u00e4ngigen Beziehungen zu einander stehen. Da sich zugleich in diesen Wechselbeziehungen die Empfindungselemente als die constanteren erweisen, die allein unter Mith\u00fclfe der Beziehung auf ein \u00e4u\u00dferes Object durch Abstraction isolirt werden k\u00f6nnen, so muss bei der Untersuchung der Eigenschaften beider nothwendig von den Empfindungen ausgegangen werden. Einfache Empfindungen, hei deren Betrachtung von den begleitenden Gef\u00fchlselementen abstrahirt wird, bezeichnet man nun als reine Empfindungen. Es ist einleuchtend, dass niemals in \u00e4hnlichem","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 (i. Die reinen Empfindungen.\n15\nSinne von \u00bbreinen Gef\u00fchlen\u00ab geredet werden kann, da auch die einfachen Gef\u00fchle niemals losgel\u00f6st von begleitenden Empfindungen oder von Verbindungen solcher gedacht werden k\u00f6nnen. Hiermit h\u00e4ngt zugleich das zweite der oben 'S. 41) angef\u00fchrten Unterschiedsmerkmale unmittelbar zusammen.\n\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\n1.\tDer Begriff der \u00bbreinen Empfindung\u00ab setzt nach g 5 eine doppelte Abstraction voraus: 1) die Abstraction von den Vorstellungen, in denen die Empfindung vorkommt, und 2) die Abstraction von den einfachen Gef\u00fchlen, mit denen sie verbunden ist. Die in diesem Sinne definirten reinen Empfindungen bilden eine Reihe disparater Qualit\u00e4tensysteme, und jedes dieser Systeme, wie das der Druckempfindungen, der Ton-, der Lichtempfindungen, ist entweder ein gleichf\u00f6rmiges oder ein mannigfaltiges Continuum (\u00a7 5, 5), das, in sich abgeschlossen, keinerlei Ueberg\u00e4nge zu einem der anderen Systeme erkennen l\u00e4sst.\n2.\tDie Entstehung der Empfindungen ist, wie uns die physiologische Erfahrung lehrt, regelm\u00e4\u00dfig an gewisse physische Vorg\u00e4nge gebunden, die theils in der unseren K\u00f6rper umgebenden Au\u00dfenwelt, theils in bestimmten K\u00f6rperorganen ihren Ursprung haben, und die wir mit einem der Physiologie entlehnten Ausdruck als die Sinnesreize oder Empfindungsreize bezeichnen. Besteht der Reiz in einem Vorgang der Au\u00dfenwelt, so nennen wir ihn einen physikalischen: besteht er in einem Vorgang in unserm eigenen K\u00f6rper, so nennen wir ihn einen physiologischen. Die physiologischen Reize lassen sich dann wieder in periphere und centrale unterscheiden, je nachdem sie in Vorg\u00e4ngen in den verschiedenen K\u00f6rperorganen au\u00dferhalb des Gehirns oder in solchen im Gehirn selbst bestehen. In zahlreichen F\u00e4llen ist eine Empfindung von diesen dreierlei","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nI. Die psychischen Elemente.\nReizungs Vorg\u00e4ngen begleitet: so wirkt z. B. ein \u00e4u\u00dferer Lichteindruck als physikalischer Reiz auf das Auge; in diesem und in dem Sehnerven entsteht dann eine periphere physiologische Reizung, und endlich in den in gewissen Theilen des Mittelhirns (den Vierh\u00fcgeln; und in der hinteren Region der Gro\u00dfhirnrinde (dem Occipitalhirn) gelegenen Opticusendigungen eine centrale physiologische Reizung. In vielen F\u00e4llen kann aber der physikalische Reiz fehlen, w\u00e4hrend der physiologische in seinen beiden Formen vorhanden ist: so z. B. wenn wir in Folge einer heftigen Bewegung des Auges einen Lichtblitz wahrnehmen ; und in andern F\u00e4llen kann sogar der centrale Reiz allein vorhanden sein: so z. B. wenn wir uns an irgend einen fr\u00fcher gehabten Lichteindruck erinnern. Demnach ist der centrale Reiz der einzige, der constant die Empfindung begleitet ; der periphere muss sich aber mit dem centralen, und der physikalische muss sich sowohl mit dem peripheren wie mit dem centralen physiologischen Reiz verbinden, wenn Empfindung entstehen soll.\n3. Die physiologische Entwicklungsgeschichte macht es wahrscheinlich, dass die Scheidung der verschiedenen Empfindungssysteme zum Theil erst im Laufe der generellen Entwicklung sich ausgebildet hat. Das urspr\u00fcnglichste Sinnesorgan ist n\u00e4mlich die \u00e4u\u00dfere K\u00f6rperbedeckung mit den ihr zugeordneten empfindungsf\u00e4higen inneren Organen. Die Organe des Geschmacks, des Geruchs, des Geh\u00f6rs, des Gesichts dagegen entstehen erst sp\u00e4ter als Differenzirungen der K\u00f6rperbedeckung. Man darf daher vermuthen, dass auch die jenen speciellen Sinnesorganen entsprechenden Empfindungssysteme aus den Empfindungssystemen des allgemeinen Sinnes, den Druck-, W\u00e4rme- und K\u00e4lteempfindungen, durch allm\u00e4hliche Differenzirung entstanden sind, und es ist denkbar, dass bei niederen Thieren einzelne der","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\n47\njetzt streng geschiedenen Qualit\u00e4tensysteme einander noch n\u00e4her stehen. Physiologisch spricht sich die urspr\u00fcnglichere Katar des allgemeinen Sinnes \u00fcberdies darin aus, dass bei ihm entweder gar keine oder nur sehr einfache Einrichtungen zur Uebertragung der Sinnesreize auf die Sinnesnerven vorhanden sind. Denn die Druck-, Temperatur-und Schmerzreize k\u00f6nnen von Hautstellen aus, an denen trotz sorgf\u00e4ltiger Nachforschung bis jetzt keine besondern Endapparate nachgewiesen werden konnten, Empfindungen ausl\u00f6sen. An den f\u00fcr Druckempfindungen empfindlichsten Stellen gibt es allerdings besondere Aufnahmeapparate (Tastk\u00f6rper, Endkolben, Yater\u2019sche K\u00f6rper); aber die Beschaffenheit dieser Apparate macht es wahrscheinlich, dass sie nur die mechanische Uebertragung der Druckreize auf die Nervenendigungen beg\u00fcnstigen. Specielle Aufnahmeapparate f\u00fcr W\u00e4rme-, K\u00e4lte- und Schmerzreize sind endlich \u00fcberhaupt nicht aufgefunden worden.\nDagegen treffen wir in den sp\u00e4ter entwickelten spe-ciellen Sinnesorganen \u00fcberall Einrichtungen, die nicht blo\u00df eine zweckm\u00e4\u00dfige Uebertragung der Reize auf die Sinnesnerven, sondern im allgemeinen auch physiologische Transformationen der Reizungsvorg\u00e4nge vermitteln, die f\u00fcr die Entstehung der eigentli\u00fcmlichen Qualit\u00e4ten der Empfindungen unerl\u00e4sslich sind. Doch bieten die speciellen Sinne in dieser Beziehung wieder ein verschiedenes Verhalten dar.\nNamentlich scheint es. dass in dem Geh\u00f6rorgan die Aufnahmeapparate nicht ganz die n\u00e4mliche Bedeutung besitzen, wie in dem Geruchs-, Geschmacks- und Gesichtsorgan. Auf seiner niedersten Entwicklungsstufe besteht n\u00e4mlich der Geh\u00f6rapparat aus einem Bl\u00e4schen, das mit einem oder mit einigen kleinen Steinchen (Otolithen) gef\u00fcllt ist, und in dessen W\u00e4nden ein Nervenbiischel sich ausbreitet.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nI. Die psychischen Elemente.\nDurch Schallschwingungen werden die Geh\u00f6rsteine in Oscil-lationen versetzt, die als eine rasche Folge schwacher Druckreize auf die Fasern des Nervenb\u00fcschels einwirken m\u00fcssen. So ungemein verwickelt nun das Geh\u00f6rorgan der h\u00f6heren Thiere gebaut ist, so erinnert es doch in seinen wesentlichen Einrichtungen an diesen Typus eines einfachsten H\u00f6rapparates. In der Schnecke des Menschen und der h\u00f6heren Thiere durchsetzen die H\u00f6rnerven die von zahlreichen feinen Can\u00e4len durchbohrte Spindel und treten dann durch die nach dem Hohlraum der Schnecke gekehrten Poren, um sich in einer diesen Hohlraum in einigen spiraligen Windungen durchziehenden , straff gespannten und durch besondere starre Pfeiler die Corti'schen Bogen; beschwerten Membran auszubreiten. Da diese Membran, die Grundmembran ge-nannt, nach akustischen Gesetzen in Mitschwingungen ge-rathen muss, sobald Schallschwingungen das Ohr treffen, so spielt dieselbe, wie es scheint, hier die n\u00e4mliche Rolle, wie sie den H\u00f6rsteinchen bei jener niedersten Form eines Geh\u00f6rorgans zukommt. Aber dabei ist noch eine andere Ver\u00e4nderung eingetreten, die die ungeheure Differenzirung des Empfindungssystems begreiflich macht. Jene Grundmembran der Schnecke hat n\u00e4mlich in ihren verschiedenen Theilen einen wechselnden Querdurchmesser, indem sie von der Basis zur Spitze des Schneckenkanals immer breiter wird. Sie verh\u00e4lt sich also wie ein System gespannter Saiten von verschiedener L\u00e4nge, und wie bei einem solchen unter sonst gleichen Bedingungen die l\u00e4ngeren Saiten auf tiefere, die k\u00fcrzeren auf h\u00f6here T\u00f6ne abgestimmt sind, so l\u00e4sst sich das gleiche auch f\u00fcr die verschiedenen Theile der Grund-membran annehmen. W\u00e4hrend wir also vermuthen d\u00fcrfen, dass das den einfachsten mit Otolithen versehenen Geh\u00f6rorganen entsprechende Empfindungssystem ein gleichf\u00f6rmiges ist, analog etwa unserm System der Druckempfindungen, macht","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\n49\ndie eigenth\u00fcmliche Differenzirung dieses Apparats in der Schnecke der h\u00f6heren Thiere die Entwicklung jenes urspr\u00fcnglich gleichf\u00f6rmigen zu einem \u00fcberaus mannigfaltigen Empfindungssystem begreiflich. Gleichwohl bleibt die Beschaffenheit des Aufnahmeapparates insofern eine \u00e4hnliche, als derselbe zwar hier wie dort zu einer m\u00f6glichst vollkommenen Uebertragung des physikalischen Reizes auf die Sinnesnerven, in keiner Weise aber zu einer Transformation dieses Reizes geeignet erscheint. Dem entspricht auch die Beobachtung, dass, \u00e4hnlich wie Druckempfindungen von solchen Ilaut-stellen aus vermittelt werden k\u00f6nnen, die der besonderen Aufnahmeapparate entbehren, so bei gewissen Thieren, bei denen die Bedingungen der Schall\u00fcbertragung besonders g\u00fcnstige sind, wie bei V\u00f6geln, selbst nach Entfernung des ganzen Geh\u00f6rorgans mit seinen specifischen Aufnahmeapparaten noch Schallschwingungen auf den H\u00f6rnerven \u00fcbertragen und empfunden werden.\nVon diesem Verhalten unterscheiden sich nun wesentlich der Geruchs-, der Geschmacks- und der Gesichtssinn. Bei ihnen finden sich physiologische Einrichtungen, die eine directe Einwirkung der Reize auf die Sinnesnerven unm\u00f6glich machen, indem zwischen beide eigenth\u00fcmliche Apparate sich einschieben, in denen der \u00e4u\u00dfere Sinnesreiz Ver\u00e4nderungen hervorbringt, die dann erst die eigentlichen die Sinnesnerven erregenden Reize sind. Diese Apparate sind in den drei genannten Organen eigent\u00fcmlich metamorphi-sirte Oberhautzellen, deren eines Ende dem Reiz zug\u00e4nglich ist, w\u00e4hrend das andere in einen Nervenfaden \u00fcbergeht. Alles spricht daf\u00fcr, dass in diesem Fall die Aufnahmeapparate nicht blo\u00dfe Uebertragungs-, sondern Transformationsapparate des Reizes sind. Dabei ist wahrscheinlich in diesen drei F\u00e4llen die Transformation eine chemische, indem bei dem Geruchs- und Geschmackssinn\nW tind t, Psychologie.\n4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nI. Die psychischen Elemente.\n\u00e4u\u00dfere chemische Einwirkungen, bei dem Gesichtssinn aber Lichteinwirkungen chemische Zersetzungen in den Sinneszellen hervorrufen, die dann als die eigentlichen Sinnesreize wirken.\nHiernach lassen sich diese drei als die chemischen Sinne dem Druck- und dem Geh\u00f6rssinn als den mechanischen Sinnen gegen\u00fcberstellen. In welche dieser Classen die K\u00e4lte- und die W\u00e4rmeempfindungen zu stellen seien, l\u00e4sst sich dagegen noch nicht mit Sicherheit bestimmen. Ein Symptom der directeren Beziehung zwischen Reiz und Empfindung bei den mechanischen gegen\u00fcber der in-directen bei den chemischen Sinnen besteht darin, dass bei den ersteren die Empfindung nur eine sehr kurze Zeit den \u00e4u\u00dferen Reiz zu \u00fcberdauern pflegt, w\u00e4hrend bei den letzteren diese Nachdauer eine sehr viel l\u00e4ngere ist. So kann man z. B. bei einer raschen Folge von Druck- und namentlich von Schallreizen die einzelnen noch deutlich von einander unterscheiden; Licht-, Geschmacks- und Geruchseindr\u00fccke dagegen flie\u00dfen schon bei m\u00e4\u00dfiger Gsechwindigkeit ihrer Aufeinanderfolge zusammen.\n4. Da die Reize in den beiden Formen der peripheren und der centralen Reizung regelm\u00e4\u00dfige physische Begleiterscheinungen der psychischen Elementarprocesse, der Empfindungen, sind, so wurde der Versuch nahe gelegt, bestimmte Beziehungen zwischen diesen beiderlei Vorg\u00e4ngen festzustellen. Die Physiologie pflegte bei dem Versuch diese Aufgabe zu l\u00f6sen, die Empfindungen als die Wirkungen der physiologischen Reize aufzufassen, nahm aber zugleich an, dass in diesem Fall eine eigentliche Erkl\u00e4rung der Wirkung aus ihrer Ursache. unm\u00f6glich sei, sondern dass man sich darauf beschr\u00e4nken m\u00fcsse, die Constanz der Beziehungen zwischen bestimmten Reizursachen und bestimmten Emprfin-dungswirkungen festzustellen. Nun findet man, dass in","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\n51\nvielen F\u00e4llen verschiedene Reize, sobald sie nur auf dieselben physiologischen Aufnahmeapparate einwirken, qualitativ gleiche Empfindungen ausl\u00f6sen: so beobachtet man z. B. bei mechanischer oder elektrischer Reizung des Auges Lichtempfindungen. Indem man dieses Resultat verallgemeinerte, gelangte man zu dem Satze, jedes einzelne Aufnahmeelement eines Sinnesorgans und jede einzelne sensible Nervenfaser samt ihrer centralen Endigung sei nur einer-einzigen Empfindung von fest bestimmter Qualit\u00e4t f\u00e4hig, und die Mannigfaltigkeit der Empfindungsqualit\u00e4ten sei daher durch die Mannigfaltigkeit jener physiologischen Elemente von specifisch verschiedener Energie verursacht.\nDieser Satz, den man als das \u00bbGesetz der specifischen Energie\u00ab zu bezeichnen pflegt, ist aber, abgesehen davon, dass er die Ursachen der mannigfaltigen Empfindungsunterschiede blo\u00df auf eine qualitas occulta der physiologischen Sinnes- und Nervenelemente zur\u00fcckf\u00fchrt, aus drei Gr\u00fcnden unhaltbar.\n1) Derselbe stellt im Widersprach mit der physiologischen Entwickelungsgeschichte der Sinne. Wenn, wie wir nach dieser annehmen m\u00fcssen, die mannigfaltigen Empfindungssysteme aus urspr\u00fcnglich einfacheren und gleichf\u00f6rmigeren hervorgegangen sind, so m\u00fcssen auch die physiologischen Sinneselemente ver\u00e4nderlich sein: das ist aber nur m\u00f6glich, wenn sie durch die Reize, die auf sie einwirken, modificirt werden k\u00f6nnen. Darin liegt eingeschlossen, dass die Sinneselemente \u00fcberhaupt erst in secund\u00e4rer Weise, n\u00e4mlich in Folge der Eigenschaften, die sie durch die ihnen zugeffihrten Reizungsvorg\u00e4nge annehmen, die Empfindungsqualit\u00e4t bestimmen. Erfahren aber die Sinneselemente im Laufe l\u00e4ngerer Zeit tiefgreifende Ver\u00e4nderungen, die von der Beschaffenheit der sie treffenden Reize abh\u00e4ngen, so ist das nur m\u00f6glich, wenn \u00fcberhaupt der physiologische Reizungs-","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nI. Die psychischen Elemente.\nVorgang in den Sinneselenienten in irgend einem Grade mit der Qualit\u00e4t des Reizes variirt.\n2)\tDer Satz der specifischen Energie widerspricht der Thatsache, dass in zahlreichen Sinnesgebieten der Mannigfaltigkeit der Empfindungsqualit\u00e4ten eine entsprechende Mannigfaltigkeit der physiologischen Sinneselemente durchaus nicht correspondirt. So k\u00f6nnen von einem einzigen Punkt der Netzhaut aus alle m\u00f6glichen Licht- und Farbenempfindungen erregt werden 5 so finden wir im Geruchs-und Geschmacksorgan gar keine deutlich verschiedenen Formen von Sinneselementen; trotzdem k\u00f6nnen selbst beschr\u00e4nkte Theile dieser Sinnesfl\u00e4chen eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen vermitteln, die namentlich beim Geruchssinn ausnehmend gro\u00df ist. In solchen F\u00e4llen, wo man allen Grund hat anzunehmen, dass wirklich qualitativ verschiedene Empfindungen in verschiedenen Sinneselementen entstehen, wie beim Geh\u00f6rssinn, weisen aber die Einrichtungen des Sinnesapparates darauf hin, dass diese Verschiedenheit nicht durch irgend eine Eigenschaft der Nervenfasern oder sonstiger Sinneselemente zu Stande kommt, sondern dass sie in der besonderen Lagerungsweise dieser ihren urspr\u00fcnglichen Grund hat. Sind in der Schnecke des Geh\u00f6rorgans die verschiedenen Theile der Grundmembran auf verschiedene T\u00f6ne abgestimmt, so werden nat\u00fcrlich auch verschiedene H\u00f6rnervenfasern durch verschiedene Tonwellen gereizt. Aber dies ist nicht durch eine urspr\u00fcngliche r\u00e4thselhafte Eigenschaft der einzelnen H\u00f6rnervenfasern, sondern nur durch die Art ihrer Verbindung mit den Aufnahmeapparaten bedingt.\n3)\tDie Sinnesnerven und die centralen Sinneselemente k\u00f6nnen deshalb keine urspr\u00fcngliche specifische Energie besitzen, weil durch ihre Reizung nur dann die entsprechenden Empfindungen entstehen, wenn mindestens zuvor w\u00e4hrend einer zureichend langen Zeit die peripheren Sinnesorgane","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\n53\nden ad\u00e4quaten Sinnesreizen zug\u00e4nglich gewesen sind. Den Blind- und den Taubgeborenen fehlen, so viel man wei\u00df, auch wenn die Sinnesnerven und Sinnescentren urspr\u00fcnglich ansgebildet waren, die Licht- und die Tonqualit\u00e4ten vollst\u00e4ndig.\nAlles spricht demnach daf\u00fcr, dass die Verschiedenheit der Empfindungsqualit\u00e4t durch die Verschiedenheit der in den Sinnesorganen entstehenden Reizungsvorg\u00e4nge bedingt ist, und dass die letzteren in erster Linie von der Beschaffenheit der physikalischen Sinnesreize und erst in zweiter von der durch die Anpassung an diese Reize entstehenden Eigenth\u00fcnilichkeit der Aufnahmeapparate abh\u00e4ngen. In Folge dieser Anpassung kann es dann aber auch geschehen, dass selbst dann, wenn statt des ad\u00e4quaten, die urspr\u00fcngliche Anpassung der Sinneselemente bewirkenden physikalischen Reizes ein anderer Reiz einwirkt, die dem ad\u00e4quaten Reiz entsprechende Empfindung zu Stande kommt. Doch gilt dies weder f\u00fcr alle Sinnesreize noch f\u00fcr alle Sinneselemente. So kann man z. B. mit W\u00e4rme- oder K\u00e4ltereizen weder Druckempfindungen in der Haut noch irgend eine andere Empfindungsqualit\u00e4t in den speciellen Sinnesorganen ausl\u00f6sen: chemische und elektrische Reize rufen nur wenn sie die Netzhaut, nicht wenn sie den Sehnerven treffen, Lichtempfindungen hervor; ebenso lassen sich durch diese allgemeinen Reize keine Geruchs- und Geschmacksempfindungen bewirken, es sei denn dass der elektrische Strom eine chemische Zersetzung erzeugt, bei der ad\u00e4quate chemische Reize entstehen.\n5. Der Natur der Sache nach ist es unm\u00f6glich, aus der Beschaffenheit der physikalischen und physiologischen Reizungsvorg\u00e4nge die Beschaffenheit der Empfindungen abzuleiten. da die Reizungsvorg\u00e4nge der naturwissenschaftlichen oder mittelbaren, die Empfindungen dagegen der psycho-","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nJ. Die psychischen Elemente.\nlogischen oder unmittelbaren Erfahrung angeh\u00f6ren, beide also unvergleichbar mit einander sind. Wohl aber besteht nothwendig in dem Sinne ein Wechselverli\u00e4ltniss zwischen den Empfindungen und den physiologischen Reizungsvorg\u00e4ngen, dass verschiedenen Empfindungen stets verschiedene Reizungsvorg\u00e4nge entsprechen m\u00fcssen. Dieser Satz von dem Parallelismus der Empfindungsunterschiede und der physiologischen Reizungsunterschiede ist ein wichtiges H\u00fclfsprincip sowohl der psychologischen wie der physiologischen Empfindungslehre, von dem man in der ersteren Gebrauch macht, um mittelst willk\u00fcrlicher Variation der Reize bestimmte Ver\u00e4nderungen der Empfindung hervorzubringen, und dessen man sich in der letzteren bedient, um aus der Gleichheit oder Verschiedenheit der Empfindungen auf die Gleichheit oder Verschiedenheit der physiologischen Reizungsvorg\u00e4nge zur\u00fcckzuschlie\u00dfen. Das n\u00e4mliche Princip bildet \u00fcberdies die Grundlage sowohl unserer praktischen Lebenserfahrung wie unserer theoretischen Erkenntniss der Au\u00dfenwelt.\nA. Die Empfindungen des allgemeinen Sinnes.\n6. Der Begriff des \u00bballgemeinen Sinnes\u00ab hat eine zeitliche und eine r\u00e4umliche Bedeutung. Der Zeit nach ist der allgemeine Sinn derjenige, der allen andern vorausgeht, und der deshalb allein allen beseelten Wesen zukommt. R\u00e4umlich unterscheidet sich der allgemeine Sinn dadurch von den besonderen Sinnen, dass er die ausgebreitetste Reizen zug\u00e4ngliche Sinnesfl\u00e4che hat. Er umfasst nicht blo\u00df die ganze \u00e4u\u00dfere Haut mit den an sie angrenzenden Schleim-hauttheilen der K\u00f6rperh\u00f6hlen, sondern auch eine gro\u00dfe Zahl innerer Organe, wie die Gelenke, Muskeln, Sehnen, Knochen u. s. w., in denen sich sensible Nerven ausbreiten, und die entweder fortw\u00e4hrend oder, wie z. B. die Knochen,","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\t55\nzeitweise und unter besonderen Bedingungen Reizen zug\u00e4nglich sind.\nDer allgemeine Sinn umfasst vier specifiscli von einander verschiedene Empfindungssysteme: Druckempfindungen, K\u00e4lteempfindungen, W\u00e4rmeempfindungen und Schmerz-empfindungen. Nicht selten erregt ein einzelner Reiz mehrere dieser Empfindungen. Dann wird aber die Empfindung ohne weiteres als eine gemischte erkannt, deren einzelne Componen-ten verschiedenen Empfindungssystemen, z. B. dem der Druck-und der W\u00e4rmeempfindungen oder dem der Druck- und der Schmerz-, der W\u00e4rme- und der Schmerzempfindungen u. s. w., angeh\u00f6ren. Ebenso entstehen in Folge der r\u00e4umlichen Aus-breitung des Sinnesorgans sehr h\u00e4ufig Mischungen verschiedener Qualit\u00e4ten eines und desselben Systems, z. B. bei der Ber\u00fchrung einer ausgedehnten Hautstelle qualitativ verschiedene Druckempfindungen.\nDie vier Empfindungssysteme des allgemeinen Sinnes sind s\u00e4mmtlich gleichf\u00f6rmige Systeme (\u00a7. 5, 5); auch dadurch gibt sich dieser Sinn' gegen\u00fcber den andern, deren Systeme s\u00e4mmtlich mannigfaltige sind, als der genetisch tiefer stehende zu erkennen. Die durch die \u00e4u\u00dfere Haut vermittelten sowie die durch die Spannungen und Bewegungen der Muskeln, der Gelenke und Sehnen entstehenden Druckempfindungen pflegt man auch unter dem Namen der Tastempfindungen zusammenzufassen und ihnen die W\u00e4rme-, K\u00e4lte- und Schmerzempfindungen nebst den in andern inneren Organen zuweilen vorkommenden Druckempfindungen als Gemeinempfindungen gegen\u00fcberzustellen. Doch hat diese Unterscheidung, die in der Beziehung der Empfindungen zu Vorstellungen und begleitenden Gef\u00fchlen ihre Quelle hat, mit der Empfindungsqualit\u00e4t als solcher nichts zu tliun.\n7. Die F\u00e4lligkeit der verschiedenen Theile des allgemeinen Sinnesorganes Reize aufzunehmen und Empfindungen","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nI. Die psychischen Elemente.\nauszul\u00f6sen l\u00e4sst sich mit zureichender Genauigkeit nur an der \u00e4u\u00dferen Haut pr\u00fcfen. R\u00fccksichtlich der inneren Theile l\u00e4sst sich nur feststellen, dass die Gelenke in sehr hohem, die Muskeln und Sehnen in geringerem Ma\u00dfe f\u00fcr Druckreize empfindlich sind, w\u00e4hrend W\u00e4rme-, K\u00e4lte- und Schmerzempfindungen \u00fcberhaupt nur ausnahmsweise und in auffallenderem Grade nur unter abnormen Bedingungen in inneren Organen zu entstehen pflegen. Auf der \u00e4u\u00dferen Haut dagegen und den unmittelbar an sie angrenzenden Schleim-hautbedekungen gibt es keinen Punkt, der nicht gleichzeitig f\u00fcr Druck-, W\u00e4rme-, K\u00e4lte- und Schmerzreize empfindlich w\u00e4re. Wohl aber variirt der Grad der Empfindlichkeit an den verschiedenen Hautstellen, und zwar so, dass die Punkte gr\u00f6\u00dfter Druck-, W\u00e4rme- und K\u00e4lteempfindlichkeit im allgemeinen nicht zusammenfallen. Kur die Schmerzempfindlichkeit verh\u00e4lt sich \u00fcberall ziemlich gleichf\u00f6rmig, h\u00f6chstens darin abweichend, dass der Schmerzreiz an einzelnen Punkten schon oberfl\u00e4chlich wirkt, w\u00e4hrend er an andern tiefer ein-dringen muss. Dagegen zeigen sich f\u00fcr die Druck-, die W\u00e4rme- und die K\u00e4ltereize einzelne ann\u00e4hernd punktf\u00f6rmige Hautstellen, die man deshalb als Druck-, W\u00e4rme- und K\u00e4ltepunkte bezeichnet hat, besonders bevorzugt. Sie sind \u00fcber die verschiedenen Hautgebiete in sehr verschiedener Menge zerstreut. Punkte verschiedener Qualit\u00e4t fallen zwar niemals zusammen; doch k\u00f6nnen die Temperaturpunkte immer zugleich Druck- und Schmerzempfindungen vermitteln, und an den K\u00e4ltepunkten bewirken punktuelle W\u00e4rmereize immer auch W\u00e4rmeempfindungen, w\u00e4hrend die W\u00e4rmepunkte durch punktuelle K\u00e4ltereize nicht erregbar zu sein scheinen. Ferner k\u00f6nnen die W\u00e4rme- und K\u00e4ltepunkte auch noch auf passend angewandte mechanische und elektrische Reize mit W\u00e4rme-und K\u00e4lteempfindungen reagiren.\n8. Von den genannten vier Qualit\u00e4tsarten bilden die","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 (i. Die reinen Empfindungen.\n57\nDruck- und die Schmerzempfindungen in sich abgeschlossene Systeme, die weder zu einander noch zu den beiden Systemen der Temperaturempfindung Beziehungen darbieten. Dagegen pflegen wir die letzteren in das Verh\u00e4ltniss eines Gegensatzes zu bringen, indem wir W\u00e4rme und K\u00e4lte nicht blo\u00df als verschiedene, sondern als contrastirende Empfindungen auffassen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass diese Auffassung nicht in der urspr\u00fcnglichen Natur der Empfindungen, sondern theils in den Bedingungen ihrer Entstehung theils in den begleitenden Gef\u00fchlen ihre Quelle hat. W\u00e4hrend sich n\u00e4mlich die \u00fcbrigen Qualit\u00e4ten beliebig mit einander verbinden und Mischempfindungen bilden k\u00f6nnen, z. B. Druck und W\u00e4rme, Druck und Schmerz, K\u00e4lte und Schmerz u. s. w., schlie\u00dfen W\u00e4rme und K\u00e4lte verm\u00f6ge der Bedingungen ihrer Entstehung derart einander aus, dass an einer gegebenen Hautstelle nur entweder W\u00e4rme- oder K\u00e4lteempfindung oder keine von beiden m\u00f6glich ist. Wo aber etwa die eine dieser Empfindungen continuirlich in die andere \u00fcbergeht, da geschieht dies regelm\u00e4\u00dfig derart, dass entweder die W\u00e4rmeempfindung allm\u00e4hlich verschwindet und dann eine stetig zunehmende K\u00e4lteempfindung entsteht, oder umgekehrt diese verschwindet und jene allm\u00e4hlich w\u00e4chst. Dazu kommt dann, dass an W\u00e4rme und K\u00e4lte elementare Gef\u00fchlsgegens\u00e4tze gekn\u00fcpft sind, zwischen denen der Punkt, wo beide Empfindungen verschwinden, als der Indifferenzpunkt erscheint.\nNoch in einer andern Beziehung verhalten sich endlich die beiden Systeme der Temperaturempfindungen eigenartig. Sie sind n\u00e4mlich in hohem Grade von den wechselnden Bedingungen der Reizeinwirkung auf das Sinnesorgan abh\u00e4ngig, indem eine erhebliche Erh\u00f6hung \u00fcber seine Eigentemperatur als W\u00e4rme, eine Vertiefung unter dieselbe als K\u00e4lte empfunden wird, w\u00e4hrend zugleich die Eigentemperatur","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nI. Die psychischen Elemente.\nselbst, die dieser Indifferenzzone zwischen beiden Empfindungsarten entspricht, in ziemlich weiten Grenzen verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig rasch der gerade bestehenden Au\u00dfentemperatur sich anpasst. Indem sich auch in dieser Hinsicht die beiden Empfindungssysteme gleichartig verhalten, beg\u00fcnstigt dies weiterhin die Auffassung ihrer Zusammengeh\u00f6rigkeit und ihres Gegensatzes.\n15. Die Schallempfiinlungeii.\n9. Wir besitzen zwei von einander unabh\u00e4ngige, aber in Folge der Mischung der Eindr\u00fccke in der Regel verbundene Systeme einfacher Schallempfindungen: das gleichf\u00f6rmige System der einfachen Ger\u00e4uscliempfind\u00fcngen, und das mannigfaltige der einfachen Tonempfindungen.\nEinfache Ger\u00e4uschempfindungen k\u00f6nnen wir nur unter Bedingungen hervorbringen, unter denen die gleichzeitige Entstehung von Tonempfindungen ausgeschlossen ist: so wenn wir Luftschwingungen erzeugen, deren Geschwindigkeit entweder zu langsam oder zu schnell ist, oder wenn Schallwellen w\u00e4hrend zu kurzer Zeit auf das Ohr einwirken, als dass eine Tonempfindung entstehen k\u00f6nnte. Die auf solche Weise erzeugte einfache Ger\u00e4uschempfindung kann sich nach Intensit\u00e4t und Dauer unterscheiden. Hiervon abgesehen ist sie aber qualitativ gleichf\u00f6rmig. Es ist m\u00f6glich, dass geringe Qualit\u00e4tsunterschiede derselben je nach den Entstehungsbedingungen des Ger\u00e4usches existiren ; sie sind aber jedenfalls zu klein, als dass sie durch Unterschiede der Bezeichnung fixirt werden k\u00f6nnten. Die gew\u00f6hnlich so genannten Ger\u00e4usche sind Vorstellungsverbindungen, die aus solchen einfachen Ger\u00e4uschempfindungen und aus sehr zahlreichen und unregelm\u00e4\u00dfigen Tonempfindungen zusammengesetzt sind. (Vgl. \u00a7 9, 7.) Das gleichf\u00f6rmige System der einfachen Ger\u00e4uschempfindungen ist wahrscheinlich entwich-","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 \u00fc. Die reinen Empfindungen.\n59\nlungsgeschichtlich das urspr\u00fcnglichere. Die einfachen mit Otolithen versehenen Geh\u00f6rbl\u00e4schen der niederen Tliiere k\u00f6nnen schwerlich andere als einfache Ger\u00e4uschempfindungen vermitteln. Auch bei dem Menschen und den h\u00f6heren Thieren lassen die im Vorhof des Labyrinths getroffenen Einrichtungen blo\u00df eine gleichf\u00f6rmige, der einfachen Ger\u00e4uschempfindung entsprechende Schallerregung vermuthen ; und endlich ist es nach Versuchen an labyrinthlosen Thieren (S. 49) wahrscheinlich, dass selbst directe Erregungen der H\u00f6rnerven solche Empfindungen hervorrufen k\u00f6nnen. Da noch in der Entwicklung der h\u00f6heren Tliiere der Schneckenapparat des Geh\u00f6rlabyrinths aus dem urspr\u00fcnglicheren, in seiner Bildungsweise ganz einem primitiven Geh\u00f6rorgane entsprechenden Vorhofsbl\u00e4schen hervorgegangen ist, so ist vermuthlich das mannigfaltige System der Tonempfindungen als ein Product der Differenzirung des gleichf\u00f6rmigen Systems der einfachen Ger\u00e4uschempfindungen anzusehen, wobei aber zugleich \u00fcberall, wo diese Entwicklung erfolgt ist, das einfachere neben dem entwickelteren System fortbesteht.\n10. Das System der einfachen Tonempfindungen bildet eine stetige Mannigfaltigkeit von einer Dimension. Wir bezeichnen die Qualit\u00e4t der einzelnen einfachen Tonempfindung als Tonh\u00f6he. Die eindimensionale Beschaffenheit des Systems findet darin ihren Ausdruck, dass wir von einer gegebenen Tonh\u00f6he aus stets nur nach zwei einander entgegengesetzten Richtungen die Qualit\u00e4t \u00e4ndern k\u00f6nnen: die eine dieser Richtungen nennen wir Erh\u00f6hung, die andere Vertiefung des Tons. In der wirklichen Erfahrung ist uns eine einfache Tonempfindung niemals vollkommen rein f\u00fcr sich allein gegeben, sondern theils verbindet sie sich mit andern Tonempfindungen theils auch mit begleitenden einfachen Ger\u00e4uschempfindungen. Aber indem diese begleitenden Elemente nach dem fr\u00fcher (\u00a7 5, 1 gegebenen","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nI. Die psychischen Elemente.\nSchema beliebig wechseln k\u00f6nnen und in vielen F\u00e4llen im Vergleich mit einem einzelnen Ton verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig schwach sind, ist schon die praktische Anwendung der Tonempfindungen in der Kunst der Musik zur Abstraction der einfachen Tonempfindungen gelangt. Mit den Symbolen c, cts, des, d u. s. w. bezeichnen wir einfache T\u00f6ne, obgleich die Kl\u00e4nge musikalischer Instrumente oder der menschlichen Singstimme, mittelst deren wir diese Tonh\u00f6hen hervorbringen, immer noch von andern, schw\u00e4cheren T\u00f6nen und h\u00e4ufig auch von Ger\u00e4uschen begleitet sind. Da sich \u00fcbrigens die Bedingungen der Entstehung solcher Begleitt\u00f6ne willk\u00fcrlich derart variiren lassen, dass sie sehr schwach werden, so ist es der akustischen Technik sogar gelungen wirklich einfache T\u00f6ne in nahezu vollendeter Reinheit lierzustellen. Das einfachste Mittel dazu besteht darin, dass man Stimmgabeln in Verbindung mit Resonanzr\u00e4umen bringt, die auf die Grundt\u00f6ne der Stimmgabeln abgestimmt sind. Da der Resonanzraum nur den Grundton verst\u00e4rkt, so sind beim Ausklingen einer einzelnen Stimmgabel die sonstigen begleitenden T\u00f6ne so schwach, dass man die Empfindung in der Regel als eine einfache, unzerlegbare auffasst. Untersucht man die einer solchen Tonempfindung entsprechenden Schallschwingungen, so entsprechen diese zugleich der einfachsten \u00fcberhaupt m\u00f6glichen Schwingungsbewegung, n\u00e4mlich der pendelartigen Schwingung, so genannt, weil dabei die Oscillationen der Lufttheilchen nach demselben Gesetze erfolgen, nach welchem die Schwingungen eines in sehr kleinen Amplituden sich bewegenden Pendels stattfinden.1) Dass diese relativ einfachen Schallschwingungen\n1} Mathematisch werden die pendelartigen Schwingungen auch als SinusSchwingungen bezeichnet, weil dabei die Abweichung aus der Gleichgewichtslage in jedem Augenblick proportional ist dem Sinus der verflossenen Zeit.","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 B. Die reinen Empfindungen.\nCI\neinfachen Tonempfindungen entsprechen, und dass wir sogar aus Verbindungen solcher Empfindungen einzelne heraush\u00f6ren k\u00f6nnen, l\u00e4sst sich physikalisch auf Grund der Einrichtungen des Schneckenapparats aus den Gesetzen des Mitschwingens ableiten. Ist n\u00e4mlich die Grundmembran der Schnecke in ihren verschiedenen Theilen auf verschiedene Tonh\u00f6hen abgestimmt, so wird, wenn eine einfache pendel-artige Schallschwingung das Ohr trifft, nur der auf sie abgestimmte Theil mitschwingen, und wenn dieselbe Schwingungsgeschwindigkeit in irgend einer zusammengesetzten Schallbewegung vorkommt, so wird jene nur den auf sie abgestimmten Theil. die \u00fcbrigen Bestandtheile der Schallbewegung werden aber andere, ihnen in gleicher Weise entsprechende Abschnitte der Grundmembran mitschwingen lassen.\n11. Das System der Tonempfindungen erweist sich als eine stetige Mannigfaltigkeit, da man von einer bestimmten Tonh\u00f6he zu irgend einer andern stets durch con-tinuirliche Empfindungs\u00e4nderung gelangen kann. Dass die Musik aus diesem Continuum einzelne Empfindungen herausgreift, die durch gr\u00f6\u00dfere Intervalle getrennt sind, und auf diese Weise die Tonlinie durch die Tonscala ersetzt, beruht auf willk\u00fcrlichen Feststellungen, die aber allerdings in Verh\u00e4ltnissen der Tonempfindungen selbst ihren Grund haben, auf die sp\u00e4ter (\u00a7 9) bei der Betrachtung der aus diesen Empfindungen entstehenden Vorstellungsgebilde zur\u00fcckzukommen sein wird. Die nat\u00fcrliche Tonlinie selbst hat zwei Endpunkte, die physiologisch durch die Grenzen der Aufnahmef\u00e4higkeit des Geh\u00f6rapparats bedingt sind. Diese Endpunkte sind der tiefste und der h\u00f6chste Ton, von denen jener einer Schwingungsbewegung von 8\u201410, dieser einer solchen von 40,000 \u2014 50,000 Doppelschwingungen in der Secunde entspricht.","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nI. Die psychischen Elemente.\nC. Die (\u00eeeruclis- und Geschmacksempfindungen.\n12. Die Gerucbsempfindungen bilden ein mannigfaltiges System von bisher noch unbekannter Anordnung. Wir wissen nur, dass es eine sehr gro\u00dfe Anzahl verschiedener Geruchsqualit\u00e4ten gibt, zwischen denen sich alle m\u00f6glichen stetigen Ueberg\u00e4nge vorfinden. Hiernach ist es zweifellos, dass das System eine mehrdimensionale Mannigfaltigkeit ist.\n12 a. Als ein Hinweis auf eine dereinst vielleicht m\u00f6gliche Reduction der Gemchsempfindungen auf eine kleinere Anzahl von Hauptqualit\u00e4ten l\u00e4sst sich die Thatsache betrachten, dass man die Ger\u00fcche in gewisse Classen ordnen kann, deren jede solche Empfindungen enth\u00e4lt, die mehr oder weniger verwandt sind. Derartige Classen sind z. B. die \u00e4therischen, aromatischen, balsamischen, moschusartigen, brenzlichen Ger\u00fcche u. s. w. Einzelne Beobachtungen lehren, dass gewisse Qualit\u00e4ten, die durch bestimmte Geruchsstoffe entstehen, auch durch Mischung anderer Geruchsstoffe erzeugt werden k\u00f6nnen. Aber diese Erfahrungen reichen bis jetzt nicht aus, um die gro\u00dfe Menge von Einzelger\u00fcchen, die jede der erw\u00e4hnten Classen enth\u00e4lt, auf eine begrenzte Anzahl von Hauptqualit\u00e4ten und deren Mischungen zu-r\u00fcckzufiihren. Endlich hat man noch beobachtet, dass sich manche Geruchsreize in den geeigneten Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnissen angewandt in der Empfindung compensiren; und zwar geschieht dies nicht nur bei solchen Stoffen, die sich, wie z. B. Essigs\u00e4ure und Ammoniak, chemisch neutralisiren, sondern auch bei solchen, die, wie z. B. Kautschuk und Wachs oder Tolubalsam, au\u00dferhalb der Riechzellen chemisch nicht auf einander einwirken. Da jedoch diese Compensation auch dann stattfindet, wenn die beiden Ger\u00fcche auf ganz verschiedene Riechfl\u00e4chen, der eine auf die rechte, der andere auf die linke Nasenschleimhaut, einwirken, so handelt es sich hier wahrscheinlich nicht um eine dem unten (22) zu besprechenden Complementarismus der Farben analoge Erscheinung, sondern m\u00f6glicher Weise um eine centrale wechselseitige Hemmung der Empfindungen. Gegen jene Analogie spricht au\u00dferdem die Beobachtung, dass eine und dieselbe Geruchsqualit\u00e4t","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 G. Die reinen Empfindungen.\n63\nmehrere ganz verschiedene Qualit\u00e4ten, ja zuweilen solche, die sich selbst wieder neutralisiren, eompensiren kann, w\u00e4hrend der Complementarismus der Farben stets auf je zwei einander fest zugeordnete Qualit\u00e4ten beschr\u00e4nkt ist.\n13. Etwas n\u00e4her erforscht sind die Geschmacksempfindungen, insofern wir bei ihnen vier mit einander unvergleichbare Hauptqualit\u00e4ten unterscheiden k\u00f6nnen, zwischen denen alle m\u00f6glichen Ueberg\u00e4nge, die wir als Mischempfindungen auffassen, Vorkommen. Diese vier Haupt-qualit\u00e4ten sind: sauer, s\u00fc\u00df, bitter und salzig. Neben ihnen betrachtet man zuweilen noch langenhaft alkalisch und metallisch als selbst\u00e4ndige Qualit\u00e4ten: unter ihnen zeigt aber das Laugenhafte eine unverkennbare Verwandtschaft mit dem Salzigen, das Metallische mit dem Saueren; beide sind daher wahrscheinlich Misch- oder Uebergangsempfin-dungen (das Alkalische vielleicht zwischen salzig und s\u00fc\u00df, das Metallische zwischen sauer und salzig). Von den ge-nannten vier Hauptqualit\u00e4ten stehen s\u00fc\u00df und salzig insofern in einem gegens\u00e4tzlichen Verh\u00e4ltnisse, als die eine dieser Empfindungen durch die andere, wenn dieser die geeignete Intensit\u00e4t gegeben wird, zu einer neutralen (gew\u00f6hnlich fade genannten) Mischempfindung aufgehoben wird, ohne dass die Geschmacksreize, die sich in dieser \"Weise wechselseitig neutralisiren, eine chemische Verbindung mit einander eingehen. Hiernach ist das System der Geschmacksempfindungen wahrscheinlich als eine zweidimensionale Mannigfaltigkeit aufzufassen, die geometrisch etwa durch eine Kreisfl\u00e4che dargestellt werden kann, auf deren Peripherie die vier Hauptqualit\u00e4ten mit ihren Ueberg\u00fcngen liegen. w\u00e4hrend die Mitte von den neutralen Mischempfindungen, die \u00fcbrige Fl\u00e4che von den Zwischenstufen zwischen diesen und den ges\u00e4ttigten Qualit\u00e4ten der Peripherie eingenommen wird.","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"Gl\nI. Die psychischen Elemente.\nlila. In diesen Eigenschaften der Geschmacksqualit\u00e4ten scheint das Grundschema f\u00fcr das Verhalten eines chemischen Sinnes gegeben zu sein. In dieser Beziehung bildet der Geschmackssinn vielleicht eine Vorstufe zu dem Gesichtssinn. Der offenbare Zusammenhang mit der chemischen Natur des Reizungsvorganges macht es n\u00e4mlich schon hier wahrscheinlich, dass die wechselseitige Neutralisation gewisser Empfindungen, mit der vielleicht die mehrdimensionale Beschaffenheit des Empfindungssystems zusammenh\u00e4ngt, nicht in den Empfindungen als solchen sondern, \u00e4hnlich wie sich dies schon bei den W\u00e4rme- und K\u00e4lteempfindungen ergab (S. 57), in den Verh\u00e4ltnissen der physiologischen Reizung begr\u00fcndet ist. Den chemischen Wirkungen bestimmter Stoffe kommt bekanntlich sehr allgemein die Eigenschaft zu, dass sie '.durch die Wirkungen bestimmter anderer Stoffe neutralisirt werden k\u00f6nnen. Nun wissen wir nicht, welches die chemischen Ver\u00e4nderungen sind, die durch die Geschmacksreize in den Schmeckzellen hervorgebracht werden. Aber aus der Compensation der Empfindungen s\u00fc\u00df und salzig k\u00f6nnen wir nach dem Princip des Parallelismus der Empfindungs- irnd Reizunterschiede (8. 54) schlie\u00dfen, dass sich auch die chemischen Reactionen, welche die s\u00fc\u00dfen und die salzigen Geschmacksstoffe in den Sinneszellen hervorrufen, aufheben. Das n\u00e4mliche w\u00fcrde f\u00fcr andere Empfindungen gelten, f\u00fcr die etwa ein \u00e4hnliches Verhalten nachweisbar sein sollte. R\u00fccksichtlich der physiologischen Bedingungen der Geschmacksreizung l\u00e4sst sich aus diesen Verh\u00e4ltnissen nur das eine schlie\u00dfen, dass die solchen sich neutralisirenden Empfindungen entsprechenden chemischen Reizungsvorg\u00e4nge wahrscheinlich in den gleichen Sinneszellen stattfinden. Nat\u00fcrlich ist aber die M\u00f6glichkeit nicht ausgeschlossen, dass in den n\u00e4mlichen Gebilden mehrere durch entgegengesetzte Reactionen neutralisir-bare Vorg\u00e4nge entstehen k\u00f6nnen. Die anatomischen Befunde und die physiologischen Versuche mit distincter Reizung einzelner Geschmackspapillen geben hier\u00fcber keine sichere Entscheidung. Ob es sich bei den erw\u00e4hnten Compensationserseheinungen um einen eigentlichen, den der Farben entsprechenden Complemen-tarismus (siehe unten 22) handelt, ist \u00fcbrigens auch hier noch zweifelhaft.","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\n1\u00bb. Die Liehtempfimlnngeii.\n14. Das System der Lichtempfindungen besteht aus zwei Partialsystemen. den farblosen Empfindungen und den Farbenempfindungen, zwischen deren Qualit\u00e4ten aber alle m\u00f6glichen stetigen Ueberg\u00e4nge stattfinden k\u00f6nnen.\nDie farblosen Empfindungen bilden f\u00fcr sich allein betrachtet ein mannigfaltiges System von einer Dimension, das sich, analog der Tonlinie, zwischen zwei Grenzpunkten erstreckt. Die dem einen dieser Grenzpunkte nahe liegenden Empfindungen nennen wir Schwarz, die dem andern nahe liegenden Wei\u00df; zwischen beide schalten wir das Grau in seinen verschiedenen Nuancen Dunkelgrau, Grau, Hellgrau) ein. Dieses eindimensionale System der farblosen Empfindungen hat die Eigenschaft, dass es, abweichend von der Tonlinie, gleichzeitig ein Qualit\u00e4ts- und ein Intensit\u00e4tssystem ist, indem jede Qualit\u00e4ts\u00e4nderung in der Richtung von Schwarz nach Wei\u00df zugleich als Intensit\u00e4ts-zunahme und jede Qualit\u00e4ts\u00e4nderung in der Richtung von Wei\u00df nach Schwarz zugleich als Intensit\u00e4tsabnahme empfunden wird. Jede auf solche Weise qualitativ und intensiv bestimmte Stufe des Systems nennt man die Helligkeit der farblosen Empfindung. Hiernach kann man auch das ganze System als das der reinen Ilelligkeitsempfin-dungen bezeichnen, wobei in diesem Falle der Zusatz \u00bbrein- die Abwesenheit farbiger Empfindungen andeutet. Das System der reinen Helligkeitsempfindungen ist demnach ein absolut eindimensionales in dem Sinne, dass bei ihm Qualit\u00e4ts- und Intensit\u00e4tsabstufungen in eine und dieselbe Dimension fallen, wesentlich verschieden von der Tonlinie, bei der jeder Punkt nur eine Qualit\u00e4tsstufe bezeichnet, zu der dann noch in ebenfalls linearer Abstufung der Intensit\u00e4tsgrad hinzukommt. W\u00e4hrend also die einfachen Tonempfindungen.\nW u n d t, Psychologie.\t5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nI. Die psychischen Elemente.\nsobald man ihre qualitativen und intensiven Eigenschaften gleichzeitig in Betracht zieht, ein zweidimensionales Continuum bilden, bleibt das System der reinen Helligkeits-empfindungen unter Ber\u00fccksichtigung beider Bestinunungs-st\u00fccke ein eindimensionales. Das ganze System l\u00e4sst sich daher auch als eine stetige Leihe von Helligkeitsgraden auffassen, wobei die niederen Grade ihrer Qualit\u00e4t nach als schwarz, ihrer Intensit\u00e4t nach als schwach. die h\u00f6heren Grade ihrer Qualit\u00e4t nach als wei\u00df, ihrer Intensit\u00e4t nach als stark bezeichnet werden.\n15. Die Farbenempfindungen bilden, wenn man blo\u00df ihre Qualit\u00e4t ber\u00fccksichtigt, ebenfalls ein eindimensionales System. Dasselbe hat aber, im Unterschied von dem System der reinen Helligkeitsempfindungen, die Eigenschaft, dass es. von welchem Punkte man auch ausgehen m\u00f6ge, in sich zur\u00fcckl\u00e4uft, indem man immer zun\u00e4chst allm\u00e4hlich zu einer Qualit\u00e4t gr\u00f6\u00dfter Differenz und dann von dieser aus wieder zu Qualit\u00e4ten kleinerer Differenz und schlie\u00dflich zum Ausgangspunkte zur\u00fcckkommt, Das durch die Brechung des Sonnenlichtes in einem Prisma gewonnene oder das am liegenbogen beobachtete Farbenspektrum zeigt bereits diese Eigenschaft, wenngleich nicht vollst\u00e4ndig. Geht man n\u00e4mlich von dem rothen Ende dieses Spektrums aus, so gelangt man zun\u00e4chst zu Orange, dann zu Gelb, Gelhgr\u00fcu, Gr\u00fcn. Gr\u00fcnblau. Blau, Indigoblau bis zu A iolett, welches letztere wieder dem Both \u00e4hnlicher ist als alle zwischenliegenden Farben mit Ausnahme der ihm n\u00e4chsten, des Orange. Wenn diese Linie der Farben des Spektrums nicht ganz in sich zur\u00fcckl\u00e4uft, so hat dies aber dann seinen Grund, dass sie \u00fcberhaupt nicht alle in unserer Empfindung vorhandenen Farben enth\u00e4lt. Es fehlen n\u00e4mlich im Spektrum die purpur-rotlien Farbent\u00f6ne, die man physikalisch durch Mischung rotlier und violetter Strahlen erhalten kann. Erg\u00e4nzt man","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 G. Die reinen Kmp find un gen.\n07\ndie Reihe der Spektralfarben durch diese, so wird das System der wirklichen Farbenempfmdungen erst vollst\u00e4ndig; dann bildet aber auch dieses System eine bis zu ihrem Ausgangspunkte zur\u00fcckkehrende Linie. Uebrigens ist diese Eigenschaft nicht etwa dem Umstande zuzuschreiben, dass das Farbeuspektrum jenes Zur\u00fccklaufen ann\u00e4hernd unserer Beobachtung wirklich darbietet. Vielmehr kann man die n\u00e4mliche Ordnung der Empfindungen auch erhalten, wenn man beliebig gemischte farbige Objecte nach ihrer subjectiven Farbenverwandtschaft ordnet; selbst Kinder, die niemals ein Sonnenspektrum oder einen Regenbogen mit Aufmerksamkeit beobachtet haben und daher die Reihe, ebenso gut wie mit Roth, mit irgend einer andern Farbe beginnen k\u00f6nnen, construirai sie immer wieder im selben Sinne.\nDemnach ist das System der reinen Farbenqualit\u00e4ten zwar als ein eindimensionales, aber nicht als ein geradliniges. sondern als ein in sich zur\u00fccklaufendes zu d\u00e9finirai. welches geometrisch am einfachsten durch eine Kreislinie dargestellt werden kann. Indem man in diesem System von jeder gegebenen Farbe durch allm\u00e4hliche Aenderung der Empfindung zun\u00e4chst zu den ihr \u00e4hnlichen. dann zu den von ihr verschiedensten und endlich wieder zu den in anderer Richtung ihr \u00e4hnlichen gelangt, ist nothwendig jeder Farbenqualit\u00e4t eine bestimmte andere Farbenqualit\u00e4t zugeordnet, die dem Maximum des Empfindungsunterschiedes entspricht. Diese Farbe kann man als die Gegenfarbe bezeichnen; und bei der Darstellung des Farbensystems durch eine Kreislinie wird man demnach je zwei einander zugeordnete Gegenfarben an die entgegengesetzten Endpunkte eines und desselben Kreisdurchmessers verlegen. So sind z. B. Purpurroth und Gr\u00fcn, Gelb und Blau, Hellgr\u00fcn und Violett u. s. w. Gegenfarben, d. h. sie sind gr\u00f6\u00dfte qualitative Empfindungsunterschiede.","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"GS\nJ. Die psychischen Elemente.\nDie durch die Einordnung in das Farbensystem bestimmte Qualit\u00e4t der Empfindung nennt man auch, zui Unterscheidung von andern qualitativen Bestimmungen, mit einem den Tonqualit\u00e4ten entnommenen bildlichen Ausdruck den Farbenton. In diesem Sinne bezeichnen die einfachen Farbennamen roth, orange, gelb u. s. w. blo\u00dfe Farbent\u00f6ne. Der Farbenkreis ist eine Darstellung des Systems der Farbent\u00f6ne, unter Abstraction von allen sonst noch der Empfindung zukommenden Eigenschaften. In Wahrheit besitzt aber jede Farbenempfindung noch zwei solche Eigenschaften, von denen wir die eine als die S\u00e4ttigung, die andere als die Helligkeit der Farbenempfiudung bezeichnen. Von diesen beiden Eigenschaften ist die S\u00e4ttigung den Farbenempfindungen eigentli\u00fcmlich, w\u00e4hrend die Helligkeit ihnen mit den farblosen Lichtempfindungen gemeinsam zukommt.\n16. Unter S\u00e4ttigung der Farbenempfindungen versteht man ihre Eigenschaft, in beliebigen Ueberg\u00e4ngen zu farblosen Empfindungen vorzukommen, so zwar, dass von jeder Farbe zu jeder beliebigen Stufe in der Reihe der farblosen Empfindungen, zu Wei\u00df, Grau, Schwarz, stetige Lebeig\u00e4nge m\u00f6glich sind. Der Ausdruck \u00bbS\u00e4ttigung\u00ab ist hierbei der gew\u00f6hnlichen objectiven Herstellungsweise dieser Ueber-g\u00e4nge, der mehr oder minder starken S\u00e4ttigung eines farblosen L\u00f6sungsmittels mit Farbstoffen, entnommen. Da sich zu jeder noch so ges\u00e4ttigten Farbe m\u00f6glicher W eise eine noch ges\u00e4ttigtere vom selben Farbenton denken l\u00e4sst, und da eine farblose Empfindung stets den Endpunkt in einer Reihe stetig abnehmender S\u00e4ttigungen einer beliebigen Farbe bezeichnet, so l\u00e4sst sich der S\u00e4ttigungsgrad als eine allen Farbenempfindungen zukommende Bestimmung betrachten, durch die zugleich das System der Farbenempfindungen mit dem der farblosen Empfindungen in","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"S 6. Die reinen Empfindungen.\n09\nunmittelbare Verbindung gebracht wird. Die s\u00e4mmtlichen S\u00e4ttigungsgrade. die als Ueberg\u00e4nge von einer bestimmten Farbe zu einer bestimmten farblosen Empfindung, Wei\u00df, Grau oder Schwarz, Vorkommen, werden n\u00e4mlich offenbar, wenn man die letztere durch einen Punkt repr\u00e4sentirt denkt, der mit dem Mittelpunkt des Farbenkreises zusammenf\u00e4llt, durch denjenigen Halbmesser des Kreises dargestellt werden k\u00f6nnen, der jenen Mittelpunkt mit der betreffenden Farbe verbindet. Denkt man sich die den stetigen Ueberg\u00e4ngen zu einer bestimmten farblosen Empfindung entsprechenden S\u00e4ttigungsgrade aller Farben auf diese Weise r\u00e4umlich dar-Cfestellt, so nimmt daher das so gewonnene Svstem der S\u00e4ttigungsgrade die Form einer Kreisfl\u00e4che an, deren Peripherie dem System der einfachen Farbent\u00f6ne, und deren Mittelpunkt derjenigen farblosen Empfindung entspricht, der die herausgehobenen S\u00e4ttigungsgrade zugeordnet sind. Hierbei kann man nun an sich jeden beliebigen Punkt aus dem geradlinigen Continuum der farblosen Empfindungen herausgreifen, um ein System von S\u00e4ttigungsgraden zu construiren, so lange nur die Bedingung erf\u00fcllt ist, dass das Wei\u00df nicht zu hell oder das Schwarz nicht zu dunkel sei, weil sonst sowohl die S\u00e4ttigungs- wie die Farbenunterschiede verschwinden. Aber S\u00e4ttigungssysteme, die verschiedenen Punkten des farblosen Systems zugeordnet sind, besitzen dann immer zugleich verschiedene Helligkeitsgrade. Ein reines System von S\u00e4ttigungen l\u00e4sst sich daher immer nur f\u00fcr einen bestimmten Helligkeitsgrad, d, ln, da das System der farblosen Empfindungen mit dem der reinen Helligkeiten zusammenf\u00e4llt, f\u00fcr einen Punkt des Continuums der farblosen Empfindungen construiren. Sobald man aber dies f\u00fcr alle m\u00f6glichen Punkte ausf\u00fchrt, so wird dadurch von selbst das System der S\u00e4ttigungs- durch das der Helligkeit s grade erg\u00e4nzt.","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\ni. Die psychischen Elemente.\n17. Die Helligkeit ist eine der Farbenempfindung ebenso nothwendig wie der farblosen Empfindung zukommende Eigenschaft, die dort wie hier eine qualitative und eine intensive zugleich ist. Geht man n\u00e4mlich von einer bestimmten Helligkeitsstufe aus, so n\u00e4hert sich jede Farbenempfindung, wenn man ihre Helligkeit zunehmen l\u00e4sst, in ihrer Qualit\u00e4t dem Wei\u00df, w\u00e4hrend gleichzeitig die Intensit\u00e4t der Empfindung w\u00e4chst; und wenn man ihre Helligkeit abnehmen l\u00e4sst, so n\u00e4hert sie sich in ihrer Qualit\u00e4t dem Schwarz, w\u00e4hrend gleichzeitig die Intensit\u00e4t der Empfindung sinkt. Die Helligkeitsgrade jeder einzelnen Farbe bilden also ein den farblosen oder reinen Helligkeitsempfindungen analoges System intensiver Qualit\u00e4ten, nur dass an die Stelle der zwischen Wei\u00df und Schwarz sich bewegenden farblosen Qualit\u00e4tsabstufungen hier die entsprechenden S\u00e4ttigungsgrade getreten sind, wobei aber von dem Funkte gr\u00f6\u00dfter S\u00e4ttigung aus zwei einander entgegengesetzte Richtungen abweichender S\u00e4ttigung existiren: die positive in der Richtung des Wei\u00df, die intensiv mit Zunahme der Empfindung verbunden ist, und die negative in der Richtung des Schwarz, der eine Abnahme der Empfindung entspricht. Als Grenzpunkte beider S\u00e4ttigungsabstufungen ergeben sich dort die reine Empfindung Wei\u00df und hier die reine Empfindung Schwarz, von denen jene zugleich mit dem Maximum, diese mit dem Minimum der Empfindungsintensit\u00e4t verbunden ist. Auf diese Weise bezeichnen Wei\u00df und Schwarz ebensowohl entgegengesetzt gelagerte Endpunkte in dem System der reinen Helligkeitsempfindungen wie solche in dem der nach Helligkeitsgraden abgestuften Farbenempfindungen. Hieraus folgt von selbst, dass es eine gewisse mittlere Helligkeit f\u00fcr eine jede Farbe gibt, bei der ihre S\u00e4ttigung am gr\u00f6\u00dften ist, und von der aus diese bei Zunahme der Helligkeit in positiver Richtung, bei Abnahme der Helligkeit in negativer","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 0. Die reinen Empfindungen.\nRichtung abnimmt. Dieser f\u00fcr die S\u00e4ttigung g\u00fcnstigste Helligkeitswerth ist \u00fcbrigens nicht f\u00fcr alle Farbenempfin-dungen der n\u00e4mliche, sondern er stuft sich von Roth nach Blau derart ab, dass er f\u00fcr Roth am h\u00f6chsten, f\u00fcr Blau am niedrigsten liegt. Hieraus erkl\u00e4rt sich die bekannte Erscheinung, dass in der D\u00e4mmerung, also bei schwacher Helligkeitsempfindung, die blauen Farbent\u00f6ne z. B. an Gem\u00e4lden noch deutlich empfunden werden, w\u00e4hrend die rothen schon schwarz aussehen.\n18. Sieht man von dieser etwas verschiedenen Lage der Punkte maximaler S\u00e4ttigung in der Linie der Helligkeitsgrade jeder einzelnen Farbe ab, so l\u00e4sst sich nun der Beziehung, in welche durch den allm\u00e4hlichen Uebergang in Wei\u00df einerseits und in Schwarz anderseits das System der farbigen Ilelligkeitsempfindungen zu dem der reinen oder farblosen Helligkeitsempfindungen tritt, offenbar am einfachsten in folgender Weise Ausdruck geben. Denkt man sich das System der reinen Farbent\u00f6ne oder der Farben im Maximum ihrer S\u00e4ttigung wie oben als Kreislinie dargestellt, und denkt man sich in dem Mittelpunkte der zu dieser Linie geh\u00f6rigen Kreisfl\u00e4che die Linie der reinen Helligkeitsempfindungen als senkrechte Gerade derart aufgetragen, dass in den Mittelpunkt des Kreises die dem Minimum der S\u00e4ttigung entsprechende farblose Empfindung f\u00e4llt, so werden sich in analoger Weise die Farbensysteme zunehmender und abnehmender Helligkeit oben und unten von jenem Kreis gr\u00f6\u00dfter Farbens\u00e4ttigung auftragen lassen. Dabei wird dann aber hier wie dort die allm\u00e4hliche Abnahme der S\u00e4ttigungen durch den immer mehr abnehmenden Halbmesser der con-tinuirlich aneinander gef\u00fcgten Farbenkreise auszudr\u00fccken sein, bis endlich an den beiden Endpunkten der Linie der reinen Helligkeitsempfindungen die Kreise ganz verschwinden, entsprechend dem Satze, dass f\u00fcr jede Farbe das Maximum","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nI- Die psychischen Elemente.\nder Helligkeit der Empfindung Wei\u00df und ihr Minimum der Empfindung Schwarz entspricht. ')\n19. Hieraus geht hervor, dass sich das gesummte System der farbigen Helligkeitsenipfindungen am einfachsten durch eine Kugeloberfl\u00e4che darstellen l\u00e4sst, als deren Aequator man den das System der reinen Farbent\u00f6ne oder der Farben gr\u00f6\u00dfter S\u00e4ttigung darstellenden Farbenkreis betrachtet, w\u00e4hrend die beiden Pole den Endpunkten der farbigen Helligkeitsemplindungen, Wei\u00df und Schwarz, entsprechen. Nat\u00fcrlich w\u00fcrde \u00fcbrigens auch ein anderes geometrisches Gebilde von \u00e4hnlichen Eigenschaften, z. B. ein gerader Doppelkegel mit gemeinsamer Basis und nach entgegengesetzten Bichtungen gekehrten Spitzen, dem n\u00e4mlichen Zweck gen\u00fcgen. Wesentlich f\u00fcr die Darstellung bleibt nur der allm\u00e4hliche Uebergang in Wei\u00df und Schwarz und die diesem Uebergang entsprechende Abnahme der Mannigfaltigkeit der Farbent\u00f6ne, die in der stetigen Verkleinerung der Farbenkreise ihren Ausdruck findet. Nun kann aber, wie oben ausgef\u00fchrt, das einer bestimmten reinen Helligkeits-empfindung zugeordnete System der S\u00e4ttigungsgrade durch eine Kreisfl\u00e4che dargestellt werden, die alle einem und demselben Helligkeitsgrad entsprechenden Lichtempfindungen enth\u00e4lt. Will man also S\u00e4ttigungs- und Helligkeitsgrade gleichzeitig zu einem System ordnen, so wird dieses ge-samnite System der Licht emp fin dung en in einer k\u00f6rperlichen Kugel dargestellt werden k\u00f6nnen, deren Aequatorialkreis das System der reinen Farbent\u00f6ne, deren die beiden Pole verbindende Achse das System der reinen\n1) Dabei ist allerdings zu bemerken, dass sich das wirkliche Zusammenf\u00e4llen dieser Empfindungen nur f\u00fcr das Minimum der Helligkeit empirisch nachweisen l\u00e4sst; Helligkeiten, die sieh dem Maximum n\u00e4hern, sind f\u00fcr das Auge so angreifend, dass man sich hier im allgemeinen mit der Nachweisung der Ann\u00e4herung an Wei\u00df begn\u00fcgen muss.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\n73\nHelligkeitsempfindungeil. und deren Oberfl\u00e4che das System der farbigen Helligkeitsempfindungen enth\u00e4lt, w\u00e4hrend jede senkrecht zu jener Achse gelegte Kreisfl\u00e4che einem System von S\u00e4ttigungsgraden gleicher Helligkeit entspricht. Ist auch diese Darstellung in einer Kugel insofern willk\u00fcrlich, als statt ihrer auch ein anderes k\u00f6rperliches Gebilde von analogen Eigenschaften gew\u00e4hlt werden kann, so findet in ihr doch die psychologische Thatsache, dass das gesammte System der Lichtempfind\u00fcngen ein dreidimensionales und in sich geschlossenes Continuum ist, ihren anschaulichen Ausdruck. Die dreidimensionale Beschaffenheit. des Systems entspringt aus der nothwendigen Zusammensetzung jeder concret.cn Lichtempfindung aus drei Bestimmungsst\u00fccken, Farbenton, S\u00e4ttigung und Helligkeit, wobei man die reine oder farblose Helligkeitsempfindung und die reine oder ges\u00e4ttigte Farbenempfindung als die beiden Grenzf\u00e4lle in der Abstufung der S\u00e4ttigungsgrade zu betrachten hat. Die in sich geschlossene Form des Systems aber ergibt sich einerseits ans der in sich geschlossenen Beschaffenheit der Farbenempfindungen und anderseits aus der Begrenzung des Systems der farbigen Helligkeiten durch die Endpunkte der reinen Helligkeitsempfindungen. Eine besondere Eigenthiimlichkeit des Systems ist es endlich, dass nur die Ver\u00e4nderungen in den zwei Dimensionen der Farbent\u00f6ne und der S\u00e4ttigungsgrade reine Qualit\u00e4ts\u00e4nderungen sind, dass dagegen jede Verschiebung in der dritten, den Helligkeitsempfindungen entsprechenden Dimension gleichzeitig eine qualitative und eine intensive Ver\u00e4nderung in sich schlie\u00dft. Tn Folge dieses Umstandes ist zwar das ganze dreidimensionale System erforderlich, um die Qualit\u00e4ten der Lichtempfindung ersch\u00f6pfend darzustellen; dieses System umfasst nun aber zugleich die Intensit\u00e4ten derselben.","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nI. Die psychischen Elemente.\n20. In dem System der Liclitempfindungen nehmen gewisse Hauptempfindungen eine bevorzugte Stellung ein. weil wir sie als Orientirungspunkte zur Einordnung aller \u00fcbrigen Empfindungen benutzen. Solche Hauptempfindungen sind in der farblosen Reihe Wei\u00df und Schwarz, in aer Reihe der Farbenempfindungen die vier Hauptfarben Roth. Gelb, Gr\u00fcn und Blau. Nur f\u00fcr diese sechs Empfindungen hat die Sprache verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig fr\u00fche schon scharf geschiedene Bezeichnungen gebildet. Alle andern Empfindungen wurden dann theils mit R\u00fccksicht auf sie, theils sogar unter Benutzung der f\u00fcr sie gebrauchten W\u00f6rter gebildet. So fassen wir Grau als eine in der farblosen Reihe zwischen Wei\u00df und Schwarz liegende Zwischenstufe auf. Die verschiedenen S\u00e4ttigungsgrade bezeichnen wir je nach ihrem Helligkeitswerth als wei\u00dfliche oder schw\u00e4rzliche, lielle oder dunkle Farbent\u00f6ne, und f\u00fcr die zwischen den vier Hauptfarben gelegenen Farben w\u00e4hlen wir meist Ueber-gangsbezeichnungen, wie purpurroth, orangegelb, gelbgr\u00fcn u. s. w., Namen, die in ihrer Bildungsweise schon ihre relativ sp\u00e4te Entstehung verratlien.\n20 a. Aus dieser gr\u00f6\u00dferen Urspr\u00fcnglichkeit der sprachlichen Bezeichnungen f\u00fcr die genannten sechs Empfindungsqualit\u00e4ten hat man geschlossen, sie seien in dem Sinne Grundqualit\u00e4ten des Gesichtssinns, dass jede andere aus ihnen oder aus einzelnen unter ihnen zusammengesetzt sei. Grau erkl\u00e4rte man also f\u00fcr eine Mischempfindung aus Schwarz und Wei\u00df, Violett und Purpurroth f\u00fcr eine solche aus Blau und Roth, u. s. w. Nun ist es aber psychologisch nicht zutreffend, dass irgend welche dieser Lichtempfindungen im Vergleich mit anderen als zusammengesetzt bezeichnet werden k\u00f6nnten. Grau ist ebenso gut eine einfache Empfindung wie wei\u00df oder schwarz; orange, purpurroth und dgl. sind gerade so gut einfache Empfindungen wie roth, gelb u. s. w., und irgend eine S\u00e4ttigungsstufe, die wir in dem System zwischen eine reine Farbe und Wei\u00df einordnen. ist","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 li. Die reinen Empfindungen.\t75\ndeshalb doch keineswegs eine zusammengesetzte Empfindung. Wohl aber bringt es die in sich geschlossene und stetig zusammenh\u00e4ngende Beschaffenheit des Empfindungssystems mit sieh, dass die Sprache, der es unm\u00f6glich ist eine unbegrenzte Zahl von Bezeichnungen zu schaffen, gewisse besonders ausgepr\u00e4gte Unterschiede herausgreift, nach denen dann alle andern Empfindungen geordnet werden. Dass f\u00fcr die farblose Reihe Schwarz und Wei\u00df als solche Orientirungspunkte gew\u00e4hlt wurden, ist selbstverst\u00e4ndlich, da sie die gr\u00f6\u00dften Unterschiede bezeichnen: sind sie aber einmal gegeben, so m\u00fcssen wegen der stetigen Vermittelung dieser Unterschiede durch alle m\u00f6glichen Helligkeitsstufen alle andern farblosen Empfindungen als Uebergangs-empfindungen zwischen ihnen aufgefasst werden. Aehnlich verh\u00e4lt es sich mit den Farbenempfindungen, nur dass hier wegen der in sich zur\u00fccklaufenden Beschaffenheit der Farbenlinie nicht unmittelbar zwei absolut gr\u00f6\u00dfte Unterschiede gew\u00e4hlt werden konnten, sondern neben der zureichenden qualitativen Verschiedenheit noch andere Motive f\u00fcr die Wahl der Hauptfarben entscheidend wurden. Als solche wird man wohl die H\u00e4ufigkeit und die Gef\u00fchlsst\u00e4rke bestimmter in den nat\u00fcrlichen Existenzbedingungen des Menschen begr\u00fcndeter Lichteindr\u00fccke betrachten d\u00fcrfen. Das Roth des Blutes, das Gr\u00fcn der Vegetation, das Blau des Himmels, das Gelb der im Contrast zum blauen Himmmel gelb erscheinenden Gestirne m\u00f6gen wohl die fr\u00fchesten Anl\u00e4sse zur Wahl bestimmter Farbenbezeichnungen gewesen sein. Denn die Sprache benennt allgemein nicht die Objecte nach den Empfindungen, sondern umgekehrt die Empfindungen nach den Objecten, durch die sie erzeugt werden. Waren aber einmal auf diese IV eise gewisse Hauptfarben festgelegt, so mussten wieder verm\u00f6ge der Contiuuit\u00e4t der Empfindungen alle andern als zwischen ihnen liegende Farbent\u00f6ne erscheinen. Der Unterschied der Hauptamt der Uebergangsfarben ist also h\u00f6chst wahrscheinlich nur in \u00e4u\u00dferen Bedingungen begr\u00fcndet; w\u00e4ren diese Bedingungen andere gewesen, so w\u00fcrde z. B. ebenso gut Roth als Uebergang zwischen Purpur und Orange aufgefasst werden k\u00f6nnen, wie wir jetzt Orange als Uebergangsfarbe zwischen Roth und Gelb ordnen. 1\n1 Der n\u00e4mliche falsche Schluss von der sprachlichen Bezeichnung auf die Empfindung hat einige Gelehrte sogar zu der An-","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nJ. Die psychischen Elemente.\n\"2!. Die geschilderten Eigenschaften des Systems der Lichtempfindungen sind so eigenartig, dass sie von vornherein ein wesentlich anderes Verh\u00e4ltniss zwischen diesen psychologischen Eigenschaften und den objectiven Vorg\u00e4ngen der Lichtreizung erwarten lassen, als es bei den bisher betrachteten Empfindungssystemen, namentlich des allgemeinen Sinnes und des Geh\u00f6rssinnes, besteht. Am auffallendsten ist in dieser Hinsicht der Unterschied von dem System der Tonempfindungen. Bei diesem gilt das Princip des Parallelismus zwischen Empfindung und Beiz (S. 54) nicht blo\u00df f\u00fcr den physiologischen, sondern in weitem Umfang auch f\u00fcr den physikalischen Beizungsvorgang, indem der einfachen Form der Schallschwingungen eine einfache Empfindung, der zusammengesetzten Form dieser Schwingungen aber eine Mehrheit einfacher Empfindungen entspricht, und indem sich zugleich mit der St\u00e4rke der Schwingungen die Intensit\u00e4t der Empfindung, mit der Geschwindigkeit jener die Qualit\u00e4t dieser stetig ver\u00e4ndert, so dass in beiden Bichtungen mit wachsendem Unterschied der objectiven physikalischen Beize der subjective Unterschied der Empfindungen zunimmt. Dieses Verh\u00e4ltniss ist ein v\u00f6llig anderes bei den Lichtempfindungen. Wie der objective Schall, so besteht auch das objective Licht in Schwingungsbewegungen irgend eines Mediums, deren n\u00e4here Form in diesem Fall freilich noch zweifelhaft ist, von denen wir aber aus den physikalischen Interferenzversuchen wissen, dass sie aus sehr kleinen und sehr schnellen Wellen bestehen, so zwar, dass diejenigen Schwingungen.\nn\u00e4hme veranlasst, die Empfindung Blau habe sich sp\u00e4ter entwickelt als andere. Farbenempfindungen, weil z. B. noch bei Homer die Bezeichnung f\u00fcr Blau mit der f\u00fcr \u00bbDunkel\u00ab zusammenf\u00e4llt. Zum Ueber-fluss hat in diesem Fall die Pr\u00fcfung der Farbenempfindlichkeit bei Nat urv\u00f6lkern, ! deren sprachliche Unterscheidung der Farben oft noch viel mangelhafter ist, als die der Griechen zur Zeit Homers war, die g\u00e4nzliche Grundlosigkeit dieser Annahme erwiesen.","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\t77\ndie als Licht empfunden werden, zwischen den Wellenl\u00e4ngen von 688 und 393 Milliontheilen eines Millimeter und zwischen den Geschwindigkeiten von 450 und 790 Billionen Schwingungen in der Secunde liegen. Nun entsprechen allerdings auch hier einfachen Schwingungen, d. h. solchen von gleicher Wellenl\u00e4nge, einfache Empfindungen, und mit der Wellenl\u00e4nge und Geschwindigkeit \u00e4ndert sich stetig die Qualit\u00e4t der Empfindung: den l\u00e4ngsten und langsamsten Wellen entspricht das Roth, den k\u00fcrzesten und schnellsten das Violett, zwischen denen die \u00fcbrigen Farbent\u00f6ne stetig mit der Wellenl\u00e4nge sich abstufen. Aber schon hier tritt ein wesentlicher Unterschied darin hervor, dass die an Wellenl\u00e4nge verschiedensten Farben Roth und Violett in der Empfindung verwandter sind als die zwischenliegenden.1) Dazu kommt dann noch au\u00dferdem, dass 1) jede blo\u00dfe Intensit\u00e4ts- (Amplituden-) Aenderung der physikalischen Lichtschwingungen subjectiv gleichzeitig als Intensit\u00e4ts- und als Qualit\u00e4ts\u00e4nderung empfunden wird, wie das oben geschilderte Verhalten der Helligkeitsempfindungen lehrt, und dass 2) jedes aus beliebig verschiedenen Schwingungen zusammengesetzte Licht einfach empfunden wird, gleich dem objectiv einfachen, aus nur einer Schwingungsstufe bestehenden Licht, wie die subjective Vergleichung der farblosen mit den farbigen Empfindungen unmittelbar zeigt. Aus der ersten dieser Thatsachen geht zugleich hervor, dass das physikalisch einfache Licht nicht\n1) Allerdings glaubten manche Physiker in dieser Beziehung ein analoges Verhalten der Tonh\u00f6hen darin zu finden, dass zu jedem Ton in seiner Octave ein ihm verwandter Ton wiederkehre. Aber diese Verwandtschaft der Octave besteht, wie wir unten \u00a7 9; sehen werden, nicht f\u00fcr die einfachen Tonempfindungen, sondern sie beruht auf dem wirklichen Mitt\u00f6nen des Octaventones bei allen zusammengesetzten Kl\u00e4ngen. Auch sind die Versuche, dieser vermeintlichen Analogie zu Liebe in der Farbenlinie Intervalle aufzufinden. die dem Verh\u00e4ltniss der Terz, Quarte. Quinte u. s. wo bei den T\u00f6nen entspr\u00e4chen. v\u00f6llig vergeblich gewesen.","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychischen Elemente.\n7S\nblo\u00df farbige, sondern auch farblose Empfindungen erzeugen kann, da es sicli bei st\u00e4rkster Amplitude der Schwingungen dem Wei\u00df n\u00e4hert, bei geringster in Schwarz \u00fcbergeht. Die Qualit\u00e4t der farblosen Empfindung ist also mehrdeutig, da sie ebensowohl durch St\u00e4rke\u00e4nderung des objectiven Lichtes, wie durch Mischung einfacher Lichtschwingungen von verschiedenen Wellenl\u00e4ngen hervorgebracht werden kann. Nur ist im ersteren Fall mit der St\u00e4rke\u00e4nderung immer zugleich eine Aenderung des Helligkeitsgrades verbunden, w\u00e4hrend dieser im zweiten Fall, bei der Mischung, unver\u00e4ndert bleiben kann.\n22. Selbst wenn der Helligkeitsgrad der Empfindung constant erhalten wird, ist jedoch die farblose Empfindung immer noch mehrdeutig. Eine reine Helligkeitsempfindung von gegebener St\u00e4rke wird n\u00e4mlich nicht blo\u00df, wie z. B. im gew\u00f6hnlichen Tageslicht, durch eine Mischung aller im Sonnenlicht enthaltenen Schwingungsstufen hervorgebracht, sondern auch dann, wenn man nur zwei derselben, und zwar diejenigen, die den zwei subjectiv von einander entferntesten Empfindungen, den Gegenfarben, entsprechen, in geeignetem Verh\u00e4ltnisse mischt. Insofern die objectiven Mischungen der Gegenfarben die Empfindung Wei\u00df erzeugen, nennt man sie auch Erg\u00e4nzungs- oder Complement\u00e4rfarben. Spektrales Roth und Gr\u00fcnblau, Orange und Himmelblau, Gelb und Indigoblau u. s. w. sind also gleichzeitig Gegenfarben und Complement\u00e4rfarben.\nWie die farblose, so ist aber auch jede einzelne Farbenempfindung, wenngleich in einem beschr\u00e4nkteren Grade, mehrdeutig. Sobald man n\u00e4mlich zwei objective Farben mischt, die einander im Farbenkreis n\u00e4her liegen als die Gegenfarben, so erscheint die Mischung nicht wei\u00df, sondern farbig, und zwar in der Farbe, die auch in der Reihe der objectiv einfachen Farben der zwischenliegenden Farben-","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 G. Die reinen Empfindungen.\n79\ncmpfindung entspricht. Hierbei ist nun allerdings, wenn die gemischten Farben den Gegenfarben nahe kommen, die S\u00e4ttigung der Resultanten stark vermindert; aber wenn sie einander sehr nahe r\u00fccken, so ist diese Verminderung nicht mehr wahrzunehmen, die Mischfarbe und die einfache Farbe werden daher in diesem Fall subjectiv meist gleich empfunden. So k\u00f6nnen wir z. B. das Orange des Spektrums von einer Mischung rother und gelber Strahlen absolut nicht unterscheiden. Daman auf diese Weise alle im Farbenkreis zwischen Roth und Gr\u00fcn gelegenen Farben durch Mischung von Roth und Gr\u00fcn, alle zwischen Gr\u00fcn und Violett gelegenen durch Mischung von Gr\u00fcn und Violett und endlich auch diejenige Farbe, die im Sonnenspektrum nicht enthalten ist, das Purpur, durch Mischung von Roth und Violett erhalten kann, so l\u00e4sst sich demnach die ganze Reihe der in der Empfindung m\u00f6glichen Farbent\u00f6ne aus blo\u00df drei objectiven Farben gewinnen. Mittelst der n\u00e4mlichen drei Farben l\u00e4sst sich aber auch immer Wei\u00df mit seinen Ueber-g\u00e4ngen hersteilen. Denn die Mischung von Roth und Violett gibt Purpur, und Purpur ist die Complement\u00e4rfarbe von Gr\u00fcn; das durch die Mischung von Purpur und Gr\u00fcn hergestellte Wei\u00df ergibt dann aber, wenn es den einzelnen Farben in verschiedenen Mengenverh\u00e4ltnissen zugemischt wird, mit diesen die verschiedenen S\u00e4ttigungsgrade.\n23. Die drei auf solche Weise zur Herstellung des ganzen Systems der Lichtempfindungen verwendbaren objectiven Farben bezeichnet man als die Grundfarben. Um ihre Bedeutung in dem System der S\u00e4ttigungsgrade zum Ausdruck zu bringen, w\u00e4hlt man f\u00fcr die Darstellung desselben statt der blo\u00df auf die psychologischen Verh\u00e4ltnisse zur\u00fcckgehenden Kreisfl\u00e4che eine Dreiecksfl\u00e4che, wobei die ausgezeichnete Bedeutung der Grundfarben dadurch angedeutet wird, dass sie die drei Ecken des Dreiecks","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"so\n1. Die psychischen Elemente.\neinnehmen, auf dessen Seiten dann, ganz wie auf der Peripherie des Farbenkreises, die Farbent\u00f6ne im Maximum der S\u00e4ttigung aufgetragen werden, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen S\u00e4ttigungsgrade in ihren Ueberg\u00e4ngen zu dem in der Mitte gelegenen Wei\u00df auf der Dreiecksfl\u00e4che liegen. Uebrigens w\u00fcrde man an und f\u00fcr sich jede beliebige Dreiheit von Farben, falls sich diese in angemessenen Entfernungen bef\u00e4nden, zu Grundfarben w\u00e4hlen k\u00f6nnen. Die genannten, Roth, Gr\u00fcn und Violett, verdienen nur deshalb praktisch den Vorzug, weil dabei erstens vermieden wird, dass die eine der drei Componenten einer nicht durch objectiv einfaches Licht herstellbaren Farbenempfindung, dem Purpur, entspricht, und weil sich zweitens am Anfang und am Ende des Spektrums die Empfindung am langsamsten mit der Schwingungsdauer \u00e4ndert, so dass, wenn die Endfarben des Spektrums unter die Grundfarben aufgenommen werden, die durch Mischung zweier einander nahestehender Farben gewonnene Resultante der zwischen ihnen liegenden objectiv einfachen Farbe in der Empfindung am n\u00e4chsten kommt. >)\n24. Dass, wie aus allen diesen Erscheinungen hervorgeht, bei dem System der Lichtempfindungen eine eindeutige Beziehung zwischen den physikalischen Reizen und den Empfindungen nicht bestellt, erscheint nun in Anbetracht der oben (3), hervorgehobenen Verh\u00e4ltnisse der physiologischen Reizung begreiflich. Ist der Gesichtssinn zu den chemischen Sinnen zu rechnen, so wird eine solche\n1} In der N\u00e4he des Gr\u00fcn trifl't daher in der That dies nicht mehr zu: die Mischungen zeigen hier stets einen geringeren S\u00e4ttigungsgrad als die zwischenliegende einfache Farbe, ein deutliches Zeugniss daf\u00fcr, dass die Wahl der drei angegebenen Grundfarben zwar die praktisch zweckm\u00e4\u00dfigste, principiell aber trotzdem eine willk\u00fcrliche ist und im Grunde nur auf dem bekannten geometrischen Satze beruht, dass das Dreieck die einfachste Figur ist, die eine irgendwie in einer Ebene geordnete endliche Mannigfaltigkeit umschlie\u00dfen kann.","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\n81\nBeziehung nur zwischen den photochemischen Processen in der Netzhaut und den Empfindungen zu erwarten sein. Da aber erfahrungsgem\u00e4\u00df verschiedene Arten physikalischer Lichteinwirkung \u00fcbereinstimmende chemische Zersetzungen hervorbringen k\u00f6nnen, so ist dadurch auch die oben bemerkte Vieldeutigkeit der Lichtempfindungen im allgemeinen begreiflich. Nach dem Princip des Parallelismus der Em-pfindungs- und der physiologischen Reizungsunterschiede (S. 54) wird man demnach annehmen d\u00fcrfen, dass verschiedene physikalische Reize, die die n\u00e4mliche Empfindung bewirken, auch die n\u00e4mliche photochemische Reizung in der Netzhaut ausl\u00f6sen werden, und dass es \u00fcberhaupt ebenso viele Arten und Abstufungen photochemischer Processe gibt, als wir Arten und Abstufungen von Empfindungen unterscheiden k\u00f6nnen. Alles was wir bis jetzt \u00fcber die physiologischen Substrate der Lichtempfindungen wissen, gr\u00fcndet sich in der That auf diesen Schluss, da die Untersuchung der physiologischen Vorg\u00e4nge der Lichtreizung selbst zu einem weiteren Resultat als zu dem, dass diese Reizung h\u00f6chst wahrscheinlich ein chemischer Process sei, bis jetzt nicht gef\u00fchrt hat.\n25. Aus der Annahme, dass die Lichtreizung auf chemischen Vorg\u00e4ngen in der Netzhaut beruhe, l\u00e4sst sich nun auch die relativ lange Nachdauer der Empfindung nach vorausgegangener Reizung erkl\u00e4ren (3, S. 50). Man pflegt diese Nachdauer, indem man sie auf das als Reiz ben\u00fctzte Object bezieht, das Nachbild des Eindrucks zu nennen. Zun\u00e4chst erscheint das Nachbild in einer dem Reiz gleichen Helligkeitsoder Farbenbeschaffenheit: also wei\u00df bei wei\u00dfen, schwarz bei schwarzen und gleichfarbig bei farbigen Objecten (positives oder gleichfarbiges Nachbild); nach kurzer Zeit geht es dann aber hei farblosen Eindr\u00fccken in die entgegengesetzte Helligkeit, wei\u00df in schwarz, und schwarz in wei\u00df, hei Farben in die Gegen- oder Complement\u00e4rfarbe \u00fcber\nWun dt, Psychologie.\t6","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\nI. Dio psychischen Elemente.\n'negatives und complement\u00e4res Nachbild . Bei der Einwirkung kurz dauernder Lichtreize im Dunkeln kann sich dieser Uebergang mehrmals wiederholen, indem dem negativen abermals ein positives Nachbild folgt u. s. w., so dass ein Oscilliren der Empfindung zwischen beiden Nachbildphasen stattfindet. Das positive Nachbild hisst sich nun einfach darauf zur\u00fcckf\u00fchren, dass die durch irgend eine Lichtart bewirkte photochemische Zersetzung nach der Einwirkung des Lichtes noch eine kurze Zeit andauert; das negative und complement\u00e4re kann man daraus ableiten, dass jede in einer bestimmten Richtung eingetretene Zersetzung eine theilweise Consumtion der zun\u00e4chst an ihr betheiligten lichtempfindlichen Stoffe zur\u00fcckl\u00e4sst, wodurch sich dann bei der Fortdauer der Netzhautreizung die photochemischen Vorg\u00e4nge selbst in entsprechendem Sinne ver\u00e4ndern m\u00fcssen.\n26. Mit den negativen und complement\u00e4ren Nachbildern f\u00e4llt endlich h\u00f6chst wahrscheinlich ein Theil der unter dem Namen der Licht- und Farbencontraste zusammengefassten Erscheinungen in seiner Entstehungsweise zusammen. Sie bestehen im allgemeinen darin, dass in der Umgebung irgend welcher Lichteindr\u00fccke gleichzeitig Empfindungen von entgegengesetzter Helligkeit und Farbe entstehen. So erscheint eine wei\u00dfe Fl\u00e4che von einem dunkeln, eine schwarze von einem hellen, eine farbige von einem complement\u00e4rfarbigen Rand umgeben. Diese Erscheinungen, die man, wenn sie sich auf die n\u00e4chste Umgebung des Objectes beschr\u00e4nken, auch als \u00bbRandcontrast\u00ab zu bezeichnen pflegt, sind zum Theil jedenfalls nichts anderes als negative und complement\u00e4re Nachbilder, die in Folge fortw\u00e4hrender schwacher Bewegungen der Augen gleichzeitig mit dem Eindruck in der Umgebung desselben sichtbar werden. Ob ausserdem noch eine eigenartige Irradiation der Reizung wirkt, ist zweifelhaft und bedarf die Existenz einer solchen","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\n83\njedenfalls noch der sichern Nachweisung. F\u00fcr den Zusammenhang mit den Nachbilderscheinungen spricht auch die Thatsache, dass, wie bei diesen, die Wirkung mit der Intensit\u00e4t der Lichteindr\u00fccke zunimmt, Hierdurch unterscheidet sich dieser physiologische Contrast wesentlich von gewissen psychologischen Contrasterscheinungen, mit denen er gew\u00f6hnlich zusammengeworfen wird. Da diese nach ihrer Entstehungsweise mit zahlreichen andern Formen psychologischen Contrastes enge Zusammenh\u00e4ngen, so werden wir auf sie erst bei der allgemeinen Er\u00f6rterung der psychischen Contrastvorg\u00e4nge (\u00a7 17, 9) zur\u00fcckkommen.\n26a. Nehmen wir das Princip des Parallelismus zwischen der Empfindung und dem physiologischen Reizungsvorgang zur Grundlage unserer Annahmen \u00fcber die in der Netzhaut stattfindenden Processe, so ist zun\u00e4chst zu folgern, dass der relativen Selbst\u00e4ndigkeit, welche die farblosen in ihrem Verh\u00e4ltniss zu den farbigen Empfindungen behaupten, auch eine analoge Selbst\u00e4ndigkeit der photochemischen Processe entsprechen werde. Vor allem zwei Thatsachen, von denen die eine dem subjectiven System der Lichtempfindungen, die andere den Erscheinungen der objectiven Farbenmischung angeh\u00f6rt, lassen sich hieraus am ungezwungensten erkl\u00e4ren. Die erste besteht in der Tendenz jeder Farbenempfindung bei zu- oder abnehmendem Helligkeits-giad in eine farblose Empfindung \u00fcberzugehen^eine Tendenz die am einfachsten zu deuten ist, wenn man annimmt, dass jede Farbenerregung physiologisch aus zwei Bestandtheilen zusammengesetzt sei, von denen der eine der farbigen und der andere der farblosen Erregung entspreche, womit dann leicht die weitere Bedingung verbunden sein kann, dass bei einer gewissen mittleren Reizst\u00e4rke die farbige Erregungscomponente relativ am st\u00e4rksten ist, w\u00e4hrend bei gr\u00f6\u00dferen und kleineren Reizwerthen die farblose mehr und mehr \u00fcberwiegt. Die zweite Thatsache besteht in der Eischeinung, dass je zwei beliebig gew\u00e4hlte Gegenfarben comple-ment\u00e4r sind, d. h. in geeignetem Mengenverh\u00e4ltnisse gemischt eine farblose Empfindung erzeugen. Diese Erscheinung begreift sich am leichtesten, wenn wir annehmen, dass die Gegenfarben,","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"34\n4. Die psychischen Elemente.\ndie snbjectiv gr\u00f6\u00dftm\u00f6gliche Unterschiede der Empfindung sind, objectiv photochemische Processe bedeuten, die sich neutralisiren. Dass in Folge dieser Neutralisation die farblose Erregung entsteht, wird aber wieder am einfachsten unter der Voraussetzung verst\u00e4ndlich, dass sie von Anfang an jede farbige Erregung begleitet und daher allein zur\u00fcckbleibt, sobald entgegengesetzte farbige Erregungen einander aufheben. Diese Annahme einer relativen Unabh\u00e4ngigkeit der beiden photochemischen Processe der farblosen und der farbigen Empfindung wird in schlagender Weise durch die Existenz einer zuweilen angeborenen, zuweilen auch durch pathologische Processe der Netzhaut erworbenen Abnormit\u00e4t des Gesichtssinns, der totalen Farbenblindheit, best\u00e4tigt. Indem bei ihr entweder auf der ganzen Netzhaut oder auf einzelnen Stellen derselben jede beliebige Lichtreizung als reine Helligkeit ohne jede farbige Beimischung empfunden wird, liegt darin der unumst\u00f6\u00dfliche Beweis, dass farbige und farblose Erregung von einander trennbare physiologische Processe sind.\nWenden wir die gleichen Gesichtspiuikte auf den zweiten in der Netzhaut stattfindenden Process, auf den der farbigen Erregung an, so sind hier zun\u00e4chst ebenfalls zwei Thatsachen ma\u00dfgebend. Die eine besteht darin, dass zwei um eine endliche kleine Strecke von einander entfernte Farben eine Mischfarbe ergeben, die der zwischen ihnen liegenden einfachen Farbe gleich ist. Diese Thatsache weist darauf hin, dass die Farbenerregung ein Vorgang ist, der sich nicht stetig, wie etwa die Tonerregung, sondern der sich in kleinen Stufen mit dem physikalischen Reize ver\u00e4ndert, und zwar dergestalt, dass diese Ver\u00e4nderung im Roth und Violett in gr\u00f6\u00dferen Stufen vor sich geht als im Gr\u00fcn, weil sich hier schon bei der Mischung ziemlich nahe gelegener Farben Complement\u00e4rwirkungen geltend machen. Eine solche stufenweise Ver\u00e4nderung des Processes entspricht aber durchaus der chemischen Natur desselben, da sich chemische Zersetzungen wie Verbindungen immer auf Gruppen von Atomen oder Molec\u00fclen beziehen m\u00fcssen. Die zweite Thatsache besteht darin, dass bestimmte, einem gewissen gr\u00f6\u00dferen Reizunterschiede entsprechende Farben gleichzeitig subjectiv, als Gegenfarben, die Bedeutung maximaler Unterschiede, und objectiv, als Complement\u00e4rfarben, die Bedeutung sich neutralisirender Processe haben. Chemische Processe k\u00f6nnen sich aber nur neutralisiren, wenn sie irgendwie","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 C, Die reinen Empfindungen.\n85\nvon gegens\u00e4tzlicher Natur sind. Je zwei complement\u00e4re Lichterregungen m\u00fcssen sich also \u00e4hnlich zu einander verhalten wie die bei der farblosen Erregung wirksamen entgegengesetzten Proeesse. Dennoch walten hier zwei sehr wesentliche Unterschiede ob. Erstens existirt ein solcher Gegensatz bei der Farbenerregung nicht blo\u00df einmal, sondern f\u00fcr jede \u00fcberhaupt in der Empfindung unterscheidbare Farbe, so dass also voraussichtlich zu jeder der Stufen photochemischer Farbenerregung, welche nach den Resultaten der Mischung benachbarter Farben anzunehmen sind, auch eine bestimmte Stufe von complement\u00e4rer Wirkung vorhanden ist. Zweitens bilden die Gegenfarben Maxima des subjectiven Unterschiedes der Empfindungen, zwischen denen von jeder dieser Gegenfarben aus nicht blo\u00df nach einer Richtung, wie bei Schwarz und Wei\u00df, sondern nach zwei einander entgegengesetzten Richtungen Ausgleichungen des Unterschiedes stattfinden; und dementsprechend l\u00e4sst sich auch das complement\u00e4re Verhalten der Gegenfarben objectiv nach den n\u00e4mlichen zwei Richtungen wieder aufheben. Mit demselben Rechte wie aus dem Complementarismus der Gegenfarben auf den Gegensatz der entsprechenden photoehemischen Proeesse, ist daher aus jener doppelseitigen Ausgleichung zu schlie\u00dfen, dass dem Zur\u00fccklaufen der Farbenlinie gegen ihren Ausgangspunkt eine Wiederkehr verwandter Proeesse entspricht. Der ganze Vorgang der Farbenerregung, wie er bei stetiger Ver\u00e4nderung der Wellenl\u00e4nge des objectiven Lichtes, vom \u00e4u\u00dfersten Roth beginnend und schlie\u00dflich nach Ueberschreitung des Violett durch Hinzunahme der Purpurmischungen am Ausgangspunkt endigend, sich abspielt, wird demnach als eine unbestimmt gro\u00dfe Reihenfolge photochemischer Proeesse aufzufassen sein, die zusammen einen in sich geschlossenen Kreisprocess bilden, in welchem es zu jeder Stufe eine sie neutralisirende Gegenstufe und zu dieser zwei nach entgegengesetzten Richtungen gehende Ueberg\u00e4nge gibt.\nUeber die Anzahl der im ganzen in diesem Kreisprocess vorhandenen photochemischen Stufen wissen wir nichts. Die mehrfach unternommenen Versuche, alle Farbenempfindungen auf eine m\u00f6glichst kleine Anzahl solcher Stufen zur\u00fcckzuf\u00fchren, entbehren der zureichenden Begr\u00fcndung. Entweder werden bei ihnen ohne weiteres die Ergebnisse der physikalischen Farbenmischung in physiologische Proeesse umgedeutet: so bei der","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nI. Die psychischen Elemente.\nAnnahme von drei Grandempfindungen, Roth, Gr\u00fcn und Violett, aus deren wechselnden Mischungen alle Liehtempfindungen, auch die farblosen, hervorgehen sollen (Young-Helmholtz\u2019sche Hypothese). Oder man geht von der psychologisch unhaltbaren Annahme aus, die Farbenbenennungen seien nicht aus dem Einfluss bestimmter \u00e4u\u00dferer Objecte, sondern aus der realen Bedeutung der entsprechenden Empfindungen hervorgegangen (s. oben S. 75), und nimmt demnach an, vier Grundfarben, n\u00e4mlich die beiden Gegensatzpaare Roth und Gr\u00fcn, Gelb und Blau, seien die Substrate der Farbenempfindungen, denen man dann als ein \u00e4hnliches Gegensatzpaar f\u00fcr die reinen Helligkeitsempfindungen Schwarz und Wei\u00df gegen\u00fcberstellt, w\u00e4hrend alle andern Lichtempfindungen, wie Grau, Orange, Violett und dgl. ihrer subjectiven wie objec-tiven Bedeutung nach Mischempfindungen sein sollen (Hering\u2019-sche Hypothese). Zur Unterst\u00fctzung der ersten wie der zweiten dieser Hypothesen hat man sich meist auf die nicht selten vorkommenden F\u00e4lle partieller Farbenblindheit berufen. Die Anh\u00e4nger der drei Grundfarben behaupteten, alle diese F\u00e4lle seien entweder auf den Mangel der rothen oder der gr\u00fcnen Grundempfindung, zuweilen wohl auch auf den Mangel dieser beiden zur\u00fcckzuf\u00fchren. Die Anh\u00e4nger der vier Grundfarben nahmen an, die partielle Farbenblindheit beziehe sich stets auf je zwei als Gegens\u00e4tze zusammengeh\u00f6rige Grundfarben, sei also entweder Rothgr\u00fcnblindheit oder Gelbblaublindheit. Eine unbefangene Pr\u00fcfung der Farbenblinden best\u00e4tigt keine dieser Behauptungen. Ist die Dreifarbentheoxie nicht im Stande die totale Farbenblindheit zu ei\u2019kl\u00e4ren, so widersprechen der Vierfarbentheorie die F\u00e4lle reiner Roth- und reiner Gr\u00fcnblindheit; und beiden Hypothesen widerstreiten schlie\u00dflich die unzweifelhaft voi'kommenden F\u00e4lle, in denen vorzugsweise solche Theile des Spektrams, die keiner der drei oder vier angenommenen Grundfaiben entsprechen, farb-los gesehen werden. Das einzige, was sich nach dem Stand unserer heutigen Kenntnisse aussagen l\u00e4sst ist also, dass jede einfache Lichtempfindung physiologisch auf der Verbindung zweier photochemischer Proeesse beruht, eines monochromatischen, der sich wieder aus einer bei gr\u00f6\u00dferer Lichtst\u00e4i'ke \u00fcberwiegenden Zersetzung und aus einer bei schw\u00e4cherem Licht vorwaltenden Restitution zusammensetzt', und eines chromatischen, welcher sich dei'art stufenweise ver\u00e4ndert, dass die","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 6. Die reinen Empfindungen.\n87\nganze Folge der photochemischen Farbenzersetzungen einen Kreis-process bildet, in dem sich die Zersetzungsproduete je zweier relativ entferntester Stufen wechselseitig neutralisiren.J)\nAn der lebenden Netzhaut sind verschiedene Ver\u00e4nderungen in Folge der Lichteinwirkung beobachtet, welche die Annahme eines photochemischen Vorgangs unterst\u00fctzen : so der allm\u00e4hliche Uebergang eines in der gedunkelten Netzhaut vorhandenen rothen Farbstoffs in den farblosen Zustand (Bleichung des Sehpurpurs), mikroskopische Wanderungen des zwischen den empfindenden Elementen, den St\u00e4bchen und Zapfen, enthaltenen pigmenthaltigen Protoplasmas, endlich Form\u00e4nderungen der St\u00e4bchen und Zapfen selbst. Versuche, diese Erscheinungen irgendwie zu einer physiologischen Theorie der Lichtreizung zu verwerthen, sind aber entschieden verfr\u00fcht. Am wahrscheinlichsten ist es noch, dass mit den Formunterschieden der beiden Elemente, der St\u00e4bchen und Zapfen, auch Functionsunterschiede Zusammenh\u00e4ngen. Da n\u00e4mlich die Mitte der Netzhaut, die Region des directen Sehens, beim Menschen nur Zapfen enth\u00e4lt, w\u00e4hrend auf den Seitentheilen die St\u00e4bchen \u00fcberwiegen, und da ferner in der Mitte (die \u00fcbrigens des Sehpurpur entbehrt) die Farbenunterscheidung viel vollkommener ist als in den seitlichen Regionen, w\u00e4hrend letztere f\u00fcr Helligkeiten empfindlicher sind, so liegt es nahe zu ver-muthen, dass diese Unterschiede mit den photochemischen Eigenschaften der Zapfen und St\u00e4bchen Zusammenh\u00e4ngen. Doch fehlt auch hier noch der n\u00e4here Nachweis.\n\u00a7 7. Die einfachen Gef\u00fchle.\n1. Einfache Gef\u00fchle k\u00f6nnen, wie in \u00a7 5 erw\u00e4hnt wurde, in ungleich mannigfaltigerer Weise entstehen als einfache\n1) Die \u00fcberdies von den Anh\u00e4ngern der vier Grundfarben gemachte Annahme, die zwei Gegenfarben verhielten sich hierbei vollkommen wie Hell und Dunkel bei der farblosen Erregung, die eine der Gegenfarben beruhe also auf einer photoohemischen Zersetzung (Dissimilation), die andere auf einer Restitution (Assimilation), ist eine Analogie, die mit den thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnissen im Widerspruch steht. Das Resultat der Mischung der Complement\u00e4rfarben ist subjectiv eine Aufhebung der Farbenempfindung, die Mischung von Schwarz und Wei\u00df dagegen erzeugt eine mittlere Empfindung.","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nI. Die psychischen Elemente.\nEmpfindungen, insofern auch solche Gef\u00fchle, die wir nur in Verbindung mit mehr oder minder zusammengesetzten Vorstellungsprocessen beobachten, den Charakter der Einfachheit besitzen (S. 41). So ist z. B. das Gef\u00fchl der Tonharmonie ebenso gut einfach wie das an einen einzelnen Ton gebundene Gef\u00fchl. Denn sind gleich mehrere Tonempfindungen erforderlich, um eine Tonharmonie hervorzubringen, und ist daher diese ihrem Empfindungsgehalte nach ein zusammengesetztes Gebilde, so sind doch die Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten bestimmter harmonischer Zusammenkl\u00e4nge so verschiedenartig von den an die einzelnen T\u00f6ne gebundenen Gef\u00fchlen, dass jene ebenso gut wie diese subjectiv vollkommen unzerlegbare Einheiten darstellen. Nur darin besteht ein wesentlicher Unterschied, dass die Gef\u00fchle, die einfachen Empfindungen entsprechen, leicht nach der n\u00e4mlichen Methode der Abstraction, deren wir uns zur Feststellung der einfachen Empfindungen bedienen (S. 45), aus dem Zusammenhang unserer Erfahrung isolirt werden k\u00f6nnen. Das einfache Gef\u00fchl dagegen, das an irgend ein zusammengesetztes Vorstellungsgebilde gebunden ist, k\u00f6nnen wir niemals von den Gef\u00fchlen sondern, die als subjective Complemente der Empfindungen in jenes Gebilde eingelien. So ist es z. B. unm\u00f6glich, das Harmoniegef\u00fchl des Accords c e y von den einfachen Gef\u00fchlen der T\u00f6ne c, c und y loszul\u00f6sen. Diese m\u00f6gen hinter jenem zur\u00fccktreten, da sie sich mit ihm, wie wir sp\u00e4ter (\u00a7 9, 3a) sehen werden, stets zu einem einheitlichen Totalgef\u00fchl verbinden; aber eliminiren lassen sie sich nat\u00fcrlich niemals.\n2. Das mit einer einfachen Empfindung verbundene Gef\u00fchl pflegt man als sinnliches Gef\u00fchl oder auch als Gef\u00fchlston der Empfin dung zu bezeichnen. Beide Ausdr\u00fccke sind in entgegengesetztem Sinne der Missdeutung f\u00e4hig: der erste, weil man geneigt ist, unter dem \u00bbsinnlichen Gef\u00fchl\u00ab","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 7. Die einfachen Gef\u00fchle.\n89\nnicht nur einen durch Abstraction isolirbaren, sondern einen wirklich isolirt vorkommenden Bestandtheil unserer unmittelbaren Erfahrung zu verstehen ; der zweite, weil der \u00bb Gef\u00fchls-ton\u00ab als eine der Empfindung in \u00e4hnlicher Weise unver\u00e4nderlich zukommende Gef\u00fchlsqualit\u00e4t betrachtet werden k\u00f6nnte, wie etwa der \u00bbFarbenton\u00ab ein nothwendiges Bestimmuugs-st\u00fcck einer Farbenempfindmig ist. In Wahrheit kann aber das sinnliche Gef\u00fchl ebenso wenig jemals ohne eine Empfindung Vorkommen, wie es ein Gef\u00fchl der Tonharmonie ohne Tonempfindungen geben kann. Wenn man zuweilen das Schmerzgef\u00fchl oder auch Druck-, W\u00e4rme-, K\u00e4lte-, Muskelgef\u00fchle u. dgl. als selbst\u00e4ndig vorkommende sinnliche Gef\u00fchle bezeichnet hat, so beruht das auf der namentlich in der Physiologie noch immer verbreiteten Vermengung der Begriffe Empfindung und Gef\u00fchl (S. 43), verm\u00f6ge deren man theils gewisse Empfindungen, wie die des Tastsinns, \u00bbGef\u00fchle\u00ab nennt, theils aber bei solchen Empfindungen, die, wie die Schmerzempfindungen, von starken Gef\u00fchlen begleitet werden, die Unterscheidung beider Elemente vernachl\u00e4ssigt. Nicht minder unzul\u00e4ssig w\u00fcrde es aber sein, einer bestimmten Empfindung ein qualitativ und intensiv fest bestimmtes Gef\u00fchl zuzuschreiben. Vielmehr bew\u00e4hrt es sich \u00fcberall, dass die Empfindung nur einer unter vielen Factoren ist, die ein in einem gegebenen Augenblick vorhandenes Gef\u00fchl bestimmen, indem neben ihr immer zugleich vorangegangene Processe und dauernde Anlagen, im ganzen also Bedingungen, die wir im einzelnen Fall nur bruchst\u00fcckweise zu \u00fcbersehen verm\u00f6gen, eine wesentliche Rolle spielen. Der Begriff des \u00bbsinnlichen Gef\u00fchls\u00ab oder des \u00bbGef\u00fchlstons\u00ab ist daher in doppeltem Sinne Product einer Analyse und Abstraction: erstens m\u00fcssen wir dabei das einfache Gef\u00fchl von der es begleitenden reinen Empfindung unterscheiden, und zweitens m\u00fcssen wir unter den mannigfach wechselnden Gef\u00fchls-","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nI. Die psychischen Elemente.\nelementen, die unter verschiedenen Bedingungen mit einer bestimmten Empfindung verbunden sein k\u00f6nnen, dasjenige zur\u00fcckbehalten, das am constantesten und unter m\u00f6glichster Abwesenheit von Einfl\u00fcssen, die die einfache Empfindungswirkung st\u00f6ren oder compliciren k\u00f6nnten, mit ihr verbunden ist.\nUnter diesen Bedingungen ist die erste, wenn man die psychologische Bedeutung der Begriffe Empfindung und Gef\u00fchl im Auge beh\u00e4lt, verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig leicht, die zweite aber sehr schwer zu erf\u00fcllen, und besonders bei den zwei ausgebildetsten Empfindungssystemen, denen der Ton- und der Lichtempfindungen, ist es in Wirklichkeit niemals m\u00f6glich, solche indirecte Einfl\u00fcsse v\u00f6llig fernzuhalten. Man kann darum auf den reinen Gef\u00fchlston der Empfindung nur mittelst derselben Methode zur\u00fcckschlie\u00dfen, die bereits zur Abstraction der reinen Empfindung gedient hat (\u00a7 5, S. 33) : auch hier wird man n\u00e4mlich annehmen d\u00fcrfen, dass nur derjenige Gef\u00fchlston, der bei allem Wechsel sonstiger Bedingungen constant bleibt, der Empfindung als solcher zukommt. So leicht anwendbar aber diese Regel bei den Empfindungen ist, so schwer ist sie es bei den Gef\u00fchlen, weil meist mit der Empfindung selbst jene secund\u00e4ren Einfl\u00fcsse ebenso fest verbunden sind, wie der prim\u00e4re des Gef\u00fchlstones. So erweckt z. B. die Empfindung Gr\u00fcn fast unvermeidlich die Vorstellung der gr\u00fcnen Vegetation, und da an diese Vorstellung zusammengesetzte Gef\u00fchle gekn\u00fcpft sind, deren Beschaffenheit m\u00f6glicher Weise ganz unabh\u00e4ngig ist von dem Gef\u00fchlston der gr\u00fcnen Farbe, so l\u00e4sst sich nicht ohne weiteres bestimmen, ob das bei der Einwirkung eines gr\u00fcnen Eindrucks beobachtete Gef\u00fchl ein reiner Gef\u00fchlston oder ein durch begleitende Vorstellungen erwecktes Gef\u00fchl oder aber eine Mischung aus beiden sei.","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 7. Die einfachen Gef\u00fchle.\n91\n2 a. Diese Schwierigkeit hat manche Psychologen veranlasst, die Existenz eines reinen Gef\u00fchlstones \u00fcberhaupt zu bestreiten. Sie behaupten, jede Empfindung erwecke irgend welche begleitende Vorstellungen, durch die immer erst die Gef\u00fchlswirkung zu Stande komme. Aber dieser Ansicht widersprechen schon bei den Lichtempfindungen die Ergebnisse der experimentellen Variation der Bedingungen. W\u00e4ren begleitende Vorstellungen allein f\u00fcr das Gef\u00fchl ma\u00dfgebend, so m\u00fcsste dieses jeweils dann am st\u00e4rksten sein, wenn der Empfindungsinhalt des Eindrucks dem jener Vorstellungen m\u00f6glichst \u00e4hnlich w\u00e4re. Dies ist aber durchaus nicht der Pall. Vielmehr ist der Gef\u00fchlston einer Parbe dann am gr\u00f6\u00dften, wenn ihr S\u00e4ttigungsgrad ein Maximum erreicht. Den st\u00e4rksten Gef\u00fchlston zeigen daher die reinen im Dunkelraum beobachteten Spektralfarben. Diese sind aber zumeist sehr verschieden von den Farben der Naturgegenst\u00e4nde, auf die sich begleitende Vorstellungen beziehen k\u00f6nnen. Ebenso wenig l\u00e4sst sich die ausschlie\u00dfliche Zur\u00fcckf\u00fchrung der Tongef\u00fchle auf solche Vorstellungen aufrecht erhalten. Denn so zweifellos schon bei einem einzelnen Ton bekannte musikalische Vorstellungen erweckt werden k\u00f6nnen, so ist doch umgekehrt die Constanz, mit der gewisse Tonqualit\u00e4ten zum Ausdruck bestimmter Gef\u00fchle, z. B. tiefe T\u00f6ne zum Ausdruck des Ernstes und der Trauer, gew\u00e4hlt werden, nur begreiflich, wenn bereits den einfachen Tonempfindungen der entsprechende Gef\u00fchlston zukommt. Noch augenscheinlicher wird der Cirkel, in dem man sich bei dieser Ableitung aus begleitenden Vorstellungen bewegt, bei den Empfindungen des Geruchs, des Geschmacks und des allgemeinen Sinnes. Wenn z. B. der angenehme oder der unangenehme Gef\u00fchlston einer Geschmacksempfindung durch die Erinnerung an den n\u00e4mlichen, fr\u00fcher schon erlebten Eindruck gesteigert werden soll, so ist dies doch nur dadurch m\u00f6glich, dass uns dieser Eindruck schon bei jener fr\u00fcheren Einwirkung angenehm oder unangenehm war.\n3. Die Mannigfaltigkeit der einfachen sinnlichen Gef\u00fchle ist eine \u00fcberaus gro\u00dfe. Hierbei bilden die Gef\u00fchle, die einem bestimmten Empfindungssystem entsprechen, ebenfalls ein System, indem jeder qualitativen oder intensiven Aenderung","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nI. Die psychischen Elemente.\nder Empfindung im allgemeinen eine qualitative oder intensive Aenderung des G-ef\u00fchlstons parallel gellt. Zugleich verhalten sich nun aber diese beziehungsweisen Aendernngen bei den Gef\u00fchlssystemen wesentlich abweichend von den entsprechenden Aenderungen in den Empfindungssystemen, so dass es deshalb auch unm\u00f6glich ist, etwa den Gef\u00fchlston als ein der Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t analoges drittes Bestimmungsst\u00fcck der Empfindung zu betrachten. Aendert man n\u00e4mlich die Empfindungsintensit\u00e4t, so \u00e4ndert sich damit der Gef\u00fchlston nicht blo\u00df intensiv, sondern auch qualitativ; und \u00e4ndert man die Qualit\u00e4t der Empfindung, so \u00e4ndert sich der Gef\u00fchlston nicht blos qualitativ, sondern auch intensiv. Steigert man z. B. die Empfindung S\u00fc\u00df, so geht der Gef\u00fchlston aus einem angenehmen in einen unangenehmen \u00fcber; und l\u00e4sst man die Empfindung S\u00fc\u00df allm\u00e4hlich bei gleicher St\u00e4rke in Sauer oder Bitter \u00fcbergehen, so bemerkt man, dass das Saure, und noch mehr das Bittere, bei gleicher Empfindungsintensit\u00e4t eine st\u00e4rkere Gef\u00fchlserregung als das S\u00fc\u00dfe hervorbringt. Jede Empfindungs\u00e4nderung ist also im allgemeinen von einer zweifachen Gef\u00fchls\u00e4nderung begleitet. Zugleich ist aber f\u00fcr die Art, wie hierbei Qualit\u00e4ts- und Intensit\u00e4ts\u00e4nderung des Gef\u00fchlstons an einander gebunden sind, das in \u00a7 5 (S. 40) hervorgehobene Princip ma\u00dfgebend, dass sich jede in einer Dimension vor sich gehende Gef\u00fchls\u00e4nderung nicht, wie die entsprechende Empfindungs\u00e4nderung, zwischen gr\u00f6\u00dften Unterschieden, sondern zwischen Gegens\u00e4tzen bewegt.\n4. In Folge dieses Princips entsprechen gr\u00f6\u00dften qualitativen Unterschieden der Empfindung qualitativ gr\u00f6\u00dfte Gegens\u00e4tze, intensiv aber Maximalwerthe des Gef\u00fchls, die entweder von gleicher Gr\u00f6\u00dfe sind oder sich, je nach der besonderen Eigenth\u00fcmlichkeit der qualitativen Gegens\u00e4tze , wenigstens der Gleichheit n\u00e4hern ; und der Mitte","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 7. Die einfachen Gef\u00fchle.\n93\nzwischen beiden Gegens\u00e4tzen entspricht, so weit die Dimension, der die Gegens\u00e4tze angeh\u00f6ren, allein in Betracht kommt, der Intensit\u00e4tswerth null. Dieser Intensit\u00e4tswerth\n\u2022\nnull kann aber nur dann zur Beobachtung kommen, wenn das entsprechende Empfindungssystem ein absolut eindimensionales ist; in allen andern F\u00e4llen pflegt die in Bezug auf einen bestimmten Empfindungsunterschied vorhandene neutrale Mitte gleichzeitig noch einer andern Empfindungsdimension oder sogar einer Mehrheit solcher Dimensionen anzugeh\u00f6ren, in der ihr ebenfalls bestimmte Gef\u00fchlswerthe zukommen. So sind z. B. das spektrale Gelb und Blau Gegenfarben, denen auch entgegengesetzte Gef\u00fchlst\u00f6ne entsprechen. Wenn man nun in der Farbenreihe allm\u00e4hlich von Gelb zu Blau \u00fcbergeht, so w\u00fcrde Gr\u00fcn die neutrale Mitte zwischen beiden sein. Aber das Gr\u00fcn steht selbst wieder in einem Gef\u00fchlscontrast zu seiner eigenen Gegenfarbe, dem Purpur, und au\u00dferdem bildet es, wie jede ges\u00e4ttigte Farbe, den Endpunkt einer Reihe, der die Ueber-g\u00e4nge des gleichen Farbentons zu Wei\u00df enth\u00e4lt. Das System der einfachen Tonempfindungen bildet zwar ein Continuum von blo\u00df einer Dimension; aber gerade hier k\u00f6nnen wir die zugeh\u00f6rigen Gef\u00fchlst\u00f6ne nicht in \u00e4hnlicher Weise wie die reinen Empfindungen durch Abstraction isoliren, weil uns die Wirklichkeit fortw\u00e4hrend nicht blo\u00df Ueberg\u00e4nge zwischen T\u00f6nen verschiedener H\u00f6he, sondern auch solche zwischen dem absolut einfachen Ton und dem aus einer F\u00fclle einfacher T\u00f6ne zusammengesetzten Ger\u00e4usch darbietet. Diese Bedingungen bringen es mit sich, dass jedem mehrdimensionalen Empfindungssystem ein System sich durchkreuzender Gef\u00fchlst\u00f6ne entspricht, in welchem im allgemeinen jeder Punkt mehreren Gef\u00fchlsdimensionen gleichzeitig angeh\u00f6rt, so dass der entsprechende Gef\u00fchlston eine Resultante aus den in den verschiedenen Empfindungs-","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nI. Die psychischen Elemente.\ndimension en gelegenen Gef\u00fchlselementen ist. Daraus geht zugleich hervor, dass auf dem Gebiet der qualitativen Gef\u00fchlsabstufungen eine Unterscheidung zwischen einfachen und zusammengesetzten Gef\u00fchlen \u00fcberhaupt nicht auszuf\u00fchren ist. Das einer bestimmten einfachen Empfindung entsprechende Gef\u00fchl ist wegen der angedeuteten Eigenschaften in der Regel schon ein Product der Verschmelzung mehrerer einfacher Gef\u00fchle, w\u00e4hrend es doch ebenso unzerlegbar wie ein Gef\u00fchl von urspr\u00fcnglich einfacher Beschaffenheit ist. (Vgl. unten \u00a7 12, 3.) Eine weitere Folge dieser Eigenschaft ist es, dass die neutrale Mitte zwischen entgegengesetzten Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten nur in den besonderen F\u00e4llen Inhalt unserer wirklichen Erfahrung sein kann, wo der zu einer bestimmten Empfindung geh\u00f6rende Gef\u00fchlston den neutralen Mittelpunkten der s\u00e4mmtlichen Gef\u00fchlsdimensionen entspricht, denen er gleichzeitig angeh\u00f6rt. Diese Grenzbedingung ist augenscheinlich bei den mehrdimensionalen Empfindungssystemen, namentlich denen des Gesichts- und Geh\u00f6rssinns, gerade in denjenigen F\u00e4llen erf\u00fcllt, in denen es f\u00fcr den ruhigen Verlauf der Gef\u00fchlsprocesse von besonderer praktischer Bedeutung ist. Hier bilden n\u00e4mlich einerseits die farblosen Lichtempfindungen mittlerer Helligkeit und die ihnen sich anschlie\u00dfenden geringgradigen S\u00e4ttigungsstufen der Farben, anderseits die zwischen Ton und Ger\u00e4usch mitten inne stehenden Schalleindr\u00fccke der gew\u00f6hnlichen Umgebung, wie z. B. die menschliche Sprechstimme, neutrale Indifferenzzonen der Gef\u00fchlsbetonung, von denen aus sich die intensiveren Gef\u00fchlst\u00f6ne der ausgepr\u00e4gteren Empfindungsqualit\u00e4ten erheben, und die es \u00fcberdies den complexen Gef\u00fchlen, die den mannigfachen Vorstellungsverbindungen derselben entsprechen, m\u00f6glich machen, sich nahezu unabh\u00e4ngig von begleitenden sinnlichen Gef\u00fchlen zu entwickeln.","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 7. Die einfachen Gef\u00fchle.\n95\n5. Weit einfacher gestalten sich die den Intensit\u00e4tsgraden der Empfindung parallel gehenden intensiven und qualitativen Abstufungen der einfachen Gef\u00fchle. Sie sind am deutlichsten bei den gleichf\u00f6rmigen Empfindungssystemen des allgemeinen Sinnes zu beobachten. Indem jedes dieser Empfindungssysteme qualitativ gleichf\u00f6rmig ist, also geometrisch ann\u00e4hernd durch einen einzigen Punkt repr\u00e4sentirt werden kann, k\u00f6nnen den allein \u00fcbrig bleibenden intensiven Aenderungen der Empfindung auch nur eindimensionale Gef\u00fchls\u00e4nderungen zwischen zwei Gegens\u00e4tzen entsprechen. Die neutrale Indifferenzzone ist darum hier immer leicht zu beobachten: sie entspricht jenen m\u00e4\u00dfigen Druck-, W\u00e4rme- und K\u00e4lteempfindungen, die mit der normalen mittleren St\u00e4rke der allgemeinen Sinnesreize verbunden sind. Die dies- und jenseits dieser Zone gelegenen einfachen Gef\u00fchle zeigen dann einen entschieden gegens\u00e4tzlichen Charakter, indem die einen im allgemeinen den Lust-, die andern den Unlustgef\u00fchlen zugez\u00e4hlt werden k\u00f6nnen. (S. unten G.) Von diesen beiden Gegensatzgef\u00fchlen lassen sich aber mit Sicherheit nur die Unlustgef\u00fchle durch Intensit\u00e4tszunahme der Empfindung hervorrufen. Bei den schw\u00e4cheren Intensit\u00e4ten ist durch die Gew\u00f6hnung an m\u00e4\u00dfige Reize gerade bei den Systemen des allgemeines Sinnes eine so bedeutende Erweiterung der Neutralit\u00e4tszone eingetreten, dass in der Regel nur noch die Aufeinanderfolge intensiv oder qualitativ stark verschiedener Empfindungen deutliche Gef\u00fchle hervorzurufen vermag. In solchen F\u00e4llen entsprechen dann die Lustgef\u00fchle regelm\u00e4\u00dfig Empfindungen von m\u00e4\u00dfiger St\u00e4rke.\nVollkommener l\u00e4sst sich, unabh\u00e4ngig von diesem Einfluss des Contrastes, die gesetzm\u00e4\u00dfige Beziehung zwischen Empfindungsst\u00e4rke und Gef\u00fchlston bei gewissen Empfindungen des Geschmacks- und Geruchssinns beobachten. Es w\u00e4chst hier zun\u00e4chst bei schwachen Empfindungen mit Verst\u00e4rkung","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"06\nI. Die psychischen Elemente.\nder Intensit\u00e4t das Lustgef\u00fchl bis zu einem Maximum, sinkt bei einer bestimmten mittleren St\u00e4rke auf null, um dann bei weiterer Empfindungszunahme in ein Unlustgef\u00fchl \u00fcberzugehen, welches bis zu dem Empfindungsmaximum w\u00e4chst.\n6. Die qualitative Mannigfaltigkeit der einfachen Gef\u00fchle ist unabsehbar gro\u00df und jedenfalls viel gr\u00f6\u00dfer als die Mannigfaltigkeit der Empfindungen. Dies folgt erstens daraus, dass bei den Gef\u00fchlen der mehrdimensionalen Empfindungssysteme jeder Empfindungspunkt gleichzeitig mehreren Gef\u00fchlsdimensionen angeh\u00f6rt, zweitens aber und haupts\u00e4chlich daraus, dass, wie oben (S. 90} bemerkt, den verschiedensten aus mannigfachen Verbindungen von Empfindungen bestehenden Gebilden, wie den intensiven, den r\u00e4umlichen, den zeitlichen Vorstellungen, endlich bestimmten Stadien im Verlauf der Affecte und Willensvorg\u00e4nge, ebenfalls Gef\u00fchle entsprechen, die an sich unzerlegbar sind und daher den einfachen Gef\u00fchlen zugerechnet werden m\u00fcssen.\nUm so mehr ist es zu bedauern, dass unsere sprachlichen Bezeichnungen der einfachen Gef\u00fchle noch ungleich d\u00fcrftiger sind als die der Empfindungen. Die eigentliche Terminologie der Gef\u00fchle beschr\u00e4nkt sich n\u00e4mlich ganz auf die Hervorhebung gewisser allgemeiner Gegens\u00e4tze, wie Lust und Unlust, angenehm und unangenehm, ernst und heiter, aufgeregt und ruhig u. dgl., Bezeichnungen, bei denen man meist die Affecte zu H\u00fclfe nimmt, in die die Gef\u00fchle als Elemente eingehen, und die \u00fcberdies so allgemeiner Natur sind, dass jeder dieser Namen eine F\u00fclle einzelner einfacher Gef\u00fchle von sehr verschiedener Beschaffenheit umfassen kann. In andern F\u00e4llen nimmt man bei der Schilderung der an bestimmte einfachere Eindr\u00fccke gebundenen Gef\u00fchle com-plicirte Vorstellungen zu H\u00fclfe, denen Gef\u00fchle von \u00e4hnlichem Charakter entsprechen: so z. B. Goethe bei seiner Schilderung der Farbengef\u00fchle, und viele musikalische Schriftsteller","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 7. Die einfachen Gef\u00fchle.\n97\nbei den Klanggef\u00fclilen. Diese Arrnuth der Sprache an spe-cifischen Gefiililsbezeichnnngen ist eine psychologische Folge der subjectiven Natur der Gef\u00fchle, verm\u00f6ge deren hier alle jene Motive der praktischen Lebenserfahrung, aus denen die Benennungen der Objecte und ihrer Eigenschaften entstanden sind, hinwegfallen. Hieraus auf eine entsprechende Armuth der einfachen Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten selber zu schlie\u00dfen, ist aber ein grobes psychologisches Missverst\u00e4ndniss, das \u00fcberdies dadurch verh\u00e4ngnisvoll wird, dass es eine zureichende Untersuchung der zusammengesetzten Gemiiths-vorg\u00e4nge von vornherein unm\u00f6glich macht.\n7. In Folge der angedeuteten Schwierigkeiten kann nat\u00fcrlich an eine vollst\u00e4ndige Aufz\u00e4hlung aller m\u00f6glichen einfachen Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten noch weniger als an eine solche der Empfindungen gedacht werden. Eine derartige Aufz\u00e4hlung w\u00fcrde aber auch deshalb unausf\u00fchrbar sein, weil die Gef\u00fchle gem\u00e4\u00df den oben er\u00f6rterten Eigenschaften nicht, wie die Ton-, die Licht-, die Geschmacksempfindungen, in sich abgeschlossene Systeme, sondern eine \u00fcberall zusammenh\u00e4ngende Mannigfaltigkeit bilden (S. 42), und weil aus einer Verbindung von Gef\u00fchlen wiederum Gef\u00fchle hervorgehen, die nicht nur einen einheitlichen, sondern einen einfachen Charakter besitzen (S. 88). An der so aus einer F\u00fclle verschiedener und auf das feinste abgestufter Qualit\u00e4ten bestehenden Mannigfaltigkeit der Gef\u00fchle sind jedoch verschiedene Hauptrichtungen zu unterscheiden, die sich zwischen gewissen Gef\u00fchlsgegens\u00e4tze von dominirendem Charakter erstrecken. Solche Hauptrichtungen des Gef\u00fchls k\u00f6nnen daher immer durch je zwei Bezeichnungen ausgedr\u00fcckt werden, die Gegens\u00e4tze andeuten. Dabei ist aber jede Bezeichnung wieder als ein Collectivausdruck anzusehen, der eine unendliche Menge individuell variirender Gef\u00fchle umfasst.\nWundt, Psychologie.\n7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"08\nT. Die psychischen Elemente.\nIn diesem Sinne lassen sich nun drei Hauptrichtungen feststellen: wir wollen sie die Richtungen der Lust und Unlust, der erregenden und beruhigenden (excitiren-den und deprimirenden) und endlich der spannenden und l\u00f6senden Gef\u00fchle nennen. Ein individuelles Gef\u00fchl kann entweder alle diese Richtungen oder nur zwei derselben erkennen lassen, oder es kann auch nur einer einzigen unter ihnen angeh\u00f6ren. Dieser letzteren M\u00f6glichkeit verdanken wir es allein, dass die genannten Richtungen \u00fcberhaupt unterschieden werden k\u00f6nnen. Die meist zu beobachtende Verbindung verschiedener Gef\u00fchlsrichtungen aber macht es, neben dem oben (S. 93) erw\u00e4hnten Einfl\u00fcsse des Ueberein-andergreifens mannigfaltiger Gef\u00fchlswirkungen, begreiflich, dass die allgemeine Natur der Gef\u00fchle zwar eine Indifferenzzone fordert, dass wir uns aber gleichwohl vielleicht niemals in einem v\u00f6llig gef\u00fchlsfreien Zustande befinden.\n8. Als Beispiele reiner Lust- und Unlustformen k\u00f6nnen wohl die an die Empfindungen des allgemeinen Sinnes sowie die an Geruchs- und Geschmackseindr\u00fccke gebundenen Gef\u00fchle angesehen werden. Bei einer Schmerzempfindung z. B. nehmen wir ein Unlustgef\u00fchl in der Regel ohne jede Beimischung einer der andern Gef\u00fchlsformen wahr. Erregende und niederdr\u00fcckende Gef\u00fchle lassen sich in Verbindung mit reinen Empfindungen besonders hei Farben- und Klangeindr\u00fccken beobachten: so wirkt z. B. die rothe Farbe erregend, die blaue beruhigend. Spannende und l\u00f6sende Gef\u00fchle endlich sind durchweg an den zeitlichen Verlauf der Vorg\u00e4nge gebunden : so ist z. B. hei der Erwartung eines Sinneseindrucks ein Gef\u00fchl der Spannung, bei dem Eintritt eines erwarteten Ereignisses ein Gef\u00fchl der L\u00f6sung zu bemerken. Dabei kann allerdings sowohl die Erwartung wie ihre Erf\u00fcllung zugleich vom Gef\u00fchl der Erregung, oder sie k\u00f6nnen auch je nach besonderen Bedingungen von Lust-","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 7. Die einfachen Gef\u00fchle.\n99\noder Unlustgef\u00fchlen begleitet sein; aber diese andern Gef\u00fchle k\u00f6nnen auch ganz fehlen, wo sich dann die Span-nungs- und L\u00f6sungsgef\u00fchle ebenso wie die vorhin genannten Hauptrichtungen als eigenartige Formen zu erkennen geben, die nicht auf andere zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen. Dagegen ist eine solche Zerlegung bei sehr vielen Gef\u00fchlen m\u00f6glich, die in ihrer Qualit\u00e4t trotzdem ebensogut wie die bisher erw\u00e4hnten den Charakter einfacher Gef\u00fchle besitzen. So lassen sich die Gef\u00fchle des Ernstes und der Heiterkeit, wie sie z. B. an die sinnlichen Eindr\u00fccke tiefer und hoher T\u00f6ne, dunkler und heller Farben gekn\u00fcpft sind, als eigen-th\u00fcmliche Qualit\u00e4ten auffassen, die sowohl in der Hauptrichtung der Lust und Unlust wie in derjenigen der excitirenden und deprimirenden Gef\u00fchle jenseits der Indifferenzzone liegen. Nur muss man sich dabei wiederum gegenw\u00e4rtig halten, dass Lust und Unlust, Erregung und Ruhe nicht singul\u00e4re Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten sondern Gef\u00fchlsrichtungen bezeichnen, innerhalb deren unendlich viele einfache Qualit\u00e4ten Vorkommen, so dass z. B. das Unlustgef\u00fchl des Ernstes nicht nur von dem des schmerzerregenden Tastreizes, der Dissonanz u. s. w. verschieden ist, sondern dass der Ernst selbst in verschiedenen F\u00e4llen in seiner Qualit\u00e4t wieder variiren kann. Ferner verbinden sich die Richtungen der Lust und Unlust mit denen der Spannung und L\u00f6sung bei den rhythmischen Gef\u00fchlen, wo die regelm\u00e4\u00dfige Folge von Spannung und L\u00f6sung mit Lust, die St\u00f6rung dieser Regelm\u00e4\u00dfigkeit aber mit Unlust, wie bei der Entt\u00e4uschung, der Ueberrascliung, verbunden ist, w\u00e4hrend au\u00dferdem noch in beiden F\u00e4llen je nach Umst\u00e4nden das Gef\u00fchl einen erregenden oder beruhigenden Charakter besitzen kann.\n9. Diese Beispiele legen die Annahme nahe, dass die drei Hauptrichtungen der einfachen Gef\u00fchle von den Be-","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\tI. Die psychischen Elemente.\nZiehungen abh\u00e4ngen, in denen ein einzelnes Gef\u00fchl zu dem Verlauf der psychischen Vorg\u00e4nge steht. Innerhalb dieses Verlaufs wird n\u00e4mlich jedes Gef\u00fchl im allgemeinen eine dreifache Bedeutung haben, insofern es: 1) eine bestimmte Modification des momentan gegenw\u00e4rtigen Zustandes bedeutet : diese Modification wird durch die Hauptrichtung der Lust- und Unlustgef\u00fchle bezeichnet: 2) einen bestimmten Einfluss auf den nach folgen den Zustand aus\u00fcbt: dieser Einfluss l\u00e4sst sich nach seinen Hauptgegens\u00e4tzen als Erregung und Hemmung (Beruhigung) unterscheiden; 3) in seiner Eigenart durch den y or ausgehenden Zustand bestimmt ist: die Wirkung des letzteren macht sich in einem gegebenen Gef\u00fchl in den Formen der Spannung und L\u00f6sung geltend. Diese Bedingungen machen es zugleich wahrscheinlich, dass andere Hauptrichtungen der Gef\u00fchle nicht existiren.\n9a. Unter den genannten drei Hauptrichtungen der Gef\u00fchle hat in der Regel nur die der Lust und Unlust Beachtung gefunden, die \u00fcbrigen rechnete man den Affecten zu. Da aber die Affecte, wie wir in \u00a7 13 sehen werden, aus Verbindungen von Gef\u00fchlen entspringen, so ist es klar, dass die Grundformen der Affecte schon in den Gef\u00fchlselementen vorgebildet sein m\u00fcssen. Manche Psychologen haben dann au\u00dferdem die Lust und die Unlust nicht als Collectivbegriffe f\u00fcr eine gro\u00dfe Mannigfaltigkeit einzelner Gef\u00fchle, sondern f\u00fcr v\u00f6llig uniforme concrete Zust\u00e4nde angesehen, so dass z. B. die Unlust des Zahnschmerzes, eines intellectuellen Misserfolgs, eines tragischen Erlebnisses u. s. w. alle ihrem Gef\u00fchlsinhalte nach identisch sein sollten. Noch andere suchten die Gef\u00fchle mit speciellen Empfindungen, namentlich mit Haut- oder Muskelempfindungen zu identificiren. Solche v\u00f6llig haltlose Behauptungen bed\u00fcrfen keiner Kritik. Sie werfen aber auf den unsichern Zustand, in welchem sich die Gef\u00fchlslehre zum Theil noch heute befindet, ein bezeichnendes Licht.","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 7. Die einfachen Gef\u00fchle.\n101\n10. Man hat sich die Frage vorgelegt, ob den einfachen Gef\u00fchlen in \u00e4hnlicher Weise wie den Empfindungen bestimmte physiologische Processe entspr\u00e4chen. W\u00e4hrend die \u00e4ltere Psychologie geneigt war, diese Frage zu verneinen und das Gef\u00fchl als einen innerlichen, rein psychischen Zustand den von au\u00dfen angeregten Empfindungen gegen\u00fcberzustellen, hat man sie in neuerer Zeit in der Regel bejahend beantwortet, ohne sich dabei freilich meist auf zureichende empirische Beweise st\u00fctzen zu k\u00f6nnen.\nSelbstverst\u00e4ndlich m\u00fcssen nun unsere Annahmen \u00fcber die physiologischen Begleiterscheinungen der Gef\u00fchle genau so von den wirklich nachweisbaren physiologischen Vorg\u00e4ngen geleitet werden, wie die Annahmen \u00fcber die physiologischen Grundlagen der Empfindungen von den Aufschl\u00fcssen \u00fcber die Structur und Function der Sinnesorgane. Bei der Aufsuchung solcher Vorg\u00e4nge wird man aber dieselben in Anbetracht der subjectiven Natur der Gef\u00fchle von vornherein nicht, wie bei den Empfindungen, in Processen zu suchen haben, die direct durch \u00e4u\u00dfere Einwirkungen in dem Organismus hervorgerufen werden, sondern vielmehr in solchen, die als R\u00fcckwirkungen der direct angeregten Processe entstehen. Auch weist uns die Beobachtung der aus Gef\u00fchlselementen zusammengesetzten Gebilde, der Affecte und Willensvorg\u00e4nge, als deren deutlich wahrnehmbare physiologische Begleiterscheinungen uns stets \u00e4u\u00dfere K\u00f6rperbewegungen oder Ver\u00e4nderungen im Zustand der \u00e4u\u00dferen Bewegungsorgane entgegentreten, auf diesen Weg hin.\nW\u00e4hrend die Analyse der Empfindungen und der aus ihnen hervorgehenden psychischen Gebilde auf die directe Anwendung der Eindrucksmethode angewiesen ist, kann sich daher die Untersuchung der einfachen Gef\u00fchle und der aus ihnen zusammengesetzten Vorg\u00e4nge nur in indirecter Weise dieser Methode bedienen. Dagegen eignet sich die","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nI. Die psychischen Elemente.\nAusdrucksmethode, d. h. die Erforschung der physiologischen R\u00fcckwirkungen psychischer Vorg\u00e4nge, speciell zur Untersuchung der Gef\u00fchle und der aus ihnen zusammengesetzten Processe, weil, wie die Erfahrung zeigt, solche Wirkungen regelm\u00e4\u00dfige Symptome der Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge sind. In diesem Sinne k\u00f6nnen als H\u00fclfsmittel der Ausdrucksmethode alle die Erscheinungen verwendet werden, in denen sich die innern Zust\u00e4nde des Organismus \u00e4u\u00dferlich zu erkennen gehen. Insbesondere geh\u00f6ren hierher neben den Bewegungszust\u00e4nden der \u00e4u\u00dferen Sceletmuskeln die Athmungs- und Herzbewegungen, die Contractionen und Erweiterungen der Blutgef\u00e4\u00dfe einzelner K\u00f6rpertlieile, die Erweiterung und Verengerung der Pupille u. \u00e4hnl. Das empfindlichste dieser Symptome ist die Herzbewegung, von welcher der an einer peripheren Arterie untersuchte Puls ein getreues Bild gibt. Bei den einfachen Gef\u00fchlen versagen im allgemeinen alle andern Erscheinungen; nur bei gro\u00dfer Intensit\u00e4t derselben, bei der sie freilich stets zugleich in Affecte \u00fcbergehen, treten noch andere Symptome, namentlich Ver\u00e4nderungen der Athmung und mimische Ausdrucksbewegungen, hinzu.\n11. Unter den oben erw\u00e4hnten Hauptrichtungen der Gef\u00fchle sind es besonders die der Lust und Unlust, f\u00fcr die eine regelm\u00e4\u00dfige Beziehung zu den Pulsbewegungen nachgewiesen ist. Sie besteht in einer Verlangsamung und Verst\u00e4rkung des Pulses bei Lust-, in einer Beschleunigung und Schw\u00e4chung desselben bei Unlustgef\u00fchlen. F\u00fcr die andern Hauptrichtungen lassen sich die eintretenden Aenderungen nur aus den R\u00fcckwirkungen der entsprechenden Affecte (\u00a7 13, 5) mit einiger Wahrscheinlichkeit erschlie\u00dfen. Hiernach scheinen sich die erregenden Gef\u00fchle blo\u00df durch st\u00e4rkere, die beruhigenden durch schw\u00e4chere Pulsbewegungen, ohne gleichzeitige Geschwindigkeits\u00e4nderung, die spannenden Gef\u00fchle dagegen durch verlangsamten und geschw\u00e4chten Puls,","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 7. Die einfachen Gef\u00fchle.\n103\ndie l\u00f6senden durch beschleunigten und verst\u00e4rkten Puls zu verrathen. Da die meisten Einzelgef\u00fchle gleichzeitig mehreren Hauptrichtungen angeh\u00f6ren, so wird aber in vielen F\u00e4llen die Pulswirkung eine verwickelte, und es l\u00e4sst sich daher im allgemeinen h\u00f6chstens auf das Uebergewicht der einen oder andern Hauptrichtung des Gef\u00fchls zur\u00fcckschlie\u00dfen; doch auch dieser Schluss bleibt unsicher, so lange er nicht durch das unmittelbar beobachtete Gef\u00fchl best\u00e4tigt wird.\n11a. Die aus den seitherigen Untersuchungen der Gef\u00fchlsund Affectsymptome des Pulses wahrscheinlich werdenden Beziehungen lassen sich demnach durch das folgende Schema darstellen :\nPuls\nstark\nschwach\nverlangsamt\nbeschleunigt verlangsamt\n! 1\nbeschleunigt\nLust Erregung L\u00f6sung Spannung Beruhigung Unlust\nHiernach w\u00fcrden sich Erregung und Beruhigung durch einfache, Lust und Unlust, L\u00f6sung und Spannung aber durch doppelte Pulssymptome verrathen. \u00fcebrigens bedarf dies zumeist aus eomplicirten Affeetwirkungen abstrahirte Schema der Best\u00e4tigung durch Versuche, bei denen auf Isolirung der Hauptrichtungen des Gef\u00fchls Bedacht genommen ist. Ebenso harren die Aenderungen der Athembewegungen, der Muskelspannungen u. s. w. noch der n\u00e4heren Erforschung. Zugleich erhellt aus der Mehrdeutigkeit jedes einzelnen Symptoms, dass man zwar, wenn ein bestimmtes Gef\u00fchl in der psychologischen Beobachtung gegeben ist, aus den vorhandenen Symptomen auf bestimmte Innervationswirkungen, dass man aber niemals umgekehrt aus den physiologischen Symptomen auf das Vorhandensein bestimmter Gef\u00fchle schlie\u00dfen kann. Hieraus ergibt sich, dass es unzul\u00e4ssig ist, die Ausdrucks- der Eindrucksmethode in Bezug auf ihren psychologischen Werth gleichzuordnen. Zur willk\u00fcrlichen Erzeugung und Variirung psychischer Vorg\u00e4nge l\u00e4sst sich der Fatur der","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nI. Die psychischen Elemente.\nSache nach nur die Eindrucksmethode verwenden. Die Aus-dmcksmethode kann immer nur Ergebnisse liefern, die die physiologischen Begleiterscheinungen der Gef\u00fchle, nicht aber deren psychologische Natur aufzukl\u00e4ren im Stande sind.\nSpeciell die beobachteten Ver\u00e4nderungen des Pulses m\u00fcssen als Wirkungen einer ver\u00e4nderten Innervation des Herzens betrachtet werden, die von dessen Centren ausgeht. Nun weist die Physiologie nach, dass das Herz mit den Centralorganen durch ein doppeltes System in Verbindung steht: durch ein System von Erregungsnerven, die im sympathischen Nerven verlaufen und indirect aus dem verl\u00e4ngerten Mark stammen, und durch ein System von Hemmungsnerven, die im 10. Hirnnerven (Vagus) verlaufen und ebenfalls im verl\u00e4ngerten Mark ihren Ursprung nehmen. Die normale Regelm\u00e4\u00dfigkeit des Pulsschlags beruht auf einem gewissen Gleichgewicht zwischen erregenden und hemmenden Nerveneinfl\u00fcssen, f\u00fcr die au\u00dfer im Gehirn auch im Herzen selbst in den Ganglien desselben Centren vorhanden sind. Jede Zunahme und jede Abnahme der Herzenergie l\u00e4sst daher im allgemeinen eine doppelte Deutung zu: jene kann von Zunahme der Erregungs- oder Abnahme der Hemmungsinnervation, diese von Abnahme der Erregungs- oder Zunahme der Hemmungsinnervation herr\u00fchren, und in beiden F\u00e4llen k\u00f6nnen sich \u00fcberdies beide Einfl\u00fcsse verbinden. Ein \u00fcberall anwendbares H\u00fclfsmittel zur Unterscheidung dieser M\u00f6glichkeiten besitzen wir nicht; doch ergibt sich aus dem Umstand, dass die Reizung der Hemmungsnerven einen rascheren Erfolg hat als die der Erregungsnerven, in vielen F\u00e4llen eine gr\u00f6\u00dfere Wahrscheinlichkeit f\u00fcr die eine oder die andere Vermuthung. Nun folgen die Gef\u00fchlssymptome des Pulses durchweg sehr schnell den verursachenden Empfindungen. Daraus kann man mit Wahrscheinlichkeit schlie\u00dfen, dass es vorzugsweise die Ver\u00e4nderungen der vom Gehirn ausgehenden, im Vagus geleiteten Hemmungsinnervation sind, die wir bei den Gef\u00fchlen und Affecten beobachten. Hiernach ist wohl anzunehmen, dass der Gef\u00fchlsbetonung einer Empfindung physiologisch eine Ausbreitung der Reizungsvorg\u00e4nge von dem Sinnescentrum auf andere Centralgebiete entspricht, die mit den Urspr\u00fcngen der Hemmungsnerven des Herzens in Verbindung stehen. Welche Centralgebiete dies sind, wissen wir nicht. Aber der Umstand, dass f\u00fcr alle Elemente unserer psychologischen","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 7. Die einfachen Gef\u00fchle.\n105\nErfahrung die physiologischen Substrate h\u00f6chst wahrscheinlich der Gro\u00dfhirnrinde angeh\u00f6ren, legt diese Annahme auch f\u00fcr das Centralgebiet jener Hemmungsinnervation nahe, w\u00e4hrend \u00fcberdies die wesentlichen Unterschiede in den Eigenschaften der Gef\u00fchle von denen der Empfindungen es nicht wahrscheinlich machen, dass dasselbe mit den Sinneseentren selbst identisch sei. Nimmt man aber ein besonderes Rindengebiet als Mittelglied solcher Wirkungen an, so liegt kein Grund vor, zu jedem Sinnescentrum ein besonderes Uebertragungscentrum vorauszusetzen, sondern die v\u00f6llige Gleichf\u00f6rmigkeit der physiologischen Symptome spricht eher daf\u00fcr, dass es nur ein einziges solches Gebiet gebe, welches dann zugleich eine Art von centralem Verbindungsorgan zwischen den verschiedenen Sinneseentren sein m\u00fcsste. (Ueber die sonstige Bedeutung eines solchen Centralgebiets und seine wahrscheinliche anatomische Lage vgl. sp\u00e4ter \u00a7 15, 2 a.)","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"II. Die psychischen Gebilde.\n\u00a7 8. Begriff und Eintheilung der psychischen Gebilde.\n1. Unter einem \u00bbpsychischen Gebilde\u00ab verstehen wir jeden zusammengesetzten Bestandtheil unserer unmittelbaren Erfahrung, der durch bestimmte Merkmale von dem \u00fcbrigen Inhalte derselben derart sich abgrenzt, dass er als eine relativ selbst\u00e4ndige Einheit aufgefasst wird und, wo das praktische Bed\u00fcrfniss es fordert, mit einem besonderen Namen bezeichnet worden ist. Hierbei hat diese Namengebung die allgemein von der Sprache festgehaltene Hegel befolgt, dass sie sich auf die Bezeichnung der Classen und der haupts\u00e4chlichsten Gattungen beschr\u00e4nkt, denen die Erscheinungen subsumirt werden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend die Unterscheidung der concreten Gebilde selbst der unmittelbaren Anschauung \u00fcberlassen bleibt. So bezeichnen Ausdr\u00fccke wie Vorstellungen, Affecte, Willenshandlungen u. dgl. allgemeine Classen psychischer Gebilde, solche wie Gesichtsvorstellungen, Freude, Zorn, Hoffnung u. dgl. einzelne in jenen Classen enthaltene Gattungen. Insofern diese aus der praktischen Lebenserfahrung hervorgegangenen Bezeichungen auf thats\u00e4chlicli vorhandenen Unterscheidungsmerkmalen beruhen, werden sie auch von der Wissenschaft beibehalten werden k\u00f6nnen. Nur muss diese freilich zugleich ebensowohl von der Beschaffenheit jener Merkmale wie von dem eigenth\u00fcm-lichen Inhalt der einzelnen Hauptformen psychischer Gebilde Rechenschaft ablegen, um hierdurch den einzelnen Begriffen","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 8. Begriff und Einteilung der psychischen Gebilde. 107\neine exactere Bedeutung zu geben. Dabei sind von vornherein zwei Vorurtheile fern zu halten, zu denen jene urspr\u00fcnglichen Benennungen leicht verf\u00fchren : das eine besteht in der Ansicht, dass ein psychisches Gebilde ein absolut selbst\u00e4ndiger Inhalt unserer unmittelbaren Erfahrung sei ; das andere in der Meinung, dass gewissen Gebilden, wie z. B. den Vorstellungen, eine Art dinglicher Bealit\u00e4t zukomme. In Wahrheit haben die Gebilde nur die Bedeutung relativ selbst\u00e4ndiger Einheiten, die, wie sie selbst aus mannigfachen Elementen zusammengesetzt sind, so unter einander in einem durchg\u00e4ngigen Zusammenh\u00e4nge stehen, in welchem sich zugleich fortw\u00e4hrend relativ einfachere zu zusammengesetzteren Gebilden verbinden k\u00f6nnen. Ferner sind die Gebilde ebenso wie die in ihnen enthaltenen psychischen Elemente niemals Objecte sondern Vorg\u00e4nge, die sich von einem Moment zum andern ver\u00e4ndern, und die daher nur vermittelst einer willk\u00fcrlichen Abstraction, die zum Behuf der Untersuchung mancher derselben freilich unerl\u00e4sslich ist, in einem beliebigen Moment fixirt gedacht werden k\u00f6nnen. (Vgl. \u00a7 2, S. 16.)\n2. Alle psychischen Gebilde sind in psychische Elemente, also in reine Empfindungen und in einfache Gef\u00fchle, zerlegbar. Hierbei verhalten sich aber diese Elemente, gem\u00e4\u00df den in \u00a7 7 er\u00f6rterten Eigenschaften der einfachen Gef\u00fchle, darin wesentlich abweichend, dass die bei einer solchen Zerlegung gewonnenen Empfindungselemente stets einem der fr\u00fcher betrachteten Empfindungssysteme angeh\u00f6ren, w\u00e4hrend sich als Gef\u00fchlselemente nicht nur solche ergeben, die den im Gebilde enthaltenen reinen Empfindungen corre-spondiren, sondern auch solche, die aus der Zusammensetzung der Elemente zu einem Gebilde \u00fcberhaupt erst hervorgehen. Darum bleiben die Qualit\u00e4tensysteme der Empfindung bei der Entwicklung der mannigfaltigsten Gebilde immer constant,","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nII. Die psychischen Gebilde.\nwogegen die Qualit\u00e4tensysteme einfacher Gef\u00fchle hei dieser Entwicklung fortw\u00e4hrend zunehmen. Mit dieser Eigenschaft h\u00e4ngt eine andere zusammen, die f\u00fcr die wirkliche Beschaffenheit der psychischen Vorg\u00e4nge \u00fcberaus charakteristisch ist. Die Eigenschaften der psychischen Gebilde werden niemals durch die Eigenschaften der psychischen Elemente ersch\u00f6pft, die in sie eingehen, sondern es treten zu denselben in Folge der Verbindung der Elemente immer neue Eigenschaften hinzu, die den Gebilden als solchen eigentli\u00fcmlich sind. So enth\u00e4lt eine Gesichtsvorstellung nicht blo\u00df die Eigenschaften der Lichtempfindungen und allenfalls noch der Stellungs- und Bewegungsempfindungen des Auges, die in ihr enthalten sind, sondern au\u00dferdem auch die Eigenschaften der r\u00e4umlichen Ordnung der Empfindungen, wovon letztere an und f\u00fcr sich nichts enthalten; oder ein Willensvorgang besteht nicht blo\u00df aus den Vorstellungen und Gef\u00fchlen, in die sich die einzelnen Acte desselben zerlegen lassen, sondern es resultiren aus der Verbindung dieser Acte neue Gef\u00fchlselemente, die dem zusammengesetzten Willensvorgang specifisch eigenth\u00fcmlich sind. Hierbei verhalten sich aber die Verbindungen der Empfindungs- und die der Gef\u00fchlselemente wieder darin abweichend, dass bei den ersteren verm\u00f6ge der Constanz der Empfindungssysteme nicht neue Empfindungen, sondern eigenth\u00fcmliche Formen der Ordnung der Empfindungen entstehen: diese Formen sind die r\u00e4umlichen und die zeitlichen extensiven Mannigfaltigkeiten; bei den Verbindungen der Gef\u00fchlselemente bilden sich dagegen neue einfache Gef\u00fchle, die mit den urspr\u00fcnglichen vereinigt intensive Gef\u00fchlseinheiten von zusammengesetzter Beschaffenheit darstellen.\n3. Die Eintheilung der psychischen Gebilde richtet sich naturgem\u00e4\u00df nach den Elementen, aus denen sie bestehen.","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a78. Begriff und Eintheilung der psychischen Gebilde. 109\nGebilde, die entweder ganz oder vorzugsweise aus Empfindungen zusammengesetzt sind, bezeichnen wir als Vorstellungen; solche, die vorzugsweise aus Gef\u00fchlselementen bestehen, als Gem\u00fcthsbewegungen. Hierbei gelten aber f\u00fcr die Gebilde \u00e4hnliche Einschr\u00e4nkungen wie f\u00fcr die entsprechenden Elemente : sind sie auch mehr als diese aus der unmittelbaren Unterscheidung der realen psychischen Vorg\u00e4nge hervorgegangen, so gibt es doch einen reinen Vor-stellungsprocess im Grunde ebenso wenig wie eine reine Ge-m\u00fcthsbewegung, sondern wir k\u00f6nnen nur entweder dort von dieser oder hier in einem gewissen Grade von jenem abstra-hiren. Dabei stellt sich dann wieder zugleich ein \u00e4hnliches Verh\u00e4ltnis wie auch bei den Elementen heraus, indem man zwar bei den Vorstellungen die begleitenden subjectiven Zust\u00e4nde au\u00dfer Betracht lassen kann, w\u00e4hrend dagegen die Gem\u00fcthsbewegungen immer irgend welche Vorstellungen voraussetzen. Doch k\u00f6nnen diese Vorstellungen bei den einzelnen Gattungen und Arten der Gem\u00fcthsbewegungen von sehr mannigfaltiger Art sein.\nHiernach unterscheiden wir zun\u00e4chst drei Hauptformen von Vorstellungen: 1) intensive Vorstellungen, 2) r\u00e4umliche Vorstellungen, und 3) zeitliche Vorstellungen; ebenso drei Formen von Gem\u00fcthsbewegungen: 1) intensive Gef\u00fchlsverbindungen, 2) Affecte, und 3) Willensvorg\u00e4nge. Dabei bilden die zeitlichen Vorstellungen insofern Uebergangs-glieder zwischen beiden Grundformen, als bei ihrer Entstehung bestimmte Gef\u00fchle eine wesentliche Bolle spielen.\n\u00a7 9. Die intensiven Vorstellungen.\n1. Eine intensive Vorstellung nennen wir eine Verbindung von Empfindungen, in der jedes Element an irgend ein zweites genau in derselben Weise wie an jedes beliebige","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nII. Die psychischen Gebilde.\nandere Element gebunden ist. In diesem Sinne ist z. B. der Zusammenklang der T\u00f6ne dfa eine intensive Vorstellung. In der unmittelbaren Auffassung sind die Einzelverbindungen, in die sich dieser Zusammenklang zerlegen l\u00e4sst, in welcher Ordnung man sich dieselben auch denken mag, wie df. d a, f d, f a, a d, aj, einander vollkommen gleichwerthig. Dies erhellt sofort, wenn wir den Zusammenklang mit irgend einer Aufeinanderfolge der n\u00e4mlichen Tonempfindungen vergleichen, wo d f\\ d a, f d, f a u. s. w. wesentlich verschiedene Vorstellungen sind. Die intensiven Vorstellungen lassen sich daher auch als Verbindungen von Empfindungselementen in beliebig permutir-barer Ordnung definiren.\nIn Folge dieser Eigenschaft gibt es bei den intensiven Vorstellungen keine aus der Verbindungsweise der Empfindungen entspringenden Merkmale, mittelst deren sie sich in einzelne Theile zerlegen lassen, sondern eine solche Zerlegung ist hier immer nur auf Grund der Verschiedenheit der constituirenden Empfindungen selbst m\u00f6glich. So unterscheiden wir die Elemente des Zusammenklangs d f a nur deshalb, weil wir in diesem die qualitativ verschiedenen T\u00f6ne d, f und a h\u00f6ren. Dagegen sind diese einzelnen Elemente innerhalb der einheitlichen Vorstellung des Ganzen weniger deutlich unterscheidbar als in ihrem isolirten Zustande. Dies Zur\u00fccktreten der Elemente gegen\u00fcber dem Eindruck des Ganzen, dem bei allen Formen der Vorstellungsverbin-dungen eine gro\u00dfe Bedeutung zukommt, bezeichnen wir als Verschmelzung der Empfindungen und speciell bei den intensiven Vorstellungen als intensive Verschmelzung. Ist die Verbindung eines Elementes mit andern eine so innige, dass es nur durch eine ungew\u00f6hnliche Richtung der Aufmerksamkeit, unterst\u00fctzt durch die experimentelle Variation der Bedingungen, in dem Ganzen wahrnehmbar","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 9. Die intensiven Vorstellungen.\n111\nist, so nennen wir die Verschmelzung eine vollkommene; tritt dagegen das Element nur gegen\u00fcber dem Eindruck des Ganzen zur\u00fcck, w\u00e4hrend es doch in der ihm eigenen Qualit\u00e4t unmittelbar erkennbar bleibt, so nennen wir sie eine unvollkommene. Treten endlich bestimmte Elemente mehr als andere in der ihnen eigentb\u00fcmlichen Qualit\u00e4t hervor, so nennen wir diese die herrschenden Elemente. Der Begriff der Verschmelzung in dem hier definirten Sinne ist hiernach ein psychologischer Begriff: er setzt voraus, dass die verschmelzenden Elemente in der Vorstellung wirklich subjectiv nachweisbar sind; er darf daher selbstverst\u00e4ndlich nicht mit dem ganz heterogenen und rein physiologischen der Verschmelzung \u00e4u\u00dferer Eindr\u00fccke zu einem resultirenden Reizungsvorgange vermengt werden. Wenn sich z. B. Complement\u00e4rfarben zu Wei\u00df verbinden, so ist das nat\u00fcrlich keine psychologische Verschmelzung.\nIn der Wirklichkeit gehen alle intensiven Vorstellungen immer zugleich gewisse r\u00e4umliche und zeitliche Verbindungen ei*1. So ist uns z. B. ein Zusammenklang stets als ein in der Zeit dauernder Vorgang gegeben, den wir zugleich, wenn auch h\u00e4ufig nur unbestimmt, auf irgend eine Richtung im Raum beziehen. Aber da diese zeitlichen und r\u00e4umlichen Eigenschaften bei gleicher intensiver Beschaffenheit der Vorstellungen beliebig wechseln k\u00f6nnen, so ab-strahirt man von ihnen bei der Untersuchung der intensiven Eigenschaften der Vorstellungen.\n2. Bei den Vorstellungen des allgemeinen Sinnes kommen intensive Verschmelzungen als Verbindungen von Druck- mit W\u00e4rme- oder K\u00e4lteempfindungen, von Druckoder Temperatur- mit Schmerzempfindungen vor. Diese Verschmelzungen sind durchweg unvollkommene, und manchmal tritt nicht einmal ein herrschendes Element entschieden","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nII. Die psychischen Gebilde.\nvor den andern liervor. Inniger sind die Verbindungen gewisser Geruchs- und Geschmacksempfindungen, die hier offenbar subjectiv durch die r\u00e4umliche N\u00e4he der Sinnesorgane, objectiv durch die regelm\u00e4\u00dfige Verbindung bestimmter Reizeinwirkungen auf beide Sinne beg\u00fcnstigt werden. Uabei pflegen die intensiveren Empfindungen die herrschenden Elemente zu sein; und wo diese Rolle den Geschmacksempfindungen zuf\u00e4llt, da wird meist der zusammengesetzte Eindruck ganz als eine Geschmacksqualit\u00e4t aufgefasst, daher die meisten im gew\u00f6hnlichen Leben sogenannten \u00bbGesclim\u00e4cke\u00ab in Wirklichkeit Verbindungen von Geschm\u00e4cken und Ger\u00fcchen sind.\nIn der reichsten Mannigfaltigkeit bietet aber der Geh\u00f6rssinn intensive Vorstellungen von allen m\u00f6glichen Abstufungen der Zusammensetzung dar. Die relativ einfachsten unter ihnen, die den einfachen T\u00f6nen am n\u00e4chsten stehen, sind die Einzelkl\u00e4nge. Verwickeltere Formen derselben bilden die Zusammenkl\u00e4nge, aus denen unter gewissen Bedingungen und unter gleichzeitiger Verbindung mit einfachen Ger\u00e4usch empfindungen die zusammengesetzten Ger\u00e4usche hervorgehen.\n3. Der Einzelklang ist eine intensive Vorstellung, die aus einer Reihe regelm\u00e4\u00dfig in ihrer Qualit\u00e4t abgestufter Tonempfindungen besteht. Diese Elemente, die Theilt\u00f6ne des Klangs, bilden eine vollkommene Verschmelzung, aus welcher die Empfindung des tiefsten Theiltones als das herrschende Element hervortritt. Nach ihm, dem Hauptton, wird der Klang selbst in Bezug auf seine Tonh\u00f6he bestimmt. Die \u00fcbrigen Elemente werden als h\u00f6here T\u00f6ne die Ob er t\u00f6ne genannt. Sie werden alle zusammen als ein zweites zu dem herrschenden Element hinzutretendes Bestimmungsst\u00fcck des Klangs, die Klangfarbe, aufgefasst. Alle die Klangfarbe bestimmenden Theilt\u00f6ne befinden sich","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 9. Die intensiven Vorstellungen.\n113\nauf der Tonlinie in bestimmten regelm\u00e4\u00dfigen Abst\u00e4nden vom Hauptton. Die vollst\u00e4ndige Reihe der m\u00f6glichen Obert\u00f6ne eines Klangs wird n\u00e4mlich gebildet durch die I. Octave des Haupttons, deren Quinte, die 2. Octave des Haupttons, deren gro\u00dfe Terz und Quinte u. s. w. Diese Reihe entspricht folgenden Verh\u00e4ltnissen der Schwingungs-zahlen der objeetiven Ton wellen:\n1 (Haupton), 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 ... . (Obert\u00f6ne).\nBei constant bleibender H\u00f6he des Haupttons kann nun das zweite Bestimmungsst\u00fcck der Klangqualit\u00e4t, die Klangfarbe, nach der Anzahl, Lage und relativen St\u00e4rke der Obert\u00f6ne variiren. Auf diese Weise erkl\u00e4rt sich die ungeheure Mannigfaltigkeit der Klangf\u00e4rbungen musikalischer Instrumente; ebenso, dass sich bei allen Instrumenten die Klangfarbe etwas mit der Tonh\u00f6he \u00e4ndert, indem bei tiefen T\u00f6nen die Obert\u00f6ne relativ stark, bei hohen T\u00f6nen schwach zu sein pflegen und endlich, wenn Sie jenseits der Grenze h\u00f6rbarer T\u00f6ne liegen, ganz verschwinden. Aber auch die leiseren individuellen Verschiedenheiten der Klangf\u00e4rbung von Instrumenten derselben Art erkl\u00e4ren sich aus den n\u00e4mlichen Verh\u00e4ltnissen.\nPsychologisch besteht hiernach die Hauptbedingung zur Entstehung eines Einzelklangs darin, dass eine Verschmelzung von Tonempfindungen mit nur einem herrschenden Element gegeben sei, und dass die Verschmelzung eine vollkommene oder mindestens nahezu vollkommene sei. In der Regel unterscheidet man in dem Einzelklang die Obert\u00f6ne nicht unmittelbar mit unbewaffnetem Ohr; man kann sie aber durch Resonanzverst\u00e4rkung (durch H\u00f6rrohre, die auf den gesuchten Oberton abgestimmt sind) wahrnehmbar machen, und nachdem man sie einmal auf diesem experimentellen Wege isolirt hat, k\u00f6nnen die st\u00e4rkeren Obert\u00f6ne\nWundt, Psychologie.\t8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"111\nII. Die psychischen Gebilde.\nauch ohne solche H\u00fclfsmittel aus dem Klang successiv herausgeh\u00f6rt werden, wenn man die Aufmerksamkeit auf sie richtet.\n4. Die Bedingungen, unter denen blo\u00df ein herrschendes Element in einer Tonverbindung enthalten ist, bestehen nun: 1) in der relativ gr\u00f6\u00dferen Intensit\u00e4t desselben, 2) in seinem qualitativen Verh\u00e4ltniss zu den andern Theilt\u00f6nen: der,Hauptton muss der Gr\u00fcndton einer Tonreihe sein, deren Glieder s\u00e4mmtlich zu einander harmonische T\u00f6ne sind; 3) in der v\u00f6llig gleichf\u00f6rmigen Coincidenz der verschiedenen Theilt\u00f6ne: diese Coincidenz ist objectiv durch die Einheit der Klangquelle gew\u00e4hrleistet (dadurch also, dass der Klang durch die Schwingungen nur einer Saite, einer Zungenpfeife u. s. w. verursacht wird). Sie bewirkt es, dass die objectiven Schwingungen der Theilt\u00f6ne immer in dem n\u00e4mlichen Phasenverh\u00e4ltniss zu einander stehen, was bei der Verbindung der Kl\u00e4nge mehrerer Klangquellen nicht zu verwirklichen ist. Von diesen Bedingungen, von denen sich die beiden ersten auf die Elemente, die dritte auf die Form der Verbindung beziehen, kann die erste am ehesten hinwegfallen, ohne die Vorstellung des Einzelklangs zu st\u00f6ren. Ist dagegen die zweite nicht erf\u00fcllt, so geht entweder, wenn der herrschende Grundton fehlt, die Verbindung in einen Zusammenklang, oder, wenn die Tonreihe keine harmonische ist, in ein Ger\u00e4usch \u00fcber; oder es bildet sich, falls sich beide Ursachen vermischen, eine Zwischenform zwischen Klang und Ger\u00e4usch. Ist die dritte Bedingung, die Constanz des Phasenverh\u00e4ltnisses der Theilt\u00f6ne, nicht erf\u00fcllt, so geht ebenfalls der Einzelklang in einen Zusammenklang \u00fcber, auch wenn die beiden ersten Bedingungen vollkommen gewahrt sind. Eine Reihe einfacher Stimmgabelkl\u00e4nge, die nach ihren intensiven und qualitativen Tonverh\u00e4ltnissen einen Einzelklang bilden m\u00fcss-","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 9. Die intensiven Vorstellungen.\n115\nten, erweckt daher in Wirklichkeit immer die Vorstellung eines Zusammenklangs. >)\n5. Der Zusammenklang ist eine intensive Verbindung von Einzelkl\u00e4ngen. Er ist demnach im allgemeinen eine unvollkommene Verschmelzung, in der mehrere herrschende Elemente enthalten sind. Dabei finden sich aber in der Kegel in einem Zusammenklang alle m\u00f6glichen Grade der Verschmelzung vor, namentlich wenn derselbe aus Einzelkl\u00e4ngen von zusammengesetzter Qualit\u00e4t besteht. Es bildet dann n\u00e4mlich nicht nur jeder Einzelklang f\u00fcr sich ein vollst\u00e4ndiges Verschmelzungsgebilde, sondern es verschmelzen auch wieder die durch ihre Hauptt\u00f6ne qualitativ bestimmten Bestandtheile um so vollkommener, je mehr sie sich dem Verh\u00e4ltniss der Elemente eines Einzelklangs n\u00e4hern. Darum pflegen bei einem Zusammenklang aus obertonreichen Kl\u00e4ngen diejenigen Einzelkl\u00e4nge, deren Hauptt\u00f6ne den Obert\u00f6nen eines ebenfalls in dem Zusammenklang enthaltenen Klangs entsprechen, mit diesem viel vollkommener als mit andern Klangbestandtheilen zu verschmelzen, und die letzteren verschmelzen wieder um so mehr, je n\u00e4her ihr Verh\u00e4ltniss dem der Anfangsglieder einer Obertonreihe kommt. So bilden\n1) Dies verh\u00e4lt sieh anders, wenn in dem Grundton seihst schon die Obert\u00f6ne in merklichem Grade enthalten sind, die sich in dem Zusammenklang als selbst\u00e4ndige Kl\u00e4nge wiederholen : dann setzen sich n\u00e4mlich die Einzelkl\u00e4nge einer solchen R\u00dfihe in ein \u00fcbereinstimmendes Phasenverh\u00e4ltniss, und der Zusammenklang beh\u00e4lt den Charakter eines sehr obertonstarken Einzelklangs. Helmholtz schloss aus Versuchen, bei denen er einfache Stimmgabelkl\u00e4nge in verschiedenerWeise combinirte, dass die Phasendifferenz keinen Einfluss auf die Klangf\u00e4rbung besitze. Aber da sich auf dem von ihm eingeschlagenen Wege niemals die Vorstellung eines Einzelklangs erzeugen l\u00e4sst, so ist es wahrscheinlich, dass auf demselben auch niemals ein vollkommen constantes Phasenverh\u00e4ltniss zwischen den Tonschwingungen unabh\u00e4ngiger Klangquellen hergestellt wird. F\u00fcr den Einfluss der durch das Phasenverh\u00e4ltniss bestimmten Klangform auf die Klangf\u00e4rbung sprechen \u00fcberdies directe Versuche von R. Koenig.\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\tII- Hie psychischen Gebilde.\nin dem Vierklang c e g c\u2019 die Kl\u00e4nge c und c eine nahezu vollkommene, die Kl\u00e4nge c und g, c und e aber unvollkommene Verschmelzungen; noch unvollkommener als hei diesen ist endlich die Verschmelzung der Kl\u00e4nge c und es. Ein Ma\u00df f\u00fcr den Grad der Verschmelzung erh\u00e4lt man in allen diesen F\u00e4llen, wenn man w\u00e4hrend einer gegebenen sehr kurzen Zeit einen Zusammenklang einwirken und den Beobachter entscheiden l\u00e4sst, oh er blo\u00df einen Klang oder mehrere Kl\u00e4nge wahrgenommen hat. Wird dieser Versuch \u00f6fter wiederholt, so ergibt die relative Anzahl der f\u00fcr die Einheit des Klangs abgegebenen Urtheile ein Ma\u00df f\u00fcr den Grad der Verschmelzung.\n6. Zu den in den Einzelkl\u00e4ngen enthaltenen Elementen kommen in jedem Zusammenklang noch weitere hinzu, die aus der Superposition der Schwingungen innerhalb des Geh\u00f6rapparates entstehen und zu neuen, f\u00fcr die verschiedenen Arten der Zusammenkl\u00e4nge charakteristischen Tonempfindungen Anlass gehen, welche ebenfalls bald vollkommene, bald unvollkommene Verschmelzungen mit der urspr\u00fcnglichen Klangmasse bilden k\u00f6nnen. Diese Empfindungen sind die der Differenzt\u00f6ne. Sie entsprechen, wie ihr Name andeutet, der Differenz der Schwingungszahlen zweier prim\u00e4rer T\u00f6ne. Ihr Ursprung kann ein doppelter sein: entweder entstehen sie n\u00e4mlich durch die Interferenz der Schwingungen im \u00e4u\u00dfern Geh\u00f6rapparat, namentlich im Trommelfell und in den Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen (Helmholtz\u2019sche Combinationst\u00f6ne), oder sie entstehen durch die Interferenz der Schwingungen in den Geh\u00f6rnervenfasern (Koenig\u2019sche Sto\u00dft\u00f6ne). Die ersteren sind gem\u00e4\u00df ihrer Entstehung schwache T\u00f6ne, und namentlich bleiben sie stets relativ viel schw\u00e4cher als ihre Ursprungst\u00f6ne. Die letzteren sind dagegen im allgemeinen st\u00e4rkere T\u00f6ne, und sie k\u00f6nnen sogar ihre Ursprungst\u00f6ne an Intensit\u00e4t \u00fcbertreffen. Wahrscheinlich","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 9. Die intensiven Vorstellungen.\n117\nkommen die Difierenzt\u00f6ne erster Art nur bei harmonischen, die der zweiten Art kommen jedenfalls auch bei dissonanten Zusammenkl\u00e4ngen vor. Die Verschmelzung der Differenzt\u00f6ne mit den Hauptt\u00f6nen des Zusammenklangs ist wieder eine um so vollkommenere, je weniger intensiv sie sind, und je mehr sie sich mit den urspr\u00fcnglichen Klangelementen als harmonische T\u00f6ne in die einfache Tonreihe einfiigen. In Folge dieser Eigenschaften haben die Differenzt\u00f6ne eine \u00e4hnlich charakteristische Bedeutung f\u00fcr die Zusammenkl\u00e4nge wie die Obert\u00f6ne f\u00fcr die Einzelkl\u00e4nge. Sie sind aber von der Klang-farbung der Componenten des Zusammenklangs nahezu unabh\u00e4ngige, dagegen mit dem Verh\u00e4ltniss der Hauptt\u00f6ne des letzteren \u00e4u\u00dferst variable Elemente, woraus sich die relative Gleichf\u00f6rmigkeit in dem Charakter eines gegebenen Zusammenklangs bei wechselnder Klangfarbe der Einzelkl\u00e4nge erkl\u00e4rt.\n7. Der Zusammenklang kann durch alle m\u00f6glichen Zwischenstufen in die dritte Form intensiver Schallvorstellungen, in die des Ger\u00e4usches \u00fcbergehen. Wenn das Verh\u00e4ltniss zweier T\u00f6ne jenseits der Grenze der harmonischen Tonreihe liegt, und wenn zugleich die Differenz ihrer Schwingungszahlen eine gewisse Grenze, bei den h\u00f6hern T\u00f6nen etwa 60 Schwingungen, bei den tiefen 30 und weniger, nicht \u00fcberschreitet, so entstehen St\u00f6rungen des Zusammenklangs, die in ihrer Anzahl dem Unterschied der Schwingungszahlen der prim\u00e4ren T\u00f6ne entsprechen, und die in der abwechselnden Interferenz gleich und entgegengesetzt gerichteter Schwingungsphasen ihren Grund haben. Diese St\u00f6rungen bestehen entweder in Unterbrechungen der Klangempfindung, Schwebungen, oder, namentlich bei tiefen T\u00f6nen, in intermittirenden Empfindungen eines Differenztons, Tonst\u00f6\u00dfen. Ueberschreitet der Unterschied der Schwingungszahlen die oben angegebenen Grenzen, so klingen die T\u00f6ne zun\u00e4chst, indem die Intermissionen verschwinden,","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nII. Die psychischen Gebilde.\ncontinuirlich aber rauli, und dann, indem auch die Rauhigkeit verschwindet, rein dissonant. Die gew\u00f6hnliche Dissonanz setzt sich aus Schwebungen oder Rauhigkeiten des Zusammenklangs und reiner Dissonanz zusammen, wobei die ersteren auf wahrnehmbaren oder eben verschwindenden Intermissionen der Empfindung beruhen, die letztere aber in der g\u00e4nzlichen Aufhebung der durch vollkommene oder unvollkommene Tonverschmelzung bewirkten Klangeinheit oder Consonanz besteht, daher man dieses auf dem Verh\u00e4ltniss der reinen Tonqualit\u00e4ten beruhende Auseinanderfallen der T\u00f6ne auch als Bisonanz bezeichnen kann. H\u00e4ufen sich nun durch das Zusammenklingen einer gr\u00f6\u00dferen Anzahl auseinanderfallender Kl\u00e4nge die Momente der gew\u00f6hnlichen Dissonanz, Schwebungen, Tonst\u00f6\u00dfe, Rauhigkeiten und Bisonanzen, so wird aus dem Zusammenklang das Ger\u00e4usch. Dieses ist psychologisch dadurch gekennzeichnet, dass bei ihm die herrschenden Tonelemente v\u00f6llig verschwunden oder in die Reihe der den Gesammtcharakter der Vorstellung modificirenden Elemente zur\u00fcckgetreten sind. Bestimmend f\u00fcr die Auffassung des Ger\u00e4usches ist daher entweder, bei den kurz dauernden Ger\u00e4uschen, ausschlie\u00dflich die allgemeine Tonlage der an Intensit\u00e4t vorwaltenden Elemente, oder, bei den Dauerger\u00e4uschen, au\u00dferdem die Form der St\u00f6rung, wie sie aus der Schnelligkeit der Schwebungen, den begleitenden Tonst\u00f6\u00dfen u. s. w. hervorgeht.\nCharakteristische Beispiele der verschiedenen Ger\u00e4uschformen sind die menschlichen Sprachlaute, unter denen die Vokale Zwischenstufen zwischen Klang und Ger\u00e4usch mit vorwaltendem Klangcharakter, die Resonanzlaute Dauerger\u00e4usche , die eigentlichen Consonanten dagegen kurz dauernde Ger\u00e4usche sind. Bei der Fl\u00fcsterstimme gehen auch die Vokale in Ger\u00e4usche \u00fcber. Der Umstand, dass hierbei durchaus ihre Unterschiede erhalten bleiben, be-","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 9. Die intensiven Vorstellungen.\n119\nweist, dass die Charakteristik der Vokale im wesentlichen auf ihren Ger\u00e4uschelementen beruht. Bei allen Ger\u00e4uschen verbinden sich \u00fcbrigens wahrscheinlich mit den zahlreichen in sie eingehenden Tonelementen auch einfache Ger\u00e4uschempfindungen (S. 58), indem die aus den St\u00f6rungen der Tonwellen entspringenden unregelm\u00e4\u00dfigen Luftersch\u00fctterungen theils die durch solche erregbaren Elemente im Vorhof des Labyrinths, theils wohl auch direct die H\u00f6rnervenfasern erregen.\n7 a. Das Verst\u00e4ndnis der physiologischen Grundlagen der intensiven Geh\u00f6rs- und namentlich der Klangvorstellungen ist durch die von Helmholtz aufgestellte Resonanzhypothese (S. 61) wesentlich gef\u00f6rdert worden. Indem man annimmt, dass bestimmte Theile des Geh\u00f6rapparats derart abgestimmt seien, dass durch Tonwellen von einer gewissen Schwingungszahl immer nur die entsprechend abgestimmten Theile in Mitschwingungen versetzt werden, wird im allgemeinen jene analysirende F\u00e4higkeit des Geh\u00f6rssinns begreiflich gemacht, verm\u00f6ge deren wir nicht nur in einem Zusammenklang, sondern bis zu einem gewissen Grade selbst in einem Einzelklang die Tonelemente unterscheiden k\u00f6nnen. Aber die Kesonanzhypothese gibt nur \u00fcber die eine Seite der Tonverschmelzung, die Fortexistenz der einzelnen Empfindungen in dem intensiven Vorstellungsganzen, nicht \u00fcber die andere, die mehr oder weniger innige Verbindung der Elemente, physiologische Rechenschaft. Wenn man zu diesem Behufe einen imagin\u00e4ren \u00bbVerschmelzungsapparat\u00ab im Gehirn angenommen hat, so geh\u00f6rt dies zu jenen mehr sch\u00e4dlichen als n\u00fctzlichen Fic-tionen, bei denen man das Erkl\u00e4rungsbed\u00fcrfniss durch ein nichtssagendes Wort zu befriedigen sucht. Insofern die eine intensive Klangvorstellung erzeugenden Tonelemente in jener als reale Empfindungen enthalten sind und gleichwohl ihre Selbst\u00e4ndigkeit in dem Ganzen der Vorstellung mehr oder weniger aufgeben, ist die Ton Verschmelzung ein psychischer Vorgang, der daher auch eine psychologische Erkl\u00e4rung fordert. Insofern aber diese Verschmelzung unter verschiedenen objectiven Bedingungen, z. B. bei der Einwirkung der zusammengesetzten Schwingungen einer einzigen Klangquelle und bei derjenigen verschiedener Klangquellen, in sehr abweichender Weise vor sich geht, bed\u00fcrfen","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nII. Die psychischen Gebilde.\ndiese Unterschiede allerdings physikalischer und physiologischer Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnde. Der naheliegendste Versuch einer solchen Erkl\u00e4rung liegt nun in einer angemessenen Erg\u00e4nzung der Resonanzhypothese. Nimmt man an, dass neben den den Klang analysirenden Theilen des Geh\u00f6rorgans, dem Resonanzapparat, noch andere existiren, auf die die gesammte unzerlegte Klangmasse einwirkt, und die nach den S. 49 erw\u00e4hnten Beobachtungen an labyrinthlosen V\u00f6geln m\u00f6glicher Weise die in den Knochenkan\u00e4len des Labyrinths verlaufenden H\u00f6rnervenfasern selbst sein k\u00f6nnen, so ist damit f\u00fcr die abweichende Wirkung jener Bedingungen ein zureichendes physiologisches Substrat gegeben. Dazu kommt noch die Existenz der die prim\u00e4ren T\u00f6ne an Intensit\u00e4t zuweilen weit \u00fcbertreffenden Sto\u00dft\u00f6ne (S. 116), sowie die Beobachtung, dass sich die Intermissionen eines einzigen Tons bei zureichender Geschwindigkeit zu einer zweiten Tonempfindung verbinden k\u00f6nnen, That-sachen die eine Erg\u00e4nzung der Resonanzhypothese in \u00e4hnlichem Sinne zu fordern scheinen.\n\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n1. Von den intensiven unterscheiden sich die r\u00e4umlichen und zeitlichen Vorstellungen unmittelbar dadurch, dass ihre Theile nicht in beliebig vertauschbarer Weise, sondern in einer fest bestimmten Ordnung mit. einander verbunden sind, so dass, wenn diese Ordnung ver\u00e4ndert gedacht wird, die Vorstellung selbst sich ver\u00e4ndert. Vorstellungen mit solch fester Ordnung der Theile nennen wir allgemein extensive Vorstellungen.\nUnter den m\u00f6glichen Formen extensiver Vorstellungen zeichnen sich nun die r\u00e4umlichen wieder dadurch aus, dass die feste Ordnung der Theile eines r\u00e4umlichen Ge-bildes nur eine wechselseitige ist, dass sie sich also nicht auf das Verh\u00e4ltniss derselben zum vorstellenden Subject bezieht. Vielmehr kann dieses Verh\u00e4ltniss beliebig ver\u00e4ndert gedacht werden. Diese objective Unabh\u00e4ngigkeit der r\u00e4umlichen Vorstellungsgebilde von dem vorstellenden Subject","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n121\nbezeichnen wir als die Verschiebbarkeit und Drehbarkeit der Raumgebilde. Die Anzahl der Richtungen, in der solche Verschiebungen und Drehungen Vorkommen k\u00f6nnen, ist aber eine beschr\u00e4nkte, indem dieselben s\u00e4mmtlich auf drei Hauptabmessungen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, in deren jeder ein Fortschritt nach zwei einander entgegengesetzten Richtungen m\u00f6glich ist. Dieser Maximalzahl der Richtungen f\u00fcr die Verschiebungen und Drehungen der Raumgebilde entspricht die Anzahl der Richtungen, in denen die Theile jedes einzelnen Gebildes sowie die verschiedenen Gebilde zu einander geordnet sein k\u00f6nnen. Wir bezeichnen diese Eigenschaft als die dreidimensionale Beschaffenheit des Raumes. Eine einzelne r\u00e4umliche Vorstellung kann demnach auch als ein dreidimensionales Gebilde von fester wechselseitiger Orientirung seiner Theile, aber von beliebig ver\u00e4nderlicher Orientirung zum vorstellenden Subjecte deflnirt werden. Selbstverst\u00e4ndlich wird in dieser Definition von den in Wirklichkeit sehr h\u00e4ufigen Ver\u00e4nderungen in der Anordnung der Theile abstrahirt: wo sie Vorkommen, da wird dies eben als der Uebergang einer Vorstellung in eine andere aufgefasst. Ferner schlie\u00dft die dreidimensionale Ordnung der r\u00e4umlichen Vorstellungen zwei- und eindimensionale Ordnungen als Grenzf\u00e4lle ein, bei denen \u00fcbrigens, sobald man das Verh\u00e4ltniss des r\u00e4umlichen Gebildes zum vorstellenden Subject in Betracht zieht, die fehlenden Dimensionen stets mitgedacht werden m\u00fcssen.\n2. Dieses in Wirklichkeit in allen r\u00e4umlichen Vorstellungen zugleich gegebene Verh\u00e4ltniss zu dem vorstellenden Subjecte schlie\u00dft von vornherein die psychologische Forderung ein, dass die Ordnung der Elemente in einer solchen Vorstellung nicht eine urspr\u00fcngliche Eigenschaft der Elemente selbst, analog etwa der Intensit\u00e4t oder Qualit\u00e4t der","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nII. Die psychischen Gebilde.\nEmpfindungen, sein kann, sondern dass sie erst eine Folge des Zusammenseins der Empfindungen ist, die aus irgend welchen durch dieses Zusammensein neu entstehenden psychischen Bedingungen entspringt. Denn wollte man diese Forderung nicht zugestehen, so w\u00fcrde man gen\u00f6thigt sein, nicht etwa blo\u00df jeder einzelnen Empfindung eine r\u00e4umliche Qualit\u00e4t beizulegen, sondern man m\u00fcsste in jede r\u00e4umlich noch so beschr\u00e4nkte Empfindung sogleich die Vorstellung des ganzen dreidimensionalen Raumes in seiner Orientirung zum vorstellenden Subjecte mit aufnehmen. Dies w\u00fcrde aber zu der Annahme einer a priori allen einzelnen Empfindungen vorausgehenden Raumanschauung f\u00fchren, einer Annahme die nicht blo\u00df mit allen unsern Erfahrungen \u00fcber die Entstehungsbedingungen und die Entwicklung psychischer Gebilde \u00fcberhaupt, sondern speciell auch mit allen Erfahrungen \u00fcber die Einfl\u00fcsse, denen die r\u00e4umlichen Vorstellungsgebilde selbst unterworfen sind, im Widerspruch st\u00fcnde.\n3. Alle r\u00e4umlichen Vorstellungen bieten sich uns als Formen der Ordnung zweier Sinnesqualit\u00e4ten dar, der Tastempfindungen und der Lichtempfindungen, von denen aus dann erst secund\u00e4r, durch die Verbindung der entsprechenden Empfindungen mit Tast- oder Gesichtsvorstellungen, die Beziehung auf den Raum auch auf andere Empfindungen \u00fcbertragen werden kann. Bei dem Tast-und Gesichtssinn aber sind offenbar schon durch die fl\u00e4chenf\u00f6rmige Ausbreitung der peripheren Sinnesorgane und durch die Ausstattung dieser mit Bewegungsapparaten, die eine wechselnde Orientirung der Eindr\u00fccke zum vorstellenden Subjecte m\u00f6glich machen, g\u00fcnstige Bedingungen zu einer extensiven r\u00e4umlichen Ordnung der Empfindungen gegeben. Von beiden Sinnesgebieten ist das des Tastsinns wieder das urspr\u00fcnglichere, da es in der Entwicklungsreihe der","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n123\nOrganismen fr\u00fcher entsteht, und da uns \u00fcberdies hier die beim Gesichtssinn in weit feinerer Ausbildung gegebenen Organisationsverh\u00e4ltnisse noch roher, darum aber auch in mancher Beziehung deutlicher entgegentreten. Doch kommt dabei in Betracht, dass beim sehenden Menschen die r\u00e4umlichen Vorstellungen des Tastsinns in hohem Grade durch die des Gesichtssinns beeinflusst sind.\nA. Die r\u00e4umlichen Tastvorstellungen.\n4. Die einfachste f\u00fcr den Tastsinn m\u00f6gliche r\u00e4umliche Vorstellung, ist die eines einzelnen nahezu punktf\u00f6rmigen Eindrucks auf die Haut. Auch wenn ein solcher Eindruck bei abgewandtem Gesichtsorgan einwirkt, bildet sich eine bestimmte Vorstellung von dem Ort der Ber\u00fchrung. Diese Vorstellung, die man die Localisation des Keizes nennt, ist, wie die Selbstbeobachtung zeigt, beim sehenden Menschen in der Regel keine unmittelbare, was man erwarten m\u00fcsste, wenn das R\u00e4umliche eine der Empfindung urspr\u00fcnglich eigenth\u00fcmliche Eigenschaft w\u00e4re, sondern sie ist von einer hinzutretenden, wenn auch meist sehr dunkeln Gesichtsvorstellung der ber\u00fchrten K\u00f6rperstelle abh\u00e4ngig. Die Localisation ist daher in der N\u00e4he der Begrenzungslinien der Tastorgane, die sich im Gesichtsbild deutlicher auspr\u00e4gen, genauer als inmitten gleichf\u00f6rmig beschaffener Fl\u00e4chen. Die Erweckung einer Gesichtsvorstellung durch den Tasteindruck wird aber auch bei abgewandtem Sehorgan dadurch m\u00f6glich, dass jedem Punkt des Tastorgans eine eigenth\u00fcmliche qualitative F\u00e4rbung der Tastempfindung zukommt, die unabh\u00e4ngig von der Qualit\u00e4t des \u00e4u\u00dferen Eindrucks ist und wahrscheinlich von den von Punkt zu Punkt wechselnden und an zwei entfernten Stellen niemals v\u00f6llig \u00fcbereinstimmenden Structureigenthiimlichkeiten der Haut herr\u00fchrt.","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nII. Die psychischen Gebilde.\nDiese locale F\u00e4rbung kann man als das Local Zeichen der Empfindung bezeichnen. Dasselbe \u00e4ndert sich an den verschiedenen Hautstellen mit sehr verschiedener Geschwindigkeit : sehr schnell z. B. an der Zungenspitze, den Fingerspitzen, den Lippen, langsam an den gr\u00f6\u00dferen Fl\u00e4chen der Glieder und des Rumpfes. Ein Ma\u00df f\u00fcr die Schnelligkeit dieser Aenderung der Localzeichen kann man erhalten, wenn man zwei Eindr\u00fccke nahe bei einander auf eine Hautstelle ein wirken l\u00e4sst. So lange dann die Distanz der Eindr\u00fccke in der Region qualitativ ununterscheidbarer Localzeichen liegt, werden dieselben als ein einziger Eindruck wahrgenommen, w\u00e4hrend, sobald jene Grenze \u00fcberschritten wird, die Eindr\u00fccke r\u00e4umlich getrennt werden. Diese kleinste eben unterscheidbare Distanz zweier Eindr\u00fccke nennt man die Raumschwelle des Tastsinns. Sie variirt von 1 bis 2 mm (Zungen- und Fingerspitze) bis zu 68 mm (R\u00fccken, Oberarm, Oberschenkel). An den Stellen der Druckpunkte (S. 56) k\u00f6nnen \u00fcbrigens bei g\u00fcnstiger Anwendung der Reize auch noch kleinere Distanzen wahrgenommen werden. Ueber-dies ist die Raumschwelle von den Zust\u00e4nden des Tastorgans und von den Einfl\u00fcssen der Uebung abh\u00e4ngig. In Folge der ersteren ist sie z. B. bei Kindern, bei denen offenbar die die Localzeichen bedingenden Structurunterschiede in kleineren Entfernungen merklich werden, kleiner als bei Erwachsenen; in Folge der Uebung ist sie bei Blinden, namentlich an den von ihnen vorzugsweise zum Tasten benutzten Fingerspitzen, kleiner als bei Sehenden.\n5. Die Localisation der Tasteindr\u00fccke und mit ihr die r\u00e4umliche Ordnung einer Mehrheit solcher beruht, wie die oben geschilderte Mitwirkung der Gesichtsvorstellungen der betasteten K\u00f6rpertheile lehrt, beim sehenden Menschen weder auf einer urspr\u00fcnglichen Raumqualit\u00e4t der Ilaut-punkte noch auch auf einer prim\u00e4ren raumbildenden Function","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n125\ndes Tastorgans, sondern sie setzt die r\u00e4umlichen Vorstellungen des Gesichtssinns voraus, die aber nur dadurch wirksam werden k\u00f6nnen, dass den Theilen des Tastorgans selbst gewisse qualitative Eigenschaften, die Localzeichen, zukommen, welche die Gesichtsvorstellung des ber\u00fchrten Theils erwecken. Dabei liegt jedoch kein Grund vor, den Localzeichen eine unmittelbare Beziehung zum Raum zuzuschreiben; vielmehr k\u00f6nnen sie offenbar allen Anforderungen gen\u00fcgen, wenn sie lediglich die Eigenschaft qualitativer Signale besitzen, die das zugeh\u00f6rige Gesichtsbild hervor-rufen. Dieses aber ist ihnen durch h\u00e4ufige Verbindung zugeordnet. Dementsprechend wird die Sch\u00e4rfe der Localisation durch alle die Einfl\u00fcsse beg\u00fcnstigt, die einerseits die Deutlichkeit des Gesichtsbildes und anderseits die qualitativen Unterschiede der Localzeichen vergr\u00f6\u00dfern.\nDen Process der r\u00e4umlichen Vorstellungen werden wir daher in diesem Fall als eine Einordnung der Tastreize in bereits gegebene Gesichtsbilder in Folge der festen Verbindung dieser Bilder mit den qualitativen Localzeichen der Reize bezeichnen k\u00f6nnen. Hierbei kann (gem\u00e4\u00df \u00a7 9, S. 111) die Verbindung der Localzeichen mit den Gesichtsbildern der ihnen entsprechenden K\u00f6rperstellen als eine unvollkommene, aber sehr constante Verschmelzung betrachtet werden. Die Verschmelzung ist unvollkommen, weil sowohl das Gesichtsbild wie der Tasteindruck ihre Selbst\u00e4ndigkeit bewahren ; sie ist aber so constant, dass sie bei gleich bleibendem Zustand des Tastorgans unl\u00f6sbar erscheint, woraus sich auch die relative Sicherheit der Localisation erkl\u00e4rt. Die herrschenden Elemente dieser Verschmelzung sind die Tastempfindungen, hinter denen bei vielen Individuen die Gesichtsvorstellungen so zur\u00fccktreten, dass sie selbst bei gro\u00dfer Aufmerksamkeit nicht sicher wahnrenommen werden k\u00f6nnen. In solchen F\u00e4llen ist daher die r\u00e4umliche Auffassung vielleicht,","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nII. Die psychischen Gebilde.\nwie bei den Blinden, eine unmittelbare Function der Tast-und Bewegungsempfindungen (siehe unten 6). In der Regel zeigt aber die genauere Beobachtung, dass man sich von der Lage und Distanz der Eindr\u00fccke nur Rechenschaft geben kann, indem man sich das unbestimmte Gesichtsbild der ber\u00fchrten K\u00f6rperstelle deutlicher zu machen sucht.\n6. Diese f\u00fcr den Sehenden geltenden Bedingungen \u00e4ndern sich nun wesentlich beim Blinden und namentlich beim Blindgeborenen oder in fr\u00fchester Lebenszeit Erblindeten. Der Blinde bewahrt sich zwar noch sehr lange Zeit Erinnerungsbilder der ihm gel\u00e4ufigen Gesichtsobj ecte, und so bleiben bei ihm auch die r\u00e4umlichen Tastvorstellungen immer noch in einem gewissen Grade Producte einer Verschmelzung zwischen Tastempfindungen und Gesichtsbildern. Da ihm aber die H\u00fclfe einer fortan sich wiederholenden Erneuerung der Gesichts Vorstellungen abgeht, so zieht er zugleich in wachsendem Ma\u00dfe Bewegungen zu H\u00fclfe, indem er, von einem Tasteindruck zum andern \u00fcbergehend, in der in den Gelenken und Muskeln erzeugten Bewegungsempfindung (S. 54), die ein Ma\u00df der Gr\u00f6\u00dfe der ausgef\u00fchrten Bewegung ist, zugleich ein Ma\u00df gewinnt f\u00fcr die Distanz, in der sich die Tasteindr\u00fccke von einander befinden. Diese H\u00fclfe, bei dem Erblindeten zu den allm\u00e4hlich erblassenden Gesichtsbildern hinzutretend und sie theilweise ersetzend, ist aber f\u00fcr den Blindgeborenen von Anfang an die einzige, durch die er sich eine Vorstellung von den wechselseitigen Lage- und Entfernungsverh\u00e4ltnissen einzelner Eindr\u00fccke verschaffen kann. Demzufolge beobachtet man bei solchen Personen eine fortw\u00e4hrende Bewegung der Tastorgane, besonders der tastenden Finger, \u00fcber die Objecte hin, bei deren Auffassung ihnen \u00fcberdies die gesch\u00e4rfte Aufmerksamkeit auf die Tastempfindungen und die gr\u00f6\u00dfere Uebung in der Unterscheidung derselben zu statten kommen. Immerhin macht sich","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a710. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n127\ndie tiefere Entwickelungsstufe dieses Sinnes gegen\u00fcber dem Gesichtssinn darin geltend, dass die Auffassung stetig ausgedehnter Begrenzungslinien und Fl\u00e4chen hier viel unvollkommener ist als die nahehin punktf\u00f6rmiger Eindr\u00fccke in verschiedenen Anordnungen. Einen augenf\u00e4lligen Beleg hierf\u00fcr bildet die Thatsache, dass man sich bei der Blindenschrift gen\u00f6thigt gesehen hat, f\u00fcr die einzelnen Buchstaben k\u00fcnstliche Zeichen einzuf\u00fchren, die in verschiedenen Combinationen erhabener Punkte bestehen. So ist z. B. in der gew\u00f6hnlich gebrauchten 'Braille\u2019schen) Blindenschrift ein Punkt das Zeichen f\u00fcr A, 2 Punkte horizontal neben einander das f\u00fcr B, 2 Punkte vertical \u00fcber einander f\u00fcr C u. s. w. Mit 6 Punkten im Maximum reicht man f\u00fcr alle Buchstaben aus; dabei m\u00fcssen nur die Punkte so weit von einander entfernt sein, dass sie mit der Spitze des Zeigefingers noch als getrennt wahrgenommen werden k\u00f6nnen. F\u00fcr die Entwicklung der Raumvorstellungen des Blinden ist nun die Art, wie diese Schrift gelesen wird, bezeichnend. In der Regel werden dazu die beiden Zeigefinger der rechten und der linken Hand benutzt. Der rechte Finger geht voraus und fasst eine Gruppe von Punkten simultan auf (synthetisches Tasten), der linke Finger folgt etwas langsamer nach und fasst die einzelnen Punkte succesiv auf (analysirendes Tasten). Beide Eindr\u00fccke, der simultane und der successive, werden aber mit einander verbunden und auf das n\u00e4mliche Object bezogen. Dieses Verfahren zeigt deutlich, dass beim Blinden ebenso wenig wie beim Sehenden die r\u00e4umliche Unterscheidung der Tasteindr\u00fccke unmittelbar mit der Einwirkung derselben auf das Tastorgan gegeben ist, sondern dass hier die Bewegungen, mittelst deren der dem analysirenden Tasten dienende Finger die einzelnen Strecken durchl\u00e4uft, eine \u00e4hnliche Rolle spielen, wie sie bei dem Sehenden den begleitenden Gesichtsvorstellungen zukommt.","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"il. Die psychischen Gebilde.\n.128\nIn un kann eine Vorstellung von der Gr\u00f6\u00dfe und Richtung dieser Bewegungen wiederum nur dadurch entstehen, dass jede Bewegung von einer inneren Tastempfindung (S. 54, 0; begleitet ist. Die Annahme, dass diese innere Tastempfindung unmittelbar schon mit einer Vorstellung von dem bei der Bewegung zur\u00fcckgelegten Raume verbunden sei, w\u00fcrde aber im \u00e4u\u00dfersten Grade unwahrscheinlich sein; denn nicht nur w\u00fcrde das die Existenz einer dem Subject angeborenen Anschauung von dem umgebenden Raume und seiner eigenen Lage in demselben voraussetzen (S. 122), sondern es w\u00fcrde auch noch die besondere Annahme in sich schlie\u00dfen, die inneren Tastempfindungen, obgleich sonst in ihrer qualitativen Beschaffenheit und in den physiologischen Substraten ihrer Entstehung den \u00e4u\u00dferen gleichartig, unterschieden sich doch dadurch von diesen, dass bei ihnen mit der Empfindung stets auch ein Bild der Lage des Subjects und der r\u00e4umlichen Ordnung seiner unmittelbaren Umgebung entstehe, eine Annahme, die eigentlich n\u00f6thigen w\u00fcrde zu der Platonischen Lehre von der Wiedererinnerung an angeborene Ideen zur\u00fcckzukehren. Denn die beim Tasten entstehende Bewegungsempfindung wird hier als eine \u00e4u\u00dfere Gelegenheitsursache gedacht, welche die uns angeborene, also \u00fcbersinnliche Idee des Raumes wiedererwecke.\n7. Mit der zuletzt erw\u00e4hnten Hypothese w\u00fcrde aber, abgesehen von ihrer psychologischen Unwahrscheinlichkeit, der Einfluss, den die Uebung in der Unterscheidung der Localzeichen und der Bewegungsunterschiede aus\u00fcbt, nicht zu vereinigen sein. Es bleibt demnach nichts anderes \u00fcbrig, als dass man auch hier, \u00e4hnlich wie beim Sehenden (S. 125), in die empirisch gegebenen Verbindungen der Empfindungen selbst die Entstehung der r\u00e4umlichen Vorstellungen verlegt. Diese Verbindungen bestehen nun darin, dass beim Durchlaufen \u00e4u\u00dferer Tasteindr\u00fccke je zwei","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n129\nEmpfindungen a und l von bestimmter Localzeichendifferenz stets eine bestimmte, die Bewegung begleitende innere Tastempfindung a. einer gr\u00f6\u00dferen Localzeichendifferenz a und c eine intensivere Bewegungsempfindung f entspricht, u. s. w. In der That sind ja beim Tasten der Blinden die \u00e4u\u00dferen mid die inneren Tastempfindungen stets in dieser regelm\u00e4ssigen Verbindung gegeben. Es l\u00e4sst sich daher auch vom Standpunkte der strengen Erfahrung aus nicht behaupten, irgend eines jener beiden Empfindungssysteme trage an und f\u00fcr sich schon die Vorstellung einer r\u00e4umlichen Einordnung in sich ; sondern wir k\u00f6nnen nur sagen, dass diese Ordnung regelm\u00e4\u00dfig aus ihrer beider Verbindung entsteht. Unter diesem Gesichtspunkte l\u00e4sst sich die durch \u00e4u\u00dfere Eindr\u00fccke entstehende r\u00e4umliche Vorstellung der Blinden d\u00e9finirai als das Product einer Verschmelzung \u00e4u\u00dferer Tastempfindungen und ihrer qualitativ abgestuften Localzeichen mit intensiv abgestuften inneren Tastempfindungen. In diesem Verschmel-zungsproducte bilden die \u00e4u\u00dferen Tastempfindungen in ihren durch die \u00e4u\u00dferen Beize bedingten Eigenschaften die herrschenden Elemente, hinter denen die Localzeichen und die Bewegungsempfindungen in den ihnen eigent\u00fcmlichen qualitativen und intensiven Eigenschaften so vollst\u00e4ndig zur\u00fccktreten, dass sie, \u00e4hnlich etwa wie die Obert\u00f6ne eines Klangs, nur bei besonders gesch\u00e4rfter Aufmerksamkeit auf sie wahrgenommen werden k\u00f6nnen. Auch die r\u00e4umlichen Tast-vorstellungen beruhen daher auf einer vollkommenen Verschmelzung. Aber die Eigenart dieser besteht, im Unterschied z. B. von den intensiven Tonverschmelzungen, darin, dass die Neben- oder H\u00fclfselemente selbst wieder Elemente von verschiedener Beschaffenheit sind, die zugleich in gesetzm\u00e4\u00dfigen Beziehungen zu einander stehen. W\u00e4hrend n\u00e4mlich die Localzeichen ein reines Qualit\u00e4ten-\nWundt, Psychologie.\n9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nII. Die psychischen Gebilde.\nsystem bilden, ordnen sich die die Bewegungen des Tastorgans begleitenden inneren Tastempfindungen in eine Scala von Intensit\u00e4tsgraden; und indem die zum Durchlaufen des Zwischenraums zwischen zwei Punkten aufgewandte Bewegungsenergie mit der Gr\u00f6\u00dfe des Zwischenraums w\u00e4chst, muss auch mit dem Qualit\u00e4tsunterschied der Localzeichen der Intensit\u00e4tsunterschied der Bewegungsempfindungen zunehmen.\n8.\tAuf diese Weise ist die r\u00e4umliche Ordnung der Tasteindr\u00fccke das Product einer doppelten Verschmel-zunsr: einer ersten, die zwischen den H\u00fclfselementen vor sich geht, und durch die die Qualit\u00e4tsstufen des nach zwei Dimensionen geordneten Localzeichensystems in ihrem Ver-h\u00e4ltniss zu einander nach den Intensit\u00e4tsstufen der Bewegungsempfindung geordnet werden; und einer zweiten, durch die sich die durch die \u00e4u\u00dferen Reize bestimmten \u00e4u\u00dferen Tastempfindungen mit jenen ersten Verschmelzungsproducten verbinden. Nat\u00fcrlich finden beide Verbindungsprocesse nicht successiv, sondern in einem und demselben Acte statt, da die Localzeichen wie die Tastbewegungen erst durch die \u00e4u\u00dferen Reize erweckt werden m\u00fcssen. Aber da die \u00e4u\u00dfere Tastempfindung mit der Beschaffenheit des objectiven Reizes wechselt, bilden die Localzeichen und die inneren Tastempfindungen subjective Elemente, deren wechselseitige Zuordnung bei den verschiedensten \u00e4u\u00dferen Eindr\u00fccken immer die n\u00e4mliche bleibt. Hierin liegt die psychologische Bedingung f\u00fcr die von uns dem Raume zugeschriebene Con-stanz der Eigenschaften gegen\u00fcber den mannigfach wechselnden qualitativen Eigenschaften der im Raume enthaltenen Objecte.\n9.\tNachdem sich die die r\u00e4umliche Ordnung der \u00e4u\u00dferen Tastempfindungen bedingenden Verschmelzungen zwischen den Localzeichen und den inneren Tastempfindungen gebildet","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"g 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\t131\nhaben, bleibt \u00fcbrigens jedes dieser Elemente bis zu einem gewissen, wenn auch beschr\u00e4nkten Grade f\u00fcr sich allein f\u00e4hig eine Localisation von Empfindungen zu bewirken und selbst zusammengesetzte r\u00e4umliche Vorstellungen zu erwecken. So hat nicht blo\u00df der Sehende, sondern auch der Blinde und Blindgeborene bei vollkommen ruhendem Tastorgan eine Vorstellung vom Orte einer Ber\u00fchrung, und er kann zwei in hinreichender Distanz einwirkende Eindr\u00fccke als r\u00e4umlich getrennte wahrnehmen. Nat\u00fcrlich entsteht aber beim Blindgeborenen nicht, wie beim Sehenden, das Gesichtsbild der ber\u00fchrten Stelle, sondern es bildet sich statt dessen die Vorstellung einer Bewegung des betasteten Gliedes und, wo mehrere Eindr\u00fccke einwirken, einer tastenden Bewegung von einem Eindruck zum andern. Es werden also auch bei den so vollzogenen Vorstellungen die n\u00e4mlichen Verschmelzungen wie bei den gew\u00f6hnlichen, durch Tastbewegung unterst\u00fctzten wirksam werden, nur mit dem Unterschiede, dass der eine Factor des Verschmelzungsproductes, die innere Tastempfindung, blo\u00df als Erinnerungsbild existirt.\n10. Ebenso kann nun das Entgegengesetzte eintreten: es kann als wirklicher Empfindungsinhalt nur eine Summe innerer Tastempfindungen gegeben sein, die durch die Bewegung eines K\u00f6rpertheils entstehen, ohne merkliche Beimengung \u00e4u\u00dferer Tastempfindungen; und es k\u00f6nnen gleichwohl jene inneren, die Bewegung begleitenden Empfindungen das Substrat einer r\u00e4umlichen Vorstellung bilden. Dies geschieht regelm\u00e4\u00dfig bei den reinen Vorstellungen der eigenen Bewegung. Wenn wir z. B. bei geschlossenen Augen unseren Arm erheben, so haben wir in jedem Moment eine Vorstellung von der Lage des Armes. Bei dieser wirken zwar in einem gewissen Grade auch die \u00e4u\u00dferen Tastempfindungen mit, die durch die Dehnungen und Faltenbildungen der Haut entstehen; diese treten aber doch verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nII. Die psychischen Gebilde.\nzur\u00fcck gegen\u00fcber den von den Gelenken, Sehnen und Muskeln ausgehenden inneren Tastempfindungen.\nBeim sehenden Menschen kommen diese Lagevorstellungen, wie man leicht beobachten kann, dadurch zu Stande, dass die durch den Zustand des bewegten Theiles erzeugten Empfindungen auch bei geschlossenen oder abgekehrten Augen ein dunkles Gesichtsbild jenes Theiles mit dem ihn umgebenden Baume erwecken. Diese Verbindung ist eine so innige, dass sie selbst zwischen den blo\u00dfen Erinnerungsbildern der inneren Tastempfindungen und der entsprechenden Gesichtsvorstellung eintreten kann, wie man bei Gel\u00e4hmten beobachtet, bei denen zuweilen der blo\u00dfe Wille, eine bestimmte Bewegung auszuf\u00fchren, die Vorstellung der wirklich ausgef\u00fchrten Bewegung erweckt. Augenscheinlich beruhen daher die Vorstellungen eigener Bewegungen beim Sehenden auf analogen unvollkommenen Verschmelzungen wie die \u00e4u\u00dferen r\u00e4umlichen Tastvorstellungen : nur spielen in diesem Fall die inneren Tastempfindungen die n\u00e4mliche Rolle wie dort die \u00e4u\u00dferen. Dies f\u00fchrt zu der Annahme, dass auch den inneren Tastempfindungen Localzeichen zukommen, d. h. dass die in den verschiedenen Gelenken, Sehnen, Muskeln vorkommenden Empfindungen bestimmte local abgestufte Unterschiede zeigen. In der That scheint das die Selbstbeobachtung zu best\u00e4tigen. Wenn wir abwechselnd das Knie-, das Oberschenkel-, das Oberarmgelenk u. s. w. oder auch nur das gleiche Gelenk der rechten und der linken K\u00f6rperseite bewegen, so scheint, abgesehen von der nie ganz zu unterdr\u00fcckenden Verbindung mit dem Gesichtsbild des K\u00f6rpertheils, jedesmal die Qualit\u00e4t der Empfindung leise zu variiren. Auch ist nicht einzusehen, wie es ohne solche Unterschiede zur Entstehung jenes begleitenden Gesichtsbildes kommen sollte, es sei denn, dass man der Seele nicht nur eine angeborene Vorstellung des Raumes, sondern auch ein angeborenes","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n133\nWissen von den in jedem Augenblick vorhandenen Lagen und Bewegungen der K\u00f6rperorgane im R\u00e4ume zuschreibt.\n11.\tAuf Grund dieser Verh\u00e4ltnisse beim Sehenden l\u00e4sst sich nun auch die Entstehungsweise der Vorstellungen eigener Bewegung beim Blindgeborenen verstehen. An Stelle der Verschmelzung mit dem Gesichtsbild des K\u00f6rpertheils muss hier eine solche der Bewegungsempfindungen mit den.Localzeichen wirksam werden, w\u00e4hrend zugleich \u00e4u\u00dfere Tastempfindungen unterst\u00fctzend hinzutreten. Beim Blinden scheinen daher diese letzteren bei der Orientirung \u00fcber die eigene Bewegung im Raume eine weit gr\u00f6\u00dfere Rolle zu spielen als beim Sehenden. Seine Vorstellungen \u00fcber die eigene Bewegung bleiben h\u00f6chst unsicher, so lange er ihnen nicht durch die Betastung \u00e4u\u00dferer Objecte zu H\u00fclfe kommt. Bei dieser H\u00fclfe kommt ihm aber die gr\u00f6\u00dfere Uebung des \u00e4u\u00dferen Tastsinns und die gesch\u00e4rfte Aufmerksamkeit auf denselben zu statten. Einen Beleg hierf\u00fcr bildet der so genannte \u00bbFernsinn der Blinden\u00ab. Er besteht in der F\u00e4higkeit, widerstandleistende Gegenst\u00e4nde, z. B. eine nahe Wand, aus einiger Entfernung ohne directe Betastung derselben wahrzunehmen. Es l\u00e4sst sich nun experimentell nach-weisen, dass sich dieser Fernsinn aus zwei Factoren zusammensetzt: erstens aus einer sehr schwachen Tasterregung der Stirnhaut durch den Luftwiderstand, und zweitens aus der Aenderung des Schalls der Schritte. Hierbei wirkt die letztere als ein Signal, welches die Aufmerksamkeit hinreichend sch\u00e4rft, damit jene schwachen Tasterregungen wahrgenommen werden k\u00f6nnen. Der \u00bbFernsinn\u00ab wird daher unwirksam, wenn man entweder die Tasterregungen durch ein umgebundenes Tuch von der Stirn abh\u00e4lt, oder wenn man die Schritte unh\u00f6rbar macht.\n12.\tHeben den Vorstellungen von den Lagen und Bewegungen der einzelnen K\u00f6rpertheile besitzen wir auch noch","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nII. Die psychischen Gebilde.\neine Vorstellung von der Lage und Bewegung des Ge-sammtk\u00f6rpers, und jene erster en gehen immer erst durch ihre Beziehung auf diese letztere Vorstellung aus einer blo\u00df relativen in eine absolute Bedeutung \u00fcber. Das Orientirungs-organ f\u00fcr diese allgemeinen Vorstellungen ist der Kopf, von dessen Lage wir jeweils eine bestimmte Vorstellung besitzen, und in Bezug auf den wir nach den einzelnen Complexen innerer und \u00e4u\u00dferer Tastempfindungen die einzelnen K\u00f6rperorgane, meist freilich nur unbestimmt, in unserer Vorstellung orientiren. Im Kopfe sind dann wieder die drei Bogeng\u00e4nge des Greh\u00f6rlabyrinths das specifische Orientirungsorgan, dem als secund\u00e4re H\u00fclfsmittel die an die Wirkung der Kopfmuskeln gebundenen inneren und \u00e4u\u00dferen Tastempfindungen zur Seite treten. Dieser Orientirungs-function der Bogeng\u00e4nge l\u00e4sst sich wohl am ehesten ein Verst\u00e4ndniss abgewinnen, wenn man annimmt, dass in ihnen unter dem Einfluss des wechselnden Drucks der Labyrinthfl\u00fcssigkeit innere Tastempfindungen mit besonders ausgepr\u00e4gten Localzeichenunterschieden entstehen. Die S c h w i n d e 1 e r s c h e i n u n g e n, die in Folge schneller Drehungen des Kopfes eintreten, entspringen h\u00f6chst wahrscheinlich aus den durch die heftigen Bewegungen der Labyrinthfl\u00fcssigkeit verursachten Empfindungen. Damit stimmt \u00fcberein, dass man nach partiellen Zerst\u00f6rungen der Bogeng\u00e4nge constante Orientirungst\u00e4uschungen und nach vollst\u00e4ndiger Zerst\u00f6rung derselben eine fast vollst\u00e4ndige Aufhebung der Orientirungsf\u00e4higkeit beobachtet hat.\n12 a. Die Anschauungen, die sich r\u00fccksichtlich der psychologischen Entstehungsweise der r\u00e4umlichen Vorstellungen gegen\u00fcberstehen, pflegt man als die des Nativismus und des Empirismus zu bezeichnen. Die nativistische Theorie will die Localisation im Baum aus angeborenen Eigenschaften der Sinnesorgane und Sinnescentren, die emp iris tische Theorie will dieselbe aus","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 l\u00fc. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n135\nEinfl\u00fcssen der Erfahrung ableiten. Diese Unterscheidung gibt aber den thats\u00e4chlich bestehenden Gegens\u00e4tzen keinen sachgem\u00e4\u00dfen Ausdruck, da man die Annahme angeborener r\u00e4umlicher Vorstellungen bek\u00e4mpfen kann, ohne darum zu behaupten, dass diese durch Erfahrung entstehen. In der That ist letzteres der Fall, wenn man, wie es oben geschehen ist, die Raumanschauungen als Producte psychologischer Verschmelzungsprocesse betrachtet, die ebensowohl in den physiologischen Eigenschaften der Sinnes- und Bewegungsorgane wie in den allgemeinen Gesetzen der Entstehung psychischer Gebilde begr\u00fcndet sind. Solche Verschmelzungsprocesse und die auf ihnen beruhenden Ordnungen der Sinneseindr\u00fccke bilden n\u00e4mlich \u00fcberall die Grundlagen unserer Erfahrung; eben deshalb ist es aber unzul\u00e4ssig sie selbst \u00bbErfahrungen\u00ab zu nennen. Richtiger ist es vielmehr, wenn man die vorhandenen Gegens\u00e4tze als die der nativistischen und der genetischen Theorien bezeichnet. Dabei ist es zugleich be-merkenswerth, dass die verbreiteten nativistischen Theorien ebensowohl empiristische wie umgekehrt die empiristischen Theorien nativistische Bestandtheile enthalten, so dass bisweilen der Gegensatz kaum als ein nennenswerther erscheint. Die Nativisten setzen n\u00e4mlich zwar voraus, die Ordnung der Eindr\u00fccke im Raum entspreche unmittelbar der Ordnung der sensibeln Punkte in der Haut und in der Netzhaut; die besondere Art der Projection nach au\u00dfen, namentlich die Vorstellung der Entfernung und der Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde, ferner die Beziehung einer Mehrheit r\u00e4umlich getrennter Eindr\u00fccke auf einen einzigen Gegenstand, sollen aber von der \u00bbAufmerksamkeit\u00ab, vom \u00bbWillen\u00ab oder selbst von der \u00bbErfahrung\u00ab abh\u00e4ngig sein. Die Empiristen dagegen pflegen in irgend einer Weise den Raum als gegeben vorauszusetzen und dann jede einzelne Vorstellung als eine durch Erfahrungsmotive bestimmte Orientirung in diesem Raum zu in-terpretiren. Bei der Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtsvorstellungen wird in der Regel der Tastraum als dieser urspr\u00fcnglich gegebene Raum betrachtet; bei der Theorie der Tastvorstellungen hat man zuweilen die Bewegungsempfindungen mit der urspr\u00fcnglichen Raumqualit\u00e4t ausgestattet. So sind Empirismus und Nativismus in den wirklichen Theorien meist v\u00f6llig verschwimmende Begriffe, und beiderlei Theorien pflegen zugleich darin \u00fcbereinzustimmen, dass sie complexe Begriffe der Vulg\u00e4rpsychologie, wie \u00bbAuf-","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"1 36\nII. Die psychischen Gebilde.\nmerksamkeit\u00ab, \u00bbWille\u00ab, \u00bbErfahrung\u00ab, ohne n\u00e4here Pr\u00fcfung und Analyse verwenden. Hierin besteht dann zugleich ihr Gegensatz zur genetischen Theorie, die durch die psychologische Analyse der Vorstellungen die elementaren Processe nachzuweisen sucht, durch welche die Vorstellungen entstehen. Trotz ihrer M\u00e4ngel haben \u00fcbrigens sowohl die nativistischen wie die empiristischen Theorien das Verdienst, dass sie das hier vorliegende psychologische Problem zu deutlichem Bewusstsein gebracht und eine gro\u00dfe Menge von Thatsacben zur Aufkl\u00e4rung desselben zu Tage gef\u00f6rdert haben.\nII. Die r\u00e4umlichen Gesichtsvorstellnngen.\n13. Die allgemeinen Eigenschaften des Tastsinns wiederholen sich beim Gesichtssinn, aber in weit feinerer Ausbildung. Der Sinnesfl\u00e4che der \u00e4u\u00dferen Haut entspricht hier die Netzhautfl\u00e4che mit ihren pallisadenartig gestellten, ein \u00fcberaus feines Mosaik empfindender Punkte bildenden Zapfen und St\u00e4bchen. Den Bewegungen der Tastorgane entsprechen die auf die Gesichtsobjecte sich einstellenden und den Begrenzungslinien derselben entlanglaufenden Bewegungen der beiden Augen. Doch w\u00e4hrend der Tastsinn die Eindr\u00fccke nur bei unmittelbarer Ber\u00fchrung der Objecte empfindet, entwerfen die vor der Netzhaut befindlichen brechenden Medien auf jener ein umgekehrtes verkleinertes Bild der Objecte. Indem dieses Bild verm\u00f6ge seiner Kleinheit f\u00fcr eine gro\u00dfe Anzahl gleichzeitiger Eindr\u00fccke Raum l\u00e4sst, und indem das Licht verm\u00f6ge seiner raumdurchdringenden Energie bald nahen bald fernen Objecten die Einwirkung gestattet, gewinnt der Gesichtssinn in noch viel h\u00f6herem Ma\u00dfe als der Geh\u00f6rssinn die Bedeutung eines Fernsinnes. Denn das Licht kann aus ungleich gr\u00f6\u00dferer Entfernung wahrgenommen \u25a0werden als der Schall ; zudem werden nur die Gesichtsvorstellungen direct, die Geh\u00f6rsvorstellungen aber immer erst indirect, durch die Anlehnung an r\u00e4umliche Gesichts-","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n137\nVorstellungen, in wechselnde Entfernungen vom vorstellenden Subjecte verlegt.\n14.\tHiernach l\u00e4sst sich jede Gesichtsvorstellung hinsichtlich ihrer r\u00e4umlichen Eigenschaften in zwei Factoren zerlegen: I) in die Orientirung der einzelnen Elemente einer Vorstellung zu einander, und 2) in ihre Orientirung zum vorstellenden Subjecte. Schon die Vorstellung eines einzigen Lichtpunktes enth\u00e4lt diese beiden Factoren; denn wir m\u00fcssen uns den Punkt stets in irgend einer r\u00e4umlichen Umgebung und in irgend einem Eichtungs- und Entfernungverh\u00e4ltniss zu uns selber vorstellen. Auch k\u00f6nnen diese Factoren nur durch eine willk\u00fcrliche Abstraction, nie aber in Wirklichkeit von einander gesondert werden, da durch das Verh\u00e4ltniss, in welchem irgend ein r\u00e4umlicher Punkt zu seiner Umgebung steht, regelm\u00e4\u00dfig auch sein Verh\u00e4ltniss zu dem vorstellenden Subjecte bestimmt wird. Aus dieser Abh\u00e4ngigkeit ergibt sich zugleich, dass die Analyse der Gesichtsvorstellungen zweckm\u00e4\u00dfig von dem ersten der beiden oben erw\u00e4hnten Factoren, n\u00e4mlich von der wechselseitigen Orientirung der Elemente eines Vorstellungsgebildes, ausgehen wird, um dann erst den zweiten Factor, die Orientirung des Gebildes zum Vorstellenden, in Betracht zu ziehen.\na. Die wechselseitige Orientirung der Elemente einer Gesichtsvorstellung.\n15.\tBei der Auffassung des Verh\u00e4ltnisses der Elemente einer Gesichtsvorstellung zu einander wiederholen sich durchaus, nur in feinerer Ausbildung und mit einigen f\u00fcr die Gesichtsvorstellungen bedeutsamen Modificationen, die Eigenschaften des Tastsinnes. Auch hier verbinden wir mit einem m\u00f6glichst einfachen, nahehin punktf\u00f6rmigen Eindruck unmittelbar die Vorstellung eines ihm zukommenden Ortes im Eaume, weisen ihm also ein bestimmtes Lageverh\u00e4ltniss","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nIf. Die psychischen Gebilde.\nan zu den ihn umgebenden Raumtheilen ; nur erfolgt diese Localisation nicht, wie bei dem Tastsinn, durch die unmittelbare Beziehung auf den entsprechenden Punkt des Sinnesorgans selbst, sondern wir tragen den Eindruck in das au\u00dferhalb des vorstellenden Subjects und in irgend einer Entfernung von ihm gelegene Sehfeld ein. Ferneristhier, wie beim Tastsinn, ein Ma\u00df f\u00fcr die Genauigkeit der Localisation in der Distanz gegeben, in der zwei nahebin punktf\u00f6rmige Eindr\u00fccke noch r\u00e4umlich unterschieden werden k\u00f6nnen; nur ist auch diese Distanz nicht unmittelbar als eine auf der Sinnesfl\u00e4che selbst abzumessende lineare Gr\u00f6\u00dfe gegeben, sondern als kleinster wahrnehmbarer Zwischenraum zweier Punkte des Sehfeldes ; und da das Sehfeld in jeder beliebigen Entfernung vom Sehenden gedacht werden kann, so benutzt man hier zweckm\u00e4\u00dfig als Ma\u00df der Locali-sationssch\u00e4rfe \u00fcberhaupt nicht eine lineare Gr\u00f6\u00dfe, sondern eine Winkelgr\u00f6\u00dfe, n\u00e4mlich jenen Winkel, welchen die von den Punkten des Sehfeldes zu den entsprechenden Punkten des Netzhautbildes durch den optischen Knotenpunkt des Auges gezogenen Linien mit einander bilden. Dieser Gesichtswinkel bleibt constant, so lange die Gr\u00f6\u00dfe des Netzhautbildes unver\u00e4ndert bleibt, wogegen die zugeh\u00f6rige Distanz der Punkte im Sehfelde proportional der Entfernung desselben von dem Sehenden zunimmt. Will man statt des Gesichtswinkels eine ihm \u00e4quivalente lineare Distanz einf\u00fchren, so kann daher als solche nur der Durchmesser des Netzhautbildes benutzt werden, der sich unmittelbar aus der Gr\u00f6\u00dfe des Gesichtswinkels und der Entfernung der Netzhautfl\u00e4che vom optischen Knotenpunkte ergibt.\n16. Die nach diesem Princip vorgenommene Messung der Localisationssch\u00e4rfe des Auges zeigt nun, entsprechend den an den verschiedenen Stellen des Tastorgans","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\t139\ngefundenen Ergebnissen (S. 124), innerhalb der verschiedenen Theile des Sehfeldes sehr abweichende Werthe. Nur sind hierbei durchweg die Raumwerthe, welche die kleinste unterscheidbare Distanz angeben, sehr viel kleinere; und w\u00e4hrend \u00fcber das Tastorgan zahlreiche Stellen feinerer Unterscheidung vertlieilt sind, findet sich im Sehfeld nur eine Stelle feinster Unterscheidung, n\u00e4mlich die dem Netzhautcentrum entsprechende Mitte desselben, von welcher aus dann nach den Seitentheilen hin die Localisationssch\u00e4rfe sehr rasch abnimmt. Das ganze Sehfeld oder die ganze Netzhautfl\u00e4che verh\u00e4lt sich also analog einem einzelnen Tastgebiet, wie z. B. dem des Zeigefingers, \u00fcbertrifft aber freilich dieses, namentlich in den centralen Theilen, ganz au\u00dferordentlich an Localisationssch\u00e4rfe, indem hier zwei Eindr\u00fccke, die unter einem Gesichtswinkel von 60\u201490 Secunden einwirken, noch eben unterschieden werden, w\u00e4hrend 2,5\u00b0 seitlich vom Netzhautcentrum diese kleinste unterscheidbare Gr\u00f6\u00dfe schon 3' 30\" betr\u00e4gt und 8\u00b0 seitlich auf etwa 1\u00b0 steigt.\nDa wir bei normalem Sehen auf diejenigen Objecte, von denen wir genauere r\u00e4umliche Vorstellungen gewinnen wollen, das Auge so einstellen, dass jene in der Mitte des Sehfeldes, ihre Bilder also in der Netzhautmitte liegen, so bezeichnet man solche Objecte auch als die direct gesehenen, alle andern, die in den excentrischen Theilen des Sehfeldes liegen, als die indirect gesehenen. Der Mittelpunkt der Region des directen Sehens hei\u00dft der Blickoder Fixationspunkt, die das Centrum der Netzhaut mit dem Centrum des Sehfeldes verbindende Linie die Blicklinie.\nBerechnet man die lineare Distanz, die auf der Netzhaut dem kleinsten Gesichtswinkel entspricht, bei welchem im Centrum des Sehfeldes zwei Punkte getrenntjwahrgenommen werden k\u00f6nnen, so ergibt sich eine Gr\u00f6\u00dfe von x\u00ef\u00efW't\u00ef\u00efV\u00ef\u00ef mm-","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nII. Die psychischen Gebilde.\nDies ist eine Gr\u00f6\u00dfe, die dem Durchmesser eines Netzhautzapfens gleichkommt, und da im Centrum der Netzhaut die Zapfen so dicht gelagert sind, dass sie sich unmittelbar ber\u00fchren, so l\u00e4sst sich hieraus mit Wahrscheinlichkeit folgern, dass zwei Lichteindr\u00fccke jedenfalls auf zwei verschiedene Netzhautelemente fallen m\u00fcssen, wenn sie noch r\u00e4umlich getrennt werden sollen. In der That steht damit in Ueber-einstimmung, dass auf den Seitentheilen der Netzhaut die beiden hier vorkommenden Formen lichtempfindender Elemente, die Zapfen und die St\u00e4bchen, durch gr\u00f6\u00dfere Zwischenr\u00e4ume getrennt sind. Man kann hiernach annehmen, dass die Sch\u00e4rfe des Sehens oder die F\u00e4higkeit der r\u00e4umlichen Unterscheidung distincter Punkte im Sehfeld direct abh\u00e4ngig ist von der Dichtigkeit der Anordnung der Netzhautelemente, indem zwei Eindr\u00fccke immer erst dann r\u00e4umlich unterschieden werden k\u00f6nnen, wenn sie zwei verschiedene Elemente treffen.\n16 a. Aus diesem Wechselverh\u00e4ltniss zwischen der Sehsch\u00e4rfe und der Anordnung der Netzhautelemente hat man h\u00e4ufig geschlossen, jedem Netzhautelemente komme die urspr\u00fcngliche Eigenschaft zu, den Lichtreiz, von dem es getroffen wird, an der seiner Projection auf das Sehfeld entsprechenden Stelle des Raumes zu localisiren; und man hat auf diese Weise jene Eigenth\u00fcmlich-keit des Gesichtssinns, seine Objecte \u00fcberhaupt in einem \u00e4u\u00dferen, in irgend einer Entfernung von dem Subject befindlichen Sehfelde vorzustellen, auf eine angeborene Energie der Netzhautelemente oder ihrer centralen Vertretungen im Sehcentrum des Gehirns zur\u00fcckgef\u00fchrt. Es gibt gewisse pathologische St\u00f6rungen des Sehens, die diese Annahme auf den ersten Blick zu best\u00e4tigen scheinen. Wenn n\u00e4mlich in Polge von Entz\u00fcndungsprocessen unter der Netzhaut diese an einzelnen Stellen aus ihrer Lage gedr\u00e4ngt wird, so entstehen Verzerrungen der Bilder, sogenannte Meta-morphopsien, die sich ihrer Gr\u00f6\u00dfe und Richtung nach vollst\u00e4ndig erkl\u00e4ren lassen, wenn man annimmt, dass die aus ihrer Lage gedr\u00e4ngten Netzhautelemente fortfahren ihre Eindr\u00fccke so","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\t141\nzu localisiren, als wenn sie sie sich noch in ihrer urspr\u00fcnglichen normalen Lage bef\u00e4nden. Aber diese Verzerrungen der Bilder beweisen offenbar, so lange es sich dabei, wie in den meisten F\u00e4llen, um Erscheinungen handelt, die sich in Folge des allm\u00e4hlichen Entstehens und Verschwindens der Exsudate fortw\u00e4hrend ver\u00e4ndern, ebenso wenig eine angeborene Localisations-energie der Netzhaut, wie sich etwa eine solche aus der leicht zu machenden Beobachtung erschlie\u00dfen l\u00e4sst, dass man durch prismatische Brillengl\u00e4ser verzerrte Bilder der Objecte wahrnimmt. Wird dagegen allm\u00e4hlich ein station\u00e4rer Zustand erreicht, so verschwinden die Metamorphopsien, und zwar scheint dies nicht blo\u00df in solchen F\u00e4llen zu geschehen, wo eine vollst\u00e4ndige R\u00fcckkehr der Netzhautelemente in ihre urspr\u00fcngliche Lage angenommen werden darf, sondern auch in solchen, wo dies wegen des Umfangs der Processe durchaus unwahrscheinlich ist. In diesen letzteren F\u00e4llen muss dann aber die Ausbildung einer neuen Zuordnung der einzelnen Netzhautelemente zu den ihnen entsprechenden Punkten des Sehfeldes angenommen werden. >) Diese Folgerung gewinnt eine Best\u00e4tigung in Beobachtungen am normalen Auge \u00fcber die allm\u00e4hliche Anpassung an Bildverzerrungen, die durch \u00e4u\u00dfere optische Hiilfsmittel bewirkt worden sind. Bewaffnet man die Augen mit einer prismatischen Brille, so treten in der Regel auffallende und st\u00f6rende Verzerrungen der Bilder auf, indem geradlinige Begrenzungslinien gebogen und dadurch die Formen der Objecte verzerrt erscheinen. Diese Verzerrungen verschwinden nun, wenn man die Brille dauernd tr\u00e4gt, allm\u00e4hlich vollst\u00e4ndig ; sie k\u00f6nnen dagegen in der entgegengesetzten Richtung wieder eintreten, wenn die Brille beseitigt wird. Alle diese Erscheinungen sind nur unter der Voraussetzung verst\u00e4ndlich, dass die r\u00e4umliche Localisation auch beim Gesichtssinn keine urspr\u00fcngliche, sondern eine erworbene ist.\n1) Ein dieser Ausgleichung der Metamorphopsien analoger Vorgang ist im binocularen Sehen bei der allm\u00e4hlichen Ausgleichung der Schieist\u00f6rungen zuweilen beobachtet worden. Indem bei eintretendem Schielen die Blickpunkte beider Augen im Sehfeld nicht mehr zusammenfallen, entstehen Doppelbilder der Gegenst\u00e4nde. Diese k\u00f6nnen aber, wenn der Zustand vollkommen station\u00e4r wird, allm\u00e4hlich verschwinden, indem eine andere Zuordnung der Netzhautelemente des schielenden Auges sich ausbildet.","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nII. Die psychischen Gebilde.\n17.\tNeben den Netzhautempfindungen sind stets noch andere psychische Elemente an der wechselseitigen r\u00e4umlichen Ordnung der Tasteindr\u00fccke betheiligt. Die physiologischen Eigenschaften des Sehorgans weisen hier von vornherein auf die die B e wegung des Auges begleitenden Empfindungen hin. Diese Bewegungen spielen in der That bei der Ausmessung von Strecken im Sehfelde offenbar die n\u00e4mliche Bolle wie die Tastbewegungen bei der Ausmessung der Tasteindr\u00fccke, nur mit dem Unterschied, dass sich auch hier die roheren Verh\u00e4ltnisse des Tastorgans in verfeinerter und vervollkommneter Weise wiederholen. Indem das Auge durch ein \u00e4u\u00dferst zweckm\u00e4\u00dfig angeordnetes System von sechs Muskeln um seinen zum Kopfe immer gleich orientirten Mittelpunkt nach allen Richtungen gedreht werden kann, ist es in vorz\u00fcglicher Weise geeignet, die Begrenzungslinien der Objecte continuirlich zu durchlaufen oder jeweils auf dem k\u00fcrzesten Wege von einem gegebenen Fixationspunkte zu einem andern \u00fcberzugehen. Dabei sind wieder verm\u00f6ge der Muskelanordnung die Bewegungen in denjenigen Richtungen, die der Lage der am h\u00e4ufigsten und am genauesten betrachteten Objecte entsprechen, n\u00e4mlich die Bewegungen nach abw\u00e4rts und einw\u00e4rts, gegen\u00fcber andern bevorzugt. Indem ferner die Bewegungen beider Augen verm\u00f6ge der Synergie ihrer Innervation einander so angepasst sind, dass die Blicklinien derselben normaler Weise stets auf denselben Fixationspunkt eingestellt werden, ist dadurch ein Zusammenwirken beider Augen erm\u00f6glicht, das nicht blo\u00df die Lageverh\u00e4ltnisse der Objecte zu einander vollst\u00e4ndiger erfassen l\u00e4sst, sondern das auch insbesondere das wesentlichste H\u00fclfs-mittel f\u00fcr die Bestimmung der r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der Objecte zum sehenden Subjecte abgibt (24 ff.).\n18.\tIn der That lehren nun die Erscheinungen des Sehens, dass, ebenso wie die Unterscheidung distincter Punkte","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n143\nim Sehfeld von der Dichtigkeit der Anordnung der Netzhautelemente, so die Vorstellung der wechselseitigen Distanz zweier Punkte von der beim Durchlaufen dieser Distanz angewandten Bewegungsanstrengung des Auges ab-h\u00e4ngt. Die Bewegungsanstrengung macht sich aber als Vorstellungscomponente dadurch geltend, dass sie mit einer Empfindung verbunden ist, die wir namentlich bei umfangreicheren Bewegungen sowie bei der Vergleichung von Augenbewegungen verschiedener Richtung wahmehmen k\u00f6nnen. So sind z. B. die Aufw\u00e4rtsbewegungen der Augen deutlich von intensiveren Empfindungen begleitet als die Abw\u00e4rtsbewegungen, ebenso die Ausw\u00e4rtsbewegungen eines Auges gegen\u00fcber den Einw\u00e4rtsbewegungen.\nAm augenf\u00e4lligsten zeigt sich der Einfluss der Bewegungsempfindungen auf die Localisation darin, dass diese in Folge partieller L\u00e4hmungen einzelner Augenmuskeln St\u00f6rungen erf\u00e4hrt, die genau den durch die L\u00e4hmung bewirkten Ver\u00e4nderungen in der Bewegungsanstrengung des Auges entsprechen. Das allgemeine Princip dieser St\u00f6rungen besteht n\u00e4mlich darin, dass die Distanz zweier Punkte vergr\u00f6\u00dfert erscheint, sobald dieselbe in der Richtung der erschwerten Bewegung liegt. Der erschwerten Bewegung entspricht eine intensivere Bewegungsempfindung, die normaler Weise eine extensivere Bewegung begleiten w\u00fcrde : demzufolge erscheint die durchmessene Strecke gr\u00f6\u00dfer, und, da die bei der Bewegung gewonnenen Ma\u00dfe auf die Bewegungsantriebe des ruhenden Auges zur\u00fcckwirken, so tritt die n\u00e4mliche T\u00e4uschung selbst f\u00fcr die noch zu durchmessende Strecke in der gleichen Richtung ein.\n19. Aehnliche Abweichungen in der Abmessung von Distanzen lassen sich aber auch am normalen Auge nacb-weisen. Denn obgleich der Bewegungsapparat desselben so angeordnet ist, dass seine Bewegungen nach den versehie-","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nII. Die psychischen Gebilde.\ndensten Richtungen des Raumes nahezu mit gleicher Anstrengung erfolgen, so trifft dies doch nicht vollst\u00e4ndig zu, und zwar augenscheinlich aus Gr\u00fcnden, die mit der Anpassung des Sehorgans an seine Leistungen auf das engste Zusammenh\u00e4ngen. Da wir die n\u00e4heren Objecte des uns umgebenden Sehraumes, auf die wir die Blicklinien convergirend einstellen m\u00fcssen, am h\u00e4ufigsten betrachten, so haben die Muskeln des Auges eine Anordnung gewonnen, bei welcher zun\u00e4chst die Convergenzbewegungen der Blicklinien vorzugsweise erleichtert, und bei welcher sodann unter den m\u00f6glichen Convergenzbewegungen wieder die nach abw\u00e4rts vor den nach aufw\u00e4rts gerichteten bevorzugt sind. Die allgemeine Erleichterung der Convergenzbewegungen wird dadurch erzielt, dass den das Auge nach auf- und nach abw\u00e4rts drehenden Muskeln (dem oberen und unteren geraden Muskel) eigenth\u00fcmliche H\u00fclfs- und Compensationsmuskeln (der untere und der obere schiefe Muskel) beigegeben sind. In Folge der so entstehenden gr\u00f6\u00dferen Complication der Muskelwirkungen ist dann nothwendig bei den Auf- und Abw\u00e4rtsbewegungen der Augen die Bewegungsanstrengung gr\u00f6\u00dfer als bei den blo\u00df durch je zwei in der Horizontalebene gelegene Muskeln bewirkten Aus- und Einw\u00e4rtsbewegungen. Diese relative Erleichterung der nach abw\u00e4rts gekehrten Convergenzbewegungen findet aber tlieils in den oben (S. 143) erw\u00e4hnten intensiven Verschiedenheiten der die Bewegungen begleitenden Empfindungen theils in der Erscheinung ihren Ausdruck, dass bei der Abw\u00e4rtsbewegung beider Augen unwillk\u00fcrlich verst\u00e4rkte, bei der Aufw\u00e4rtsbewegung derselben verminderte Convergenz eintritt.\nDiesen Abweichungen des Bewegungsmechanismus entsprechen nun gewisse constante von der Richtung im Sehfelde abh\u00e4ngige T\u00e4uschungen des Augenma\u00dfes. Sie bestehen theils in Richtungst\u00e4uschungen theils in Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen.","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n145\nSo ist jedes Auge in Bezug auf die Richtung vertical er Linien im Sehfeld der T\u00e4uschung unterworfen, dass eine mit ihrem oberen Ende um 1\u20143\u00b0 nach ausw\u00e4rts geneigte Linie vertical, und dass daher eine in Wirklichkeit verticale Linie mit ihrem oberen Ende nach innen geneigt zu sein scheint. Da diese T\u00e4uschung f\u00fcr jedes Auge eine entgegengesetzte Richtung hat, so verschwindet sie im zwei\u00e4ugigen Sehen. Sie l\u00e4sst sich offenbar auf die soeben bemerkte Thatsache zur\u00fcckf\u00fchren, dass sich die Abw\u00e4rtsbewegungen der Augen unwillk\u00fcrlich mit einer Zunahme, die Aufw\u00e4rtsbewegungen mit einer Abnahme der Convergenz verbinden. Diese von uns nicht bemerkte Abweichung der Bewegung von der verticalen Richtung wird aber auf eine im entgegengesetzten Sinne stattfindende Abweichung der Objecte bezogen.\nWie diese regelm\u00e4\u00dfige Richtungst\u00e4uschung, so l\u00e4sst sich eine nicht minder regelm\u00e4\u00dfige Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung bei der Vergleichung verschieden gerichteter Strecken im Sehfeld mit gr\u00f6\u00dfter Wahrscheinlichkeit auf jene Asymmetrie der Muskelanordnung zur\u00fcckf\u00fchren, die in der Anpassung der Functionen des Sehens an die gew\u00f6hnliche Lage der Objecte im Raume begr\u00fcndet ist. Diese Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung besteht darin, dass wir verticale gerade Linien durchschnittlich etwa um J- zu gro\u00df sch\u00e4tzen gegen\u00fcber gleich gro\u00dfen horizontalen; daher uns z. B. ein Quadrat wie ein Rechteck mit kleinerer Basis erscheint, w\u00e4hrend umgekehrt bei einem nach dem Augenma\u00df gezeichneten Quadrate regelm\u00e4\u00dfig die H\u00f6he zu klein gezeichnet wird. Diese T\u00e4uschung erkl\u00e4rt sich, wenn man erw\u00e4gt, dass in Folge der oben erw\u00e4hnten Bevorzugung der Convergenzstellungen bei der Auf- und Abw\u00e4rtsbewegung des Auges ein complicirterer Muskelmechanismus th\u00e4tig ist als bei der Aus- und Einw\u00e4rtsbewegung desselben. So gut aber bei theilweise gel\u00e4hmtem\nWuudt, Psychologie.\t10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nII. Die psychischen Gebilde.\nAuge die in der Richtung der erschwerten Bewegung gelegenen Strecken vergr\u00f6\u00dfert erscheinen, gerade so gut wird das auch f\u00fcr das normale Auge gelten.\n19 a. Neben der durch ihre Gr\u00f6\u00dfe am meisten auffallenden Abweichung zwischen vertical und horizontal findet sich noch eine unbedeutendere zwischen oben und unten sowie eine solche zwischen au\u00dfen und innen, indem die obere H\u00e4lfte einer ver-ticalen und die \u00e4u\u00dfere einer horizontalen Geraden, jene durchschnittlich um T1-g-, diese um ^(t- \u00fcbersch\u00e4tzt wird. Die erste dieser Abweichungen kann m\u00f6glicher Weise von einer geringeren Asymmetrie in der Anordnung der oberen und unteren Muskeln, sie kann aber auch von der unwillk\u00fcrlichen Convergenz der Blicklinien bei der Bewegung nach abw\u00e4rts, oder sie kann endlich von beiden Bedingungen zugleich herr\u00fchren. Da n\u00e4mlich diese Convergenz einer Ann\u00e4herung des Objectes entspricht, so sind wir im allgemeinen geneigt, die untere H\u00e4lfte einer ver-ticalen Linie n\u00e4her und daher verm\u00f6ge der sp\u00e4ter (\u00a7 16, 9) zu er\u00f6rternden Associationsbedingungen bei gleichem Gesichtswinkel kleiner als die obere zu sehen. Diese perspectivische Interpretation kann \u00fcbrigens auf die oben er\u00f6rterte bedeutendste unter diesen Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen, die Uebersch\u00e4tzung der ver-ticalen gegen\u00fcber der horizontalen Strecke, nicht \u00fcbertragen werden, da dieselbe in diesem Fall der Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung zwischen den beiden H\u00e4lften der Verticalen h\u00f6chstens nahe kommen k\u00f6nnte, w\u00e4hrend sie in Wirklichkeit ungef\u00e4hr dreimal gr\u00f6\u00dfer ist. Ueberdies spricht dagegen auch der Umstand, dass die T\u00e4uschung nur bei der Vergleichung geradliniger Strecken, nicht aber bei Objecten mit gekr\u00fcmmten Begrenzungslinien stattfindet. Ein Kreis erscheint also z. B. nicht als eine Ellipse mit aufrecht stehender gr\u00f6\u00dferer Axe, sondern als ein wirklicher Kreis. Auch die kleine Uebersch\u00e4tzung der \u00e4u\u00dferen H\u00e4lfte einer Horizontalen ist am wahrscheinlichsten aus den Asymmetrien der Muskelwirkung abzuleiten, welche mit der relativen Erleichterung der Oonvergenzbewegungen Zusammenh\u00e4ngen.\n20. Diesen beiden Richtungs- und Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen die sich auf bestimmte, in den besonderen Zwecken des","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n147\nSehens begr\u00fcndete Einrichtungen in dem Bewegungsmecha-nismus des Auges zur\u00fcckf\u00fchren lassen, schlie\u00dfen sich gewisse andere, variablere T\u00e4uschungen des Augenma\u00dfes an, die in allgemeing\u00fcltigen Eigenschaften der willk\u00fcrlichen Bewegungen ihren Grund haben, und zu denen wir daher analoge Erscheinungen bei den Bewegungen der Tastorgane beobachten k\u00f6nnen. Auch diese T\u00e4uschungen zerfallen wieder in Richtungst\u00e4uschungen und Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen. Die ersteren folgen der Regel: spitze Winkel werden \u00fcbersch\u00e4tzt, stumpfe werden untersch\u00e4tzt, und die die Winkel begrenzenden Linien ver\u00e4ndern dem entsprechend ihre Richtung. F\u00fcr die Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen gilt die Regel: gezwungene und unterbrochene Bewegungen sind anstrengender als freie und continuirliche Bewegungen; demnach werden gerade Linien, die zur Fixation n\u00f6thigen, im Vergleich mit Punktdistanzen, und durch Theilpunkte mehrfach unterbrochene gerade Linien werden im Vergleich mit ununterbrochen gezogenen \u00fcbersch\u00e4tzt.\nDie den Winkelt\u00e4uschungen analoge Erscheinung im Gebiet des Tastsinns besteht darin, dass man geneigt ist, kleine Gelenkdrehungen zu \u00fcbersch\u00e4tzen, gro\u00dfe zu untersch\u00e4tzen, eine Regel, die sich auf das allgemeine Princip zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4sst, dass zu einer Bewegung von geringem Umfange ein relativ gr\u00f6\u00dferer Energieaufwaud erfordert wird als zu einer solchen von bedeutenderem Umfang, weil zur ersten Ausl\u00f6sung der Bewegung relativ mehr Energie n\u00f6thig ist als zur Erhaltung einer schon im Gange befindlichen Bewegung. Eine der Uebersch\u00e4tzung mehrfach eingetheilter Linien analoge Erscheinung im Gebiete des Tastsinns besteht ferner darin, dass uns eine von einem Tastorgan mittelst der Bewegung ahgesch\u00e4tzte Raumstrecke stets kleiner erscheint, wenn sie mittelst einer einzigen continuir-lichen Bewegung, als wenn sie mittelst einer mehrfach unter-\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nII. Die psychischen Gebilde.\nbrochenen discontinuirlichen Bewegung durchmessen wird. Auch hier entspricht die Empfindung dem Energieaufwand, und dieser ist selbstverst\u00e4ndlich bei der mehrfach unterbrochenen Bewegung gr\u00f6\u00dfer als bei der ununterbrochenen. Darum gilt die Uebersch\u00e4t.zung eingetheilter linearer Strecken f\u00fcr das Auge begreiflicher Weise auch nur so lange, als nicht durch die Eintheilung Motive entstehen, die das Auge an der Bewegung \u00fcber die eingetheilte Strecke verhindern. Letzteres geschieht z. E., wenn man nur einen einzigen Ein-theilungspunkt anbringt. Dieser zwingt dann zur Fixation. Vergleicht man daher eine einmal eingetheilte mit einer nicht eingetheilten Linie, so ist man geneigt, die erstere mit ruhendem Auge, unter Fixation des Eintheilungspunktes, die letztere aber mit bewegtem Auge aufzufassen ; dem entsprechend erscheint nun in diesem Fall die nicht eingetheilte Linie gr\u00f6\u00dfer als die eingetheilte.\n21. Weisen alle diese Erscheinungen auf die unmittelbare Abh\u00e4ngigkeit der Auffassung der Richtungen im Raum sowie der G-r\u00f6\u00dfen r\u00e4umlicher Strecken von den Bewegungen des Auges hin, so stimmt nun damit zugleich das negative Ergebniss \u00fcberein, dass die Anordnung der Netzhautelemente, insbesondere die Dichtigkeit ihrer Lagerung, auf jene Vorstellungen der Richtung und Gr\u00f6\u00dfe normaler Weise gar keinen Einfluss aus\u00fcbt. Dies zeigt sich vor allem daran, dass die Distanz zweier Punkte gleich gro\u00df erscheint, ob wir sie im directen oder im indirecten Sehen beobachten. Zwei Punkte, die direct gesehen deutlich unterschieden werden, k\u00f6nnen in den Seitentheilen des Sehfeldes in einen zusammenflie\u00dfen; aber sobald sie unterschieden werden, erscheinen sie hier ebenso weit von einander entfernt wie dort. Diese Unabh\u00e4ngigkeit der Gr\u00f6\u00dfenwahrnehmung von der Dichtigkeit der Anordnung bezieht sich sogar auf eine Stelle der Netzhaut, die \u00fcberhaupt gar keine lichtempfindenden","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"10, Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n149\nElemente enth\u00e4lt: auf den der Eintrittsstelle des Sehnerven entsprechenden blinden Fleck. Objecte, deren Bilder auf den blinden Fleck fallen, werden nicht gesehen. Da derselbe, 15\u00b0 nach innen vom Blickpunkt gelegen, eine Gr\u00f6\u00dfe von etwa 6\u00b0 hat, so k\u00f6nnen auf ihm Bilder von ansehnlicher Gr\u00f6\u00dfe, z. B. ein in etwa 6 Fu\u00df Entfernung gelegenes menschliches Angesicht, vollst\u00e4ndig verschwinden. Aber sobald rechts und links oder oben und unten vom blinden Fleck Punkte im Sehfeld auftauchen, so geben wir denselben die n\u00e4mliche Entfernung von einander wie in irgend einer andern, nicht durch den blinden Fleck unterbrochenen Region des Sehfeldes. Das n\u00e4mliche beobachtet man, wenn abnormer Weise eine Stelle der Netzhaut in Folge von Krankheitsprocessen blind geworden ist. Die hierdurch entstehende L\u00fccke im Sehfeld macht sich immer nur darin geltend, dass die in sie fallenden Bilder nicht gesehen werden, niemals aber darin, dass die jenseits der Grenze der blinden Stelle gelegenen Objecte Aenderungen ihrer Localisation erfahren.1)\n22. Alle diese Erscheinungen lehren, dass die Sch\u00e4rfe des Sehens und die Auffassung von Richtungen und Strecken im Sehfeld zwei verschiedene Functionen sind, die auf verschiedene Bedingungen zur\u00fcckf\u00fchren: die erste auf die Dichtigkeit der Aneinanderlagerung der Netzhautelemente; die zweite auf die Bewegungen des Auges. Hieraus ergibt sich aber zugleich, dass die r\u00e4umlichen Vorstellungen des Gesichtssinns ebensowenig wie\n1) Hiermit stellt im Zusammenhang, dass der blinde Fleck auch in Bezug auf den Empfindungsinhalt nicht als eine L\u00fccke im Sehfelde, sondern in der allgemeinen Helligkeits- und Farbenqualit\u00e4t des Sehfeldes erscheint, also z. B. wei\u00df, wenn wir auf eine wei\u00dfe, schwarz, wenn wir auf eine schwarze Fl\u00e4che blicken, u. s. w. Da diese Ausf\u00fcllung des blinden Fleckes selbstverst\u00e4ndlich nur durch reproducirte Empfindungen m\u00f6glich ist, so ist dieselbe \u00fcbrigens auf die sp\u00e4ter zu betrachtenden Associationserseheinungen (\u00a7 16) zur\u00fcckzuf\u00fchren.","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nIL Die psychischen Gebilde.\ndie des Tastsinns als urspr\u00fcngliche, an und f\u00fcr sich schon mit der Einwirkung der Lichteindr\u00fccke in ihrer r\u00e4umlichen Ordnung gegebene angesehen werden k\u00f6nnen, sondern dass sich diese Ordnung erst auf Grund der Verbindung gewisser Empfindungscomponenten entwickelt, denen einzeln genommen noch nicht die r\u00e4umliche Eigenschaft zukommt. Zugleich weisen jene Bedingungen darauf hin, dass sich die Empfindungscomponenten hier analog zu einander verhalten wie beim Tastsinn, und dass insbesondere die Raumentwicklung des Sehenden vollst\u00e4ndig in Parallele gebracht werden muss zu der Raumentwicklung des Blindgeborenen, bei dem allein der Tastsinn eine \u00e4hnliche Selbst\u00e4ndigkeit erreicht. Den Tasteindr\u00fccken entsprechen die Netzhauteindr\u00fccke, den Tastbewegungen die Augenbewegungen. Aber wie die Tasteindr\u00fccke eine locale Bedeutung erst durch die mit ihnen verbundenen localen F\u00e4rbungen der Empfindung, die Localzeichen, gewinnen k\u00f6nnen, so wird nothwendig das \u00e4hnliche bei den Netzhauteindr\u00fccken vorauszusetzen sein.\n22 a. Allerdings l\u00e4sst sich eine qualitative Abstufung der Localzeichen auf der Netzhaut nicht mit gleicher Deutlichkeit wie auf der \u00e4u\u00dferen Haut nachweisen. Doch kann man bei farbigen Eindr\u00fccken im allgemeinen feststellen, dass sich in gr\u00f6\u00dferen Abst\u00e4nden vom Netzhautcentrum allm\u00e4hlich die Qualit\u00e4t der Empfindung \u00e4ndert, indem theils die Farben im indirecten Sehen unges\u00e4ttigter, theils aber auch in einem qualitativ andern Farbenton, z. B. gelb wie orange, empfunden werden. Nun liegt allerdings in diesen Eigenth\u00fcmlichkeiten kein strenger Beweis f\u00fcr die Existenz rein localer Unterschiede der Empfindung, vollends von so feiner Abstufung, w'ie sie z. B. in der Netzhautmitte vorauszusetzen ist. Immerhin wird dadurch best\u00e4tigt, dass locale Unterschiede der Empfindungsqualit\u00e4t \u00fcberhaupt existiren, und dies l\u00e4sst die Annahme solcher noch jenseits der Grenzen, in der sie nachweisbar sind, um so gerechtfertigter erscheinen, als jene unmittelbare Umdeutung der Empfindungsunterschiede in locale Unterschiede, die schon beim Tastorgan zu bemerken ist, hier,","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n151\nwo es sich um viel feinere Abstufungen handelt, noch weit mehr geeignet sein wird die Unterscheidung der qualitativen Differenzen als solcher zu beeintr\u00e4chtigen. Eine Best\u00e4tigung dieser Auffassung darf man wohl in der Thatsache sehen, dass auch jene deutlich nachweisbaren Empfindungsunterschiede in gr\u00f6\u00dferen Distanzen vom Netzhautcentrum doch nur bei geeigneter Einwirkung begrenzter Objecte beobachtet werden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend sie bei der Betrachtung einer gleichm\u00e4\u00dfigen farbigen Oberfl\u00e4che vollkommen verschwinden. Bei diesem Verschwinden qualitativer Unterschiede, die an und f\u00fcr sich sehr bedeutend sind, wird die Beziehung auf locale Unterschiede wenigstens als ein mitwirkender Factor angesehen werden m\u00fcssen. Wenn aber schon relativ gro\u00dfe Unterschiede in Folge dieser Beziehung so verschwinden, dass sie besonderer Versuchsmethoden zu ihrer Nachweisung bed\u00fcrfen, so wird man an diese Nachweisung bei sehr kleinen Unterschieden \u00fcberhaupt nicht mehr denken k\u00f6nnen.\n23. Nehmen wir demnach qualitative Localzeichen an, die nach Ma\u00dfgabe der durch die Sehsch\u00e4rfe gegebenen Daten, im Netzhautcentrum also am feinsten und gegen die Netzhautperipherie immer langsamer, sich ahstufen, so kann die Entstehung der r\u00e4umlichen Ordnung der Lichteindr\u00fccke als eine Einordnung dieses nach zwei Dimensionen geordneten Localzeichensystems in ein intensiv abgestuftes System von Bewegungsempfindungen gedeutet werden. F\u00fcr je zwei Localzeichen a und b wird die bei der Durchmessung der Strecke a b entstehende Bewegungsempfindung a ein Ma\u00df der linearen Kaumgr\u00f6\u00dfe a b sein, insofern z. B. einer gr\u00f6\u00dferen Strecke a c eine intensivere Bewegungsempfindung y entsprechen muss. Wie aber am tastenden Finger der Funkt der feinsten Unterscheidung zum Mittelpunkt der Orientirung wird, so wird im Auge dem Netzhautcentrum die Bedeutung eines solchen Mittelpunktes zukommen. In der That findet dies gerade beim Auge noch deutlicher als beim Tastorgan in den Gesetzen der Bewegung seinen Ausdruck. Jeder leuchtende Funkt im","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nII. Die psychischen Gebilde.\nSehfelde bildet n\u00e4mlich einen Reiz f\u00fcr den Innervationsmechanismus des Auges, so dass sich die Blicklinie reflec-toriscli auf denselben einzustellen strebt. In dieser reflec-torischen Beziehung excentrisch gelegener Lichtreize zur Netzhautmitte liegt einestheils wahrscheinlich eine wesentliche Bedingung zur Ausbildung der oben erw\u00e4hnten Synergie der Augenbewegungen ; anderseits erkl\u00e4rt sie die gro\u00dfe Schwierigkeit der Beobachtung indirect gesehener Objecte. Diese Schwierigkeit entspringt offenbar daraus, dass die Richtung der Aufmerksamkeit auf einen seitlich gelegenen Punkt die Reflexwirksamkeit desselben im Vergleich mit andern, nicht in \u00e4hnlicher Weise bevorzugten Punkten vergr\u00f6\u00dfert. In Folge der dominirenden Bedeutung, die so das Netzhairtcentrum bei den Bewegungen des Auges gewinnt, wird nothwendig der Blickpunkt zum Mittelpunkt der Orien-tirung im Sehfeld, und alle Entfernungen in diesem werden dadurch einem einheitlichen Ma\u00dfe unterworfen, dass sie s\u00e4mmtlich in Bezug auf den Blickpunkt bestimmt werden. Indem nun die Localzeichen immer erst durch die \u00e4u\u00dferen Lichteindr\u00fccke ausgel\u00f6st werden, beide zusammen aber die nach dem Netzhautcentrum orientirten Augenbewegungen bestimmen, stellt sich so der ganze Vorgang der r\u00e4umlichen Ordnung als ein Process der Verschmelzung dreier verschiedener Empfindungselemente dar, n\u00e4mlich der in der Beschaffenheit der \u00e4u\u00dferen Reize begr\u00fcndeten Empfindungsqualit\u00e4ten, der von den Orten der Reizeinwirkung abh\u00e4ngigen qualitativen Localzeichen und der durch die Beziehung der gereizten Punkte zum Netzhautcentrum bestimmten intensiv abgestuften Bewegungsempfindungen. Dabei k\u00f6nnen die letzteren entweder, und dies ist das urspr\u00fcngliche, die wirkliche Bewegung begleiten; oder sie k\u00f6nnen sich bei ruhendem Auge als blo\u00dfe Bewegungsantriebe von bestimmter Gr\u00f6\u00dfe geltend machen. Wegen der regelm\u00e4\u00dfigen Zuordnung","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n153\nder qualitativen Localzeichen zu den intensiven Bewegungsempfindungen lassen sich beide zusammen auch als ein System complexer Localzeichen betrachten. Die r\u00e4umliche Localisation irgend eines einfachen Lichteindrucks erscheint dann als das Product einer vollst\u00e4ndigen Verschmelzung der durch den \u00e4u\u00dferen Reiz bestimmten Lichtempfindung mit je zwei zusammengeh\u00f6rigen Elementen jenes complexen Localzeichensystems ; und die r\u00e4umliche Ordnung einer Mehrheit einfacher Eindr\u00fccke besteht in der Verbindung einer gro\u00dfen Anzahl solcher Verschmelzungen, die qualitativ und intensiv nach Ma\u00dfgabe der Elemente des Localzeichensystems gegen einander ahgestuft sind. In diesen Verschmelzungs-producten sind die von den \u00e4u\u00dferen Reizeinwirkungen bestimmten Empfindungen die herrschenden Elemente, gegen\u00fcber denen die Elemente des Localzeichensystems selbst in ihrer urspr\u00fcnglichen qualitativen und intensiven Beschaffenheit zur\u00fccktreten, da sie bei der unmittelbaren Auffassung der Objecte ganz und gar in ihrer r\u00e4umlichen Bedeutung aufgehen.\nMit diesem verwickelten Verschmelzungsprocess, der die Ordnung der Elemente im Sehfelde bestimmt, verbindet sich nun aber bei jeder einzelnen r\u00e4umlichen Vorstellung noch ein zweiter Vorgang, aus dem das Verh\u00e4ltniss der gesehenen Objecte zu dem Subjecte entspringt, und zu dessen Betrachtung wir nunmehr \u00fcbergehen.\nb. Die Orientirung der Gesichtsvorstellungen zum vorstellenden Subjecte.\n24. Der einfachste Fall eines in einer Gesichtsvorstellung zum Ausdruck kommenden Verh\u00e4ltnisses zwischen einem Eindruck und dem sehenden Subjecte liegt offenbar dann vor, wenn sich der Eindruck auf einen einzigen Punkt re-ducirt. Ist ein Lichtpunkt im Sehfelde allein gegeben, so","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nII. Die psychischen Gebilde.\nstellen sich verm\u00f6ge des oben (S. 152 j erw\u00e4hnten refl.ec-torischen Zwanges, den der Reiz aus\u00fcbt, beide Blicklinien derart auf ihn ein, dass sein Bild jederseits im Netzhautcentrum liegt, w\u00e4hrend sich zugleich die Accommodations-apparate der Entfernung des Punktes anpassen. Der so in beiden Augen auf der Netzhautmitte sich ahbildende Punkt wird einfach und zugleich in einer bestimmten Richtung und Entfernung von dem vorstellenden Subjecte gesehen.\nHierbei wird dieses letztere seihst in der Regel durch einen im Kopfe gelegenen Punkt repr\u00e4sentirt, der sich als Mittelpunkt der die Drehpunkte beider Augen verbindenden Geraden bestimmen l\u00e4sst. Wir wollen diesen Punkt den Orientirungspunkt des Sehfeldes und die von ihm zum Convergenzpunkt der beiden Blicklinien oder dem \u00e4u\u00dferen Blickpunkt gezogene Gerade die Orientirungslinie nennen. Bei der Fixation eines Punktes im Raum ist nun stets eine ziemlich genaue Vorstellung von der Richtung der Orientirungslinie vorhanden. Diese Vorstellung wird aber durch die an die Lage der beiden Augen gebundenen inneren Tastempfindungen vermittelt, die sich bei stark excentrischen Augenstellungen durch ihre Intensit\u00e4t sehr bemerkbar machen. Da diese schon im einzelnen Auge gleich deutlich wahrzunehmen sind, so ist \u00fcbrigens die Richtungslocalisation des monocularen ebenso vollkommen wie die des binocularen Sehens; nur f\u00e4llt bei jenem die Orientirungslinie im allgemeinen mit der Blicklinie selbst zusammen. 1 :\n1) Die Gew\u00f6hnung an das binoculare Seben bedingt jedoch Ausnahmen hiervon, indem h\u00e4ufig bei Verschluss des einen Auges die Orientirungslinie von der Blicldinie im Sinne der binocularen Orientirungslinie abweicht. Dem entspricht es, dass in solchen F\u00e4llen das geschlossene die Bewegungen des sehenden Auges bis zu einem gewissen Grade im Sinne der Einstellung auf einen gemeinsamen Fixationspunkt mitzumachen pflegt.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\t155\n25.\tUnbestimmter als die Vorstellung der Richtung ist die der Entfernung der Objecte vom Sehenden oder der absoluten Gr\u00f6\u00dfe der Orientirungslinie, und zwar sind wir durchweg geneigt, uns diese Gr\u00f6\u00dfe kleiner vorzustellen, als sie wirklich ist, wie man sich \u00fcberzeugt, wenn man dieselbe mit einem im Sehfeld befindlichen etwa senkrecht zu Ungelegenen Ma\u00dfstabe vergleicht. Die als gleich gro\u00df vorgestellte L\u00e4nge des Ma\u00dfstabes ist dann immer erheblich kleiner als die wirkliche L\u00e4nge der Orientirungslinie; und dieser Unterschied ist um so bedeutender, je weiter der Blickpunkt r\u00fcckt, je l\u00e4nger also die Orientirungslinie ist. Die Empfindungscomponenten, welche diese Vorstellung der Gr\u00f6\u00dfe der Orientirungslinie ergeben, k\u00f6nnen nun allein diejenigen Bestandtheile der an die Stellungen der beiden Augen gebundenen inneren Tastempfindungen sein, die spe-ciell mit der Convergenzstellung der Blicklinien verbunden sind und daher auch ein gewisses Ma\u00df f\u00fcr die absolute Gr\u00f6\u00dfe dieser Convergenz enthalten. In der That beobachtet man beim Wechsel der Convergenzstellungen Empfindungen, die beim Uebergang zu st\u00e4rkerer Convergenz haupts\u00e4chlich am innern, beim Uebergang zu schw\u00e4cherer Convergenz am \u00e4u\u00dfern Augenwinkel ihren Sitz haben. Durch die Summe der einer gegebenen Convergenzstellung entsprechenden Empfindungen ist aber dieselbe gegen\u00fcber allen andern Convergenzstellungen vollst\u00e4ndig charakterisirt.\n26.\tHiernach kann sich die Vorstellung einer bestimmten absoluten Gr\u00f6\u00dfe der Orientirungslinie erst auf Grund von Erfahrungseinfl\u00fcssen entwickeln, bei denen neben den directen Empfindungselementen noch mannigfache Associationen eine Rolle spielen. Daraus erkl\u00e4rt es sich, dass jene Vorstellung immer unbestimmt bleibt, und dass sie durch andere Bestandtheile der Gesichtswahrnehmungen, namentlich durch die Gr\u00f6\u00dfe der Netzhautbilder bekannter Objecte, bald","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nII. Die psychischen Gebilde.\nunterst\u00fctzt, bald aber auch beeintr\u00e4chtigt wird. Dagegen besitzen wir in den Convergenzempfindungen ein verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig feines Ma\u00df f\u00fcr Entfernungsunterschiede der gesehenen Objecte, also f\u00fcr die relativen Ver\u00e4nderungen, welche die Gr\u00f6\u00dfe der Orientirungslinie beim Uebergang von einem n\u00e4heren zu einem ferneren oder von einem ferneren zu einem n\u00e4heren Fixationspunkte erf\u00e4hrt. Man kann auf diese Weise bei Stellungen des Auges, die sich der Parallelstellung der Gesichtslinien n\u00e4hern, noch Convergenz\u00e4nde-rungen empfinden, die einer Winkeldrehung von 60\u201470 Sec. entsprechen. Mit der Zunahme der Convergent nimmt diese kleinste empfindbare Convergenz\u00e4nderung zwar betr\u00e4chtlich zu, jedoch so, dass trotzdem die entsprechenden Unterschiede in der Gr\u00f6\u00dfe der Orientirungslinie immer kleiner werden. Demnach werden die an sich rein intensiven Empfindungen, welche die Convergenzbewegungen begleiten, unmittelbar in Vorstellungen einer Distanz\u00e4nderung zwischen dem Fixationspunkt und dem Orientirungspunkt des vorstellenden Subjectes umgesetzt.\nDass auch diese Umsetzung eines bestimmten Empfind-dungscomplexes in eine r\u00e4umliche Distanzvorstellung nicht auf einer angeborenen Energie, sondern auf einer bestimmten psychischen Entwicklung beruht, zeigt \u00fcbrigens eine Menge von Erfahrungen, die auf eine solche Entwicklung hinweisen. Hierher geh\u00f6rt schon die Thatsache, dass die Auffassung von absoluten Entfernungen wie von Entfernungsunterschieden in hohem Ma\u00dfe durch die Uebung vervollkommnet wird. So sind Kinder meist geneigt sehr entfernte Gegenst\u00e4nde in unmittelbare N\u00e4he zu verlegen: sie greifen nach dem Monde, nach dem Dachdecker auf dem Thurm u. dergl. Ebenso hat man bei operirten Blindgeborenen unmittelbar nach der Operation eine v\u00f6llige Unf\u00e4higkeit nah und fern zu unterscheiden beobachtet.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n157\n27. Bei der Entwicklung dieser Unterscheidung von fern und nahe kommt in Betracht, dass uns unter den nat\u00fcrlichen Bedingungen des Sehens niemals blo\u00df isolirte Punkte, sondern dass uns ausgedehnte k\u00f6rperliche Objecte oder mindestens mehrere in verschiedener Tiefenentfernung gelegene Punkte gegeben sind, denen wir im Verh\u00e4ltniss zu einander auf den zu ihnen geh\u00f6rigen Orientirungslinien verschiedene Entfernungen anweisen.\nFassen wir nun liier zun\u00e4chst den einfachsten Fall ins Auge, dass zwei in verschiedener Tiefendistanz gelegene Punkte a und b gegeben und durch eine gerade Linie mit einander verbunden seien. Ein Wechsel der Fixation zwischen \u00ab und b f\u00fchrt dann stets zugleich eine Convergenz-\u00e4nderung mit sich, und es wird demnach ein solcher Wechsel der Fixation erstens das Durchlaufen einer der Strecke a b entsprechenden stetigen Reihe von Localzeichen der Netzhaut und zweitens eine der Convergenz um die Distanz a b entsprechende Bewegungsempfindung a hervorbringen. Damit sind auch hier die Elemente eines r\u00e4umlichen Verschmel-zungsproductes gegeben. Dieses Verschmelzungsproduct ist aber ein eigenartiges: es unterscheidet sich in seinen beiden Bestandtheilen, in der ablaufenden Localzeichenreihe und in den begleitenden Bewegungsempfindungen, durchaus von jenen Verschmelzungsproducten, die beim Durchlaufen einer Strecke im Sehfeld entstehen (S. 151). W\u00e4hrend in diesem letzteren Fall die Ver\u00e4nderungen sowohl der Localzeichen wie der Bewegungsempfindungen in beiden Augen im gleichen Sinne erfolgen, geschehen sie bei der Einstellung des Blickpunktes von fern auf nahe oder von nahe auf fern jedesmal m beiden Augen in entgegengesetztem Sinne. Denn wenn sich bei der Convergenz\u00e4nderung das rechte Auge nach links dreht, so dreht sich das linke Auge nach rechts, und umgekehrt; das n\u00e4mliche muss dann aber von der Bewegung","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nII. Die psychischen Gebilde.\nder Netzhautbilder gelten: bewegt sich das Bild des soeben vom Blickpunkt verlassenen Punktes im rechten Auge nach rechts, so bewegt es sich im linken nach links, und umgekehrt. Ersteres tritt ein, wenn die Augen von einem n\u00e4heren zu einem ferneren, letzteres wenn sie von einem ferneren zu einem n\u00e4heren Punkte \u00fcbergehen. Die bei solchen Convergenzbewegungen entstehenden Verschmelzungsproducte haben also in Bezug auf ihre qualitativen und intensiven Bestandtheile eine analoge Zusammensetzung wie diejenigen, auf denen die wechselseitige Ordnung der Elemente des Sehfeldes beruht; die specielle Verbindungsweise der Bestandtheile ist jedoch in beiden F\u00e4llen eine durchaus verschiedene.\n28. Auf diese Weise bilden hier die Verschmelzungen der Localzeichen mit den Convergenzempfindungen ein dem oben (S. 153) abgeleiteten analoges, aber in seiner Zusammensetzung eigenth\u00fcmliches complexes Localzeichensystem, welches, entsprechend dieser Zusammensetzung, eine von jenem Localzeichensystem des Sehfeldes abweichende, doch dasselbe erg\u00e4nzende Bedeutung gewinnt, indem es zu dem Verh\u00e4ltniss der objectiven Elemente zu einander deren Verh\u00e4ltniss zu dem Vorstellenden Subjecte hinzuf\u00fcgt. Dieses Verh\u00e4ltniss zerf\u00e4llt dann wieder in die zwei durch eigenartige Empfindungselemente gekennzeichneten Vorstellungs-componenten der Richtungsvorstellung und der Entfernungsvorstellung. Beide werden zun\u00e4chst auf den im Kopfe des vorstellenden Subjectes localisirten Orientirungs-punkt bezogen, dann aber auf die Verh\u00e4ltnisse \u00e4u\u00dferer Objecte zu einander \u00fcbertragen, indem je zwei Punkten, die auf der allgemeinen Orientirungslinie in verschiedenen Entfernungen liegen, selbst wieder in Bezug aufeinander eine Richtung und Entfernung beigelegt wird. Die Gesammt-heit der so auf die Orientirungslinie in ihren wechselnden Lagen zur\u00fcckbezogenen r\u00e4umlichen Entfernungsvorstellungen","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\t159\nbezeichnen wir als Tiefenvorstellungen oder, wenn sie zugleich Vorstellungen bestimmter einzelner Objecte sind, als k\u00f6rperliche Vorstellungen.\n29.\tDie auf die angegebene Weise entstandene Tiefenvorstellung ist nun eine nach objectiven und subjectiven Bedingungen wechselnde. Die absolute Entfernungsbestimmung eines einzelnen im Sehfeld isolirten Punktes ist stets eine sehr unsichere. Ebenso ist aber die relative Entfernungsbestimmung zweier in verschiedener Tiefe gelegenen Punkte a und b nur dann in der Kegel sicher, wenn dieselben, wie oben vorausgesetzt wurde, durch eine Linie verbunden sind, auf der sich die Blickpunkte beider Augen bei der wechselnden Einstellung auf a oder b bewegen k\u00f6nnen. Bezeichnen wir solche Linien, die verschiedene Punkte im Raum mit einander verbinden, als Fixationslinien, so l\u00e4sst sich diese Bedingung in dem Satze aussprechen: Punkte im Raum werden im allgemeinen nur dann in ihren richtigen Relationen zu einander aufgefasst, wenn sie durch Fixationslinien verbunden sind, auf denen sich die Blickpunkte beider Augen bewegen k\u00f6nnen. Dieser Satz erkl\u00e4rt sich daraus, dass die Bedingung einer regelm\u00e4\u00dfig verbundenen Ver\u00e4nderung der Localzeichen der Netzhaut und der begleitenden Convergenzempfindungen, wie wir sie oben (S. 157) f\u00fcr die Entstehung der Tiefenvorstellung kennen lernten, offenbar nur dann erf\u00fcllt ist, wenn bestimmte Eindr\u00fccke gegeben sind, welche die zugeh\u00f6rigen Localzeichen erwecken k\u00f6nnen.\n30.\tWenn nun aber die angegebene Bedingung nicht erf\u00fcllt ist, sondern entweder nur eine unvollkommene und unbestimmte Vorstellung der verschiedenen relativen Entfernungen der zwei Punkte vom Subjecte entsteht, oder, was allerdings nur bei starrer Fixation eines Punktes eintreten kann, wenn die beiden Punkte in gleicher Tiefendistanz erscheinen, so tritt damit stets zugleich noch eine andere","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nII. Dio psychischen Gebilde.\nVer\u00e4nderung der Vorstellung ein: es wird n\u00e4mlich nur der fixirte Punkt einfach, der andere Punkt aber doppelt gesehen. Aehnliches geschieht bei der Betrachtung ausgedehnter Objecte, wenn sie mit dem binocular fixirten Punkt nicht durch Fixationslinien in Verbindung stehen. Die auf solche Weise erzeugten Doppelbilder sind gem\u00e4\u00df ihrer Entstehung gleichseitig, d. h. das rechte geh\u00f6rt dem rechten, das linke dem linken Auge an, wenn der fixirte Punkt n\u00e4her liegt als das beobachtete Object; sie sind gekreuzt, wenn jener weiter entfernt liegt.\nHiernach sind binoculare Entfernungslocalisation und binoculare Doppelbilder Erscheinungen, die in unmittelbarer Wechselbeziehung zu einander stehen: wo jene unbestimmt oder unvollkommen ist, entstehen diese; wo umgekehrt diese fehlen, da ist jene bestimmt und genau. Zugleich sind beide Erscheinungen derart an die Existenz der Fixationslinien gekn\u00fcpft, dass diese die Entstehung der Tiefenvorstellung vermitteln helfen und damit zugleich die Doppelbilder beseitigen. Doch ist die letztere Kegel insofern keine ausnahmslose, als bei starrer binocularer Fixation eines Punktes trotz vorhandener Fixationslinien leicht Doppelbilder entstehen. Auch dies erkl\u00e4rt sich aus den oben (S. 157) im allgemeinen vorausgesetzten Bedingungen der Tiefenvorstellungen. Wie bei dem Mangel der Fixationslinien die geforderten Localzeichenordnungen, so werden n\u00e4mlich bei starrer Fixation die an die Bewegung gebundenen Convergenzempfmdungen hinwegfallen.\nc. Die Beziehungen zwischen der wechselseitigen Orientirung der Elemente und ihrer Orientirung zum Subject.\n31. Sobald das Sehfeld nur als eine wechselseitige Orientirung der Lichtein dr\u00fccke gedacht wird, stellen wir uns","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\n161\ndasselbe als eine Fl\u00e4che vor und bezeichnen daher die einzelnen in dieser Fl\u00e4che gelegenen Objecte, im Gegens\u00e4tze zu den Tiefenvorstellungen, als Fl\u00e4chenvorstellungen. Auch in einer Fl\u00e4chenvorstellung kann jedoch in doppelter Hinsicht die Orientirung in Bezug auf das sehende Subject niemals fehlen: erstens insofern als jeder Punkt des Sehfeldes auf der oben (S. 154) erw\u00e4hnten subjectiven Orientirungslinie in einer bestimmten Richtung gesehen wird; und zweitens insofern als das ganze Sehfeld in eine wenn auch noch so unbestimmte Entfernung vom Sehenden verlegt wird.\nDie erste dieser Orientirungen hat zur Folge, dass dem umgekehrten Netzhautbild ein aufrechtstehendes Vorstellungsobject entspricht. Dieses Verh\u00e4ltnis der obj.ec-tiven Richtungslocalisation zum Netzhautbild ist eine ebenso nothwendige Wirkung der Bewegungen des Auges, wie die Umkehrung des Netzhautbildes selbst eine Wirkung der optischen Eigenschaften des Auges ist. Unsere Orientirungslinie im Raum ist ja die \u00e4u\u00dfere Blicklinie oder, f\u00fcr das binoculare Sehen, die aus dem Zusammenwirken der Blickbewegungen hervorgehende mittlere Orientirungslinie. Einer im \u00e4u\u00dferen Raum nach oben gehenden Richtung dieser Orientirungslinie entspricht aber in dem hinter dem Drehpunkt gelegenen Raum des Netzhautbildes eine nach unten gehende Richtung, und umgekehrt. Das Netzhautbild muss also verkehrt sein, wenn wir die Objecte aufrecht sehen sollen.\n32. Die zweite nie fehlende Orientirung, die der Entfernung des Sehfeldes, f\u00fchrt f\u00fcr die wechselseitige Orientirung der Theile desselben die Folge mit sich, dass die s\u00e4mmtlichen Punkte des Sehfeldes auf einer Hohlkugelfl\u00e4che angeordnet erscheinen, deren Mittelpunkt im Orien-tirungspunkt oder beim monocularen Sehen im Drehpunkt\nWundt, Psychologie.\t\\ J","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nII. Die psychischen Gebilde.\ndes Auges liegt. Da nun kleine Theile einer gr\u00f6\u00dferen Kugelfl\u00e4che als Ebenen erscheinen, so sind die auf einzelne Objecte bezogenen Fl\u00e4chenvorstellungen in der Regel ebene Vorstellungen: so z. B. auf einer Ebene gezeichnete Figuren, wie die der ebenen Geometrie. Sobald sich aber einzelne Theile derart von diesem allgemeinen Sehfelde abheben, dass sie vor oder hinter demselben, also in verschiedenen Sehfeldfl\u00e4chen localisirt werden, so geht damit die Fl\u00e4chen- in die Tiefenvorstellung \u00fcber.\n32 a. Bezeichnen wir die bei der Convergenz von einem ferneren auf einen n\u00e4heren oder von einem n\u00e4heren auf einen ferneren Punkt entstehenden Verschmelzungen qualitativer Localzeichen mit Convergenzempfindungen als die complexen Localzeichen der Tiefe, so bilden dieselben f\u00fcr jedes System irgendwie vor und hinter dem Fjxirpunkt gelegener Punkte oder f\u00fcr einen ausgedehnten K\u00f6rper, der nichts anderes als ein System derartiger Punkte ist, ein regelm\u00e4\u00dfig geordnetes System, in welchem eine in bestimmter Entfernung befindliche stereometrische Form stets eindeutig durch ein bestimmtes Verschmelzungsproduct vertreten wird. Wie aber schon, wenn man von zwei in verschiedener Tiefe gelegenen Punkten einen fixirt, der andere durch entgegengesetzte Bildlage in beiden Augen und dom entsprechend durch complexe Localzeichen von entgegengesetzter Richtung charakterisirt ist, so findet das auch bei zusammenh\u00e4ngenden Systemen von Punkten oder ausgedehnten K\u00f6rpern statt. Wenn wir einen k\u00f6rperlich ausgedehnten Gegenstand betrachten, so entwirft derselbe in beiden Augen Bilder, die, wegen der verschiedenen Orientirung des K\u00f6rpers zu jedem Auge, von einander verschieden sind. Bezeichnet man daher die Lage-differenz eines Bildpunktes im einen von der im andern Auge als b inocula re Parallaxe, so ist diese nur f\u00fcr den fixirten Punkt sowie f\u00fcr diejenigen Punkte, die auf der Orientirungslinie gleich weit entfernt liegen wie jener, gleich null; f\u00fcr alle andern Punkte aber hat sie einen bestimmten positiven oder negativen Werth, je nachdem dieselben ferner oder n\u00e4her sind als der Fixationspunkt. Wenn wir k\u00f6rperlich ausgedehnte Objecte bino-","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a710. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\t163\ncular fixiren, so entwirft nur der fixirte Punkt samt den mit ihm in gleicher Entfernung gelegenen und ihm im Sehfelde benachbarten Punkten in beiden Augen Bilder von \u00fcbereinstimmender Lage. Alle nicht in gleicher Entfernung gelegenen Theile des Objectes dagegen entwerfen in beiden Augen Bilder von abweichender Lage und Gr\u00f6\u00dfe. Diese Unterschiede der Bilder aber sind es gerade, die, wenn die zugeh\u00f6rigen Fixatioris-linien gegeben sind, die Vorstellung der k\u00f6rperlichen Beschaffen-heit des Objectes hervorbringen, indem in der oben angegebenen Weise der parallaktische Verschiebungswinkel, der den binocularen Bildpunkten irgend eines vor oder hinter dem fixirten Punkte gelegenen und mit ihm durch eine Fixationslinie verbundenen Objectpunktes entspricht, seiner Bichtung und Gr\u00f6\u00dfe nach durch die an ihn gebundenen eomplexen Localzeichen ein Ma\u00df f\u00fcr die relative Tiefendistanz dieses Objectpunktes ist. Da der parallaktische Verschiebungswinkel f\u00fcr eine gegebene objective Tiefendistanz proportional der Entfernung des k\u00f6rperlichen Gegenstandes abnimmt, so vermindert sich aber mit dieser Entfernung der Eindruck der K\u00f6rperlichkeit der Objecte; und sobald die Entfernung eines K\u00f6rpers so gro\u00df geworden ist, dass die s\u00e4mmt-lichen parallaktischen Verschiebungswinkel verschwinden, so wird der K\u00f6rper nur noch fl\u00e4chenhaft gesehen, falls nicht die sp\u00e4ter in \u00a7 16, 9) zu er\u00f6rternden Associationen dennoch eine Tiefenvorstellung erzeugen.\n33. Der Einfluss des binocularen Sehens auf die Tiefenvorstellungen l\u00e4sst sich experimentell mit H\u00fclfe des Stereoskops studiren. Die Wirkung dieses Instrumentes beruht darauf, dass es mit H\u00fclfe von zwei Prismen, die, mit den brechenden Winkeln einander zugekehrt, vor beide Augen gebracht werden, eine binoeulare Vereinigung zweier ebener Zeichnungen erm\u00f6glicht, die den von einem k\u00f6rperlichen Gegenstand herr\u00fchrenden Netzhautbildern entsprechen. Dabei l\u00e4sst sich dann der Einfluss der verschiedenen Bedingungen auf die Tiefenvorstellung, weil sie willk\u00fcrlich variirt werden k\u00f6nnen, weit vollkommener erforschen als mittelst der Betrachtung wirklicher k\u00f6rperlicher Gegenst\u00e4nde.","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nIL Dio psychischen Gebilde.\nSo beobachtet man z. B., dass verwickeltere stereoskopische Bilder meist mehrerer hin- und hergehender Convergenzbewegungen bed\u00fcrfen, ehe eine deutliche plastische Vorstellung entstellt. Die Wirkung der parallaktischen Verschiebung zeigt sich ferner bei der Beobachtung stereoskopischer Bilder, deren Theile gegen einander beweglich sind. Solche Bewegungen sind n\u00e4mlich von Ver\u00e4nderungen des Reliefs begleitet, die genau den entsprechenden Ver\u00e4nderungen der binocularen Parallaxe entsprechen. Da die letztere von der Distanz der beiden Augen abh\u00e4ngt, so kann man endlich die k\u00f6rperliche Vorstellung auch bei solchen Objecten hervorbringen, die in Wirklichkeit wegen ihrer gro\u00dfen Entfernung keine plastischen Effecte erzeugen: wenn man n\u00e4mlich Bilder dieser Objecte stereoskopisch verbindet, die von Standorten aufgenommen sind, deren Distanz erheblich gr\u00f6\u00dfer als die der beiden Augen ist. Das geschieht z. B. bei den stereoskopischen Landschaftsphotographien, die darum auch nicht so wie die wirklichen Landschaften, sondern wie plastische Modelle derselben aussehen, die wir in der N\u00e4he betrachten.\n34. Beim Sehen mit einem Auge fallen alle die Bedingungen hinweg, die mit den Convergenzbewegungen und der binocularen Verschiedenheit der Netzhautbilder Zusammenh\u00e4ngen, und die sich im Stereoskop k\u00fcnstlich nachahmen lassen. Dennoch ermangelt auch das monoculare Sehen nicht aller Einfl\u00fcsse, die eine, wenn auch unvollkommenere, Tiefenlocalisation hervorbringen.\nWenig erheblich, ja wahrscheinlich im Vergleich mit den andern Bedingungen gar nicht in Betracht kommend ist hier der directe Einfluss der Accommodationsbe wegung en. Allerdings sind auch sie, \u00e4hnlich den Convergenzbewegungen, von Empfindungen begleitet, die man bei starken Accom-modationsanstrengungen von fern auf nah deutlich wahr-","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 10. Die r\u00e4umlichen Vorstellungen.\t165\nnimmt. Aber bei geringeren Tiefenverschiebungen sind diese Empfindungen sehr unsicher. Wenn man daher monocular einen Punct fixirt, so wird eine Bewegung desselben in der Richtung der Blicklinie meistens erst dann deutlich wahr-genommen, wenn auch eine Ver\u00e4nderung in der Gr\u00f6\u00dfe des Netzliautbildes eingetreten ist.\n35. Von \u00fcberwiegender Bedeutung sind deshalb bei der Ausbildung monocularer K\u00f6rpervorstellungen die Einfl\u00fcsse, welche die Bestandtheile der sogenannten Perspective aus\u00fcben, wie relative Gr\u00f6\u00dfe des Gesichtswinkels, Verlauf der Begrenzungslinien, Richtung der Schatten, Aenderung der Farben durch atmosph\u00e4rische Absorption u. s. w. Da alle diese Einfl\u00fcsse, die sich in ganz \u00fcbereinstimmender Weise bei monocularem wie bei binocularem Sehen geltend machen, auf Vorstellungsassociationen beruhen, so wird aber erst im folgenden Capitel (\u00a7 16) auf sie einzugehen sein.\n35 a. In der Erkl\u00e4rung der Gesichtsvorstellungen stehen sich im allgemeinen die n\u00e4mlichen theoretischen Anschauungen gegen\u00fcber, die uns bei der Theorie der Tastvorstellungen begegnet sind (S. 134). Die empiristische Theorie hat hier in ihrer Beschr\u00e4nkung airf das optische Gebiet zuweilen die Inconsequenz begangen, dass sie das eigentliche Problem der Raumwahrnehmung dem Tastsinn zuschob und sich demnach darauf beschr\u00e4nkte zu er\u00f6rtern, wie auf \u00bbGrund bereits vorhandener r\u00e4umlicher Tastvorstellungen eine Localisation der Gesichtseindr\u00fccke mit H\u00fclfe der Erfahrung zu Stande komme. Eine solche Interpretation steht aber nicht nur in einem innern Widerspruch mit sich selber, sondern sie widerspricht auch der Erfahrung, welche zeigt, dass beim sehenden Menschen die r\u00e4umlichen Wahrnehmungen des Gesichtssinns f\u00fcr die des Tastsinns bestimmend sind, nicht umgekehrt (S. 123). Die Thatsache der generellen Entwicklung, dass der Tastsinn der fr\u00fcher ausgebildete Sinn ist, l\u00e4sst sich also hier nicht auf die individuelle Entwicklung \u00fcbertragen. F\u00fcr die nativistische Theorie hat man als haupts\u00e4chlichste Belege erstens die Metamorphopsien nach Dislocationen der Ketzhautelemente (S. 140) und zweitens","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nII. Die psychischen Gebilde.\ndie auf eine urspr\u00fcnglich gemeinsame Function des Doppelauges hinweisende Lage der Orientirungslinie (S. 154) angef\u00fchrt. Dass die Metamorphopsien ebenso wie andere ihnen verwandte Erscheinungen, sobald die zu Grunde liegenden Ver\u00e4nderungen station\u00e4r werden, das Gegentheil beweisen, ist oben bemerkt worden (S. 141). Dass ferner die Lage der Orientirungslinie keine urspr\u00fcngliche, sondern eine unter dem Einfluss der Bedingungen des Sehens entstandene ist, bezeugt das bei l\u00e4nger dauerndem monocularem Sehen erfolgende Zusammenfallen derselben mit der Blicklinie des sehenden Auges (S. 154). Nicht minder spricht f\u00fcr die genetische und gegen die nativistisclie Theorie die Thatsache, dass sich beim menschlichen Kinde die Synergie der Augenbewegungen unter dem Einfluss der Lichtreize entwickelt, und dass damit die Ausbildung der r\u00e4umlichen \"Wahrnehmungen Hand in Hand zu gehen scheint. In dieser wie in mancher andern Beziehung verh\u00e4lt sich freilich die Entwicklung der meisten Thiere insofern abweichend, als bei ihnen die reflectorischen Verbindungen der Netzhauteindr\u00fccke mit den Augen- und Kopfbewegungen unmittelbar nach der Geburt schon vollkommen functioniren. (Vgl. unten \u00a7 19, 2.)\nDie genetische Theorie hat \u00fcber die in \u00e4lterer Zeit vorherrschenden nativistischen und empiristischen Anschauungen zun\u00e4chst in Folge des eindringenderen Studiums der Erscheinungen des binocular en Sehens die Vorherrschaft gewonnen. Vom Standpunkte des Nativismus aus macht namentlich die Frage, warum wir die Gegenst\u00e4nde im allgemeinen einfach sehen, w\u00e4hrend doch in jedem der beiden Augen Bilder derselben entworfen werden, Schwierigkeiten. Man suchte diese zu umgehen, indem man annahm, je zwei identisch gelegene Netzhautpunkte st\u00fcnden mit einer und derselben, im Chiasma des Sehnerven sich theilen-den Opticusfaser in Verbindung und repr\u00e4sentirten daher im Sen-sorium nur einen einzigen Raumpunkt. Diese Lehre von der \u00bbIdentit\u00e4t der zwei Netzh\u00e4ute\u00ab wurde aber unhaltbar, sobald man sich \u00fcber die wirklichen Bedingungen des binocularen k\u00f6rperlichen Sehens Rechenschaft zu geben anfing. Namentlich hat die Erfindung des Stereoskops auf diese Weise f\u00fcr die genetische Auffassung des Sehens eine epochemachende Bedeutung gewonnen.","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a711. Die zeitlichen Vorstellungen.\n167\n\u00a7 11. Die zeitlichen Vorstellungen.\nJ. Alle unsere Vorstellungen sind r\u00e4umlich und zeitlich zugleich. Aber wie die Bedingungen zur r\u00e4umlichen Ordnung der Eindr\u00fccke urspr\u00fcnglich nur bestimmten Sinnes-o-ebieten. dem Tust- und dem Gesichtssinn, eigent\u00fcmlich sind, von denen aus dann erst die Beziehung zum Raum auf alle andern Sinnesempfindungen \u00fcbertragen wird, so sind es auch blo\u00df zwei Empfindungsgebiete, n\u00e4mlich die bei den Tastbewegungen entstehenden inneren Tastempfindungen und die Geh\u00f6rsempfindungen, die vorzugsweise die Bildung zeitlicher Vorstellungen vermitteln. Immerhin tritt schon hier ein charakteristischer Unterschied zwischen den r\u00e4umlichen und den zeitlichen Vorstellungen darin hervor, dass bei jenen \u00fcberhaupt blo\u00df die genannten Sinne eine selbst\u00e4ndige r\u00e4umliche Ordnung erzeugen k\u00f6nnen, w\u00e4hrend hier in den zwei bevorzugten Sinnesgebieten nur die Bedingungen zur Entstehung zeitlicher Ordnungen g\u00fcnstigere sind, ohne dass jedoch solche Bedingungen bei irgend welchen andern Empfindungen fehlen. Dies weist darauf hin. dass die psychologischen Grundlagen der Zeit Vorstellung allgemeinerer Art sind, und dass sie nicht erst durch die besonderen Organisationsbedingungen einzelner Sinnesapparate bestimmt werden. Dem entspricht es auch, dass wir selbst dann, wenn wir bei irgend einem Zusammenhang psychischer Vorg\u00e4nge von den in denselben eingehenden Vorstellungsgebilden ganz absehen und blo\u00df auf die subjectiven Begleiterscheinungen derselben, die Gef\u00fchle. Affecte u. s. w., R\u00fccksicht nehmen, solchen durch Abstraction isolirten Gem\u00fcthsbewegungen genau dieselben zeitlichen Eigenschaften zuschreiben wie den Vorstellungen. In der Philosophie hat man hieraus meistens den Schluss gezogen, die Zeit sei die * allgemeinere Anschauungsform\u00ab, d. h. es","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nII. Die psychischen Gebilde.\nexistirten absolut keine psychischen Inhalte, denen nicht eine zeitliche Ordnung zukomme, w\u00e4hrend es sehr wohl solche Inhalte ohne r\u00e4umliche Ordnung geben k\u00f6nne. Gleichwohl ist dieser Schluss von der gr\u00f6\u00dferen Allgemeinheit der Bedingungen auf die gr\u00f6\u00dfere Allgemeinheit des Vorkommens der Zeitanschauungen ein irriger, der durch die psychologische Beobachtung nicht best\u00e4tigt wird. Wie wir r\u00e4umliche Eigenschaften von unsern direct die Baumanschauung erzeugenden Sinnen auf die Empfindungen anderer Sinnesgebiete \u00fcbertragen, so \u00fcbertragen wir sie auch vermittelst der Empfindungen und Vorstellungen auf die Gef\u00fchle und Gem\u00fcthsbewegungen, mit denen jene unl\u00f6sbar verbunden sind. Nicht minder l\u00e4sst sich aber bezweifeln, ob den Gem\u00fcthsbewegungen an und f\u00fcr sich, ohne die mit ihnen verbundenen Vorstellungen, jemals eine zeitliche Ordnung zukommen k\u00f6nnte ; denn zu den Bedingungen dieser Ordnung geh\u00f6ren auch hier gewisse Eigenschaften des Empfindungssubstrates der Vorstellungen. Der richtige Sachverhalt ist vielmehr der, dass alle unsere Vorstellungen und demgem\u00e4\u00df, da Vorstellungen in jeden psychischen Inhalt eingehen, \u00fcberhaupt alle psychischen Inhalte r\u00e4umlich und zeitlich zugleich sind, dass aber die r\u00e4umliche Ordnung von bestimmten Empfindungssubstraten, beim Sehenden vom Gesichts-, beim Blinden vom Tastsinn, ausgeht, w\u00e4hrend sich die Zeitvorstellungen auf alle m\u00f6glichen Empfindungssubstrate beziehen k\u00f6nnen.\n2. Gleich den r\u00e4umlichen sind die zeitlichen Gebilde den intensiven Vorstellungen gegen\u00fcber dadurch gekennzeichnet, dass die Elemente, in die sie sich zerlegen lassen, eine bestimmte, unverr\u00fcckbare Ordnung aufweisen, so dass, wenn sich diese Ordnung ver\u00e4ndert, auch das gegebene Gebilde trotz gleich bleibender Qualit\u00e4t seiner Componenten ein anderes wird. W\u00e4hrend sich aber bei den r\u00e4umlichen","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"11. Die zeitlichen Vorstellungen.\n169\nGebilden diese unverr\u00fcckbare Ordnung nur auf das Verh\u00e4lt-niss der Raumelemente zu einander, nicht auf ihr Verh\u00e4lt-niss zum vorstellenden Subjecte bezog, \u00e4ndert bei den zeitlichen Gebilden jedes Element mit dem Verh\u00e4ltniss zu allen andern Elementen des n\u00e4mlichen Gebildes immer auch sein Verh\u00e4ltniss zu dem vorstellenden Subjecte. Eine den Lage\u00e4nderungen der Raumgebilde analoge Ver\u00e4nderung gibt es daher bei der Zeit nicht.\n2a. Diese Eigenschaft des absoluten, schlechthin nicht zu ver\u00e4ndernden Verh\u00e4ltnisses jedes zeitlichen Gebildes und jedes noch so kleinen isolirt denkbaren Zeitelementes zum vorstellenden Subject ist es, die wir als das Flie\u00dfen der Zeit bezeichnen. Denn verm\u00f6ge dieses Flie\u00dfens hat eben jeder durch irgend einen Empfindungsinhalt ausgef\u00fcllte Zeitmoment ein durch keinen andern Zeitmoment ersetzbares Verh\u00e4ltniss zum Vorstellenden, w\u00e4hrend umgekehrt beim Raume gerade die M\u00f6glichkeit der Ersetzbarkeit jedes Raumelementes in seinem Verh\u00e4ltniss zum vorstellenden Subject durch jedes beliebige andere die Vorstellung der Con-stanz oder, wie wir es mittelst der Uebertragung der Zeit- auf die Raumvorstellung ausdr\u00fccken, der absoluten Dauer erweckt. Innerhalb der Zeitanschauung selbst ist die Vorstellung einer absoluten Dauer, d. h. einer Zeit in welcher sich nichts ver\u00e4ndert, schlechterdings unm\u00f6glich. Das Verh\u00e4ltniss zum Vorstellenden muss sich immer ver\u00e4ndern. Dauernd nennen wir daher nur einen Eindruck, dessen einzelne Zeittheile einander ihrem Empfindungsinhalte nach vollst\u00e4ndig gleichen, so dass sie sich blo\u00df durch ihr Verh\u00e4ltniss zum Vorstellenden unterscheiden. Deshalb ist die Dauer auf die Zeit selbst angewandt ein blo\u00df relativer Begriff: eine Zeitvorstellung kann dauernder sein als eine andere; eine absolute Dauer aber kann keine Zeitvorstellung haben, weil sich ohne jene doppelte Ordnung verschiedener Empfindungsinhalte zu einander und zum vorstellenden Subject \u00fcberhaupt keine Zeitvorstellungen entwickeln k\u00f6nnten. Schon eine ungew\u00f6hnlich lange gleichf\u00f6rmig andauernde Empfindung l\u00e4sst sich daher nicht festhalten; wir unterbrechen sie fortw\u00e4hrend durch andere Empfindungsinhalte.","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nII. Die psychischen Gebilde.\nGleichwohl lassen sich auch bei der Zeit die beiden in der Wirklichkeit immer verbundenen Bedingungen, das Verh\u00e4ltnis\u00ab der Elemente zu einander und dasjenige zum vorstellenden Sub-jecte, von einander sondern, insofern jede von ihnen mit bestimmten Eigenschaften der Zeitvorstellungen zusammenh\u00e4ngt. In der That hat jene Unterscheidung der Bedingungen schon vor einer genaueren psychologischen Analyse der Zeitvorstellungen in bestimmten Bezeichnungen der Sprache f\u00fcr gewisse Formen des Zeitverlaufs ihren Ausdruck gefunden. Achtet man n\u00e4mlich blo\u00df auf das Verh\u00e4ltniss der Zeitelemente zu einander ohne R\u00fccksicht auf ihr Verh\u00e4ltniss zum Subject, so kommt man zur Unterscheidung von Arten des Zeitverlaufs, wie z. B. kurz dauernd, lang dauernd, sich regelm\u00e4\u00dfig wiederholend, unregelm\u00e4\u00dfig wechselnd u. s. w. Achtet man dagegen blo\u00df auf das Verh\u00e4ltniss zum Subject unter Abstraction von den objectiven Verlaufsformen, so ergeben sich als die Hauptformen dieses Verh\u00e4ltnisses die Zeitstufen des Vergangenen, Gegenw\u00e4rtigen und Zuk\u00fcnftigen.\nA. Die zeitlichen Tastvorstellnngen.\n3. Die urspr\u00fcngliche Entwicklung der zeitlichen Vorstellungen geh\u00f6rt dem Tastsinne an, dessen Empfindungen demnach das allgemeine Substrat f\u00fcr die Entstehung sowohl der r\u00e4umlichen wie der zeitlichen Ordnungen der Vorstellungselemente abgeben (S. 122, 3). W\u00e4hrend aber die raumbildenden Functionen des Tastsinns von den \u00e4u\u00dferen Tastempfindungen ausgehen, sind die inneren, die die Tastbewegungen begleiten, die prim\u00e4ren Inhalte der urspr\u00fcnglichsten zeitlichen Vorstellungen.\nEine wichtige physiologische Grundlage f\u00fcr die Entstehung dieser Vorstellungen bilden die mechanischen Eigenschaften der tastenden Bewegungsorgane. Indem diese, die Arme und Beine, durch Muskelwirkungen in den Gelenken der Schulter und der H\u00fcfte gedreht werden k\u00f6nnen und dabei zugleich der nach abw\u00e4rts ziehenden Wirkung der Schwere unterworfen sind, sind im allgemeinen zweierlei","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a711. Die zeitlichen Vorstellungen.\n171\nBewegungen der tastenden Glieder m\u00f6glich: erstens solche, die fortw\u00e4hrend durch die vom Willen geleitete Muskelwirkung regulirt werden, und die daher einen beliebig wechselnden, in jedem Augenblick den vorhandenen Bed\u00fcrfnissen sich anpassenden Verlauf haben k\u00f6nnen, \u2014wir wollen sie die arhythmischen Tastbewegungen nennen; und zweitens solche, bei denen die willk\u00fcrlichen Muskelkr\u00e4fte nur so weit in Wirksamkeit treten, als erforderlich ist, um die in den Gelenken beweglichen Glieder in pendelnde Schwingungen zu versetzen und in ihnen zu erhalten, \u2014 die rhythmischen Tastbewegungen. Die arhythmischen Bewegungen, wie sie bei beliebig wechselndem Gebrauch der tastenden Glieder Vorkommen, k\u00f6nnen hier -au\u00dfer Betracht bleiben. Sie gewinnen ihre zeitlichen Eigenschaften h\u00f6chst wahrscheinlich erst auf der Grundlage der zweiten Bewegungsform; auch sind immer nur sehr unbestimmte Zeitvergleichungen solcher unregelm\u00e4\u00dfiger Bewegungen m\u00f6glich.\n4. Dies verh\u00e4lt sich wesentlich anders bei den rhythmischen Tastbewegungen. Ihre Bedeutung f\u00fcr die psychologische Entwicklung der Zeitvorstellungen beruht in erster Linie auf demselben Princip, dem sie auch zu einem gro\u00dfen Theil ihre functionelle Bedeutung in physiologischer Beziehung verdanken, n\u00e4mlich auf dem Princip des Isochronismus von Pendelschwingungen gleicher Amplitude. Indem unsere Beine bei den Gehbewegungen regelm\u00e4\u00dfige Schwingungen um ihre Drehungsachsen in den H\u00fcftgelenken ausf\u00fchren, wird dadurch einerseits die Muskelarbeit erleichtert, anderseits die fortw\u00e4hrende willk\u00fcrliche Lenkung der Bewegungen auf ein Minimum reducirt. F\u00f6rdernd greift dazu beim nat\u00fcrlichen Gehen noch das Pendeln der Arme ein, das nicht, wie das der Beine, bei jedem Schritt durch das Aufsetzen des Fu\u00dfes unterbrochen wird, und das daher in Folge seines continuirlichen Verlaufs ein","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nII. Die psychischen Gebilde.\nH\u00fclfsmittel f\u00fcr die gleichf\u00f6rmigere Regulirung der Gehbewegungen abgibt.\nNun besteht jede einzelne Schwingungsperiode einer solchen Bewegung ihrem Empfindungsinhalte nach in einer stetigen Folge von Empfindungen, die sich w\u00e4hrend der folgenden Periode genau in der n\u00e4mlichen Ordnung wiederholt. Anfang und Ende jeder Periode sind aber durch einen Complex \u00e4u\u00dferer Tastempfindungen gekennzeichnet, die im Anfang der Periode die Abwickelung der Sohle vom Boden begleiten, und die am Ende derselben durch die das Aufsetzen der Sohle begleitenden Eindr\u00fccke verursacht werden. Dazwischen liegt eine continuirliche Folge schwacher innerer Tastempfindungen in Gelenken und Muskeln, deren Anfangsund Endpunkte, mit jenen \u00e4u\u00dferen Tastempfindungen zusammenfallend, in intensiveren Empfindungen bestehen, die zuerst den eintretenden Bewegungsimpuls der Gelenke und Muskeln und dann die pl\u00f6tzliche Hemmung begleiten, Empfindungen die ebenfalls zur Begrenzung der Perioden beitragen.\nAn diese regelm\u00e4\u00dfige Folge von Empfindungen ist weiterhin eine ihr genau parallel gehende regelm\u00e4\u00dfige Folge von Gef\u00fchlen gekn\u00fcpft. Greifen wir aus irgend einem Verlauf rhythmischer Tastbewegungen eine zwischen zwei Grenzpunkten gelegene Strecke heraus, so liegt am Anfang und am Ende einer solchen Strecke ein Gef\u00fchl erf\u00fcllter Erwartung. Zwischen beiden Grenzen erstreckt sich aber ein vom ersten Punkte an allm\u00e4hlich wachsendes Gef\u00fchl gespannter Erwartung, das bei Erreichung des zweiten Punktes pl\u00f6tzlich von seinem Maximum auf null herabsinkt, um dem sehr rasch steigenden und wieder sinkenden Gef\u00fchl der Erf\u00fcllung Platz zu machen, worauf dann der n\u00e4mliche Verlauf von neuem beginnt. Auf diese Weise besteht der ganze Process einer rhythmischen Tastbewegung von der","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a711. Die zeitlichen Vorstellungen.\n173\nGef\u00fchlsseite aus betrachtet in dem regelm\u00e4\u00dfigen Wechsel zweier qualitativ entgegengesetzter Gef\u00fchle, die sich ihrem allgemeinen Charakter nach haupts\u00e4chlich in der Richtung der spannenden und l\u00f6senden Gef\u00fchle (S. 98) bewegen, und von denen zugleich das eine ein Momentan-, d. h. sehr rasch zu seinem Maximum an- und wieder absteigendes, das andere ein Dauergef\u00fchl ist, indem es langsam zum Maximum ansteigt, um dann pl\u00f6tzlich zu sinken. In Folge dessen dr\u00e4ngen sich die intensivsten Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge auf die Grenzpunkte der Perioden zusammen, und sie werden hier au\u00dferdem noch durch den Contrast des Erf\u00fcllungsgef\u00fchls zu dem vorher vorhandenen Erwartungsgef\u00fchl gesteigert. Wie nun dieser kritische Grenzpunkt der einzelnen Perioden in den oben erw\u00e4hnten den Uebergang stark markirenden \u00e4u\u00dferen und inneren Tasteindr\u00fccken seine Empfindungsgrundlage hat, so entspricht anderseits der dazwischen liegende allm\u00e4hliche Verlauf des Erwartungsgef\u00fchls ganz und gar dem continuir-lichen Verlauf der schw\u00e4cheren, die pendelnde Bewegung der Tastglieder begleitenden inneren Tastempfindungen.\n5. Die einfachsten zeitlichen Tastvorstellungen bestehen in rhythmisch geordneten Empfindungen, die in der angegebenen Weise v\u00f6llig gleichf\u00f6rmig bei der Wiederholung pendelnder Bewegungen von gleicher Beschaffenheit auf einander folgen. Dennoch stellt sich schon beim gew\u00f6hnlichen Gehen ein leiser Antrieb zu einer etwas gr\u00f6\u00dferen Complication ein, indem von zwei auf einander folgenden Perioden der Anfang der ersten in der Empfindung sowie in dem begleitenden Gef\u00fchl st\u00e4rker gehoben wird als der Anfang der zweiten. In diesem Falle beginnt dann der Rhythmus der Bewegungen ein taktf\u00f6rmiger zu werden. In der That entspricht eine solche regelm\u00e4\u00dfige Aufeinanderfolge gehobener und nicht gehobener Vorstellungen dem einfachsten Taktma\u00df, dem f-Takt. Er stellt sich leicht schon","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nII. Die psychischen Gebilde.\nbeim gew\u00f6hnlichen Gehen in Folge der physiologischen Bevorzugung der rechtsseitigen Gehwerkzeuge, vor allem aber sehr regelm\u00e4\u00dfig beim gemeinsamen Gehen, beim Marsche, ein. Im letzteren Falle k\u00f6nnen dann sogar mehr als zwei Bewegungsperioden zu einem rhythmischen Ganzen verbunden werden. Ebenso geschieht dies bei den ver-wickelteren rhythmischen Bewegungen des Tanzes. Doch sind auf solche zusammengesetztere lthythmenbildungen des Tastsinns bereits die zeitlichen Geh\u00f6rsvorstellungen von entscheidendem Einfl\u00fcsse.\nB. Die zeitlichen Geli\u00fcrsvorstellungen.\n6. Der Geh\u00f6rssinn ist vor allem dadurch zur genaueren Auffassung der zeitlichen Verh\u00e4ltnisse \u00e4u\u00dferer Vorg\u00e4nge geeignet, weil bei ihm die Empfindung nur w\u00e4hrend einer verschwindend kurzen Zeit den \u00e4u\u00dferen Eindruck \u00fcberdauert, so dass irgend eine zeitliche Folge von Schalleiudr\u00fccken fast vollkommen treu durch eine entsprechende Folge von Empfindungen wiedergegeben wird. Hiermit stehen zugleich die psychologischen Eigenschaften der zeitlichen Geh\u00f6rsvorstellungen in engem Zusammenhang. Vor allem unterscheiden sie sich von den zeitlichen Tastvorstellungen dadurch, dass bei ihnen h\u00e4ufig nur die Begrenzungspunkte der einzelnen ein Vorstellungsganzes zusammensetzenden Zeitstrecken direct durch Empfindungen markirt sind, so dass in diesem Falle die Verh\u00e4ltnisse solcher Strecken zu einander wesentlich nur an den zwischen den begrenzenden Eindr\u00fccken gelegenen scheinbar leeren oder von einem abweichenden Inhalt ausgef\u00fcllten Strecken gesch\u00e4tzt werden.\nDies macht sich namentlich bei den rhythmischen Geh\u00f6rsvorstellungen bemerklich. Sie sind im allgemeinen in zwei Formen m\u00f6glich: als continuirliche oder nur wenig durch Pausen unterbrochene Aufeinanderfolgen relativ","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"g 11. Die zeitlichen Vorstellungen.\n175\ndauernder Empfindungen, und als discontinuirliche Taktfolgen, bei denen nur die Eintlieilungspunkte der rhythmischen Perioden durch \u00e4u\u00dfere Geh\u00f6rseindr\u00fccke markirt sind. Bei derartigen Taktfolgen aus vollkommen gleichartigen Schalleindr\u00fccken treten die zeitlichen Eigenschaften der Vorstellungen im allgemeinen deutlicher hervor als bei continuirlichen Eindr\u00fccken, weil dabei die Einfl\u00fcsse der Tonqualit\u00e4t vollkommen hinwegfallen. Wir k\u00f6nnen uns daher um so mehr auf ihre Betrachtung beschr\u00e4nken, als die bei ihnen gewonnenen Gesichtspunkte durchaus auch f\u00fcr die continuirlichen Taktfolgen g\u00fcltig sind, bei denen man, wie leicht wahrzunehmen ist, in Wirklichkeit die rhythmische Gliederung ebenfalls vermittelst gewisser entweder durch den \u00e4u\u00dferen Eindruck gegebener oder willk\u00fcrlich auf ihn angewandter Begrenzungen durch einzelne Taktpunkte vornimmt.\n7. Eine auf diese Weise als einfachste Form zeitlicher Geh\u00f6rsvorstellungen hergestellte Reihe regelm\u00e4\u00dfiger Taktschl\u00e4ge unterscheidet sich von der oben er\u00f6rterten einfachsten Form zeitlicher Tastvorstellungen (S. 173) wesentlich dadurch, dass den Zeitstreckeil selbst jeder objective Empfindungsinhalt fehlt, indem die \u00e4u\u00dferen Eindr\u00fccke nur die Begrenzung der Zeitstrecken gegen einander vermitteln. Nichts desto weniger sind die Zeitstrecken einer solchen Taktfolge nicht \u00fcberhaupt leer, sondern sie sind von einem subjectiven Gef\u00fchls- und Empfindungsinhalte erf\u00fcllt, der dem bei den Tastvorstellungen beobachteten durchaus entspricht. Dabei tritt aber vor allem der Gef\u00fchlsinhalt der Strecken deutlich hervor. Er gleicht in seinen auf einander folgenden Perioden der allm\u00e4hlich steigenden und der pl\u00f6tzlich erf\u00fcllten Erwartung vollst\u00e4ndig dem Verlauf einer rhythmischen Tastbewegung. Aber auch die Empfindungsgrundlage fehlt diesem Gef\u00fchlsverlauf nicht; nur ist sie wechselnder: bald besteht sie blo\u00df in einer Spannungsempfindung des Trommelfells","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nII. Die psychischen Gebilde.\nvon verschiedener Intensit\u00e4t, bald zugleich in begleitenden Spannungsempfindungen anderer K\u00f6rpertheile, bald endlich in sonstigen Bewegungsempfindungen, letzteres dann, wenn sich mit dem geh\u00f6rten Takte ein unwillk\u00fcrliches Taktiren verbindet. Wegen der ver\u00e4nderlichen Beschaffenheit und der meist geringeren Intensit\u00e4t dieser Bewegungsempfindungen sind aber gerade bei den Geh\u00f6rsvorstellungen die Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge viel deutlicher wahrzunehmen.\nIn Folge dessen ist nun in diesem Falle der Einfluss der subjectiven Elemente auf die Beschaffenheit der Zeitvorstellungen \u00fcberhaupt am leichtesten nachzuweisen. Zun\u00e4chst verr\u00e4th sich derselbe in der Wirkung, welche die verschiedene Geschwindigkeit der geh\u00f6rten Taktfolgen auf die Bildung der zeitlichen Vorstellungen aus\u00fcbt. Man beobachtet, dass es eine bestimmte mittlere Geschwindigkeit von etwa 0,2 Sec. gibt, die f\u00fcr die Verbindung einer Mehrheit auf einander folgender Schalleindr\u00fccke am g\u00fcnstigsten ist, und es ist leicht zu bemerken, dass dies zugleich diejenige Geschwindigkeit ist, bei der die oben erw\u00e4hnten subjectiven Empfindungen und Gef\u00fchle am deutlichsten in ihrem Wechsel hervortreten. Verlangsamt man die Geschwindigkeit erheblich unter jenen Werth, so wird die Spannung der Erwartung zu gro\u00df, und sie geht dadurch in ein immer peinlicher werdendes Unlustgef\u00fchl \u00fcber; beschleunigt man umgekehrt die Geschwindigkeit, so erm\u00fcdet der rasche Wechsel der Gef\u00fchle. So n\u00e4hert man sich auf beiden Seiten einer Grenze, wo das Zusammenfassen der Eindr\u00fccke zu einer rhythmischen Zeitvorstellung \u00fcberhaupt nicht mehr m\u00f6glich ist: diese Grenze wird nach oben bei einer Taktfolge von etwa 1 Sec., nach unten bei einer solchen von etwa 0,1 Sec. erreicht.\n8. Wie diese Zeitwerthe auf den Einfluss hinweisen, den der Verlauf der die Auffassung der Zeitstrecken be-","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a713. Die zeitlichen Vorstellungen.\n177\ndingenden Empfindungen und Gef\u00fchle aus\u00fcbt, so verr\u00e4tli sich nun der n\u00e4mliche Einfluss nicht minder in den Ver\u00e4nderungen, die unsere Vorstellung einer Zeitstrecke erf\u00e4hrt, wenn bei unver\u00e4ndert bleibender objectiver Gr\u00f6\u00dfe derselben die Bedingungen ihrer Auffassung variirt werden. So beobachtet man, dass im allgemeinen eine eingetheilte Zeit gr\u00f6\u00dfer gesch\u00e4tzt wird als eine nicht eingetheilte, analog der bei der Eintheilung von Raumstrecken beobachteten T\u00e4uschung (S. 147,. Der Unterschied ist aber bei der Zeit im allgemeinen viel gr\u00f6\u00dfer, was offenbar davon herr\u00fchrt, dass hier der \u00f6fter wiederholte Empfindungs- und Gef\u00fchlswechsel innerhalb einer Zeitperiode eine viel eingreifendere Wirkung austibt als bei der \u00e4hnlichen Raumt\u00e4uschung die Unterbrechung der Bewegung durch Theilungspunkte. Zeichnet man ferner in einer gr\u00f6\u00dferen regelm\u00e4\u00dfigen Taktfolge einzelne Eindr\u00fccke durch gr\u00f6\u00dfere Intensit\u00e4t oder durch irgend einen qualitativen Unterschied aus, so hat das regelm\u00e4\u00dfig die Wirkung, dass die dem ausgezeichneten Eindruck vorausgehende und die ihm nachfolgende Zeitstrecke \u00fcbersch\u00e4tzt werden im Vergleich mit den andern Zeitstrecken der n\u00e4mlichen Taktfolge. Erzeugt man dagegen eine bestimmte Taktfolge abwechselnd mit schwachen und mit starken Taktschl\u00e4gen, so scheint bei den ersteren die Aufeinanderfolge langsamer zu sein als bei den letzteren.\nAuch diese Erscheinungen erkl\u00e4ren sich aus dem Einfluss des Empfindungs- und Gef\u00fchlswechsels. Ein vor den \u00fcbrigen ausgezeichneter Eindruck fordert eine Ver\u00e4nderung in dem seiner Auffassung vorausgehenden Empfindungs- und namentlich Gef\u00fchlsverlauf, indem eine intensivere Erwartungsspannung und ihr entsprechend auch ein st\u00e4rkeres Gef\u00fchl der L\u00f6sung dieser Spannung oder der Erf\u00fcllung ein-treten muss. Jenes verl\u00e4ngert aber die dem Eindruck vorausgehende, dieses die ihm nachfolgende Zeitstrecke.\nWundt, Psychologie.\t] 2","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nII. Die psychischen Gebilde.\nAnders verh\u00e4lt es sich, wenn eine ganze Taktfolge ein erstes Mal aus lauter schwachen und ein zweites Mal aus lauter starken Eindr\u00fccken besteht. Um einen schwachen Eindruck wahrzunehmen, m\u00fcssen wir unsere Aufmerksamkeit energischer auf ihn richten: dem entsprechend sind bei der schwachen Taktfolge die Spannungsempfindungen und die sie begleitenden Gef\u00fchle, wie man leicht beobachten kann, intensiver als bei der starken Taktfolge. Auch hier reflectirt sich also in der Verschiedenheit der zeitlichen Vorstellungen unmittelbar die verschiedene Intensit\u00e4t der sub-jectiven Elemente, die ihre Grundlagen bilden. Darum h\u00f6rt aber auch diese Wirkung- auf und springt sogar in ihr Ge-gentheil um, wenn es sich nicht um die Vergleichung schwacher und starker, sondern starker und st\u00e4rkster Taktschl\u00e4ge handelt.\n9. Wie wir schon bei den rhythmischen Tastvorstellungen geneigt sind mindestens zwei einander gleiche Perioden zu einer regelm\u00e4\u00dfigen Taktfolge zu verbinden, so geschieht dies auch, nur in viel ausgepr\u00e4gterer Weise, bei den G-e-h\u00f6rsvorstellungen. Aber w\u00e4hrend bei den Tastbewegungen, bei denen die die einzelnen Perioden begrenzenden Empfindungen unter dem Einfluss des Willens stehen, diese Neigung zu rhythmischer Taktbildung in dem wirklichen Wechsel schw\u00e4cherer und st\u00e4rkerer Eindr\u00fccke sich ausspricht, kann sie beim Geh\u00f6rssinn, wo die einzelnen Eindr\u00fccke nur von \u00e4u\u00dferen Bedingungen abli\u00e4ngen und daher objectiv vollkommen gleich sein k\u00f6nnen, zu einer eigen-th\u00fcmliehen T\u00e4uschung f\u00fchren. Diese besteht darin, dass man von einer Ileihe durch gleiche Zeitstrecken getrennter vollkommen gleich starker Taktschl\u00e4ge immer einzelne, die sich in regelm\u00e4\u00dfigen Abst\u00e4nden von einander befinden, st\u00e4rker h\u00f6rt als die andern. Der auf diese Weise bei ungezwungenem H\u00f6ren am h\u00e4ufigsten sich einstellende Takt","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 11. Die zeitlichen Vorstellungen.\n179\nist der |\u2014Takt, d. h. der regelm\u00e4\u00dfige Wechsel von Hebung und Senkung, an den als eine unerhebliche Modification der -Takt, hei dem jeder Hebung zwei Senkungen folgen, sich anschlie\u00dft. H\u00f6chstens durch besondere Willensanstrengung kann man diese Neigung zum Taktiren unterdr\u00fccken, und auch dann gelingt dies nur hei sehr langsamen und sehr schnellen Taktschl\u00e4gen, die an und f\u00fcr sich den Grenzen der rhythmischen Wahrnehmung nahe kommen, kaum jemals aber auf die Dauer bei den mittleren f\u00fcr die Bildung rhythmischer Vorstellungen besonders g\u00fcnstigen Geschwindigkeiten. Bem\u00fcht man sich jedoch m\u00f6glichst viele Eindr\u00fccke in eine einheitliche Zeitvorstellung zusammenzufassen, so verwickelt sich die Erscheinung. Es treten Hebungen verschiedenen Grades auf, die in regelm\u00e4\u00dfiger Folge mit den unbetonten Taktgliedern wechseln und durch die Gliederung des Ganzen, die sie hervorbringen, den Umfang der in eine einzige Vorstellung zusammenzufassenden Eindr\u00fccke betr\u00e4chtlich erweitern. So entsteht durch Unterscheidung von zwei Graden der Hebung der |- sowie der f-Takt, endlich als Takte mit drei Graden der Hebung der f- nnd f- sowie, als dreigliedrige Formen, der $- find '/-Takt, Mehr als drei Grade der Hebung oder, bei Einrechnung der unbetonten Glieder, mehr als vier Intensit\u00e4tsstufen kommen weder in den musikalischen und poetischen Rhythmen vor, noch k\u00f6nnen wir solche bei der Gliederung rhythmischerVorstellungen willk\u00fcrlich hervorbringen. Augenscheinlich bezeichnet so diese Dreiheit der Hebungsstufen einen analogen Grenzwerth der Zusammensetzung zeitlicher Vorstellungen, wie uns ein solcher f\u00fcr die Gr\u00f6\u00dfe derselben in dem maximalen Umfang des Taktes (\u00a7 15, 6) gegeben ist.\nDie Erscheinung der subjectiven Betonung \u00fcberhaupt mit ihrem Einfl\u00fcsse auf die Empfindung der Taktschl\u00e4ge\n12*","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nII. Die psychischen Gebilde.\nzeigt aber deutlich, dass eine zeitliche Vorstellung ebenso wenig wie eine r\u00e4umliche blo\u00df aus den objectiven Eindr\u00fccken besteht, sondern dass sich mit diesen subjective Elemente verbinden, deren Beschaffenheit dann zugleich die Auffassung der objectiven Eindr\u00fccke bestimmt. Die Ursache der Hebung eines Taktschlages liegt zun\u00e4chst stets in der Steigerung der ihm vorausgehenden und ihn begleitenden Bewegungsempfindungen und Gef\u00fchle; die Steigerung dieser subjectiven Elemente wird dann aber auf den objectiven Eindruck \u00fcbertragen, der nun selbst in seiner Intensit\u00e4t verst\u00e4rkt erscheint. Hierbei kann die Steigerung der subjectiven Elemente entweder willk\u00fcrlich eintreten. indem die die Bewegungsempfindungen erzeugenden Muskelspannungen willk\u00fcrlich verst\u00e4rkt werden, welcher Vorgang dann eine entsprechende Zunahme der Erwartungsgef\u00fchle ausl\u00f6st. Oder jene Steigerung kann unwillk\u00fcrlich erfolgen, indem das Streben nach zusammenfassender Wahrnehmung- die unmittelbare Gliederung der zeitlichen Vorstellung mittelst der entsprechenden subjectiven Empfindungs- und Gef\u00fchlsschwankungen herbeif\u00fchrt.\n\u20ac. Die allgemeinen Bedingungen der zeitlichen Vorstellungen.\nI 0. Will man sich auf Grund aller dieser Erscheinungen und der bei ihnen regelm\u00e4\u00dfig hervortretenden innigen Verbindungen subjectiver Empfindungs- und Gef\u00fchlselemente mit den objectiven Eindr\u00fccken von der Einstellung zeitlicher Vorstellungen Rechenschaft geben, so ist zun\u00e4chst davon auszugehen, dass eine einzelne isolirt gedachte Empfindung ebenso wenig zeitliche wie r\u00e4umliche Eigenschaften haben kann. Auch die Einordnung in eine Zeitreihe kann immer erst dadurch entstehen, dass das einzelne psychische Element zu andern psychischen Elementen in irgend welche bestimmt charakterisirte Beziehungen tritt. Gilt diese","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 11. Die zeitlichen Vorstellungen,\n18.1\nBedingung der Verbindung einer Mehrheit psychischer Elemente f\u00fcr die zeitlichen genau so wie f\u00fcr die r\u00e4umlichen Vorstellungen, so ist nun aber die Art dieser Verbindung dort eine eigenth\u00fcmliche, von der beim Raum obwaltenden wesentlich verschiedene.\nDie Glieder a b c d e f einer zeitlichen Reihe k\u00f6nnen uns, wenn die Reihe bei f angelangt ist, alle unmittelbar als ein einziges Gebilde gegeben sein, gerade so gut wie eine Reihe r\u00e4umlicher Punkte. Aber w\u00e4hrend die letzteren verm\u00f6ge der urspr\u00fcnglichen Reflexbeziehungen des Auges stets in ihrem Verh\u00e4ltniss zu dem Centralpunkt des Sehens geordnet werden, der abwechselnd mit jedem beliebigen der \u00e4u\u00dferen Eindr\u00fccke a bis f Zusammentreffen kann, ist bei der Zeitvorstellung der momentan gegenw\u00e4rtige Eindruck derjenige, nach dem alle andern orientirt sind. Ein neuer in \u00e4hnlicher Weise, gegenw\u00e4rtiger Eindruck wird daher, auch wenn er nach seinem objectiven Empfindungsinhalte einem vorangegangenen vollst\u00e4ndig gleicht, doch als ein subjectiv von ihm verschiedener aufgefasst, indem der die Empfindung begleitende Gef\u00fchlszustand zwar dem Gef\u00fchlsinhalt irgend eines andern Momentes verwandt sein kann, niemals aber mit ihm identisch ist. Gesetzt z. B. auf die Reihe der Eindr\u00fccke a b c d e f folge eine andere d b' c d' <?'/', bei der dem Empfindungsinhalte nach \u00ab'=\u00ab, b'\u2014b, r'=c u. s. w. ist, so werden, wenn wir die begleitenden Gef\u00fchle mit a \u00df y \u00f6 c- rp und u \u00df' y' d' e' tp' bezeichnen, zwar cd und \u00ab, \u00df' und \u00df, y und y u. s. w. wegen des \u00fcbereinstimmenden Empfindungsinhaltes einander \u00e4hnliche Gef\u00fchle sein. Aber sie werden im allgemeinen nicht identisch sein, weil jedes Gef\u00fchlselement au\u00dfer von der Empfindung, mit der es unmittelbar verbunden ist, immer auch von dem durch die Gesammtheit der Erlebnisse bestimmten Zustand des Subjectes abh\u00e4ngt. Dieser Zustand ist nun bei jedem","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nII. Die psychischen Gebilde.\nGlied der Reihe a! V c' d' . . . schon deshalb ein anderer als hei dem zugeh\u00f6rigen Glied der Reihe a b c d . . ., weil hei dem Eindruck u! der andere a schon gegeben war, a also auf a zur\u00fcckbezogen werden kann, w\u00e4hrend f\u00fcr a diese Bedingung nicht besteht. Analoge Unterschiede des Gef\u00fchlszustandes ergeben sich f\u00fcr zusammengesetztere 'Wiederholungsreihen. M\u00f6gen bei ihnen auch die subjectiven Bedingungen der Momentangef\u00fchle noch so sehr \u00fcbereinstimmen, zusammenfallen k\u00f6nnen sie niemals, da jeder augenblickliche Zustand immer seine eigenth\u00fcmliche Orientirung zur Gesammtheit der psychischen Vorg\u00e4nge besitzt. Nehmen wir z. B. an, es folgten sich eine gr\u00f6\u00dfere Anzahl \u00fcbereinstimmender Reihen a b c d, a b' c' d', a\" b\" c\" d\" u. s. w., in denen die Empfindungsinhalte a\"\u2014a'=a, b\"\u2014b'=b u. s. w. sind, so bleibt a\" in seinen Gef\u00fchlsbedingungen dadurch von a verschieden, dass a nur auf a, a aber sowohl auf a wie auf a zur\u00fcckbezogen werden kann, abgesehen davon, dass stets noch andere Unterschiede zwischen solchen an sich gleichen Eindr\u00fccken in irgend welchen zuf\u00e4llig begleitenden Empfindungen gegeben sind, die die Gef\u00fchlslage beeinflussen.\n11. Indem nun, wie oben bemerkt, jedes Element einer zeitlichen Vorstellung nach dem unmittelbar gegenw\u00e4rtigen Eindruck geordnet wird, ist zugleich dieser vor allen andern Bestandtheilen der n\u00e4mlichen Vorstellung durch eine \u00e4hnliche Eigenschaft bevorzugt, wie sie bei der Auffassung der r\u00e4umlichen Gebilde dem Blickpunkte zukommt, dadurch n\u00e4mlich dass er am klarsten und sch\u00e4rfsten wahrgenommen wird. Aber es besteht zugleich der gro\u00dfe Unterschied, dass diese sch\u00e4rfste Wahrnehmung nicht, wie bei den r\u00e4umlichen or-stellungen, mit der physiologischen Organisation der Sinnesapparate zusammenh\u00e4ngt, sondern ausschlie\u00dflich in den allgemeinen Eigenschaften des A erstellenden, wie sie in den","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 11. Die zeitlichen Vorstellungen.\n183\nG ef'\u00fchls Vorg\u00e4ngen zum Ausdruck kommen, ihre Grundlage hat. Das den unmittelbar gegenw\u00e4rtigen Eindruck begleitende Momentangef\u00fchl ist zugleich dasjenige, welches diesem gegenw\u00e4rtigen Eindruck zur sch\u00e4rfsten Auffassung verhilft. Wir k\u00f6nnen demnach den dem unmittelbaren Eindruck entsprechenden Theil einer zeitlichen Vorstellung den Blickpunkt dieser Vorstellung oder auch allgemein, insofern dieser nicht, wie der Blickpunkt der r\u00e4umlichen Vorstellungen von \u00e4u\u00dferen Organisationsbedingungen abh\u00e4ngt, bildlich den inneren Blickpunkt nennen. Sonach bezeichnet der innere Blickpunkt denjenigen Theil einer zeitlichen Vorstellung, der dem am klarsten vorgestellten unmittelbar gegenw\u00e4rtigen Eindruck entspricht. Die au\u00dferhalb dieses Blickpunktes gelegenen Eindr\u00fccke, d. h. die dem unmittelbaren Eindruck vorangegangenen, sind dann die indirect wahrgenommenen. Sie sind zum Blickpunkt in einer Stufenfolge abnehmender Klarheit geordnet. Eine einheitliche zeitliche Vorstellung ist aber nur so lange m\u00f6glich, als nicht der Klarheitsgrad einzelner ihrer Elemente null geworden ist. Sobald dies geschieht, so zerf\u00e4llt die Vorstellung in ihre Bestandtheile.\n12. Von den \u00e4u\u00dferen Blickpunkten der r\u00e4umlichen unterscheidet sich hiernach der innere der zeitlichen Sinne wesentlich dadurch, dass er in erster Linie nicht durch Empfindungs- sondern durch Gef\u00fchlselemente charak-terisirt ist. Indem diese Gef\u00fchlselemente unabl\u00e4ssig in Folge der wechselnden Bedingungen des psychischen Lebens sich \u00e4ndern, gewinnt der innere Blickpunkt jene Eigenschaft fortw\u00e4hrender Ver\u00e4nderung, die wir als das stetige Flie\u00dfen der Zeit bezeichnen. Unter diesem Flie\u00dfen versteht man eben die Eigenschaft, dass kein Zeitmoment dem andern gleich ist, also auch keiner als der n\u00e4mliche wiederkehren kann. (Vgl. oben S. 169, 2 a.) Zugleich h\u00e4ngt damit die","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nII. Die psychischen Gebilde.\neindimensionale Beschaffenheit der Zeit zusammen, welche darin besteht, dass bei den zeitlichen Vorstellungen der innere Blickpunkt in einer unabl\u00e4ssigen Wanderung begriffen ist, bei der niemals ein identischer Punkt wieder-kehrt. Indem die Ordnung in dieser einen Dimension immer von jenem ver\u00e4nderlichen Blickpunkte aus geschieht, in welchem sich das Subject selbst vorstellt, ist endlich hierin die Eigenschaft der Zeitvorstellungen begr\u00fcndet, dass ihre Elemente neben ihrer wechselseitigen Ordnung stets zugleich ein fest bestimmtes Verh\u00e4ltniss zum vorstellenden Subjecte besitzen S. 168, 2).\n13. Suchen wir uns \u00fcber die li\u00fclfsmittel dieser unmittelbar an einander gebundenen wechselseitigen Ordnung der Theile einer Vorstellung und ihrer Orientirung zum Vorstellenden Bechenschaft zu geben, so k\u00f6nnen diese Httlfs-mittel, die wir nach der Analogie der Localzeichen die Zeitzeichen nennen wollen, selbstverst\u00e4ndlich auch hier nur in irgend welchen in der Vorstellung selbst enthaltenen Elementen bestehen, die isolirt betrachtet keine zeitlichen Eigenschaften besitzen, durch ihre Verbindung aber solche gewinnen. Hierbei werden wir nun durch die eigenth\u00fcm-lichen Bedingungen der Entwicklung der zeitlichen Vorstellungen von vornherein darauf hingewiesen, dass die Zeitzeichen zu einem wesentlichen Theile Gef\u00fchlselemente sind. Denn bei dem Ablauf irgend einer rhythmischen Reihe ist jeder Eindruck unmittelbar durch das ihn begleitende Erwartungsgef\u00fchl charakterisirt, w\u00e4hrend die Empfindung nur insofern von Einfluss ist, als durch sie jenes Gef\u00fchl ausgel\u00f6st wird, wie man deutlich wahrnimmt, wenn eine pl\u00f6tzliche Unterbrechung einer rhythmischen Reihe ein-tritt. Unter den Empfindungen sind \u00fcbrigens allein die Bewegungsempfindungen die nie fehlenden Bestand-tlieile aller Zeitvorstellungen: bei den Tastvorstellungen","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a711. Die zeitlichen Vorstellungen.\n185\ngeh\u00f6ren sie zu den unmittelbaren Substraten derselben, bei den Geh\u00f6rs- und den sonst noch in die zeitliche Form gebrachten Vorstellungen aber sind sie stets als subjective Begleiterscheinung gegeben. Demnach k\u00f6nnen wir die Erwartungsgef\u00fchle als die qualitativen, die Bewegungsempfindungen aber als die intensiven Zeitzeichen einer zeitlichen Vorstellung betrachten. Diese selbst wird dann als ein Verschmelzungsproduct beider Zeitzeichen mit einander und mit den in die zeitliche Form geordneten objectiven Empfindungen anzusehen sein. So bilden auch hier die intensiv abgestuften Bewegungsempfindungen ein gleichf\u00f6rmiges Ma\u00df f\u00fcr die Einordnung der durch die begleitenden Gef\u00fchle qualitativ charakterisirten objectiven Eindr\u00fccke.\n13 a. Da hiernach den Bewegungsempfindungen in der Ordnung der Zeit- wie der Baumvorstellungen analoge Functionen zukommen, so ist damit zugleich jene Beziehung beider Anschau-ungsformen zu einander, die in der geometrischen Versinn-lichung der Zeit durch die Gerade ihren Ausdruck findet, durch diese \u00fcbereinstimmenden Empfindungssubstrate nahe gelegt. Immerhin bleibt zwischen dem complexen System der Zeitzeichen und den Localzeichensystemen der wesentliche Unterschied, dass jenes seine n\u00e4chste Grundlage nicht in qualitativen Eigenschaften der Empfindung hat, die an bestimmte \u00e4u\u00dfere Sinnesorgane gekn\u00fcpft sind, sondern in Gef\u00fchlen, die in v\u00f6llig \u00fcbereinstimmender Weise bei den verschiedensten Empfindungen Vorkommen k\u00f6nnen, da sie an sich nicht von dem objectiven Inhalt der Empfindungen, sondern von ihrer subjectiven Verkn\u00fcpfung abh\u00e4ngen. Hieraus entspringt dann mit den oben hervorgehobenen Eigent\u00fcmlichkeiten der Zeitvorstellungen auch jene allgemeinere Bedeutung, die wir ihnen beilegen, und die in dem Kantischen Satze, die Zeit sei die \u00bbForm des inneren Sinnes\u00ab einen allerdings schiefen, schon wegen der irrigen Voraussetzungen, die dem Begriff des inneren Sinnes zu Grunde liegen (S. 9 f.), ungeeigneten Ausdruck gefunden hat.","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nII. Die psychischen Gebilde.\nNat\u00fcrlich sind auch hinsichtlich der psychologischen Entstehung der Zeitvorstellungen die \u00e4hnlichen Gegens\u00e4tze natavistischer und genetischer Anschauungen vertreten, die uns hei den r\u00e4umlichen Vorstellungen (S. 134, 12a' begegnet sind. Doch hat es in diesem Fall der Nativismus zu einer eigentlichen Theorie \u00fcberhaupt nicht gebracht, sondern er pflegt sich auf die allgemeine Annahme zu beschr\u00e4nken, dass die Zeit eine \u00bbangeborene Anschauungsform\u00ab sei, ohne dass irgendwie der Versuch gemacht w\u00fcrde, von dem Einfluss der thats\u00e4chlich nachzuweisenden Elemente und Bedingungen der zeitlichen Vorstellungen Rechenschaft zu geben. Die genetischen Theorien der \u00e4lteren Psychologie, z. B. die Herbart\u2019sche, versuchen die Zeitanschauung ausschlie\u00dflich aus Vorstellungselementen abzuleiten. Dabei ergeht man sich aber lediglich in speculativen Constructionen, bei denen die empirisch gegebenen Bedingungen \u00fcberhaupt nicht beachtet werden.\n\u00a7 12. Die zusammengesetzten Gef\u00fchle.\n1. In der Entwicklung der zeitlichen Vorstellungen tritt deutlich zu Tage, dass die Sonderung der Vorstellungs- und der G-ef\u00fchlsbestandtheile der unmittelbaren Erfahrung erst ein Product unserer Abstraction ist. Bei den Zeitvorstellungen erweist sich n\u00e4mlich diese Abstraction deshalb als undurchf\u00fchrbar, weil bei ihnen bestimmte Gef\u00fchle wesentlich an der Entstehung der Vorstellungen betheiligt sind. So lassen sich denn auch die Zeitvorstellungen nur insofern, als man ausschlie\u00dflich das Endergebniss des Processes, die Ordnung bestimmter Empfindungen im Verh\u00e4ltniss zu einander und zum Subjecte, ins Auge fasst, als Vorstellungen bezeichnen; in ihrer eigenen Zusammensetzung betrachtet sind sie aber complexe Producte von Empfindungen und Gef\u00fchlen. Sie nehmen aus diesem Grunde zugleich eine angemessene Uebergangsstellung ein zwischen den Vorstellungen \u00fcberhaupt und denjenigen psychischen Gebilden, die sich aus Gef\u00fchlselementen zusammensetzen, und die wir","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a712. Die zusammengesetzten Gef\u00fchle.\n1.87\nmit dem Gattungsnamen der Gem\u00fcthsbewegungen bezeichnen. Diese sind den Zeitvorstellungen insbesondere auch darin \u00e4hnlich, dass bei der Untersuchung ihrer Entstehung eine abstracte Scheidung der Gef\u00fchls- von den Empfindungselementen gar nicht ausf\u00fchrbar ist, da in die Entwicklung aller Arten von Gem\u00fcthsbewegungen die Empfindungen und Vorstellungen ebenso gut als bestimmende Factoren eingreifen, wie die zeitlichen Vorstellungen unter wesentlicher Betheiligung von Gef\u00fchlen zu Stande kommen.\n2.\tUnter allen Gem\u00fcthsbewegungen nehmen die intensiven Gef\u00fchlsverbindungen oder zusammengesetzten Gef\u00fchle eine den andern vorausgehende Stelle ein, weil bei ihnen die charakteristischen Eigenschaften eines einzelnen Gebildes Producte eines augenblicklichen Zustandes sind, so dass die Beschreibung des Gef\u00fchls nur die genaue Auffassung dieses momentanen Zustandes, nicht aber eine Zusammenfassung mehrerer in der Zeit ablaufender und aus einander hervorgehender Vorg\u00e4nge voraussetzt. In dieser Beziehung verhalten sich die zusammengesetzten Gef\u00fchle zu den stets in einem Verlauf von Gef\u00fchlen bestehenden Afifecten und Willensvorg\u00e4ngen \u00e4hnlich wie die intensiven zu den extensiven Vorstellungen. Die intensiven psychischen Mannigfaltigkeiten im weiteren Sinne schlie\u00dfen daher neben den intensiven Vorstellungsverbindungen auch die zusammengesetzten Gef\u00fchle ein, und die extensiven Mannigfaltigkeiten umfassen als specielle Formen zeitlicher Ordnungen neben den zeitlichen Vorstellungen noch die Affecte und Willensvorg\u00e4nge.\n3.\tDie zusammengesetzten Gef\u00fchle sind hiernach intensive Zust\u00e4nde von einheitlichem Charakter, in denen zugleich einzelne einfachere Gef\u00fchlsbestandtheile wahrzunehmen sind. In jedem derartigen Gef\u00fchl lassen sich daher Gef\u00fchls-componenten und eine Gef\u00fchlsresultante unterscheiden.","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nII. Die psychischen Gebilde.\nAls letzte Gef\u00fchlscomponenten ergeben sieb hierbei stets einfache sinnliche Gef\u00fchle; doch k\u00f6nnen einzelne der letzteren zun\u00e4chst eine partielle Resultante bilden, die dann als zusammengesetzte Componente in das ganze Gef\u00fchl eingeht.\nJedes zusammengesetzte Gef\u00fchl l\u00e4sst sich somit zerlegen: 1) in ein aus der Verbindung aller seiner Bestand-theile resultirendes Totalgef\u00fchl, und 2 in die einzelnen Partialgef\u00fchle, welche die Componenten dieses Totalgef\u00fchls bilden, und welche wieder in Partialgef\u00fchle verschiedener Ordnung zerfallen, je nachdem sie aus einfachen sinnlichen Gef\u00fchlen bestehen (Partialgef\u00fchle erster Ordnung oder selbst schon Totalgef\u00fchle sind Partialgef\u00fchle zweiter und h\u00f6herer Ordnung). Wo Partialgef\u00fchle h\u00f6herer Ordnung Vorkommen, k\u00f6nnen dann au\u00dferdem mehrseitige Verbindungen oder Verwebungen der in sie eingehenden Elemente stattfinden, indem das n\u00e4mliche Partialgef\u00fchl niederer Ordnung gleichzeitig in mehrere Partialgef\u00fchle h\u00f6herer Ordnung eingeht. Durch solche Verwebungen kann der Aufbau des Totalgef\u00fchls ein \u00e4u\u00dferst verwickelter werden; und zugleich kann dasselbe trotz der unver\u00e4nderten Beschaffenheit seiner Elemente einen variabeln Charakter annehmen, je nachdem die eine oder andere der m\u00f6glichen Verwebungen der Partialgef\u00fchle vorwiegt.\n3 a. So entspricht z. B. dem musikalischen Dreiklang c e g ein Totalgef\u00fchl der Harmonie, dessen letzte Elemente als Partialgef\u00fchle erster Ordnung die den einzelnen Kl\u00e4ngen c, e mid g entsprechenden Klanggef\u00fchle sind. Zwischen ihnen und dem resul-tirenden Totalgef\u00fchl stehen aber als Partialgef\u00fchle zweiter Ordnung die drei harmonischen Zweiklanggef\u00fchle c o, eg und cg, und je nachdem entweder eines derselben \u00fcberwiegt oder s\u00e4rnrnt-liche in ann\u00e4hernd gleicher St\u00e4rke auftreten, hat demnach auch der Charakter des Totalgef\u00fchls in diesem Fall eine vierfach verschiedene Nuance. Ein Anlass zum Ueberwiegen irgend eines complexen Partialgef\u00fchls kann bald in der gr\u00f6\u00dferen Intensit\u00e4t","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a712. Die zusammengesetzten Gef\u00fchle.\t] S9\nseiner Empfindungsbestandtheile bald in vorangegangenen Gef\u00fchlen seinen Grund haben. Geht man z. B. von c es g zu c e g \u00fcber, so wird die Partial Wirkung c e, geht man dagegen von c e a zu c e cj \u00fcber, so wird die Partialwirkung c g verst\u00e4rkt. Aehnlich kann auch eine Mehrheit von Farbeneindr\u00fccken je nach dem Uebergewicht dieser oder jener Partialverbindungen wechselnde Wirkungen hervorbringen; doch \u00fcbt hier wegen der extensiven Ordnung der Eindr\u00fccke die r\u00e4umliche Nachbarschaft einen der Variation der Verbindung entgegenwirkenden Einfluss aus, w\u00e4hrend als ein wesentlich complicirendes Moment noch der Einfluss der r\u00e4umlichen Form mit allen ihn begleitenden Bedingungen hinzukommt.\n4. Ist auf diese Weise die Structur der zusammengesetzten Gef\u00fchle im allgemeinen eine h\u00f6chst verwickelte, so bietet nun aber doch auch sie eine Stufenfolge von Entwicklungen dar, indem die von den Gebieten des Tast-, Geruchs-und Geschmackssinns ausgehenden complexen Gef\u00fchle eine wesentlich einfachere Beschaffenheit besitzen als die mit den Geh\u00f6rs- und Gesichtsvorstellungen verbundenen.\nMan pflegt speciell dasjenige Totalgef\u00fchl, das an die \u00e4u\u00dferen und inneren Tastempfindungen gekn\u00fcpft ist, als das Gemeingef\u00fchl zu bezeichnen, indem man es als das Totalgef\u00fchl betrachtet, in welchem der gesammte Zustand unseres sinnlichen Wohl- oder Uebelbefindens zum Ausdruck kommt. Unter dem letzteren Gesichtspunkte m\u00fcssen aber die beiden niederen chemischen Sinne, Geruchs- und Geschmackssinn, ebenfalls dem Empfindungssubstrat des Gemeingef\u00fchls zugerechnet werden. Denn die von ihnen ausgehenden Partialgef\u00fchle verbinden sich mit den vom Tastsinn ausgehenden zu unl\u00f6sbaren Gef\u00fchlscomplexen. Dabei k\u00f6nnen dann freilich im Einzelfalle bald die an das eine bald die an das andere Sinnesgebiet gebundenen Gef\u00fchle eine so dominirende Rolle spielen, dass die andern ganz verschwinden. Aber bei allem diesem Wechsel der","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nII. Die psychischen Gebilde.\nEmpfindungsgrundlage bleibt es docli die Eigenschaft des Gemeingef\u00fchls, dass dieses der unmittelbare Ausdruck unseres sinnlichen Wohl- oder Uebelbefindens und daher unter allen zusammengesetzten Gef\u00fchlen den einfachen sinnlichen Gef\u00fchlen am n\u00e4chsten verwandt ist. Gesichts- und Geh\u00f6rssinn betheiligen sich dagegen nur ausnahmsweise, namentlich bei ungew\u00f6hnlicher Intensit\u00e4t der Eindr\u00fccke, an dem Empfindungssubstrat des Gemeingef\u00fchls.\n4 a. Das Gemeingef\u00fchl ist diejenige zusammengesetzte Gef\u00fchlsform. bei der man zuerst die Verbindung aus Partialgef\u00fchlen bemerkt, zugleich aber freilich die psychologische Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit dieser Verbindung chrrchaus verkannt und \u00fcberdies in der in der Physiologie \u00fcblichen Weise das Gef\u00fchl nicht von seiner Empfindungsgrundlage unterschieden hat. So wird das Gemeingef\u00fchl bald als das \u00bbBewusstsein von unserm eigenen Empfindungszustand\u00ab bald als \u00bbdie Summe oder das ungesonderte Chaos von Sensationen\u00ab definirt, welches uns von allen Theilen unseres K\u00f6rpers zugef\u00fchrt werde. In der That entspringt das Gemeingef\u00fchl aus einer Vielheit von Partialgef\u00fchlen; aber es ist nicht die blo\u00dfe Summe dieser Gef\u00fchle, sondern ein, aus ihnen resul-tirendes einheitliches Totalgef\u00fchl. Zugleich ist es aber allerdings ein Totalgef\u00fchl von der einfachst m\u00f6glichen Structur, indem es sich aus lauter Partialgef\u00fchlen erster Ordnung, n\u00e4mlich aus einzelnen sinnlichen Gef\u00fchlen, zusammensetzt, ohne dass dieselben speeiellere Verbindungen zu Partialgef\u00fchlen zweiter oder gar h\u00f6herer Ordnung einzugehen pflegen. Dabei pflegt in dem entstehenden Producte ein einzelnes Partialgef\u00fchl vorherrschend zu sein: dies ist regelm\u00e4\u00dfig dann der Fall, wenn eine sehr starke \u00f6rtliche Empfindung von Schmerzgef\u00fchl begleitet ist. Doch k\u00f6nnen auch schw\u00e4chere Empfindungen durch ihr relatives \u00fcebergewicht den herrschenden Gef\u00fchlston bestimmen: so besonders h\u00e4ufig die Geruchs- und Geschmacksempfindungen oder auch gewisse an die regelm\u00e4\u00dfige Function der Organe gebundene Empfindungen, wie die die Gehbewegungen begleitenden inneren Tastempfindungen. H\u00e4ufig kann \u00fcbrigens dies relative \u00fcebergewicht einer einzelnen Empfindung so schwach sein, dass erst die Aufmerksamkeit auf","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 12. Die zusammengesetzten Gef\u00fchle.\n191\nden eigenen subjectiven Zustand das dominirende Gef\u00fchl entdeckt. In diesem Palle hat dann zugleich diese Richtung der Aufmerksamkeit meist die Eigenschaft, ein beliebiges Partialgef\u00fchl zum bevorzugten machen zu k\u00f6nnen.\n5.\tDas Gemeingef\u00fchl ist die Quelle der Unterscheidung jener Gef\u00fchlsgegens\u00e4tze der Lust und Unlust, die dann von ihm aus nicht nur auf die einzelnen einfachen Gef\u00fchle, aus denen es sich zusammensetzt, sondern manchmal auf alle Gef\u00fchle \u00fcbertragen wurde. Insofern das Gemeingef\u00fchl ein Totalgef\u00fchl ist, welchem das sinnliche Wohl- oder Uebel-befinden des Subjectes entspricht, sind die Ausdr\u00fccke Lust und Unlust in der That vollkommen geeignet, uns die Hauptgegens\u00e4tze anzudeuten, zwischen denen dasselbe, freilich nicht selten mehr oder weniger lange in einer Indifferenzlage verweilend, hin- und herschwanken kann. Ebenso kann man dann diese Ausdr\u00fccke auf die einzelnen Com-ponenten nach Ma\u00dfgabe ihrer Betheiligung an jenem Ge-sammteffect \u00fcbertragen. V\u00f6llig unberechtigt ist es nun aber, diese Bezeichnungen auf die Gesammtheit der \u00fcbrigen Gef\u00fchle anzuwenden oder gar ihre Anwendbarkeit zu einem Kriterium f\u00fcr den Begriff des Gef\u00fchls \u00fcberhaupt zu machen. L\u00e4sst sich doch selbst f\u00fcr das Gemeingef\u00fchl die Gegen\u00fcberstellung von Lust und Unlust nur in dem Sinne festhalten, dass diese W\u00f6rter allgemeine Classenbegriffe bezeichnen, die eine F\u00fclle qualitativ mannigfaltiger Gef\u00fchle in sich schlie\u00dfen. Diese Mannigfaltigkeit resultirt schon aus der ungemein gro\u00dfen Variation der Zusammensetzung der einzelnen von uns mit dem Gesammtnamen des Gemeingef\u00fchls belegten Totalgef\u00fchle. (VgL hierzu oben S. 97 ff.)\n6.\tDie erw\u00e4hnte Zusammensetzung ist zugleich die Ursache, dass es Gemeingef\u00fchle gibt, die deshalb nicht schlechthin als Lust- oder Unlustgef\u00fchle bezeichnet werden k\u00f6nnen, weil sie sowohl aus einem Lust- wie aus einem Unlustgef\u00fchl","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\n11. Die psychischen Gebilde.\nbestellen, wobei je nacli Umst\u00e4nden bald das eine bald das andere vorherrschen kann. Da die Eigent\u00fcmlichkeit derartiger Gef\u00fchle auf der Verbindung entgegengesetzter Partialgef\u00fchle beruht, so k\u00f6nnen sie Contrast gef\u00fcllte genannt werden. Eine einfache Form eines solchen Con-trastgef\u00fclils unter den Gemeingef\u00fchlen ist das Kitzelgef\u00fchl, das sich aus einem schwache \u00e4u\u00dfere Tastempfindungen begleitenden Lustgef\u00fchl und aus den an die Muskelempfindungen gebundenen Gef\u00fchlen zusammensetzt, welche durch die von den Tastreizen ausgel\u00f6sten Reflexkr\u00e4mpfe entstehen. Indem sich diese Reflexkr\u00e4mpfe mehr oder weniger weit verbreiten und h\u00e4ufig zugleich durch die Irradiation auf das Zwerchfell Athmungshemmungen herbeif\u00fchren, kann das resultirende Gef\u00fchl in einzelnen F\u00e4llen nach Intensit\u00e4t, Umfang und Zusammensetzung au\u00dferordentlich variiren.\n7. Die zusammengesetzten Gef\u00fchle im Gebiet des Gesichts- und Geh\u00f6rssinns pflegt man auch als \u00e4sthetische Elementargef\u00fchle zu bezeichnen, ein Ausdruck, welcher an und f\u00fcr sich alle Gef\u00fchle umfasst, die an zusammengesetzte Wahrnehmungen gebunden und deshalb selbst zusammengesetzt sind. Zu der Classe dieser nach dem Begriff der ai.a&rjaig im weiteren Sinne benannten Gef\u00fchle geh\u00f6ren dann aber insbesondere diejenigen, die als Elemente \u00e4sthetischer Wirkungen in dem engeren Sinne dieses Wortes Vorkommen. Der Begriff des Elementaren bezieht sich demnach bei diesen Gef\u00fchlen nicht auf die Gef\u00fchle selbst, die durchaus nicht einfach sind, sondern er soll nur einen relativen Gegensatz zu den noch weit zusammengesetzteren h\u00f6heren \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen ausdr\u00fccken.\nDie Wahrnehmungsgef\u00fchle oder \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchle des Gesichts- und Geh\u00f6rssinns k\u00f6nnen uns zugleich als Repr\u00e4sentanten aller weiteren im Verlauf der","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 12. Die zusammengesetzten Gef\u00fchle.\n193\nintellectuellen Processe auftretenden zusammengesetzten Gef\u00fchle, wie der logischen, der moralischen, der h\u00f6heren \u00e4sthetischen, dienen. Denn ihrer allgemeinen psychologischen Structur nach gleichen solche verwinkeltere Gef\u00fchlsformen durchaus den einfacheren Wahrnehmungsgef\u00fchlen; nur verbinden sich jene stets noch mit Gef\u00fchlen und Affecten, die aus dem gesammten Zusammenhang der psychischen Pro-cesse hervorgehen.\nW\u00e4hrend die Gegens\u00e4tze, zwischen denen sich die Gemeingef\u00fchle bewegen, vorwiegend jenen Qualit\u00e4ten der Gef\u00fchle angeh\u00f6ren, die wir durch die Ausdr\u00fccke Lust und Unlust bezeichnen, lassen sich auf die \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchle zun\u00e4chst die in die n\u00e4mliche Gef\u00fchlsrichtung fallenden, aber ihrer Bedeutung nach objectiveren, nicht das eigene Wohl- oder Uebelbefinden, sondern das Verh\u00e4lt-niss der Gegenst\u00e4nde zum vorstellenden Subject zum Ausdruck bringenden Gegens\u00e4tze des Gefallens und Missfallens anwenden. Hier ist es freilich noch augenf\u00e4lliger als bei Lust und Unlust, dass diese Gegensatzbegriffe nicht selbst Einzelgef\u00fchle bezeichnen, sondern nur auf die allgemeinen Richtungen hinweisen, nach denen sich die im einzelnen unendlich mannigfaltigen und bei jeder individuellen Vorstellung eigenth\u00fcmlichen Gef\u00fchle ordnen lassen. Dabei kommen dann bei den einzelnen Gef\u00fchlen in mehr wechselnder Weise zugleich die andern Gef\u00fchlsrichtungen (S. 98), die erregenden und beruhigenden, die spannenden und l\u00f6senden Gef\u00fchle, zur Geltung.\n8. Abgesehen von den genannten, \u00fcber alle einzelnen Formen \u00fcbergreifenden Hauptrichtungen lassen sich nun alle Wahrnehmungsgef\u00fchle nach den f\u00fcr ihre Qualit\u00e4t ma\u00dfgebenden Verh\u00e4ltnissen der Vorstellungselemente in zwei Classen bringen, die wir die der intensiven und der extensiven Gef\u00fchle nennen wollen. Unter den intensiven Gef\u00fchlen\nW u n d t, Psychologie.\n13","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nII. Die psychischen Gebilde.\nverstehen wir diejenigen, die aus dem Verh\u00e4ltniss der qualitativen Eigenschaften der Empfindungselemente einer Vorstellung, unter den extensiven solche, die aus der r\u00e4umlichen oder zeitlichen Ordnung der Elemente entspringen. Die Ausdr\u00fccke \u00bbintensiv\u00ab und \u00bbextensiv\u00ab sollen also hier nicht auf die Beschaffenheit der Gef\u00fchle selbst, die in Wirklichkeit immer eine intensive ist, sondern auf ihre Entstehungsbedingungen bezogen werden.\nDemnach sind die intensiven und extensiven Gef\u00fchle nicht blo\u00df die subjectiven Begleiterscheinungen der entsprechenden Vorstellungen, sondern, da jede Vorstellung einerseits aus qualitativ verschiedenen Elementen zu bestehen pflegt, anderseits irgend einer extensiven Ordnung von Eindr\u00fccken sich einreiht, so kann eine und dieselbe Vorstellung gleichzeitig das Substrat intensiver und extensiver Gef\u00fchle sein. So erregt ein Gesiclitsobject, das aus verschiedenfarbigen Theilen besteht, ein intensives Gef\u00fchl durch das Verh\u00e4ltniss der Farben zu einander, ein extensives durch seine Form. Eine Aufeinanderfolge von Kl\u00e4ngen ist mit einem intensiven Gef\u00fchl verbunden, das dem qualitativen Verh\u00e4ltniss der Kl\u00e4nge entspricht, und mit einem extensiven, das aus der rhythmischen oder arhythmischen zeitlichen Folge derselben hervorgeht. Darum sind an die Gesichts-wie an die Geh\u00f6rsvorstellungen im allgemeinen stets intensive und extensive Gef\u00fchle zugleich gebunden ; doch kann nat\u00fcrlich unter bestimmten Bedingungen die eine gegen\u00fcber der andern Form zur\u00fccktreten. So ist beim momentanen Anh\u00f6ren eines Zusammenklangs nur ein intensives Gef\u00fchl wahrzunehmen ; umgekehrt beim Anh\u00f6ren einer Taktfolge aus indifferenten Schalleindr\u00fccken macht sich blo\u00df ein extensives Gef\u00fchl in merklichem Grade geltend, u. s. w. Zum Zweck der psychologischen Analyse ist es aber nat\u00fcrlich zweckm\u00e4\u00dfig, solche Bedingungen herzustellen, unter denen","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 12. Die zusammengesetzten Gef\u00fcllte.\n195\neine bestimmte Gef\u00fchlsform unter m\u00f6glichstem Ausschl\u00fcsse jeder andern entsteht.\n9.\tUnter den auf diese Weise zu beobachtenden intensiven Gef\u00fchlen folgen die an die Farbenverbindungen gebundenen der Regel, dass eine Combination von zwei Farben mit dem Maximum des qualitativen Unterschieds auch das Maximum der Wohlgef\u00e4lligkeit erreicht. Zugleich besitzt aber jede einzelne Farbencombination einen speci-fischen Gef\u00fchlscharakter, der sich aus den Partialgef\u00fchlen der einzelnen Farben und aus dem als Resultante derselben entstehenden Totalgef\u00fchl zusammensetzt. Daneben pflegt auch hier, wie schon bei den einfachen Farbengef\u00fchlen, die Wirkung durch zuf\u00e4llige Associationen und die von ihnen ausgehenden complexen Gef\u00fchle gekreuzt zu werden. (Vgl. S. 90.) Combinationen von mehr als zwei Farben sind noch nicht zureichend untersucht.\nEine au\u00dferordentlich reiche Mannigfaltigkeit bilden die Gef\u00fchle der Klangverbindungen. Sie sind dasjenige Gef\u00fchlsgebiet, in welchem die oben (S. 188) im allgemeinen er\u00f6rterte Bildung von Partialgef\u00fchlen verschiedener Ordnung mit ihren je nach besonderen Bedingungen wechselnden Verwebungen vorzugsweise ihre Wirkungen geltend macht. Die Untersuchung der einzelnen auf diese Weise entstehenden Gef\u00fchle geh\u00f6rt zu den Aufgaben der psychologischen Musik\u00e4sthetik.\n10.\tDie' extensiven Gef\u00fchle k\u00f6nnen wir wieder in die r\u00e4umlichen und die zeitlichen unterscheiden, von denen jene, die Formgef\u00fchle, vorzugsweise dem Gesichtssinn, diese, die rhythmischen Gef\u00fchle, dem Geh\u00f6rssinn eigenth\u00fcmlich sind, w\u00e4hrend dem Tastsinn die Anf\u00e4nge der Entwicklung beider zufallen.\nDas optische Formgef\u00fchl spricht sich vor allem in der Bevorzugung regelm\u00e4\u00dfiger vor unregelm\u00e4\u00dfigen Formen,\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nII. Die psychischen Gebilde.\nund dann bei der Wald zwischen verschiedenen regelm\u00e4\u00dfigen Formen in der Bevorzugung der nach gewissen einfachen Hegeln gegliederten aus. Unter diesen Kegeln werden wieder zwei, die der Symmetrie mit dem Verh\u00e4lt-niss 1 : 1 und die des goldenen Schnitts mit dem Verh\u00e4lt-niss x + 1 :x \u2014 x:l (das Ganze zum gr\u00f6\u00dferen Theil wie dieser zum kleineren), vor andern ausgezeichnet. Dass bei der Wahl zwischen diesen beiden die Symmetrie f\u00fcr die horizontale, der goldene Schnitt f\u00fcr die verticale Gliederung der Gestalten im allgemeinen den Vorzug gewinnt, ist wahrscheinlich durch Associationen, speciell mit organischen Gestalten, wie z. B. der menschlichen, bedingt. Diese Bevorzugung der Regelm\u00e4\u00dfigkeit und gewisser einfachster Regeln kann nicht wohl anders als so gedeutet werden, dass die Durchmessung jeder einzelnen Dimension mit einer Bewegungsempfindung und einem begleitenden sinnlichen Gef\u00fchl verbunden ist, das in das Ganze eines optischen Formge-f\u00fchls als Partialgef\u00fchl eingeht, worauf dann das bei dem Anblick der ganzen Form entstehende Totalgef\u00fchl der re-gelm\u00e4\u00dfgen Ordnung durch das Verh\u00e4ltniss sowohl der verschiedenen Empfindungen wie der Partialgef\u00fchle zu einander modificirt wird. Als secund\u00e4re, aber ebenfalls mit dem Totalgef\u00fchl verschmelzende Bestandtheile k\u00f6nnen auch hier wieder Associationen und die an sie gebundenen Gef\u00fchle hinzukommen.\nDas rhythmische Gef\u00fchl ist ganz von den bei der Betrachtung der zeitlichen Vorstellungen besprochenen Bedingungen abh\u00e4ngig. Die Partialgef\u00fchle werden hier durch jene Gef\u00fchle gespannter und erf\u00fcllter Erwartung gebildet, die in ihrem regelm\u00e4\u00dfigen Wechsel die rhythmische Zeitvorstellung selbst constituiren. Die Art der Verbindung der Partialgef\u00fchle und besonders die Vorherrschaft einzelner derselben in dem entstehenden Totalgef\u00fchl ist aber zugleich","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 12. Die zusammengesetzten Gef\u00fchle.\t197\nin noch h\u00f6herem Grade als der momentane Charakter eines intensiven Gef\u00fchls von dem Verh\u00e4ltnisse abh\u00e4ngig, in dem die unmittelbar gegenw\u00e4rtigen zu vorangegangenen Gef\u00fchlen stehen. Dies zeigt sich namentlich an dem starken Einfluss, den jeder Wechsel des Rhythmus auf das rhythmische Gef\u00fchl aus\u00fcbt. Hierdurch sowie schon durch ihr allgemeines Gebundensein an einen bestimmten zeitlichen Verlauf bilden die rhythmischen Gef\u00fchle den n\u00e4chsten Uebergang zu den Affecten. Kann sich auch aus jedem zusammengesetzten Gef\u00fchl ein Affect entwickeln, so ist doch bei keinem andern so wie hier die Bedingung der Entstehung des Gef\u00fchls zugleich eine nothwendige Bedingung zur Entstehung eines gewissen Afifectgrades, der in diesem Falle nur durch die regelm\u00e4\u00dfige Folge der Gef\u00fchle erm\u00e4\u00dfigt zu werden pflegt. (Vgl. unten \u00a7 13, 1, 7.)\n11. Bei der ungeheuren Mannigfaltigkeit der zusammengesetzten Gef\u00fchle, die mit einer ebenso gro\u00dfen Mannigfaltigkeit ihrer Bedingungen verkn\u00fcpft ist, kann man nat\u00fcrlich an eine sie alle umfassende psychologische Theorie von \u00e4hnlich einheitlicher Beschaffenheit, wie sie z. B. bei den r\u00e4umlichen und zeitlichen Vorstellungen m\u00f6glich ist, nicht denken. Immerhin treten bei ihnen einige gemeinsame Eigenschaften hervor, durch die sie sich gewissen allgemeinen psychologischen Gesichtspunkten unterordnen. Zwei Fac-toren sind es n\u00e4mlich, aus denen sich zun\u00e4chst jede solche Gef\u00fchlswirkung zusammensetzt: erstens das Verh\u00e4ltniss der verbundenen Partialgef\u00fchle zu einander, und zweitens ihre Zusammenfassung zu einem einheitlichen Totalgef\u00fchl. Der erste dieser Factoren tritt bei den intensiven, der zweite bei den extensiven Gef\u00fchlen st\u00e4rker heror; in der That aber sind sie beide nicht nur stets verbunden, sondern sie bestimmen sich auch wechselseitig. So kann eine Gestalt, die noch eine wohlgef\u00e4llige Auffassung zul\u00e4sst, um so compli-","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nII. Die psychischen Gebilde.\ncirter sein, je mehr sich die Verh\u00e4ltnisse ihrer Theile nach gewissen Hegeln ordnen; und das n\u00e4mliche gilt f\u00fcr den Rhythmus. Anderseits aber beg\u00fcnstigt zugleich die Verbindung zu einem Ganzen die Geltendmachung der einzelnen Gef\u00fchlsbestandtheile. In allen diesen Beziehungen zeigen die Gef\u00fchlsverbindungen die n\u00e4chste Aehnlichkeit mit den intensiven Vorstellungsverbindungen, w\u00e4hrend die extensive Ordnung der Eindr\u00fccke, namentlich die r\u00e4umliche, viel eher eine relativ unabh\u00e4ngige Coexistenz mehrerer Vorstellungen m\u00f6glich macht.\n12. Diese Eigenschaft der engen intensiven Verbindung aller Bestandtheile eines Gef\u00fchls, selbst bei solchen Gef\u00fchlen, deren Vorstellungsgrundlagen extensiv r\u00e4umlich oder zeitlich geordnet sind, h\u00e4ngt mit einem Princip zusammen, das f\u00fcr alle, auch die im Folgenden noch zu besprechenden Ge-m\u00fcthsbewegungen g\u00fcltig ist, und das wir als das Princip der Einheit der Gef\u00fchlslage bezeichnen wollen. Dasselbe besteht darin, dass in einem gegebenen Moment stets nur ein Totalgef\u00fchl m\u00f6glich ist, oder, wie wir es auch aus-dr\u00fccken k\u00f6nnen, dass alle in einem gegebenen Moment vorhandenen Partialgef\u00fchle schlie\u00dflich stets zu einem einzigen Totalgef\u00fchl verbunden sind. Dieses Princip der Einheit der Gef\u00fchlslage steht aber augenscheinlich im Zusammenhang mit dem allgemeinen Verh\u00e4ltniss zwischen Vorstellung und Gef\u00fchl, wonach in jenem ein unmittelbarer Erfahrungsinhalt nach den ihm ohne R\u00fccksicht auf das Subject beigelegten Eigenschaften, in diesem das einem solchen Er-fahrungsinhalt immer zugleich zukommende Verh\u00e4ltniss zu dem Subject seinen Ausdruck findet.\n\u00a7 13. Die Affecte.\n1. Das Gef\u00fchl ist, dem allgemeinen Charakter des psychischen Geschehens entsprechend, niemals ein dauernder","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 13. Die Affecte.\n199\nZustand. Bei der psychologischen Analyse eines zusammengesetzten Gef\u00fchls m\u00fcssen wir uns daher stets eine momentane Gem\u00fcthslage fixirt denken. Da dies um so leichter gelingt, je allm\u00e4hlicher und stetiger die psychischen Pro-cesse verlaufen, so hat sich deshalb auch der Ausdruck Gef\u00fchle haupts\u00e4chlich f\u00fcr relativ langsamer ablaufende Vorg\u00e4nge sowie f\u00fcr solche eingeb\u00fcrgert, die, wie z. B. die rhythmischen, Gef\u00fchle, in ihrem regelm\u00e4\u00dfigen zeitlichen Verlauf nie ein gewisses mittleres Ma\u00df der Intensit\u00e4t \u00fcberschreiten. Wo sich dagegen eine zeitliche Folge von Gef\u00fchlen zu einem zusammenh\u00e4ngenden Verlaufe verbindet, der sich gegen\u00fcber den vorausgegangenen und den nachfolgenden Vorg\u00e4ngen als ein eigenartiges Ganzes aussondert, das im allgemeinen zugleich intensivere Wirkungen auf das Subject aus\u00fcbt als ein einzelnes Gef\u00fchl, da nennen wir einen solchen in sich geschlossenen Process von Gef\u00fchlen einen Affect.\nDieser Ausdruck weist schon darauf hin, dass es nicht sowohl specifische subjective Erfahrungsinhalte sind, die den Affect von dem Gef\u00fchl scheiden, als vielmehr die Wirkungen, die er in Folge der eigentli\u00fcmlichen Verbindung bestimmter Gef\u00fchlsinhalte aus\u00fcbt. Deshalb ist aber auch zwischen Gef\u00fchl und Affect durchaus keine scharfe Grenze zu ziehen. Jedes intensivere Gef\u00fchl geht in einen Affect \u00fcber, und seine Losl\u00f6sung aus diesem beruht auf einer mehr oder minder willk\u00fcrlichen Abstraction. Bei denjenigen Gef\u00fchlen, die von vornherein an einen bestimmten zeitlichen Verlauf gebunden sind, bei den rhythmischen, ist darum eine solche Abstraction eigentlich unm\u00f6glich. Das rhythmische Gef\u00fchl unterscheidet sich in Wahrheit h\u00f6chstens noch durch die geringere Intensit\u00e4t jener Gesammt-wirkung auf das Subject, der der \u00bbAffect\u00ab seinen Namen verdankt. Doch ist auch dieser Unterschied ein flie\u00dfender,","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nII. Die psychischen Gebilde.\nund sobald die durch rhythmische Eindr\u00fccke erzeugten Gef\u00fchle irgend lebhafter sind, wie das namentlich dann stattzufinden pflegt, wenn sich der Rhythmus noch mit einem das Gef\u00fchl stark erregenden Empfindungsinhalte verbindet, so werden die rhythmischen Gef\u00fchle thats\u00e4chlich zu Aflecten. Darum bilden die rhythmischen Gef\u00fchle in der Musik wie in der Poesie wichtige H\u00fclfsmittel, um Affecte zu schildern, und um solche in dem H\u00f6rer hervorzurufen.\n2.\tDie Sprache hat die verschiedenen Affecte mit Namen belegt, die, gerade so wie die Bezeichnungen der Gef\u00fchle, nicht individuelle Vorg\u00e4nge, sondern Gattungsbegriffe bedeuten, unter deren jedem sich eine F\u00fclle einzelner Ge-m\u00fcthsbewegungen nach gewissen gemeinsamen Merkmalen zusammenfassen l\u00e4sst. Affecte wie die der Freude, der Hoffnung, der Sorge, des Kummers, des Zornes u. s. w. sind nicht blo\u00df in jedem einzelnen Fall, wo sie Vorkommen, von eigenth\u00fcmlichen Vorstellungsinhalten begleitet, sondern auch ihre Gef\u00fchlsinhalte und selbst ihre Verlaufs weis en k\u00f6nnen von Fall zu Fall mannigfach wechseln. Je zusammengesetzter ein psychischer Vorgang ist, um so eigenartiger gestaltet er sich im einzelnen: ein individueller Affect wird daher noch weniger als ein individuelles Gef\u00fchl jemals in identischer Form sich wiederholen. Jene allgemeinen Affect-bezeichnungen haben also h\u00f6chstens die Bedeutung, dass sie gewisse typische Verlaufsformen von verwandtem Gef\u00fchlsinhalte zusammenfassen.\n3.\tNicht jeder irgendwie zusammenh\u00e4ngende Verlauf von Gef\u00fchlen ist nun aber ein Affect und kann als solcher einer der durch die Sprache fixirten typischen Formen subsumirt werden. Auch der Affect besitzt vielmehr den Charakter eines einheitlichen Ganzen, das sich von dem zusammengesetzten Gef\u00fchl nur durch die zwei Merkmale unterscheidet, dass es einen bestimmten zeitlichen Verlauf","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 13. Die Affecte.\n20J\nzeigt, und dass es eine intensivere Wirkung und Nachwirkung auf den Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge aus\u00fcbt. Das erste dieser Merkmale beruht eben darauf, dass der Affect dem einzelnen Gef\u00fchl gegen\u00fcber ein Process h\u00f6herer Stufe ist, indem er stets eine Aufeinanderfolge mehrerer Gef\u00fchle in sich schlie\u00dft; das zweite Merkmal aber h\u00e4ngt mit diesem ersten enge zusammen : es beruht auf der Steigerung der Wirkung, die eine Summation von Gef\u00fchlen mit sich f\u00fchrt.\nIn Folge der angegebenen Merkmale besitzt der Affect bei aller Verschiedenheit seiner Formen eine gewisse Regelm\u00e4\u00dfigkeit des Verlaufs. Er beginnt n\u00e4mlich stets mit einem mehr oder minder intensiven Anfangsgef\u00fchl, das durch seine Qualit\u00e4t und Richtung sofort f\u00fcr die Beschaffenheit des Affectes kennzeichnend ist, und das entweder in einer durch einen \u00e4u\u00dferen Eindruck hervorgerufenen Vorstellung (\u00e4u\u00dfere AfFecterregung) oder in einem durch Associationsund Apperceptionsbedingungen entstehenden psychischen Vorgang (innere Affecterregung) seine Quelle hat. Darauf folgt dann ein von entsprechenden Gef\u00fchlen begleiteter Vorstellungsverlauf, der wieder sowohl nach der Quali\u00e4t der Gef\u00fchle wie nach der Geschwindigkeit des Processes bei den einzelnen Affecten charakteristische Unterschiede zeigt. Endlich schlie\u00dft der Affect mit einem Endgef\u00fchl, welches nach dem Uebergang jenes Verlaufes in eine ruhigere Gem\u00fcthslage zur\u00fcckbleibt, und in welchem der Affect abklingt, falls er nicht sofort in das Anfangsgef\u00fchl eines neuen Affectanfalls \u00fcbergeht. Letzteres findet sich namentlich bei Affecten von intermittirendem Verlaufstypus. (Vgl. unten 13.)\n4. Die Steigerung der Wirkungen, die im Verlauf des Affectes zu beobachten ist, bezieht sich nun nicht blo\u00df auf den psychischen Inhalt der ihn zusammensetzenden","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\n]!. Die psychischen Gebilde.\nGef\u00fchle, sondern auch auf' deren physische Begleiterscheinungen. Bei den einzelnen Gef\u00fchlen beschr\u00e4nken sich diese auf sehr geringe Ver\u00e4nderungen der Herz- und der Athmungs-innervation, die nur mit H\u00fclfe exacter graphischer Methoden nachweisbar sind (S. 102 f). Dies ist bei den A\u00fcecten wesentlich anders. Hier steigern sich nicht nur durch die Summation und den Wechsel der auf einander folgenden Gef\u00fchlsreize die Wirkungen auf das Herz, die Blutgef\u00e4\u00dfe und die Athmung, sondern es werden auch stets in deutlich erkennbarer Weise die \u00e4u\u00dferen Bewegungsorgane in Mitleidenschaft gezogen, indem zun\u00e4chst Bewegungen der Mundmuskeln (mimische Bewegungen), dann solche der Arme und des Gesammtk\u00f6rpers (pantomimische Bewegungen eintreten, zu denen sich bei st\u00e4rkeren Affecten auch noch ausgebreitete Innervationsst\u00f6rungen, wie Muskelzittern, krampfhafte Ersch\u00fctterungen des Zwerchfells und der Antlitzmuskeln, l\u00e4hmungsartiger Nachlass des Muskeltonus, hinzugesellen k\u00f6nnen.\nWegen ihrer symptomatischen Bedeutung f\u00fcr die Affecte bezeichnet man alle diese Bewegungen als Ausdrucksbewegungen. In der Regel treten sie vollkommen unwillk\u00fcrlich auf, entweder reflexartig den Affecterregungen folgend oder in der Form impulsiver, aus den Gef\u00fchlsbe-standtheilen des Affectes entspringender Triebhandlungen. Sie k\u00f6nnen dann aber auch durch willk\u00fcrliche Verst\u00e4rkung oder Hemmung der Bewegungen oder selbst durch absichtliche Erzeugung solcher in der mannigfaltigsten Weise abge\u00e4ndert werden, so dass bei den Ausdrucksbewegungen die ganze Scala \u00e4u\u00dferer Bewegungsreactionen, die uns bei den Willenshandlungen besch\u00e4ftigen wird, in Action treten kann (\u00a7 1-]). Da aber diese verschiedenen Bewegungsformen \u00e4u\u00dferlich einander vollkommen gleichen k\u00f6nnen, und da sie \u00fcberdies nach ihrer psychischen Beschaffenheit oft ohne","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 13. Die Affecte.\n203\nscharfe Grenzen in einander nbergelien, so ist es f\u00fcr den objectiven Beobachter in der Regel unm\u00f6glich sie zu unterscheiden.\n5. Nach ihrem symptomatischen Charakter lassen sich die Ausdrucksbewegungen der Affecte in drei Classen sondern: lj Rein intensive Symptome: sie sind durchweg Ausdrucksformen st\u00e4rkerer Affecte und bestehen bei m\u00e4\u00dfigeren Graden in gesteigerten Bewegungen, bei sehr heftigen Affecten in pl\u00f6tzlicher Hemmung oder L\u00e4hmung der Bewegung. 2) Qualitative Gef\u00fchls\u00e4u\u00dferungen: sie bestehen in mimischen Bewegungen, unter denen Eeac-tionen der Mundmuskeln, die den auf s\u00fc\u00dfe, saure und bittere Geschmackseindr\u00fccke folgenden Reflexen gleichen, die vorwiegende Rolle spielen. Dabei entspricht der s\u00fc\u00dfe Gesichtsausdruck Lustaffecten, der saure und bittere Unlustaffecten, w\u00e4hrend die sonstigen Modification en des Gef\u00fchls, wie die Erregung und Depression, die Spannung und ihre L\u00f6sung, durch die Spannung der Mundmuskeln ausgedr\u00fcckt werden. 3) Vorstellungs\u00e4u\u00dferungen: sie bestehen im allgemeinen in pantomimischen Bewegungen, bei denen entweder auf die Gegenst\u00e4nde des Affects hingewiesen wird hinweisende Geberden), oder bei denen die Gegenst\u00e4nde sowie die mit ihnen zusammenh\u00e4ngenden Vorg\u00e4nge durch die Form der Bewegung angedeutet werden (malende Geberden). Augenscheinlich entsprechen diese drei Ausdrucksformen genau den psychischen Elementen des Affects und deren Grundeigenschaften, n\u00e4mlich die erste der Intensit\u00e4t, die zweite der Qualit\u00e4t der Gef\u00fchle und die dritte dem Vorstellungsinhalt. Demgem\u00e4\u00df kann auch eine concrete Ausdrucksbewegung alle drei Ausdrucksformen in sich vereinigen. Die dritte Form, die der Vorstellungs\u00e4u\u00dferungen, ist wegen ihrer genetischen Beziehungen zur Sprache von besonderer psychologischer Bedeutung. (Vgl. \u00a7 21, 3.)","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nII. Die psychischen Gebilde.\n6. Die Begleiterscheinungen der Affecte im Gebiet der Puls- und Athmungsbewegungen k\u00f6nnen von dreierlei Art sein. Sie k\u00f6nnen bestellen: 1) in der unmittelbaren Wirkung der Gef\u00fchle, aus denen sich die Affecte zusammensetzen, also z. B. in einer Verl\u00e4ngerung der Puls- und der Atlimungswellen, wenn die Gef\u00fchle Lustgef\u00fchle sind, in einer Verk\u00fcrzung, wenn sie Unlustgef\u00fchle sind u. s. w. (vgl. S. 103); doch trifft dies nur hei relativ ruhigen Affecten zu, hei denen die einzelnen Gef\u00fchle zureichend Zeit haben sich zu entwickeln. Sobald dies nicht mehr der Fall ist, so treten Erscheinungen auf, die nicht blo\u00df von der Qualit\u00e4t der Gef\u00fchle, sondern zugleich und meist vorzugsweise von der Intensit\u00e4t der aus ihrer Summation sich ergebenden Innervationswirkungen abh\u00e4ngen. Solche Summationswirkungen k\u00f6nnen dann bestehen 2) in verst\u00e4rkter Innervation, welche bei nicht allzu rascher Folge der Gef\u00fchle in Folge einer in diesem Fall durch die Summation bewirkten Steigerung der Erregung eintritt; sie \u00e4u\u00dfert sich, weil beim Herzen die gesteigerte Erregung vorwiegend die Hemmungsnerven trifft, in verlangsamten und verst\u00e4rkten Pulsschl\u00e4gen, zu denen sich meist eine gesteigerte Innervation der mimischen und der pantomimischen Muskeln gesellt: sthe-nische Affecte. Ist der Verlauf der Gef\u00fchle entweder ein sehr st\u00fcrmischer, oder dauert er eine ungew\u00f6hnlich lange Zeit in gleicher Richtung, so ist aber die Wirkung des Affectes 3) eine mehr oder minder ausgebreitete L\u00e4hmung der Herzinnervation und des Tonus der \u00e4u\u00dferen Muskeln, unter Umst\u00e4nden verbunden mit speciellett Innervationsst\u00f6rungen einzelner Muskelgruppen, besonders des Zwerchfells und der synergisch mit ihm th\u00e4tigen Antlitzmuskeln. Hier ist dann das n\u00e4chste von der L\u00e4hmung der regulatorischen Herznerven herr\u00fchrende Symptom starke Pulsbeschleunigung mit entsprechender Athmungsbesclileunigung,","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 13. Die Affecte.\n205\nw\u00e4hrend zugleich die Puls- wie die Athmungsbewegungen schw\u00e4cher werden, und der Tonus der \u00e4u\u00dferen Muskeln bis zu l\u00e4hmungsartiger Erschlaffung abnimmt: asthenische Affecte. Ein letzter Unterschied, der aber nicht wohl zur Aufstellung einer selbst\u00e4ndigen Gattung physischer Affect-wirkungen Anlass geben kann, da es sich bei ihm nur um Modificationen der die sthenischen und asthenischen Affecte charakterisirenden Erscheinungen handelt, beruht endlich 4) auf der gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Schnelligkeit, mit der die Zunahme oder die Hemmung der Innervation auf-tritt: schnelle und langsame Affecte.\n6 a. W\u00e4hrend die \u00e4ltere Psychologie meist in der Weise der vielger\u00fchmten Affectenlehre Spinoza\u2019s allerlei logische Beflexionen \u00fcber die Affecte f\u00fcr eine Theorie oder gar f\u00fcr eine Schilderung der Affecte selbst ausgab, haben in der neueren Zeit vorzugsweise die Ausdrucksbewegungen sowie die sonstigen Begleiterscheinungen der Affecte in Puls, Athmung, Gef\u00e4\u00dfinnervation die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Aber diesen bei richtiger Deutung in der That werthvollen Erscheinungen wies man h\u00e4ufig eine g\u00e4nzlich verkehrte Bolle an, indem man sie f\u00fcr H\u00fclfsmittel hielt, mittelst deren die psychologische Natur der Gem\u00fcthsbewegungen erforscht werden k\u00f6nne. Auf Grund dieser Annahme entstand dann eine ausschlie\u00dflich auf die physischen Merkmale gest\u00fctzte Classification der Affecte, bei der man der seltsamen Theorie huldigte, die Affecte seien blo\u00dfe Wirkungen der Ausdrucksbewegungen, der Affect der Trauer bestehe also z. B. nur aus den Empfindungen, die die mimischen Bewegungen des Weinens begleiten, u. s. w. In etwas gem\u00e4\u00dfigterer Weise hat man den Ausdrucksbewegungen ihre Bedeutung f\u00fcr die Affecte dadurch zu wahren gesucht, dass man ihr Vorhandensein als das allgemeine Merkmal f\u00fcr die Unterscheidung derselben von den Gef\u00fchlen betrachtete. Auch dies ist jedoch um so weniger berechtigt, als ja \u00e4hnliche physische Ausdruckserscheinungen schon bei den Gef\u00fchlen Vorkommen, und der Umstand, ob diese Symptome \u00e4u\u00dferlich mehr oder weniger deutlich sichtbar werden, offenbar nicht entscheidend sein kann. Der wesentliche Unterschied des Affects","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nII. Die psychischen Gebilde.\nvon dem Gef\u00fchl ist vielmehr der psychologische, dass jener einen zu einem einheitlichen Ganzen verbundenen Verlauf von Gef\u00fchlen darstellt. Die Ausdrucksbewegungen aber sind erst die Folgen der Steigerung, die in physischer Beziehung die vorausgehenden auf die nachfolgenden Theile eines solchen Verlaufs aus\u00fcben. Hieraus folgt ohne weiteres, dass auch die entscheidenden Merkmale f\u00fcr die Eintheilung der Alfecte psychologische sein m\u00fcssen. (Vgl. unten 9.'\n7. So wichtige Bestandtheile der Affecte die physischen Begleiterscheinungen sind, so stehen sie doch in keiner con-stanten Beziehung zu der psychologischen Qualit\u00e4t derselben. Dies gilt namentlich von den Puls- und \u00c4thin ungs Wirkungen, aber auch z. B. von den pantomimischen Ausdrucksbewegungen starker Affecte. Affecte, die einen sehr verschiedenen, ja entgegengesetzten Gef\u00fchlsinhalt haben, k\u00f6nnen unter Umst\u00e4nden in Bezug auf diese physischen Begleiterscheinungen zu der n\u00e4mlichen Classe geh\u00f6ren. So k\u00f6nnen z. B. Freude und Zorn gleicher Weise athenische Affecte sein. Eine von Ueberraschung begleitete Freude kann aber auch das physische Bild eines asthenischen Affectes darbieten. Denn in den allgemeinen Innervationswirkungen, die zu jener Unterscheidung der sthenisclien. asthenischen, der raschen und langsamen Affecte Anlass gaben, spiegeln sich \u00fcberhaupt nicht die Gef\u00fchlsinhalte derselben, sondern nur die formalen Eigenschaften der St\u00e4rke und der Geschwindigkeit des Verlaufs der Gef\u00fchle. Dies erhellt deutlich auch daraus, dass man analoge Unterschiede der unwillk\u00fcrlichen Innervation, wie sie die verschiedenen Affecte begleiten, durch eine blo\u00dfe Folge indifferenter Eindr\u00fccke, z. B. durch die Taktschl\u00e4ge eines Metronoms, hervor-rufen kann. Namentlich beobachtet man hierbei, dass die Athmung die Tendenz hat der gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Geschwindigkeit der Metronomschl\u00e4ge sich anzupassen: mit","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 13. Die Affecte.\n207\nder Zunahme dieser Geschwindigkeit werden die Atbmungen frequenter, und zugleich fallen in der Regel bestimmte Athmungsphasen mit bestimmten Taktschl\u00e4gen zusammen. Dabei zeigt sich freilich, dass auch das Anh\u00f6ren eines solchen indifferenten Rhythmus nicht v\u00f6llig affectlos ist: man hat bei wachsender Geschwindigkeit der Taktschl\u00e4ge zuerst den Eindruck eines ruhigen, dann eines sthenischen, und endlich bei der schnellsten Folge den eines asthenischen Affectes. Doch haben die Affecte in diesem Versuch gewisserma\u00dfen einen blo\u00df formalen Charakter: sie zeigen inhaltlich eine gro\u00dfe Unbestimmtheit, die erst dann schwindet, wenn man sich in einen concreten Affect von den gleichen formalen Eigenschaften hineindenkt. Dies tritt in der That sehr leicht ein, und hierauf beruht die gro\u00dfe F\u00e4higkeit rhythmischer Eindr\u00fccke zur Schilderung wie zur Erzeugung von Affecten. Es bedarf dann nur noch einer Hinweisung auf den qualitativen Gef\u00fchlsinhalt, wie sie der Musik durch den Klanginhalt der musikalischen Gebilde m\u00f6glich ist, um einen Affect in allen seinen Bestandtheilen frei zu erzeugen.\n7 a. Aus diesem Verh\u00e4ltnis der physischen Affeetwirkungen zu dem psychischen Inhalt der Affecte ergibt sich ebenfalls, dass die ersteren niemals die unmittelbare psychologische Beobachtung der Affecte ersetzen k\u00f6nnen. Sie sind im allgemeinen symptomatische H\u00fclfsmittel von vieldeutigem Charakter, die verbunden mit der auf experimentellem Wege geregelten Selbstbeobachtung einen gro\u00dfen, f\u00fcr sich allein aber gar keinen Werth haben. N\u00fctzlich sind sie insbesondere bei der Ausf\u00fchrung experimenteller Selbstbeobachtungen als H\u00fclfsmittel der Contr\u00f4le. Denn f\u00fcr die Affecte gilt ganz besonders, dass die Beobachtung der im nat\u00fcrlichen Verlauf des Lebens sich von selbst einstellenden psychischen Vorg\u00e4nge durchaus unzul\u00e4nglich bleibt. Erstens bietet der Zufall dem Psychologen die Affecte nicht gerade in dem Augenblick, wo er sie wissenschaftlich analysiren m\u00f6chte ; und zweitens befinden wir uns namentlich bei st\u00e4rkeren Affecten, denen reale","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nII. Die psychischen Gebilde.\nUrsachen zu Grunde liegen, am allerwenigsten in der Lage uns selbst exact beobachten zu k\u00f6nnen. Viel besser gelingt dies, wenn man sich willk\u00fcrlich in eine bestimmte Affectstimmung versetzt. Da man nun aber hierbei nicht zu ermessen vermag, inwieweit der auf diese Weise subjectiv erzeugte Affect mit einem aus objectiven Ursachen entstandenen gleicher Art in Intensit\u00e4t und Verlaufsweise \u00fcbereinstimmt, so dient hier die gleichzeitige Untersuchung der physischen Wirkungen, namentlich der dem Willenseinfluss am meisten entzogenen des Pulses und der Ath-mung, als Contr\u00f4le. Denn bei gleicher psychologischer Qualit\u00e4t der Affecte d\u00fcrfen wir wohl aus den \u00fcbereinstimmenden physischen Wirkungen auch auf eine Uebereinstimmung ihrer formalen Eigenschaften schlie\u00dfen.\n8.\tSowohl hei der nat\u00fcrlichen Entstehung wie bei der k\u00fcnstlichen Erzeugung der Affecte besitzen die physischen Begleiterscheinungen, abgesehen von ihrer symptomatischen Bedeutung, noch die wichtige psychologische Eigenschaft der Affectverst\u00e4rkung. Sie beruht darauf, dass die erregende oder hemmende Innervation bestimmter Muskelgebiete von inneren Tastempfindungen begleitet wird, an die sinnliche Gef\u00fchle gekn\u00fcpft sind, welche sich mit dem sonstigen Gef\u00fchlsinhalt der Affecte verbinden und so diese in ihrer Intensit\u00e4t steigern. Von der Herzbewegung und Athmung sowie von der Gef\u00e4\u00dfinnervation gehen solche Gef\u00fchle nur bei starken Affecten aus, wo sie dann freilich um so intensiver werden k\u00f6nnen; dagegen sind schon bei m\u00e4\u00dfigen Affecten die Zust\u00e4nde der vermehrten oder verminderten Muskelspannung auf den Gef\u00fchlszustand und dadurch auch auf den Affect von Einfluss.\n9.\tBei der gro\u00dfen Zahl von Factoren, die hiernach f\u00fcr die Untersuchung der Affecte in Betracht kommen, ist eine psychologische Analyse der einzelnen Formen derselben um so weniger m\u00f6glich, als jeder der zahlreichen unterscheidenden Namen immerhin auch hier nur eine Classe","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a713. Die Affecte.\n209\nbezeichnet, innerhalb deren eine F\u00fclle besonderer Formen und innerhalb dieser wieder unz\u00e4hlige individuelle F\u00e4lle von un\u00fcbersehbarer Mannigfaltigkeit Vorkommen. Es kann sich darum hier nur um eine Uebersicht der haupts\u00e4chlichsten Grundformen der Affecte handeln. Die Gesichtspunkte, von denen diese auszugehen hat, m\u00fcssen aber selbstverst\u00e4ndlich psychologische sein, d. h. solche die den unmittelbaren Eigenschaften der Affecte selber entnommen sind, da die physischen Begleiterscheinungen \u00fcberall nur einen symptomatischen Werth und dabei zugleich, wie oben bemerkt, einen vieldeutigen Charakter besitzen.\nSolcher psychologischer Gesichtspunkte k\u00f6nnen nun im allgemeinen drei der Unterscheidung der Affecte zu Grunde gelegt werden: 1) die Qualit\u00e4t der in die Affecte eingehenden Gef\u00fchle, 2) die Intensit\u00e4t dieser Gef\u00fchle, 3) die Verlaufsform, die durch die Art und die Geschwindigkeit des Wechsels der Gef\u00fchle bedingt wird.\n10. Nach der Qualit\u00e4t der Gef\u00fchle lassen sich zun\u00e4chst gewisse Grundformen der Affecte aufstellen, die den fr\u00fcher unterschiedenen Hauptrichtungen der Gef\u00fchle entsprechen (S. 98). Hiernach w\u00fcrden Lust- und Unlustaffecte, exeitirende und deprimirende, spannende und l\u00f6sende Affecte zu unterscheiden sein. Dabei kommt nun aber in Betracht, dass die Affecte wegen ihrer zusammengesetzteren Beschaffenheit noch mehr als die Gef\u00fchle durchg\u00e4ngig gemischte Formen sind. Es kann daher im allgemeinen nur eine jener Gef\u00fchlsrichtungen als die f\u00fcr einen bestimmten Affect prim\u00e4re bezeichnet werden, an welche dann Gef\u00fchlselemente, die den andern Sichtungen angeh\u00f6ren, als secund\u00e4re Bestandteile sich anschlie\u00dfen. Dieser secund\u00e4re Charakter verr\u00e4th sieh in der Regel auch darin, dass je nach verschiedenen Bedingungen abweichende Unterformen des prim\u00e4ren Affectes entstehen k\u00f6nnen. So ist z. B. die Freude\nWundt, Psychologie.\n14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nII. Die psychischen Gebilde.\nihrem Grundcharakter nach ein Lustaffect ; sie wird dann in ihrem Verlauf durch die Steigerung der Gef\u00fchle meist zugleich zu einem excitirenden, hei \u00fcberm\u00e4\u00dfiger St\u00e4rke der Gef\u00fchle wird sie aber zu einem deprimirenden Affecte. Das Leid ist ein Unlustaffect von zumeist deprimirendem Charakter; bei etwas gr\u00f6\u00dferer Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle kann es jedoch excitirend werden, um endlich bei maximaler Intensit\u00e4t wieder in ausgepr\u00e4gte Depression \u00fcberzugehen. Viel entschiedener noch ist der Zorn seinem vorherrschenden Charakter nach ein excitirender Unlustaffect; aber bei gro\u00dfer Gef\u00fchlsst\u00e4rke, bei dem Uebergang in die Wuth, kann auch er deprimirend werden. W\u00e4hrend so die excitirende und die deprimirende Beschaffenheit durchg\u00e4ngig nur als Nebenformen von Lust- und Unlustaffecten Vorkommen, finden sich eher zuweilen die spannenden und l\u00f6senden Gef\u00fchle als haupts\u00e4chlichste oder wenigstens als prim\u00e4re Bestandtheile von Affecten. So ist in dem Affect der Erwartung das diesem Zustand eigenth\u00fcmliche spannende Gef\u00fchl das prim\u00e4re; mit dem Uebergang in den Affect gesellen sich aber dazu leicht Unlustgef\u00fchle von je nach Umst\u00e4nden excitirendem oder deprimirendem Charakter. Bei rhythmischen Eindr\u00fccken oder Bewegungen entspringen endlich aus dem Wechsel der Span-nungs- und L\u00f6sungsgef\u00fchle Lustaffecte, die dann wieder je nach der Beschaffenheit des Rhythmus von excitirendem oder deprimirendem Charakter sind, im letzteren F all aber zugleich mit Unlustgef\u00fchlen sich mischen oder, namentlich bei der Mitwirkung anderer Gef\u00fchlselemente (z. B. von Klang-und Harmoniegef\u00fchlen), ganz in solche \u00fcbergehen k\u00f6nnen.\n11. In den von der Sprache geschaffenen Bezeichnungen der Affecte hat vorzugsweise diese qualitative Gef\u00fchlsseite und in ihr wieder der Lust- oder Unlustcharakter der Gef\u00fchle Beachtung gefunden. Dabei lassen sich die von der Sprache geformten Begriffe in drei Classen ordnen:","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 13. Die Affecte.\n211\n1) Bezeichnungen subjectiver, haupts\u00e4chlich nach dem Gem\u00fcthszustand selbst unterschiedener Affecte, wie Freude und Leid und, als Unterarten des Leides, bei denen theils die deprimirende theils die spannende oder l\u00f6sende Richtung der Gef\u00fchle eine mitwirkende Rolle spielt, Wehmuth, Kummer, Gram, Schreck. 2) Bezeichnungen objectiver, auf einen \u00e4u\u00dferen Gegenstand sich beziehender Affecte, wie Vergn\u00fcgen und Missvergn\u00fcgen und, als Unterarten des letzteren, die wieder, \u00e4hnlich wie oben, verschiedene Richtungen in sich vereinigen, Verdruss, Unwille, Zorn, Wuth. 3) Bezeichnungen objectiver Affecte, die sich aber auf \u00e4u\u00dfere Ereignisse beziehen, welche erst in der Zukunft zu erwarten sind, wie Hoffnung und Furcht sowie, als Modificationen der letzteren, Angst und Sorge. Sie sind Verbindungen spannender Affecte mit Lust- und Unlustgef\u00fchlen und, in ver\u00e4nderlicher Weise, zugleich mit einer excitirenden oder deprimirenden Gef\u00fchlsrichtung.\nAugenscheinlich hat die Sprache f\u00fcr die Unlustaffecte eine viel gr\u00f6\u00dfere Mannigfaltigkeit von Namen geschaffen, als f\u00fcr die Lustaffecte. In der That macht es die Beobachtung wahrscheinlich, dass die Unlustaffecte eine gr\u00f6\u00dfere Verschiedenheit typischer Verlaufsformen zeigen, und dass also wirklich ihre Mannigfaltigkeit gr\u00f6\u00dfer ist.\n12. Nach der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle k\u00f6nnen wir schwache und starke Affecte unterscheiden. Diese den psychischen Eigenschaften der Gef\u00fchle entnommenen Begriffe decken sich aber nicht mit den auf die physischen Begleiterscheinungen gegr\u00fcndeten der sthenischen und asthenischen Affecte, sondern das Verh\u00e4ltniss jener psychologischen zu diesen psychophysischen Kategorien ist zugleich einerseits von der Qualit\u00e4t anderseits von dem St\u00e4rkegrad der Gef\u00fchle abh\u00e4ngig. So sind schwache und m\u00e4\u00dfig starke Lustaffecte durchweg sthenisch; die Unlustaffecte dagegen werden bei\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nII. Die psychischen Gebilde.\nl\u00e4ngerer Dauer asthenisch, auch wenn sie von geringer St\u00e4rke sind, wie Kummer, Sorge. Endlich die st\u00e4rksten Affecte, wie Schreck, Angst, Wuth, aber auch \u00fcberm\u00e4\u00dfige Freude, sind stets asthenisch. So ist denn die Unterscheidung der psychischen St\u00e4rke der Affecte \u00fcberhaupt von untergeordneter Bedeutung, um so mehr als sonst \u00fcbereinstimmende Affecte nicht nur in verschiedener Intensit\u00e4t Vorkommen, sondern auch in einem und demselben Verlauf in ihrer Intensit\u00e4t wechseln k\u00f6nnen. Indem aber ferner dieser Wechsel verm\u00f6ge des oben (S. 208) angef\u00fchrten Princips der Affectverst\u00e4rkung zu einem wesentlichen Theile durch die in Folge der physischen Begleiterscheinungen enstehen-den sinnlichen Gef\u00fchle bestimmt wird, ist es zugleich er-kl\u00e4rlich, dass in diesem Fall der urspr\u00fcnglich physiologische Gegensatz des Sthenischen und Asthenischen auch auf den psychologischen Charakter des Affects h\u00e4ufig einen entscheidenderen Einfluss aus\u00fcbt als die prim\u00e4re psychische Intensit\u00e4t desselben.\n13. Wichtiger ist das dritte Unterscheidungsmerkmal der Affecte, die Verlaufsform. Nach ihr k\u00f6nnen wir unterscheiden: 1) Pl\u00f6tzlich hereinbrechende Affecte, wie Ueberraschung, Erstaunen, Entt\u00e4uschung, Schreck, Wuth; sie alle erheben sich sehr rasch zu einem Maximum an, um dann allm\u00e4hlich abzunehmen und in die ruhige Gem\u00fcthslage \u00fcberzugehen. 2) Allm\u00e4hlich ansteigende Affecte, wie Sorge, Zweifel, Kummer, Traurigkeit, Erwartung, in vielen F\u00e4llen auch Freude, Zorn, Angst: sie steigen allm\u00e4hlich zu ihrem Maximum und sinken ebenso allm\u00e4hlich wieder. Eine Modification der allm\u00e4hlich ansteigenden Affecte bilden endlich: 3) Die intermittirenden Affecte, bei denen mehrere auf- und absteigende Phasen auf einander folgen. Zu ihnen geh\u00f6ren alle l\u00e4nger dauernden Affecte. So treten namentlich Freude, Zorn, Traurigkeit, aber auch die verschiedensten","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a713. Die Affecte.\n213\nandern allm\u00e4hlich ansteigenden Affecte paroxysmenweise auf und lassen dabei oft noch ein Stadium zunehmender und ein solches abnehmender Intensit\u00e4t der Affectanf\u00e4lle unterscheiden. Dagegen zeigen die pl\u00f6tzlich hereinbrechenden Affecte selten den intermittirenden Verlauf. Dies kommt wohl nur dann vor, wenn der Affect auch als ein allm\u00e4hlich ansteigender Vorkommen kann. Solche Affecte von sehr wechselnder Verlaufsform sind z. B. Freude und Zorn. Sie k\u00f6nnen zuweilen pl\u00f6tzlich hereinbrechen, wobei freilich der Zorn meist sofort in Wuth \u00fcberspringt; sie k\u00f6nnen aber auch allm\u00e4hlich zu- und abnehmen und folgen dann meist zugleich dem intermittirenden Typus. Nach ihren psychophysischen Begleiterscheinungen sind die pl\u00f6tzlich hereinbrechenden Affecte durchweg asthenische, die allm\u00e4hlich ansteigenden k\u00f6nnen bald sthenische bald asthenische sein.\n13a. Hiernach bietet die Verlaufsform, so charakteristisch sie in einzelnen F\u00e4llen sein kann, doch ebensowenig wie die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchle feste Kriterien zu einer psychologischen Classification der Affecte. Vielmehr kann eine solche offenbar nur auf die Qualit\u00e4t des Gef\u00fchlsinhaltes gegr\u00fcndet werden, w\u00e4hrend Intensit\u00e4t und Verlaufsform f\u00fcr die Untereintheilungen ma\u00dfgebend sein k\u00f6nnen. In der Art, wie diese Bedingungen theils untereinander theils mit den physischen Begleiterscheinungen und durch die letzteren dann wieder mit secund\u00e4ren sinnlichen Gef\u00fchlen Zusammenh\u00e4ngen, erweisen sich aber die Affecte als h\u00f6chst zusammengesetzte psychische Vorg\u00e4nge, die daher auch im einzelnen Fall au\u00dferordentlich variiren. Eine einigerma\u00dfen ersch\u00f6pfende Classification m\u00fcsste deshalb so vielgestaltige Affecte wie Freude, Zorn, Furcht, Sorge wieder theils nach ihren verschiedenen Verlaufstypen theils nach der Intensit\u00e4t der sie zusammensetzenden Gef\u00fchle theils endlich nach der von diesen beiden Momenten abh\u00e4ngigen Form ihrer physischen Begleiterscheinungen in ihre Unterformen gliedern. So w\u00fcrde sich z. B. eine schwache, eine starke und eine wechselnde Gef\u00fchlsform des Zorns, eine pl\u00f6tzliche, eine allm\u00e4hlich ansteigende","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\tII. Die psychischen Gebilde.\nlind eine intermittirende Verlaufsform, endlich eine sthenisehe, eine asthenische und eine gemischte Ausdrucksform desselben unterscheiden lassen. F\u00fcr das psychologische Verst\u00e4ndniss wichtiger als solche Eintheilungen ist es aber, dass man sich in jedem besonderen Pall von dem causalen Zusammenhang der einzelnen Erscheinungsformen Rechenschaft gibt. In dieser Beziehung ist hei jedem Affect von zwei Pactoren auszugehen: 1) von der Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t der ihn zusammensetzenden Gef\u00fchle, und 2) von der Schnelligkeit der Aufeinanderfolge dieser Gef\u00fchle. Durch den ersten dieser Factoren wird der allgemeine Charakter des Affects, durch den zweiten wird zum Theil seine St\u00e4rke, au\u00dferdem aber namentlich seine Verlaufsform, und durch beide zusammen werden die physischen Begleiterscheinungen sowie in Folge der mit diesen verbundenen sinnlichen Gef\u00fchle die psychophysischen Affectverst\u00e4rkuugen verursacht (S. 208). Eben wegen dieser letzteren sind die physischen in der Regel als psycho-phy-sische Begleiterscheinungen zu bezeichnen. Dabei sollen aber nat\u00fcrlich die Ausdr\u00fccke \u00bbpsychologisch\u00ab und \u00bbpsychophysisch\u00ab hier, wo sie sich blo\u00df auf die Symptomatologie der Affecte beziehen, keinen absoluten Gegensatz andeuten. Vielmehr verstehen wir unter psychologischen Affecterscheinungen lediglich jene, die sich nicht durch unmittelbar wahrzunehmende physische Symptome verrathen, m\u00f6gen auch solche (z. B. in der Form von Puls-und Athmungs\u00e4nderungen) durch exacte H\u00fclfsmittel nachweisbar sein; psycho-physische Erscheinungen dagegen nennen wir solche, die sich ohne weiteres als doppelseitige zu erkennen geben.\n\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge.\n1. Indem jeder Affect einen in sich zusammenh\u00e4ngenden Gef\u00fchlsverlauf von einheitlichem Charakter darstellt, kann der Ausgang des Affectes ein doppelter sein: entweder macht er dem gew\u00f6hnlichen wechselnderen und relativ affect-losen Gef\u00fchlsverlauf Platz, \u2014 solche ohne bestimmten Enderfolg ausklingende Gem\u00fcthsbewegungen bilden die eigentlichen Affecte, wie sie der Betrachtung des \u00a7 13 zu Grunde gelegt worden sind. Oder der Vorgang geht in","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge.\n215\neine pl\u00f6tzliche Ver\u00e4nderung des Vorstellungs- und Gef\u00fchls-inlialtes \u00fcber, die den Affect momentan zum Abschl\u00fcsse bringt. Solche durch einen Affect vorbereitete und ihn pl\u00f6tzlich beendende Ver\u00e4nderungen der Vorstellungs- und Gef\u00fchlslage nennen wir Willenshandlungen. Der Affect selbst aber zusammen mit dieser aus ihm hervorgehenden Endwirkung ist ein Willensvorgang.\nDer Willensvorgang schlie\u00dft demnach in \u00e4hnlicher Weise an den Affect wie dieser an das Gef\u00fchl als ein Process h\u00f6herer Stufe sich an; die Willenshandlung aber bezeichnet blo\u00df einen bestimmten, und zwar den f\u00fcr die Unterscheidung von dem Affect charakteristischen Theil dieses Processes. Vorbereitet wird die Entwicklung der Willensvorg\u00e4nge aus den Affecten durch jene Affecte, bei denen \u00e4u\u00dfere pantomimische Bewegungen (S. 203) auftreten, die ebenfalls schon vorzugsweise dem Endstadium des Vorgangs angeh\u00f6ren und meist die L\u00f6sung des Affectes beschleunigen: so besonders beim Zorn, aber auch bei der Freude, dem Kummer u. s. w. Doch fehlen dabei noch die Ver\u00e4nderungen im Vorstellungsverlauf, die beim Wollen die unmittelbaren Ursachen der momentanen Affectl\u00f6sung bilden und dem entsprechend von charakteristischen Gef\u00fchlen begleitet sind.\nGem\u00e4\u00df diesem nahen Zusammenhang der Willenshandlungen mit den pantomimischen Affectwirkungen m\u00fcssen nun auch in der Entwicklung der Willensvorg\u00e4nge diejenigen, die mit bestimmten, aus dem vorausgehenden Vorstellungs- und Gef\u00fchlsverlauf hervorgehenden k\u00f6rperlichen Bewegungen, also mit \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen endigen, als die urspr\u00fcnglicheren angesehen werden, wogegen die blo\u00df mit Vorstellungs- und Gef\u00fchlswirkungen oder so genannten inneren Willenshandlungen abschlie\u00dfenden Willens Vorg\u00e4nge \u00fcberall erst als die Producte einer vollkommeneren intellec-tuellen Entwicklung erscheinen.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nII. Die psychischen Gebilde.\n2. Ein Willensvorgang, der in eine \u00e4u\u00dfere Willens-handlung \u00fcbergeht, l\u00e4sst sich hiernach d\u00e9finir en als ein Affect, der mit einer pantomimischen Bewegung abschlie\u00dft, die neben der allen pantomimischen Bewegungen eigen-th\u00fcmlichen Charakterisirung der Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t des Affects noch die besondere Bedeutung hat, dass sie \u00e4u\u00dfere Wirkungen hervorbringt, die den Affect selbst aufheb en. Eine solche Wirkung ist nun aber nicht bei allen Affecten m\u00f6glich, sondern nur bei solchen, bei denen der sie zusammensetzende Gef\u00fchlsverlauf selbst Gef\u00fchle und Vorstellungen erzeugt, die sich zur Beseitigung der vorangehenden Affecterregung eignen. Dies ist naturgem\u00e4\u00df vorzugsweise dann der Fall, wenn jene Endwirkung des Affects in einem directen Gegens\u00e4tze zu den vorangegangenen Gef\u00fchlen steht. Die urspr\u00fcngliche psychologische Grundbedingung der Willenshandlungen ist daher der Contrast der Gef\u00fchle, und die Entstehung primitiver Willensvorg\u00e4nge geht wahrscheinlich stets auf Unlustgef\u00fchle zur\u00fcck, die \u00e4u\u00dfere Bewegungsreactionen ausl\u00f6sen, als deren Wirkungen contrastirende Lustgef\u00fchle auftreten. Das Ergreifen der Nahrung zur Stillung des Hungers, der Kampf gegen Feinde zur Befriedigung des Bachegef\u00fchls und andere \u00e4hnliche Vorg\u00e4nge sind urspr\u00fcngliche Willensvorg\u00e4nge solcher Art. Die Affecte, die aus sinnlichen Gef\u00fchlen entstehen, sowie nicht minder die allverbreiteten socialen Affecte, wie Liebe, Hass, Zorn, Bache, sind auf diese Weise die dem Menschen mit den Thieren gemeinsamen urspr\u00fcnglichen Quellen des Willens. Der Willensvorgang unterscheidet sich hier von dem Affect nur dadurch, dass sich an diesen unmittelbar eine \u00e4u\u00dfere Handlung anschlie\u00dft, die durch ihre Wirkungen Gef\u00fchle weckt, welche durch den Contrast zu den im Affect enthaltenen Gef\u00fchlen den Affect selbst zum Stillst\u00e4nde bringen. Dabei kann der Eintritt der Willens-","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorgiinge.\n217\nliandlung entweder direct oder, was urspr\u00fcnglich wohl stets der Fall ist, durch einen Affect von contrastirendem Ge-f\u00fchlsinhalt indirect in den gew\u00f6hnlichen ruhigen Gef\u00fchlsverlauf \u00fcberleiten.\n3.\tJe reicher die Vorstellung^- und Gef\u00fchlsinhalte sich gestalten, und je mehr damit die Mannigfaltigkeit der Affecte zunimmt, ein um so weiteres Gebiet gewinnen auch die Willensvorg\u00e4nge. Denn es gibt kein Gef\u00fchl und keinen Affect, die nicht in irgend einer Weise eine Willenshandlung vorbereiten oder wenigstens an ihrer Vorbereitung theilnehmen k\u00f6nnten. Alle, selbst die verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig indifferenten Gef\u00fchle enthalten in irgend einem Grade ein Streben oder Widerstreben, mag dasselbe auch nur ganz allgemein auf die Erhaltung oder Beseitigung des bestehenden Gem\u00fcthszustandes gerichtet sein. Wenngleich daher die Willensvorg\u00e4nge als die verwinkeltste Form der Ge-miithsbewegungen erscheinen, welche alle andern, die Gef\u00fchle und die Affecte, als ihre Bestandteile voraussetzt, so ist doch auf der andern Seite nicht zu \u00fcbersehen, dass zwar im einzelnen fortw\u00e4hrend Gef\u00fchle Vorkommen, die sich nicht zu Affecten verbinden, und Affecte, die nicht in Willenshandlungen endigen, dass aber in dem ganzen Zusammenhang der psychischen Processe jene drei Stufen sich wechselseitig bedingen, indem sie die zusammengeh\u00f6rigen Glieder eines einzigen Vorganges bilden, der nur als Willensvorgang zu seiner vollst\u00e4ndigen Ausbildung gelangt. In diesem Sinne kann das Gef\u00fchl ebenso gut als der Anfang eines Willensproeesses wie umgekehrt das Wollen als ein zusammengesetzter Gef\u00fchlsvorgang und der Affect als ein Uebergang zwischen beiden betrachtet werden.\n4.\tIn dem Affect, der mit einer Willenshandlung abschlie\u00dft, pflegen die einzelnen Gef\u00fchle keineswegs eine","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nII. Die psychischen Gebilde.\n\u00fcbereinstimmende und gleichwertige Bedeutung zu haben, sondern einzelne von ihnen heben sich samt den an sie gebundenen Vorstellungen als die vorzugsweise den Willensact vorbereitenden hervor. Diese in unserer subjec-tiven Auffassung des Willensvorganges die Handlung unmittelbar vorbereitenden Vorstellungs- und Gef\u00fchls Verbindungen pflegt man die Motive des Willens zu nennen. Jedes Motiv l\u00e4sst sich aber wieder in einen Vorstellungsund in einen Gef\u00fchsbestandtheil sondern, von denen wir den ersten den Beweggrund, den zweiten die Triebfeder des Willens nennen k\u00f6nnen. Wenn ein llaubthier seine Beute angreift, so ist der Beweggrund der Anblick derselben, die Triebfeder kann in dem Unlustgef\u00fchl des Hungers oder des durch den Anblick erregten Gattungshasses bestehen. Die Beweggr\u00fcnde eines verbrecherischen Mordes k\u00f6nnen Aneignung fremden Gutes, Beseitigung eines Feindes u. dergl., die Triebfedern Gef\u00fchl des Mangels, Hass, Rache, Neid u. a. sein.\nWo die Affecte von zusammengesetzter Beschaffenheit sind, da pflegen auch Beweggr\u00fcnde und Triebfedern von gemischter Art zu sein, oft so sehr, dass es selbst f\u00fcr den Handelnden schwer wird zu entscheiden, welches Motiv das vorwiegende sei. Dies h\u00e4ngt wesentlich damit zusammen, dass die Triebfedern eines Willensactes sich gerade so wie die Elemente eines zusammengesetzten Gef\u00fchls zu einem einheitlichen Ganzen verbinden und sich dabei einer Triebfeder als dem herrschenden Element unterordnen, wobei die Gef\u00fchle von \u00fcbereinstimmender Richtung die Wirkung verst\u00e4rken und beschleunigen, die Gef\u00fchle von entgegengesetzter Richtung aber sie schw\u00e4chen. In jenen Verbindungen von Vorstellungen und Gef\u00fchlen, die wir Motive nennen, kommt \u00fcbrigens nicht den ersteren, sondern den letzteren, also den Triebfedern, die entscheidende Bedeutung in der Vorbereitung","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge.\n219\nder Willensliandlungen zu. Dies geht schon daraus hervor, dass die Gef\u00fchle integrirende Bestandteile der Willensvorg\u00e4nge selbst sind, w\u00e4hrend die Vorstellungen nur indirect, n\u00e4mlich durch ihre Verbindungen mit den Gef\u00fchlen, dieselben beeinflussen k\u00f6nnen. Die Annahme eines aus rein intellectuellen Erw\u00e4gungen entspringenden Wollens, einer Willensentscheidung im Widerspruch mit den in den Gef\u00fchlen zum Ausdruck kommenden Neigungen u. s. w. schlie\u00dft daher einen psychologischen Widerspruch in sich. Sie beruht auf dem abstracten Begriff eines transeendenten, von den realen psychischen Willensvorg\u00e4ngen absolut verschiedenen Willens.\n5. In der Verbindung einer Mannigfaltigkeit von Motiven, d. h. von Vorstellungen und Gef\u00fchlen, die aus einem zusammengesetzten Aff'ectv erlauf als die f\u00fcr den Abschluss einer Handlung ma\u00dfgebenden hervortreten, liegt nun die wesentlichste Bedingung einerseits f\u00fcr die Entwicklung des Willens, anderseits f\u00fcr die Unterscheidung der einzelnen Formen von Willenshandlungen.\nDer einfachste Fall eines Willensvorganges liegt dann vor, wenn innerhalb eines Affectes von geeigneter Beschaffenheit ein einziges Gef\u00fchl mit begleitender Vorstellung zum Motiv wird und mit einer ihm entsprechenden \u00e4u\u00dferen Bewegung den Vorgang zum Abschl\u00fcsse bringt. Solche von einem Motiv bestimmte W illens Vorg\u00e4nge k\u00f6nnen wir einfache Willensvorg\u00e4nge nennen. Die Bewegungen, in denen sie endigen, werden h\u00e4ufig auch als Triebhandlungen bezeichnet, ohne dass jedoch in dem popul\u00e4ren Begriff des Triebes diese Unterscheidung nach der Einfachheit des Willensmotivs zureichend durchgef\u00fchrt w\u00e4re, da sich hier meist noch ein anderer Gesichtspunkt, n\u00e4mlich die Beschaffenheit der als Triebfedern wirkenden Gef\u00fchle, einmengt. Nach diesem hat man alle Handlungen, die blo\u00df","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nII. Die psychischen Gebilde.\nvon sinnlichen Gef\u00fchlen, namentlich Gemeingef\u00fchlen, bestimmt sind, Triebhandlungen genannt, gleichg\u00fcltig ob dabei blo\u00df ein einziges Motiv oder eine Mehrheit von Motiven wirksam ist. Dieser zweite Gesichtspunkt der Unterscheidung ist aber psychologisch ebenso unzutreffend, wie die damit nahe zusammenh\u00e4ngende v\u00f6llige Trennung der Trieb-von den Willenshandlungen als einer specifisch verschiedenen Art psychischer Vorg\u00e4nge gerechtfertigt ist.\nWir wollen daher unter einer Triebhandlung lediglich eine einfache, d. h. aus einem einzigen Motiv hervorgehende, Willenshandlung verstehen, ohne R\u00fccksicht darauf, welcher Stufe in der Reihenfolge der Gef\u00fchls- und Vor-stellungsprocesse das Motiv angeh\u00f6rt. In dieser Bedeutung genommen bildet die Triebhandlung, abgesehen davon dass sie fortan neben zusammengesetzteren Willensacten Vorkommen kann, nothwendig den Ausgangspunkt f\u00fcr die Entwicklung aller Willenshandlungen. Zugleich sind aber allerdings die urspr\u00fcnglichsten Triebhandlungen solche, die von einfachen sinnlichen Gef\u00fchlen ausgehen. In diesem Sinne sind die meisten Handlungen der Thiere Triebhandlungen; aber auch beim Menschen kommen solche fortw\u00e4hrend vor, theils in Folge einfacherer sinnlicher Affecte, theils als Ergebnisse der gewohnheitsm\u00e4\u00dfigen Ausf\u00fchrung einzelner, urspr\u00fcnglich von zusammengesetzten Motiven bestimmter Willenshandlungen (10).\n6. Sobald nun in einem Affect eine Mehrheit von Gef\u00fchlen und Vorstellungen in \u00e4u\u00dfere Handlungen \u00fcberzugehen strebt, und sobald diese zu Motiven gewordenen Bestand-theile des Affectverlaufs zugleich auf verschiedene, sei es unter einander verwandte sei es entgegengesetzte \u00e4u\u00dfere Endwirkungen abzielen, so entsteht aus der einfachen eine zusammengesetzte Willenshandlung. Zur Unterscheidung von der ihr in der Entwicklung vorausgehenden","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge. 1\t221\nTriebhandlung bezeichnen wir dieselbe auch als Willk\u00fcrhandlung.\nDie Willk\u00fcrhandlungen haben dies mit den Triebhandlungen gemein, dass sie schlie\u00dflich aus einem Motiv oder aus einem zu einer Totalkraft verschmolzenen Complex von eindeutig wirkenden Motiven hervorgehen; aber sie unterscheiden sich dadurch, dass sich bei ihnen dieses entscheidende Motiv erst aus einer Anzahl neben einander bestehender verschiedener und einander widerstreitender Motive zum herrschenden erhoben hat. Sobald ein Kampf solcher einander widerstreitender Motive deutlich wahrnehmbar der Handlung vorausgeht, nennen wir die Willk\u00fcrhandlung auch speciell eine Wahlhandlung und den ihr vorangehenden Process einen Wahlvorgang. Ein Herrschendwerden eines Motivs \u00fcber andere gleichzeitig mit ihm gegebene ist \u00fcberhaupt nur unter der Voraussetzung eines Kampfes der Motive verst\u00e4ndlich. Aber diesen Kampf nehmen wir bald deutlich bald nur undeutlich bald gar nicht wahr. Nur im ersten dieser F\u00e4lle sprechen wir von einer eigentlichen Wahlhandlung. Demnach ist der Unterschied von Willk\u00fcr- und Wahlhandlungen ein durchaus flie\u00dfender. Immerhin n\u00e4hert sich bei den gew\u00f6hnlichen Willk\u00fcrhandlungen der psychische Zustand noch mehr dem der Triebhandlungen, w\u00e4hrend bei den Wahlhandlungen der Unterschied deutlich zu erkennen ist.\n7. Den der Handlung unmittelbar vorausgehenden psychischen Vorgang des mehr oder weniger pl\u00f6tzlichen Herrschendwerdens des entscheidenden Motivs nennen wir bei den Willk\u00fcrhandlungen im allgemeinen die Entscheidung, bei den Wahlhandlungen speciell die Entschlie\u00dfung. Hier weist das erste Wort nur auf die Scheidung des herrschenden von den andern Motiven hin, w\u00e4hrend das zweite durch seinen Zusammenhang mit dem Zeitwort \u00bbschlie\u00dfen\u00ab","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nII. Die psychischen Gebilde.\nandeutet, dass der Vorgang als ein Endergebnis aus mehreren Voraussetzungen betrachtet wird, \u00df\nW\u00e4hrend sich nun die Anfangsstadien eines Willensvorgangs von einem gew\u00f6hnlichen Affectverlauf nicht bestimmt unterscheiden, sind diese Endstadien von durchaus charakteristischer Beschaffenheit. Namentlich sind sie durch begleitende Gef\u00fchle ausgezeichnet, die au\u00dferhalb der Willensvorg\u00e4nge nicht Vorkommen und daher als die dem Willen specifisch eigenth\u00fcmlichen Elemente betrachtet werden m\u00fcssen. Diese Gef\u00fchle sind zun\u00e4chst die der Entscheidung und der Entschlie\u00dfung, von denen sich das letztere von dem ersteren wohl nur durch seine gr\u00f6\u00dfere Intensit\u00e4t unterscheidet. Sie sind erregende und l\u00f6sende, je nach Umst\u00e4nden auch mit einem Lust- oder Unlustfactor verbundene Gef\u00fchle. Die relativ gr\u00f6\u00dfere St\u00e4rke des Entschlie\u00dfungsgef\u00fchls hat wahrscheinlich seinen Grund in dem Contrast zu dem vorangehenden Gef\u00fchl des Zweifels, welcher das Schwanken zwischen verschiedenen Motiven begleitet. Im Gegens\u00e4tze zu diesem gewinnt n\u00e4mlich das Gef\u00fchl der L\u00f6sung eine erh\u00f6hte St\u00e4rke. Im Moment des Eintritts der Willenshandlung werden dann aber die Gef\u00fchle der Entscheidung und der Entschlie\u00dfung sofort durch das speciffsche Gef\u00fchl der Th\u00e4tigkeit abgel\u00f6st, das bei den \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen in den die Bewegung begleitenden inneren Tastempfindungen sein Empfindungssubstrat hat. Dieses Gef\u00fchl der Th\u00e4tigkeit ist von ausgepr\u00e4gt erregender Beschaffenheit, und es wird nach den besonderen Willensmotiven in wechselnderer Weise von Lust- oder Unlust-\n1) Selbstverst\u00e4ndlich darf \u00fcbrigens dieser Zusammenhang der Ausdr\u00fccke nicht zu der von der intellectualistisehen Richtung der Psychologie vielfach gemachten irrigen Annahme verf\u00fchren, dass die Willensentschlie\u00dfung selbst ein logischer Schlussprocess oder einem solchen auch nur irgendwie verwandt sei.","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge.\n223\nelementen begleitet, die wieder im Verlauf der Handlung sich ver\u00e4ndern und einander abl\u00f6sen k\u00f6nnen. Als Total-o-ef\u00fchl ist das Tli\u00e4tigkeitsgef\u00fchl ein auf- und absteigender zeitlicher Vorgang, der sich \u00fcber den ganzen Verlauf der Handlung erstreckt und mit dem Ende derselben in die sehr mannigfachen Gef\u00fchle der Erf\u00fcllung, Befriedigung, Entt\u00e4uschung u. dgl. sowie in die verschiedenen Gef\u00fchle und Affecte \u00fcbergeht, die an die besonderen Erfolge der Handlung gekn\u00fcpft sind. Betrachten wir diesen bei den Willk\u00fcr-und Wahlhandlungen sich darbietenden Verlauf als den einer vollst\u00e4ndigen Willenshandlung, so unterscheiden sich nun die Triebhandlungen wesentlich dadurch, dass bei ihnen die vorbereitenden Gef\u00fchle der Entscheidung und Entschlie\u00dfung hinwegfallen, indem das an das Motiv gekn\u00fcpfte Gef\u00fchl unmittelbar in das Tli\u00e4tigkeitsgef\u00fchl und dann in die der Wirkung der Handlung entsprechenden Gef\u00fchle \u00fcbergeht.\n8. An den Uebergang der einfachen in die zusammengesetzten Willenshandlungen schlie\u00dft sich eine Keihe weiterer Ver\u00e4nderungen an, die f\u00fcr die Entwicklung des Willens von gro\u00dfer Bedeutung sind. Die erste dieser Ver\u00e4nderungen besteht darin, dass die Affecte, die die Willensvorg\u00e4nge ein-leiten, in Folge der Gegenwirkung verschiedener sich wechselseitig hemmender Gef\u00fchle mehr und mehr an Intensit\u00e4t abnehmen, so dass schlie\u00dflich aus einem anscheinend v\u00f6llig affectlosen Gef\u00fchlsverlauf Willenshandlungen entspringen k\u00f6nnen. Freilich handelt es sich dabei niemals um einen absoluten Mangel des Affects. Damit ein in dem gew\u00f6hnlichen Gef\u00fchlsverlauf auftretendes Motiv eine Entscheidung oder Entschlie\u00dfung herbeif\u00fchre, muss es sich immer in einem gewissen Grade mit einer Affecterregung verbinden. Diese kann aber doch thats\u00e4ehlich so schwach und vor\u00fcbergehend sein, dass wir sie um so leichter \u00fcbersehen, je","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nII. Die psychischen Gebilde.\nmehr wir geneigt sind einen solchen kurzen, nur die Entstehung und Wirkung der Motive begleitenden Affect ohne weiteres mit dem Entschluss und der Handlung in den einen Begriff des Willensactes zusammenzufassen. Diese Abschw\u00e4chung der Affecte wird haupts\u00e4chlich herbeigef\u00fchrt durch jene Verbindungen der psychischen Processe, die wir der intellectuellen Entwicklung zurechnen, und auf die unten bei der Er\u00f6rterung des Zusammenhangs der psychischen Gebilde n\u00e4her einzugehen sein wird (\u00a7 17). Die in-tellectuellen Processe k\u00f6nnen zwar niemals die Affecte vernichten; sind sie doch im Gegentheil vielfach selbst die Quellen neuer, eigenartiger Affecterregungen. Ein durch rein intellectuelle Motive bestimmtes v\u00f6llig affectloses Wollen ist daher, wie schon oben (S. 219) bemerkt, ein psychologisch unm\u00f6glicher Begriff. Immerhin \u00fcbt die intellectuelle Entwicklung zweifellos eine m\u00e4\u00dfigende Wirkung auf die Affecte und speciell auf die die Willenshandlungen vorbereitenden Affecte in allen den F\u00e4llen aus, wo intellectuelle Motive in dieselben eingehen. Dies mag theils in der dabei meist vorhandenen wechselseitigen Compensation der Gef\u00fchle theils in der langsamen Entwicklung der intectuellen Motive seinen Grund haben, indem im allgemeinen die Affecte um so st\u00e4rker werden, je schneller die sie zusammensetzenden Gef\u00fchle ansteigen.\n9. Mit dieser Erm\u00e4\u00dfigung der Affectbestandtheile der Willensvorg\u00e4nge unter der Vorherrschaft intellectueller Motive h\u00e4ngt noch eine zweite Ver\u00e4nderung zusammen. Sie besteht darin, dass die den Willensvorgang abschlie\u00dfende Willenshandlung nicht eine \u00e4u\u00dfere Bewegung, sondern dass die den erregenden Affect aufhebende Wirkung selbst ein psychischer Process ist, der sich unmittelbar durch keine \u00e4u\u00dferen Symptome verr\u00e4th. Solche f\u00fcr die \u00e4u\u00dfere Beobachtung nicht wahrnehmbare Wirkungen bezeichnen wir","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorg\u00fcnge.\n225\nals innere Willensliandlungen. Der Uebergang der \u00e4u\u00dferen in innere Willensliandlungen ist aber derart an die intellectuelle Entwicklung gebunden, dass die Beschaffenheit der intellectuelle!! Processe zu einem gro\u00dfen Theil selbst sich aus dem Hereingreifen von Willensvorg\u00e4ngen in den Verlauf der Vorstellungen erkl\u00e4rt (\u00a7 15, 9). Es besteht dann die den Willensvorgang abschlie\u00dfende Willenshandlung in irgend einer Ver\u00e4nderung jenes Vorstellungsverlaufes, die an vorangegangene Motive in Folge einer eintretenden Entscheidung oder Entschlie\u00dfung sich anreiht. Dabei stimmen nun die diese unmittelbaren Vorbereitungsacte begleitenden Gef\u00fchle, sowie das mit der eintretenden Ver\u00e4nderung selbst verbundene Th\u00e4tigkeitsgef\u00fchl durchaus \u00fcberein mit den bei den \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen zu beobachtenden Gef\u00fchlen. Ebenso folgen der Wirkung mehr oder minder ausgepr\u00e4gt Gef\u00fchle der Befriedigung, der Aufhebung vorangegangener Affect- und Gef\u00fchlsspannungen nach, so dass augenscheinlich der Unterschied dieser eigenth\u00fcmlichen, mit der intelleetuellen Entwicklung verbundenen Willensvorg\u00e4nge von den urspr\u00fcnglichen eben nur darin besteht, dass der schlie\u00dfliche Willenseffect nicht in einer \u00e4u\u00dferen k\u00f6rperlichen Bewegung zu Tage tritt.\nImmerhin kann auch aus einer inneren Willenshandlung secund\u00e4r eine k\u00f6rperliche Bewegung hervorgehen: wenn n\u00e4mlich der gefasste Entschluss auf eine zu einem sp\u00e4teren Zeitpunkt auszuf\u00fchrende \u00e4u\u00dfere Handlung abzielt. Hierbei resultirt dann die letztere stets aus einem besonderen \u00e4u\u00dferen Willensvorgang, dessen entscheidende Motive zuvor aus der vorangegangenen inneren Willenshandlung entspringen, der aber doch als ein neuer, von dieser verschiedener Process aufgefasst werden muss. In diesem Sinne ist z. B. das Fassen eines Entschlusses zu einer k\u00fcnftig-unter bestimmten noch zu erwartenden Vorbedingungen aus-\nWan dt, Psychologie.\t15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nII. Die psychischen Gebilde.\nzuf\u00fchrenden That eine innere Willenshandlung, und die sp\u00e4tere Ausf\u00fchrung der That ist eine von ihr verschiedene, doch sie als Bedingung voraussetzende \u00e4u\u00dfere Handlung. Hieraus ergibt sich zugleich, dass in den F\u00e4llen, wo die \u00e4u\u00dfere Willenshandlung aus einer einem Kampf der Motive folgenden Entschlie\u00dfung entspringt, die F\u00e4lle eines einzigen in sich zusammenh\u00e4ngenden Willensvorganges und zweier Willensvorg\u00e4nge, eines inneren und eines \u00e4u\u00dferen, ohne deutliche Grenze in einander \u00fcbergehen, indem hierbei die Entschlie\u00dfung, sobald sie zeitlich irgend merklich von der Handlung selbst getrennt ist, als ein diese vorbereitender innerer Willensact aufgefasst werden kann.\n10. Sind die beiden bisher besprochenen mit der Entwicklung des Willens verbundenen Ver\u00e4nderungen, die Erm\u00e4\u00dfigung der Affecte und die Verselbst\u00e4ndigung innerer Willenshandlungen, progressiver Art, so steht ihnen ein dritter Vorgang als eine Art regressiver Entwicklung gegen\u00fcber. Sobald sich n\u00e4mlich zusammengesetzte Willensvorg\u00e4nge von \u00fcbereinstimmendem Motivinhalt h\u00e4ufiger wiederholen, erleichtert sich der Kampf der Motive : die in den fr\u00fcheren F\u00e4llen unterlegenen Motive treten bei den neuen Anl\u00e4ssen zun\u00e4chst schw\u00e4cher auf und verschwinden zuletzt v\u00f6llig. Die zusammengesetzte ist dann in eine einfache oder Triebhandlung \u00fcbergegangen. Besonders diese R\u00fcck-verwandlung complexer Willensvorg\u00e4nge in Triebvorg\u00e4nge ist es, die die oben erw\u00e4hnte Beschr\u00e4nkung des Begriffes \u00bbTrieb\u00ab auf die aus sinnlichen Gef\u00fchlen entspringenden Willenshandlungen v\u00f6llig ungeeignet erscheinen l\u00e4sst. In Folge jener allm\u00e4hlichen Elimination der unterlegenen Motive gibt es ebensowohl intellectuelle, sittliche, \u00e4sthetische u. dergl. wie einfache sinnliche Triebhandlungen.\nZugleich bildet diese R\u00fcckverwandlung einen Bestand-theil eines Processes, der die s\u00e4mmtlichen \u00e4u\u00dferen Hand-","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge.\n227\nluugen eines lebenden Wesens, die Willenshandlungen wie die automatisch-reflectorischen Bewegungen, verbindet. Denn setzt sich die gewohnheitsm\u00e4\u00dfige Ein\u00fcbung der Handlungen weiter fort, so wird schlie\u00dflich auch in der Triebhandlung das bestimmende Motiv immer schw\u00e4cher und vor\u00fcbergehender. Der \u00e4u\u00dfere Eeiz, der urspr\u00fcnglich die als Motiv wirkende gef\u00fchlsstarke Vorstellung weckte, l\u00f6st, ehe er noch als Vorstellung aufgefasst werden konnte, die Handlung aus. Auf diese Weise ist die Triebbewegung endlich in eine automatische Bewegung \u00fcbergegangen. Je h\u00e4ufiger aber dieser Process sich wiederholt, um so leichter kann die automatische Bewegung erfolgen, ohne dass der Reiz auch nur empfunden wird, z. B. in tiefem Schlaf oder bei v\u00f6lliger Ablenkung der Aufmerksamkeit. Dann erscheint die Bewegung als ein rein physiologischer Keflex des Reizes, und der Willensvorgang selbst ist zu einem Reflexvorgang geworden.\nDiese allm\u00e4hliche Mechanisirung der Vorg\u00e4nge, die im wesentlichen in der Elimination aller zwischen dem psychischen Anfangs- und Endpunkt gelegenen Mittelglieder besteht, kann aber ebensowohl bei den urspr\u00fcnglichen wie bei vielen der secund\u00e4ren, durch Verdichtung von Willk\u00fcrhandlungen entstandenen Triebbewegungen eintreten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Reflexbewegungen der Thiere und des Menschen \u00fcberhaupt diesen Ursprung haben. Daf\u00fcr spricht, abgesehen von der er\u00f6rterten Mechanisirung der Willenshandlungen durch Uebung, einerseits der zweckm\u00e4\u00dfige Charakter der Reflexe, der auf urspr\u00fcnglich vorhanden gewesene Zweckvorstellungen als Motive hinweist, anderseits der Umstand, dass die Bewegungen der niedersten Thiere durchg\u00e4ngig offenbar einfache Willenshandlungen, nicht Reflexe sind, so dass auch von dieser Seite die h\u00e4ufig gemachte Annahme einer in entgegengesetzter\n15*","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nII. Die psychischen Gebilde.\nRichtung erfolgten Entwicklung der Reflexe zu Willenshandlungen keine Wahrscheinlichkeit hat. Endlich erkl\u00e4rt sich unter dem gleichen Gesichtspunkt am einfachsten die in \u00a7 13 (S. 202) hervorgehobene Thatsaclie, dass die Ausdrucksbewegungen der Affecte jeder dieser in der Stufenleiter \u00e4u\u00dferer Handlungen m\u00f6glichen Formen angeh\u00f6ren k\u00f6nnen. Offenbar sind hier die einfacheren Bewegungen urspr\u00fcnglich Triebhandlungen, w\u00e4hrend manche verwickeltere pantomimische Bewegungen wahrscheinlich auf einstige Willk\u00fcrhandlungen zur\u00fcckzuf\u00fchren sind, die aber zuerst in Trieb-und dann sogar in Reflexbewegungen \u00fcbergingen. Zugleich n\u00f6thigen gerade hier die Erscheinungen zu der Annahme, dass die w\u00e4hrend des individuellen Lebens beginnende R\u00fcckverwandlung durch die Vererbung der erworbenen Anlagen allm\u00e4hlich gesteigert wird, so dass gewisse urspr\u00fcngliche Willk\u00fcrhandlungen bei den sp\u00e4teren Nachkommen von Anfang an als Trieb- oder Reflexbewegungen auftreten. (Vgl. \u00a7 19 u. 20.)\n10 a. Aus \u00e4hnlichen Gr\u00fcnden wie bei den Affecten ist auch bei dem Willen die Beobachtung der sich uns zuf\u00e4llig im Leben darbietenden Vorg\u00e4nge ein unzureichendes und leicht irref\u00fchrendes Verfahren zur Feststellung des wirklichen Thatbestandes. (Jeberall wo sich zum Behuf irgend welcher theoretischer oder praktischer Lebensaufgaben innere oder \u00e4u\u00dfere Willenshandlungen vollziehen, ist unser Interesse viel zu sehr durch jene Airfgaben seihst in Anspruch genommen, als dass wir im Stande w\u00e4ren die gleichzeitig vorhandenen psychischen Vorg\u00e4nge mit Genauigkeit zu beobachten. In den Willenstheorien der \u00e4lteren Psychologen, die freilich vielfach noch in die heutige Wissenschaft ihre Schatten werfen, spiegelt sich deutlich dieser unvollkommene Zustand psychologischer Beobachtungskunst. Indem die \u00e4u\u00dfere Willenshandlung das einzige war, was sich aus dem ganzen Gebiet der Willensvorg\u00e4nge deutlich der Beobachtung aufdr\u00e4ngte, war man zun\u00e4chst geneigt, den Begriff des Willens \u00fcberhaupt auf die \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen zu beschr\u00e4nken und danach","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge.\n229\nnicht nur das ganze f\u00fcr die h\u00f6here Entwicklung des Willens so wichtige Gebiet der inneren Willenshandlungen g\u00e4nzlich unbeachtet zu lassen, sondern auch die die \u00e4u\u00dfere Handlung vorbereitenden Bestandtheile des Willensvorganges nur h\u00f6chst unvollst\u00e4ndig, zumeist nur in Bezug auf die am meisten hervortretenden Vor-stellungsbestandtheile der Motive, zu ber\u00fccksichtigen. Die Folge war, dass man den engen genetischen Zusammenhang der Trieb-und der Willk\u00fcrhandlungen nicht beachtete, jene als den Reflexen nahestehende Erscheinungen g\u00e4nzlich von dem Willen losl\u00f6ste und demnach diesen auf die Willk\u00fcr- und Wahlhandlungen einschr\u00e4nkte. Da nun au\u00dferdem die einseitige R\u00fccksicht auf die Vorstellungsbestandtheile der Motive die Entwicklung des Willensactes aus dem Affect v\u00f6llig \u00fcbersehen lie\u00df, so kam man zu der seltsamen Vorstellung, die Willenshandlung sei nicht das Erzeugniss der ihr vorausgehenden Motive und der auf die letzteren einwirkenden und dem entscheidenden Motiv zur Herrschaft verhelfenden psychischen Bedingungen, sondern das Wollen sei ein neben den Motiven sich ereignendes und an sich von ihnen unabh\u00e4ngiges Geschehen, das Product eines metaphysischen Willensverm\u00f6gens, welches man auch, da nur die Willk\u00fcrhandlungen f\u00fcr wirkliche Willenshandlungen gehalten wurden, geradezu als das \u00bbWahlverm\u00f6gen\u00ab der Seele definirte oder als ihr Verm\u00f6gen, von verschiedenen auf sie wirkenden Motiven einem den Vorzug zu geben. Damit hatte man eigentlich nur den Enderfolg des Willensvorganges, die Willenshandlung, statt sie aus den vorausgehenden psychischen Bedingungen abzuleiten, zur Bildung eines allgemeinen Begriffs benutzt, den man Willen nannte, welchen Gattungsbegriff man nun im Sinne der Verm\u00f6genstheorie als eine erste Ursache behandelte, aus der alle einzelnen Willensacte hervorgehen sollten.\nEs war nur eine Modification dieser abstracten Willenstheorie, wenn Schopenhauer und ihm folgend manche neuere Psychologen und Philosophen den Willensvorgang selbst f\u00fcr ein \u00bbunbewusstes\u00ab Geschehen erkl\u00e4rten, dessen Erfolg, die Willenshandlung, erst ein bewusster psychischer Vorgang sei. Hier hatte augenscheinlich die unzul\u00e4ngliche Beobachtung des der Handlung vorausgehenden Willensvorganges zu der Behauptung gef\u00fchrt, ein solcher Willensvorgang existire \u00fcberhaupt nicht. Da hiermit die ganze Mannigfaltigkeit der concreten Willensprocesse in dem Begriff","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nII. Die psychischen Gebilde.\ndes einen unbewussten Willens aufgehoben war, so war das psychologische Ergebniss dasselbe wie vorher: an die Stelle der Erfassung der concreten psychischen Vorg\u00e4nge und ihrer Verbindung wurde ein Gattungsbegriff gesetzt, der f\u00e4lschlich die Bedeutung einer allgemeinen Ursache \u00fcbernahm.\nAuch die neuere und selbst die experimentelle Psychologie steht vielfach noch im Banne dieser tief eingewurzelten abstracten Willenslehre. Indem man die Erkl\u00e4rung einer Handlung aus der concreten psychischen Causalit\u00e4t des vorangegangenen Willensvorganges von vornherein f\u00fcr unm\u00f6glich erkl\u00e4rt, gilt als das einzige Merkmal des Willensactes die Summe der Empfindungen, welche die \u00e4u\u00dfere Handlung begleiten, und welche, wenn sich eine Handlung oft wiederholt hat, dieser selbst als blasse Erinnerungsbilder unmittelbar vorausgehen. Als die Ursachen der Handlung werden aber die physischen Erregungsvorg\u00e4nge innerhalb des Nervensystems betrachtet. Wie die Frage nach der Causalit\u00e4t des Willens bei der vorigen Theorie aus der Psychologie in die Metaphysik, so wird sie daher bei dieser aus der Psychologie in die Physiologie verwiesen. In der That wird sie aber auch hier auf dem Wege von der einen in die andere von der Metaphysik eingefangen. Da n\u00e4mlich die Physiologie als empirische Wissenschaft die vollst\u00e4ndige Ableitung der eine complexe Willenshandlung begleitenden physischen Vorg\u00e4nge aus ihren Vorbedingungen nicht nur f\u00fcr jetzt, sondern, weil diese Frage auf ein Unendlichkeitsproblem f\u00fchrt, f\u00fcr alle Zeit ablehnen muss, so bleibt als der einzige Rechtsgrund dieser Theorie der Lehrsatz der materialistischen Metaphysik stehen, dass die so genannten materiellen Vorg\u00e4nge die einzige Wirklichkeit der Dinge seien, und dass daher die psychischen aus den materiellen Vorg\u00e4ngen erkl\u00e4rt werden m\u00fcssten. Nun ist es aber ein unerl\u00e4ssliches Regulativ der Psychologie als empirischer Wissenschaft, dass sie den Thatbestand der psychischen Vorg\u00e4nge so wie er der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist erforscht, und dass sie daher den Zusammenhang dieser Vorg\u00e4nge nicht unter Gesichtspunkten betrachtet, die ihm selbst fremd sind. (Vgl. \u00a7 1 und S. 20 f.) Wie ein Willensvorgang verl\u00e4uft, k\u00f6nnen wir unm\u00f6glich anders erfahren, als indem wir ihn genau so verfolgen, wie er uns in der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist. In dieser ist er aber nicht als ein abstracter Begriff gegeben, sondern als ein concretes","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge.\n231\neinzelnes Wollen; und von diesem wiederum wissen wir nur etwas, insofern es ein unmittelbar wahrzunehmender Vorgang ist, nicht ein unbewusster oder, was f\u00fcr die Psychologie auf dasselbe hinauskommt, ein materieller Vorgang, der nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern nur auf Grund metaphysischer Voraussetzungen hypothetisch angenommen wird. Solche metaphysische Annahmen sind hier augenscheinlich nur L\u00fcckenb\u00fc\u00dfer einer mangelhaften oder v\u00f6llig fehlenden psychologischen Beobachtung. Wer von dem ganzen Willensvorgang nur das Ende, die \u00e4u\u00dfere Handlung, beachtet, der kann aber nat\u00fcrlich leicht auf den Gedanken verfallen, die n\u00e4chste Ursache des Wollens sei irgend ein unbewusstes immaterielles oder materielles Agens.\n11. Da die exacte Beobachtung der Willensvorg\u00e4nge aus den oben angef\u00fchrten Gr\u00fcnden bei den von selbst im Laufe des Lebens vorkommenden Willensacten unm\u00f6glich ist, so besteht auch hier der einzige Weg zu einer gr\u00fcndlichen psychologischen Untersuchung in der experimentellen Beobachtung. Nun k\u00f6nnen wir freilich nicht Willenshandlungen jeder beliebigen Art nach Willk\u00fcr erzeugen, sondern wir m\u00fcssen uns auf die Beobachtung gewisser leicht der Beeinflussung durch \u00e4u\u00dfere Hiilfsmittel zug\u00e4nglicher und mit \u00e4u\u00dferen Handlungen abschlie\u00dfender Willensvorg\u00e4nge beschr\u00e4nken. Die Versuche, die diesem Zweck dienen, sind die sogenannten Re actions versuche. Sie bestehen im wesentlichen darin, dass ein einfacherer oder zusammengesetzterer Willensvorgang durch einen \u00e4u\u00dferen Sinnesreiz angeregt und nach Ablauf bestimmter, zum Theil als Motive benutzter psychischer Vorg\u00e4nge durch eine Bewegungsreac-tion beendet wird.\nNeben der hier hervorgehobenen haben die Reactions-versuche noch eine zweite, allgemeinere Bedeutung. Sie bieten n\u00e4mlich die H\u00fclfsmittel dar, um die Geschwindigkeit gewisser psychischer und psycho-physischer Vorg\u00e4nge zu messen. In der That werden solche Messungen bei","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nII. Die psychischen Gebilde.\ndiesen Versuchen stets ausgef\u00fchrt. Aber die n\u00e4chste Bedeutung derselben besteht doch darin, dass jeder Versuch einen Willensvorgang einschlie\u00dft, und dass es daher m\u00f6glich wird, auf diesem Wege genau die Succession der psychischen Pro-cesse in einem solchen mittelst der subjectiven Beobachtung zu verfolgen und dabei zugleich durch willk\u00fcrliche Ver\u00e4nderung der Bedingungen in planm\u00e4\u00dfiger Weise zu beeinflussen.\nDer einfachste Reactionsversuch, der sich ausf\u00fchren l\u00e4sst, ist hiernach der folgende. Man l\u00e4sst, nachdem man in angemessener Zeit (2\u20143 Sec.) ein die vorbereitende Spannung der Aufmerksamkeit bewirkendes Signal vorausgehen lie\u00df, einen \u00e4u\u00dferen Reiz auf irgend ein Sinnesorgan einwirken und im Moment der Auffassung des Reizes eine vorher genau bestimmte und vorbereitete Bewegung, z. B. eine Bewegung der Hand, ausf\u00fchren. Dieser Versuch entspricht in seinen psychologischen Bedingungen im wesentlichen einem einfachen Willensvorgang: der Sinneseindruck wird bei ihm als einfaches Motiv benutzt, dem eine bestimmte Handlung eindeutig zugeordnet ist. Trifft man nun mittelst graphischer oder irgend welcher anderer zeitmess\u00e8n-der H\u00fclfsmittel die Einrichtung, dass die Zeit von der Einwirkung des Reizes an bis zum Moment der Ausf\u00fchrung der Reactionsbewegung objectiv gemessen wird, so ist es dadurch m\u00f6glich, in oft wiederholten Versuchen gleicher Art sich die subjectiven Vorg\u00e4nge, die den ganzen Reactions-process zusammensetzen, genau zu vergegenw\u00e4rtigen, w\u00e4hrend zugleich in den objectiven Ergebnissen der Zeitmessung ein Controlmittel f\u00fcr die Constanz wie f\u00fcr die etwaigen Abweichungen jener subjectiven Vorg\u00e4nge zur Verf\u00fcgung steht. Von diesem Controlmittel macht man namentlich auch in den F\u00e4llen Gebrauch, wo absichtlich irgend eine Bedingung des Versuchs und dadurch der subjective Verlauf des Willensvorgangs selbst ver\u00e4ndert wird.","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge.\n233\nEine solche Variation l\u00e4sst sich in der That schon bei dem oben geschilderten einfachen lteactionsversuch ausf\u00fchren, indem man die der Einwirkung des Sinnesreizes vorausgehende Vorbereitung der Handlung verschiedentlich modificirt. Wird diese Vorbereitung so getroffen, dass die Erwartung dem als Motiv wirkenden Sinnesreiz zugewandt ist, so entsteht die Form der so genannten sensoriellen Reaction. Wird dagegen die vorbereitende Erwartung auf die durch das Motiv auszul\u00f6sende Handlung gerichtet, so entsteht die Form der so genannten muscul\u00e4ren Reaction. Im ersten Fall enth\u00e4lt die Erwartung als Vorstellungsfactor ein blasses Erinnerungsbild des bekannten Sinneseindrucks, das sich, wenn die Vorbereitungszeit l\u00e4nger dauert, in oscillirendem, abwechselnd deutlicher und undeutlicher werdendem Zustande befindet; als Gef\u00fchlsfactor ist ein in \u00e4hnlicher Weise oscillirendes Erwartungsgef\u00fchl vorhanden, das \u00fcberdies mit Spannungsempfindungen verbunden ist, die dem betreffenden Sinnesgebiet angeh\u00f6ren, z. B. mit Spannungen des Trommelfells, der Accommodations- und \u00e4u\u00dferen Augenmuskeln u. dergl. Im zweiten Fall dagegen, bei der muscul\u00e4ren Reaction, beobachtet man w\u00e4hrend der Zeit der vorbereitenden Erwartung ein blasses oscillirendes Erinnerungsbild des Reactionsorgans (z. B. der reagirenden Hand), zugleich mit starken Spannungsempfindungen dieses Organs und mit einem an diese Empfindungen gebundenen ziemlich continuirlichen Erwartungsgef\u00fchl. Die sensorielle Reactions-zeit betr\u00e4gt durchschnittlich 0,210\u20140,290 Secunden (die kleinsten Zeiten gelten f\u00fcr Schall-, die gr\u00f6\u00dften f\u00fcr Lichteindr\u00fccke), mit einer mittleren Variation der Einzelbeobachtungen von 0,020 Sec. Die muscul\u00e4re Reactionszeit betr\u00e4gt 0,120\u20140,190 Secunden, mit einer mittleren Variation von 0,010 Sec. Die verschiedenen Werthe der mittleren Variation in beiden F\u00e4llen sind haupts\u00e4chlich als objective Control-","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\tII. Die psychischen Gebilde.\nmittel f\u00fcr die Unterscheidung dieser Reactionsformen von Bedeutung.1 * * 4)\n12. Die sensorielle und die muscul\u00e4re Reactionsform bilden nun vermittelst der Einf\u00fchrung besonderer Bedingungen die Ausgangspunkte f\u00fcr das Studium der Entwicklung der Willensvorg\u00e4nge nach verschiedenen Richtungen hin. Die sensorielle Reaction liefert n\u00e4mlich da sich bei ihr leicht zwischen die Auffassung des Eindrucks und die Ausf\u00fchrung der Reaction verschiedene psychische Processe einschalten lassen, das H\u00fclfsmittel, um von einfachen zu zusammengesetzten Willensvorg\u00e4ngen \u00fcberzugehen. So entsteht eine Willk\u00fcrhandlung von relativ einfacher Art, wenn man der Auffassung des Eindrucks einen Erkennungsoder Unterscheidungsact folgen l\u00e4sst, der dann erst die Re-actionsbewegung auszul\u00f6sen hat. In diesem Fall ist nicht der unmittelbare Eindruck, sondern erst die aus dem Er-kennungs- oder Unterscheidungsact resultirende Vorstellung das Motiv der auszuf\u00fchrenden Handlung. Insofern dieses Motiv nur eines unter einer gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Anzahl gleich m\u00f6glicher ist, die statt seiner eintreten konnten, hat aber die Reactionsbewegung den Charakter einer Willk\u00fcrbewegung: in der That ist bei ihr das dem Willensact vorausgehende G-ef\u00fchl der Entscheidung deutlich zu beobachten; nicht minder sind die vorangehenden an die Auffassung des Eindrucks gebundenen Gef\u00fchle scharf ausgepr\u00e4gt. Noch mehr geschieht dies, und die Aufeinanderfolge der Vorstellungs- und Gef\u00fchlsprocesse wird zugleich eine\n1) Au\u00dfer Betracht geblieben sind bei den obigen Zahlen die Reactionszeiten f\u00fcr Geschmacks- und Geruchs-, f\u00fcr Temperatur- und Schmerzreize. Sie sind durchweg gr\u00f6\u00dfer gefunden worden. Da aber\ndiese Unterschiede offenbar ganz und gar auf Rechnung rein physiologischer Bedingungen kommen (langsameres Vordringen der Reize\nzu den Nervenenden, bei den Schmerzreizen langsamere centrale\nLeitung), so bieten sie kein psychologisches Interesse dar.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge.\n235\nverwickeltere, wenn man noch einen andern psychischen Vorgang, z. B. eine Association, einschaltet, die erst als entscheidendes Motiv f\u00fcr die Ausf\u00fchrung der Bewegung wirken soll. Der willk\u00fcrliche Vorgang wird endlich bei diesen Versuchen zu einem Wahl Vorgang, wenn die Handlung nicht blo\u00df derart von einer Vielheit von Motiven beeinflusst ist, dass mehrere auf einander folgen m\u00fcssen, ehe eines die Handlung bestimmt, sondern wenn \u00fcberdies von verschiedenen m\u00f6glichen Handlungen eine nach Ma\u00dfgabe der vorhandenen Motive entscheidend wird: dies geschieht, wenn zu verschiedenen Reactionsbewegungen, z. B. zu einer solchen mit der rechten und der linken Hand oder zu einer solchen mit irgend einem der zehn Finger, die Vorbereitung getroffen, jede einzelne Bewegung aber an die Bedingung gekn\u00fcpft ist, dass ein Eindruck von bestimmter Qualit\u00e4t als Motiv f\u00fcr sie gelten soll, z. B. der Eindruck blau f\u00fcr die Bewegung rechts, roth f\u00fcr die Bewegung links.\n13. Im Gegens\u00e4tze hierzu kann die muscul\u00e4re Reac-tionsform benutzt werden, um die R\u00fcckbildung der Willenshandlungen zu Reflexbewegungen in der Beobachtung zu verfolgen. Indem sich n\u00e4mlich bei dieser Reactionsform die vorbereitende Erwartung ganz auf die \u00e4u\u00dfere Handlung richtet, ist hier eine will\u00fcrliche Hemmung oder Ausl\u00f6sung der letzteren je nach der Beschaffenheit der Eindr\u00fccke, also auch ein Uebergang von einfachen zu zusammengesetzten Willenshandlungen unm\u00f6glich. Dagegen gelingt es leicht, die Verbindung des Eindrucks mit der ihm eindeutig zugeordneten Bewegung so einzu\u00fcben, dass der Auffassungsvorgang immer mehr verschwindet oder erst nach erfolgtem Bewegungsimpuls eintritt, sonach die Bewegung selbst reflex\u00e4hnlich erfolgt. Diese Mechanisirung des Vorgangs, die bei der sensoriellen Reaction wegen der bei ihr obwaltenden Bedingungen niemals m\u00f6glich ist, verr\u00e4th sich darin, dass","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nII. Die psychischen Gebilde.\ndie objective Zeit auf die Gr\u00f6\u00dfe der bei reinen Reflexbewegungen beobachteten herabsinkt, und dass in der psychologischen Beobachtung Eindruck und Reaction als ein zeitlich zusammenfallender Vorgang erscheinen, w\u00e4hrend zugleich das charakteristische Gef\u00fchl der Entscheidung allm\u00e4hlich ganz verschwindet.\n13 a. Die der experimentellen Psychologie unter dem Namen der \u00bbReactionsversuche\u00ab gel\u00e4ufigen chronometrischen Experimente verdanken ihre Wichtigkeit der doppelten Bedeutung, die sie, erstens als H\u00fclfsmittel zur Analyse der Willensvorg\u00e4nge, und zweitens als solche zur Untersuchung des zeitlichen Verlaufs der psychischen Vorg\u00e4nge \u00fcberhaupt, besitzen. In dieser zweiseitigen Bedeutung der Reactionsversuche spiegelt sich die centrale Bedeutung der Willensvorg\u00e4nge, welche einerseits darin besteht, dass die einfacheren Processe, die Gef\u00fchle, Affecte und die an sie gebundenen Vorstellungen, zugleich Bestandtheile eines vollst\u00e4ndigen Willensvorganges bilden, anderseits aber darin zum Ausdruck gelangt, dass alle m\u00f6glichen Formen des Zusammenhangs der psychischen Gebilde als Bestandtheile eines Willensvorganges Vorkommen k\u00f6nnen. Hierdurch bilden die Willensvorg\u00e4nge den angemessenen Uebergang zu dem im folgenden Capitel zu er\u00f6rternden Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nEin \u00bbReactionsversuch\u00ab, der zur Analyse eines Willensvorganges oder irgend eines in ihn eingehenden psychischen Processes bestimmt ist, setzt vor allem die Anwendung genauer und zureichend feiner (xr>W See. noch sicher angehender) chronometrischer H\u00fclfsmittel (elektrischer Uhren oder graphischer Registrirmethoden) voraus, bei denen zugleich die Einrichtung getroffen ist, dass sowohl der Augenblick des einwirkenden Reizes wie der Augenblick der Reactionshewegung des Beobachters zeitlich fixirt wird. Dies kann z. B. dadurch geschehen, dass ein galvanischer Strom, der eine noch TT^()Tj Sec. anzeigende elektrische Uhr in Gang setzt, durch den Reiz selbst (Schall-, Licht-, Tastreiz) geschlossen und dann im Moment der Auffassung des Reizes durch den Beobachter mittelst einer einfachen, die Hebung eines Telegraphentasters vermittelnden Handbewegung wieder ge\u00f6ffnet wird. Die gemessene einfache Reaction l\u00e4sst sich dann","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 14. Die Willensvorg\u00e4nge.\n237\ntheils, wie oben angedeutet, in verschiedener Weise ab\u00e4ndern (sensorielle und muscul\u00e4re Reaction, Reaction mit und ohne vorausgehendes Signal), theils lassen sich in den Reaetionsvorgang jene verschiedenen psychischen Acte (Unterscheidungen, Erkennungen, Associationen, Wahlvorg\u00e4nge) einschalten, die einerseits als Motive eines Willensvorganges, anderseits aber als Bestandtheile des allgemeinen Zusammenhangs der psychischen Gebilde betrachtet werden k\u00f6nnen. Der einfache Reaetionsvorgang ist ein Process, der neben dem Willensvorgang stets zugleich rein physiologische Glieder (Leitung der sensibeln Erregung bis zum Gehirn, der motorischen zum Muskel) in sich schlie\u00dft. Schaltet man nun aber, wie es freilich nur bei der Benutzung der sensoriellen Reactionsform geschehen kann, weitere psychische Vorg\u00e4nge (Unterscheidungen, Erkennungen, Associationen, Wahlacte) ein, so lassen sich, indem man von der Zeitdauer der so gewonnenen zusammengesetzten Reactionen die Zeit einer einfachen Reaction abzieht, die Zeitwerthe bestimmt definirbarer psychischer Vorg\u00e4nge gewinnen. Man findet so die Zeiten der Erkennung und der Unterscheidung relativ einfacher Eindr\u00fccke (Farben, Buchstaben, kurze W\u00f6rter) = 0,03\u20140,05\", die der Wahl zwischen zwei Bewegungen (rechte und linke Hand) = 0,06\", zwischen 10 Bewegungen (die 10 Finger) = 0,4\" u. s. w. Dabei besteht \u00fcbrigens, wie schon oben angedeutet, der Werth dieser Zahlen nicht sowohl in ihrer absoluten Gr\u00f6\u00dfe als vielmehr darin, dass sie Controlmittel der psychologischen Beobachtung sind, w\u00e4hrend diese zugleich auf Vorg\u00e4nge angewandt wird, die mit H\u00fclfe der experimentellen Methode genau vorgeschriebenen und darum beliebig zu wiederholenden Bedingungen unterworfen sind.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\n\u00a7 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\n1. Da sich jedes psychische Gebilde aus einer Vielheit elementarer Processe zusammensetzt, die weder s\u00e4mmtlicli genau im selben Moment zu beginnen noch aufzuh\u00f6ren pflegen, so reicht der Zusammenhang, der die Elemente zu einem Ganzen verbindet, im allgemeinen stets \u00fcber dieses hinaus, so dass verschiedene gleichzeitige wie succesive Gebilde wieder, wenn auch loser, unter einander verbunden werden. Diesen Zusammenhang der psychischen Gebilde nennen wir das Bewusstsein.\nDer Begriff des Bewusstseins bezeichnet demnach nichts, was neben den psychischen Vorg\u00e4ngen vorhanden w\u00e4re. Aber er bezieht sich auch keineswegs blo\u00df auf die Summe derselben ohne jede R\u00fccksicht darauf, wie sie sich zu einander verhalten; sondern seine Bedeutung ist die, dass er jene allgemeine Verbindung der psychischen Vorg\u00e4nge ausdr\u00fcckt, aus der sich die einzelnen Gebilde als engere Verbindungen herausheben. Einen Zustand, in welchem dieser Zusammenhang unterbrochen ist, wie den des tiefen Schlafes, der Ohnmacht, nennen wir daher bewusstlos; und wir reden von \u00bbSt\u00f6rungen des Bewusstseins\u00ab, sobald abnorme Ver\u00e4nderungen in der Verbindung der psychischen Gebilde auftreten, wobei diese selbst keinerlei Ver\u00e4nderungen darzubieten brauchen.","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a715. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\n239\nDas Bewusstsein in dieser Bedeutung eines umfassenderen Zusammenhangs der gleichzeitigen und der in der Zeit sich folgenden psychischen Vorg\u00e4nge tritt uns in der Erfahrung zun\u00e4chst in den psychischen Lehens\u00e4u\u00dferungen des Individuums entgegen, als individuelles Bewusstsein. Da aber ein analoger Zusammenhang auch bei Verbindungen von Individuen, wenngleich beschr\u00e4nkt auf ge-gewisse Seiten des psychischen Lebens, Vorkommen kann, so k\u00f6nnen die Begriffe eines Gesammtbewusstseins, eines Volksbewusstseins u. dergl. dem n\u00e4mlichen Allgemeinbegriffe untergeordnet werden. F\u00fcr alle diese weiteren Bewusstseinsformen bildet jedoch das individuelle Bewusstsein, auf dessen Betrachtung wir uns hier zun\u00e4chst beschr\u00e4nken werden, die Grundlage. (Ueber den Begriff des Gesammtbewusstseins vgl. unten \u00a7 21, 14.)\n2. Das individuelle Bewusstsein steht nun unter denselben \u00e4u\u00dferen Bedingungen wie der Thatbestand des psychischen Geschehens \u00fcberhaupt, f\u00fcr den es nur ein anderer, speciell die wechselseitigen Beziehungen der Bestandtheile desselben hervorhebender Ausdruck ist. Als Tr\u00e4ger der Symptome eines individuellen Bewusstseins ist uns \u00fcberall ein individueller thierischer Organismus gegeben, und in diesem erscheint wieder bei dem Menschen und den ihm \u00e4hnlichen h\u00f6heren Thieren, die Kinde des Gro\u00dfhirns, in deren Zellen- und Fasernetzen die s\u00e4mmtlichen zu den psychischen Vorg\u00e4ngen in Beziehung stehenden Organe vertreten sind, als das n\u00e4chste Organ des Bewusstseins. Den durchg\u00e4ngigen Zusammenhang der Kindenelemente des Gehirns k\u00f6nnen wir als den physiologischen Ausdruck des im Bewusstsein gegebenen Zusammenhangs der psychischen Vorg\u00e4nge, die Functionstheilung der verschiedenen Kindengebiete als das physiologische Correlat- der mannigfachen Verschiedenheiten der einzelnen Bewusstseinsvorg\u00e4nge","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nIII. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nbetrachten. Dabei ist freilich bei diesem centralsten Organ des K\u00f6rpers die Functionstheilung immer nur eine relative: jedes zusammengesetzte psychische Gebilde setzt das Zusammenwirken zahlreicher Elemente und vieler Centralgebiete voraus. Wenn die Wegnahme gewisser Gebiete der Hirnrinde bestimmte St\u00f6rungen der willk\u00fcrlichen Bewegung, der Empfindung hervorbringt oder auch die Bildung gewisser Classen von Vorstellungen aufhebt, so kann man daraus nat\u00fcrlich schlie\u00dfen, dass jene Gebiete Mittelglieder enthalten, die in der Kette der den betreffenden psychischen Vorg\u00e4ngen parallel gehenden physischen Processe unentbehrlich sind. Aber die h\u00e4ufig auf diese Erscheinungen gest\u00fctzte Annahme, es gebe im Gehirn ein abgegrenztes Organ des Sprachverm\u00f6gens, des Schreibverm\u00f6gens, oder die Gesichts-, die Klang-, die Wortvorstellungen u. s. w. seien in besonderen Zellen der Hirnrinde abgelagert, diese und \u00e4hnliche Annahmen setzen nicht nur \u00fcberaus rohe physiologische Vorstellungen voraus, sondern sie sind auch mit der psychologischen Analyse der Functionen absolut unvertr\u00e4glich. Denn psychologisch betrachtet sind sie lediglich moderne Erneuerungen der ungl\u00fccklichsten Form der Verm\u00f6genstheorie, der Phrenologie.\n2 a. Die Nachweise \u00fcber die Localisation bestimmter psychophysischer Functionen in der Hirnrinde, die wir theils der pathologisch-anatomischen Beobachtung am Menschen theils dem Thierversuch verdanken, bestehen: 1) in der Zuordnung bestimmter Kindengebiete zu bestimmten peripheren Sinnes- und Muskelgebieten : so ist die Binde des Occipitalhirns der Retina, ein Theil des Scheitelhirns der Tastfl\u00e4che, des Schl\u00e4fenhirns dem Geh\u00f6rssinn zugeordnet, die Centralherde der einzelnen Muskelgebiete liegen im allgemeinen unmittelbar neben oder zwischen den mit ihnen in functioneller Beziehung stehenden Sinnescentren ; 2) in der Nachweisung complicirterer St\u00f6rungen bei der Functionsaufhebung gewisser anderer Rindengebiete, die nicht direct mit peripheren","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a715. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\n241\nK\u00f6rpergebieten in Verbindung zu stehen, sondern zwischen andere Centralgebiete eingeschaltet zu sein scheinen. Mit Sicherheit ist in letzterer Beziehung nur die Zuordnung bestimmter Theile des Schl\u00e4fenhirns zu den Functionen der Sprache nachgewiesen, und zwar der weiter nach vorn gelegenen zur articulirten Wortbildung (ihrer Zerst\u00f6rung folgt Aufhebung der motorischen Coordination, so genannte \u00bbataktische Aphasie\u00ab), der weiter nach hinten gelegenen zur Bildung der Wortvorstellungen (ihre Zerst\u00f6rung hindert die sensorische Coordination und erzeugt so die so genannte \u00bbamnestische Aphasie\u00ab). Dabei ist noch die eigenth\u00fcmliche That-sache beobachtet, dass diese Functionen in der Regel ausschlie\u00dflich im linken, nicht im rechten Schl\u00e4fenlappen localisirt sind, so dass meist nur dort, nicht hier apoplektische Zerst\u00f6rungen die Aufhebung der Sprachfunctionen bewirken. Uebrigens pflegt in allen diesen F\u00e4llen, sowohl bei den einfacheren wie bei den zusammengesetzteren St\u00f6rungen, im Laufe der Zeit eine allm\u00e4hliche Wiederherstellung der Functionen stattzufinden, wahrSchein-lich dadurch, dass f\u00fcr die zerst\u00f6rten Bindengebiete andere, in der Begel in der Nachbarschaft gelegene (bei den Sprachst\u00f6rungen vielleicht auch solche der entgegengesetzten, vorher nicht einge\u00fcbten K\u00f6rperseite) vicariirend eintreten. Localisationen anderer zusammengesetzter psychischer Functionen, wie der Erinnerungsund Associationsvorg\u00e4nge, sind bis jetzt nicht mit Sicherheit nachgewiesen worden, und wenn von manchen Anatomen gewisse Rindengebiete als \u00bbpsychische Centren\u00ab bezeichnet werden, so st\u00fctzt sich dieser Name vorl\u00e4ufig nur entweder auf eine sehr zweifelhafte Deutung von Versuchen an Thieren theils aber auf die blo\u00dfe anatomische Thatsache, dass direct zu ihnen verlaufende motorische oder sensorische Fasern nicht aufzufinden sind, sowie dass sich \u00fcberhaupt ihre Faserverbindungen relativ sp\u00e4t entwickeln. Zu dieser Art von Centren geh\u00f6rt namentlich auch die Rinde des Stirnhirns, die sich am menschlichen Gehirn durch eine besonders starke Entwicklung auszeichnet. Auf die mehrfach gemachte Beobachtung, dass die Zerst\u00f6rung dieses Hirntheils bald auffallende Unf\u00e4higkeit zu anhaltender Aufmerksamkeit oder auch sonstige, m\u00f6glicher Weise hierauf zur\u00fcckzuf\u00fchrende intellectuelle Defecte zur Folge hat, st\u00fctzt sich die Hypothese, es sei dies Gebiet als Centrum f\u00fcr die unten zu er\u00f6rternden Functionen der Apperception (4) sowie f\u00fcr alle diejenigen Bestandtheile Wundt, Psychologie.\ti\u00df","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nder psychischen Erfahrung anzusehen, in denen, wie in den Gef\u00fchlen, der einheitliche Zusammenhang des Seelenlebens seinen Ausdruck findet. (Vgl. oben S. 104 f.) Diese Hypothese bedarf aber noch einer zuverl\u00e4ssigeren St\u00fctze durch die Erfahrung, als sie bis jetzt vorhanden ist. Freilich kann auch in Beobachtungen, bei denen, im Widerspruch mit den oben erw\u00e4hnten, partielle Verletzungen des Stirnhirns ohne merkliche St\u00f6rungen der Intelligenz ertragen wurden, ein Gegenbeweis gegen jene hypothetische Function keineswegs gesehen werden. Denn viele Erfahrungen lehren, dass gerade in den h\u00f6heren Centraltheilen, wahrscheinlich wegen der Vielseitigkeit der Faserverbindungen und der mannigfaltigen Formen, in denen daher verschiedene Elemente vicariirend f\u00fcr einander eintreten, local beschr\u00e4nkte Eingriffe v\u00f6llig symptoinlos verlaufen k\u00f6nnen. Nat\u00fcrlich ist \u00fcbrigens in allen diesen F\u00e4llen der Ausdruck \u00bbCentrum\u00ab \u00fcberall in dem Sinne zu verstehen, der durch das allgemeine Verh\u00e4ltniss der psychischen zu den physischen Functionen geboten ist, d. h. in dem Sinne eines den verschiedenen Gesichtspunkten der naturwissenschaftlichen und der psychologischen Betrachtung entsprechenden Parallelismus psychischer und physischer Elementarvorg\u00e4nge. (Vgl. \u00a71,2 und \u00a7 22, 9.)\n3. Jener Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge, in dem f\u00fcr uns der Begriff des Bewusstseins besteht, ist theils ein simultaner theils ein successive!'. Simultan ist uns in jedem Moment die Summe der augenblicklichen Vorg\u00e4nge als ein Ganzes gegeben, dessen Theile fester oder loser mit einander verbunden sind. Successiv aber geht entweder der in einem n\u00e4chsten Moment gegebene Zustand aus dem in dem unmittelbar vorausgehenden Moment vorhandenen continuirlich hervor, indem gewisse Vorg\u00e4nge verschwinden, andere in ihrem Verlauf andauern und noch andere beginnen, oder es treten, wenn Zust\u00e4nde der Bewusstlosigkeit dazwischen liegen, die neu entstehenden Vorg\u00e4nge zu solchen in Beziehung, die fr\u00fcher vorhanden gewesen waren. In allen diesen F\u00e4llen ist zugleich der Umfang der einzelnen Ver-","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\t243\nbindungen, die zwischen vorangegangenen und nachfolgenden Processen bestehen, bestimmend f\u00fcr den Zustand des Bewusstseins. Wie das Bewusstsein in Bewusstlosigkeit \u00fcbergeht, wenn dieser Zusammenhang ganz unterbrochen wird, so ist es ein unvollkommeneres, wenn nur schwache Verbindungen zwischen einem gegebenen Moment und den ihm vorausgehenden Vorg\u00e4ngen existiren. So beginnt namentlich nach Zust\u00e4nden der Bewusstlosigkeit das Bewusstsein in der Begel nur langsam seine normale H\u00f6he zu erreichen, indem allm\u00e4hlich wieder Ankn\u00fcpfungen an fr\u00fchere Erlebnisse entstehen.\nHiernach unterscheiden wir \u00fcberhaupt Grade des Bewusstseins. Die untere Grenze, der Nullpunkt dieser Grade, ist die Bewusstlosigkeit. Von ihr, die als ein absoluter Mangel aller psychischen Zusammenh\u00e4nge dem Bewusstsein gegen\u00fcbersteht, ist wesentlich zu unterscheiden das Unbewusstwerden einzelner psychischer Inhalte. Dieses findet bei dem stetigen Fluss des psychischen Geschehens fortw\u00e4hrend statt, indem nicht nur complexe Vorstellungen und Gef\u00fchle, sondern auch einzelne Elemente dieser Gebilde verschwinden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend neue an ihre Stelle treten. In diesem fortw\u00e4hrenden Bewusst- und Unbewusstwerden einzelner elementarer und zusammengesetzter Processe besteht eben jener successive Zusammenhang des Bewusstseins, der an und f\u00fcr sich diesen Wechsel als seine Bedingung voraussetzt. Irgend ein aus dem Bewusstsein verschwundenes psychisches Element wird aber insofern von uns als ein unbewusst gewordenes bezeichnet, als wir dabei die M\u00f6glichkeit seiner Erneuerung, d. h. seines Wiedereintritts in den actuellen Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge, voraussetzen. Auf mehr als auf diese M\u00f6glichkeit der Erneuerung bezieht sich unsere Kenntniss der unbewusst gewordenen Elemente nicht. Sie bilden daher im psycho-\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nlogischen Sinne lediglich Anlagen oder Dispositionen zur Entstehung k\u00fcnftiger Bestandtheile des psychischen Geschehens, die an fr\u00fcher vorhanden gewesene ankn\u00fcpfen. Annahmen \u00fcber den Zustand des \u00bbUnbewussten\u00ab oder \u00fcber irgend welche \u00bbunbewusste Vorg\u00e4nge\u00ab, die man neben den uns in der Erfahrung gegebenen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen voraussetzt, sind daher f\u00fcr die Psychologie durchaus unfruchtbar; wohl aber gibt es physische Begleiterscheinungen jener psychischen Dispositionen, die sich theils direct nach-weisen theils aus manchen Erfahrungen erschlie\u00dfen lassen. Diese psychischen Begleiterscheinungen bestehen in den Wirkungen, welche die Uebung in allen Organen und namentlich in den nerv\u00f6sen Organen hervorbringt. Als Wirkung der Uebung beobachten wir n\u00e4mlich im allgemeinen eine Erleichterung der Function, welche die Wiedererneuerung derselben beg\u00fcnstigt. Dabei wissen wir freilich auch hier noch nichts n\u00e4heres \u00fcber die Ver\u00e4nderungen, die in der vorhandenen Structur der Nervenelemente durch die Uebuno-\nO\nbewirkt werden; doch lassen sich immerhin diese Ver\u00e4nderungen durch nahe liegende mechanische Analogien, wie z. B. durch die Verminderung der Reibungswiderst\u00e4nde in Folge der Schleifung zweier Fl\u00e4chen an einander, verdeutlichen.\n4. Schon bei der Bildung der zeitlichen Vorstellungen (S. 182) wurde erw\u00e4hnt, dass aus einer Reihe auf einander folgender Vorstellungen in jedem Augenblick die unmittelbar gegenw\u00e4rtige in unserer Auffassung bevorzugt ist. Aehn-lich sind nun auch in dem simultanen Zusammenhang des Bewusstseins, z. B. in einem Zusammenklang von T\u00f6nen, in einem Nebeneinander r\u00e4umlicher Objecte, einzelne Inhalte bevorzugt. In beiden F\u00e4llen bezeichnen wir diese Unterschiede der Auffassung als solche der Klarheit und Deutlichkeit, wobei wir unter der ersten die relativ g\u00fcnstigere","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\t245\nAuffassung des Inhalts selbst, unter der zweiten die in der Regel damit verbundene bestimmtere Abgrenzung gegen\u00fcber andern psychischen Inhalten verstehen. Den durch eigen-th\u00fcmliche Gef\u00fchle charakterisirten Zustand, der die klarere Auffassung eines psychischen Inhalts begleitet, nennen wir die Aufmerksamkeit, den einzelnen Vorgang, durch den irgend ein psychischer Inhalt zu klarer Auffassung gebracht wird, die Apperception. Dieser stellen wir die sonstige, ohne den begleitenden Zustand der Aufmerksamkeit vorhandene Auffassung von Inhalten als die Perception gegen\u00fcber. Die Inhalte, denen die Aufmerksamkeit zugewandt ist, bezeichnen wir, nach Analogie des \u00e4u\u00dferen optischen Blickpunktes, als den Blickpunkt des Bewusstseins oder den inneren Blickpunkt, die Gesammtheit der in einem gegebenen Moment vorhandenen Inhalte dagegen als das Blickfeld des Bewusstseins oder das innere Blickfeld. Der Uebergang irgend eines psychischen Vorgangs in den unbewussten Zustand endlich wird das Sinken unter die Schwelle des Bewusstseins, das Entstehen irgend eines Vorganges die Erhebung \u00fcber die Schwelle des Bewusstseins genannt. Nat\u00fcrlich sind alles dies bildliche Ausdr\u00fccke, die nicht w\u00f6rtlich genommen werden d\u00fcrfen. Ihre Anwendung empfiehlt sich aber wegen der anschaulichen K\u00fcrze, die sie bei der Schilderung der Bewusstseinsvorg\u00e4nge gestatten.\n5. Sucht man sich nun unter Zuh\u00fclfenahme der erw\u00e4hnten bildlichen Bezeichnungen den Wechsel der psychischen Gebilde in ihrem Zusammenhang zu vergegenw\u00e4rtigen, so stellt sich dieser als ein fortw\u00e4hrendes Gehen und Kommen dar, bei dem irgend welche Gebilde zun\u00e4chst in das innere Blickfeld, dann aus diesem in den inneren Blickpunkt eintreten, um hierauf wieder, bevor sie ganz verschwinden, in jenes zur\u00fcckzukehren. Neben diesem Wechsel","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nder zur Apperception gelangenden Gebilde besteht aber au\u00dferdem ein Kommen und Gehen solcher, die blo\u00df per-cipirt werden, also in das Blickfeld ein- und aus ihm wieder austreten, ohne in den Blickpunkt zu gelangen. Hierbei k\u00f6nnen nun sowohl den appercipirten wie den percipirten Gebilden noch verschiedene Grade der Klarheit zukommen. Bei den ersteren macht sich dies darin geltend, dass die Klarheit und Deutlichkeit der Apperception \u00fcberhaupt je nach dem Zustand des Bewusstseins eine wechselnde ist. Dies l\u00e4sst sich z. B. leicht best\u00e4tigen, wenn man einen und denselben Eindruck mehrmals nach einander appercipirt: es pflegen dann, falls nur die sonstigen Bedingungen unver\u00e4ndert bleiben, die folgenden Apperception en klarer und deutlicher zu werden. Die verschiedenen Klarheitsgrade der blo\u00df percipirten Gebilde beobachtet man am leichtesten bei der Einwirkung zusammengesetzter Eindr\u00fccke. Man findet dann, namentlich wenn die Eindr\u00fccke blo\u00df momentan eingewirkt haben, dass auch unter den an und f\u00fcr sich dunkler gebliebenen Bestandtheilen noch verschiedene Abstufungen stattfinden, indem einzelne mehr, andere weniger \u00fcber die Schwelle des Bewusstseins gehoben zu sein scheinen.\n6. Nat\u00fcrlich lassen sich diese Verh\u00e4ltnisse nicht durch zuf\u00e4llige innere Wahrnehmungen, sondern nur durch planm\u00e4\u00dfig geleitete experimentelle Beobachtungen feststellen. Man benutzt dabei zweckm\u00e4\u00dfig als zu beobachtende Bewusstseinsinhalte Vorstellungsgebilde, weil sich diese leicht jederzeit durch \u00e4u\u00dfere Einwirkungen hervorbringen lassen. Nun befindet sich bei einer zeitlichen Vorstellung, wie schon in \u00a7 11 (S. 183) bemerkt, regelm\u00e4\u00dfig der dem gegenw\u00e4rtigen Moment angeh\u00f6rende Bestandtlieil im Blickpunkt des Bewusstseins. Von den vorausgegangenen Bestandtheilen geh\u00f6ren die vor k\u00fcrzerer Zeit dagewesenen Eindr\u00fccke noch dem Blickfeld an, w\u00e4hrend die vor l\u00e4ngerer Zeit vor\u00fcber-","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\n247\ngegangenen aus dem Bewusstsein verschwunden sind. Eine r\u00e4umliche Vorstellung dagegen kann, wenn sie nur ein beschr\u00e4nktes extensives Ganzes bildet, in ihrem vollen Umfange in einem einzigen Moment appercipirt werden. Ist sie zusammengesetzter, so m\u00fcssen aber auch ihre Theile successiv den inneren Blickpunkt durchwandern, wenn sie vollst\u00e4ndig zu einer klaren Auffassung gelangen soll. Hieraus ergibt sich von selbst, dass zusammengesetzte r\u00e4umliche Vorstellungen (namentlich momentane Gesichtseindr\u00fccke) sich vorzugsweise dazu eignen, um ein Ma\u00df f\u00fcr die Menge der in einem einzigen Acte appercipirten Inhalte oder f\u00fcr den Umfang der Aufmerksamkeit zu gewinnen, w\u00e4hrend zusammengestezte zeitliche Vorstellungen (z. B. rhythmische Geh\u00f6rseindr\u00fccke, Taktschl\u00e4ge) benutzt werden k\u00f6nnen, um die Menge der in einem gegebenen Momente im Bewusstsein \u00fcberhaupt vereinigten Inhalte oder den Umfang des Bewusstseins zu messen. Die auf solche Weise ausgef\u00fchrten Versuche ergeben je nach den besonderen Bedingungen f\u00fcr den Umfang der Aufmerksamkeit einen Spielraum zwischen 6 und 12, f\u00fcr den Umfang des Bewusstseins einen solchen zwischen 16 und 40 einfachen Eindr\u00fccken. Dabei gelten die kleineren Zahlen f\u00fcr solche Eindr\u00fccke, die keine oder relativ sehr beschr\u00e4nkte Vorstellungsverbindungen bilden, die gr\u00f6\u00dferen f\u00fcr solche, in denen die Elemente zu m\u00f6glichst zusammengesetzten Vorstellungen combinirt werden.\n6a. Die erste dieser Bestimmungen, die des Umfangs der Aufmerksamkeit, l\u00e4sst sich am sichersten mit H\u00fclfe r\u00e4umlicher Gesichtseindr\u00fccke ausf\u00fchren, weil sich hier entweder mittelst momentaner Erleuchtung durch den elektrischen Funken oder durch das Herabfallen eines mit einer Oeffnung versehenen Schirmes vor den Gesichtsobjecten leicht die Bedingung hersteilen l\u00e4sst, dass die Eindr\u00fccke ann\u00e4hernd momentan einwirken, und","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\ndass sie s\u00e4mmtlich auf die Stelle des deutlichsten Sehens fallen, die physiologischen Bedingungen also die Apperception einer gr\u00f6\u00dferen Anzahl von Eindr\u00fccken, als sie verm\u00f6ge des begrenzten Umfangs der Aufmerksamkeit m\u00f6glich ist, nicht hindern w\u00fcrden. Dem Auge muss zu diesem Zweck vor der momentanen Erleuchtung ein Fixationspunkt in der Mitte der die Eindr\u00fccke enthaltenden Fl\u00e4che gegeben werden. Man kann dann unmittelbar nach der Ausf\u00fchrung des Versuchs constatiren, dass, wenn die Einrichtungen in der geeigneten Weise getroffen sind, der Umfang der im physiologischen Sinne deutlich gesehenen Objecte gr\u00f6\u00dfer gewesen ist als der Umfang der Aufmerksamkeit. Man kann n\u00e4mlich, wenn z. B. der momentane Eindruck aus Buchstaben bestand, einzelne der im Moment der Erleuchtung nur undeutlich aufgefassten Buchstaben nachtr\u00e4glich lesen, indem man sich ein Erinnerungsbild des Eindrucks zur\u00fcckruft. Da dieses Erinnerungsbild zeitlich scharf getrennt ist von dem Eindruck selbst, so wird aber dadurch die Bestimmung des Umfangs der Aufmerksamkeit selbst nicht gest\u00f6rt; vielmehr ist es bei sorgf\u00e4ltiger subjec-tiver Beobachtung leicht m\u00f6glich, den Zustand des Bewusstseins im Moment des Eindrucks zu fixiren und von solchen nachfolgenden Erinnerungsacten zu unterscheiden, die stets durch merkliche Zwischenzeiten getrennt sind. Die auf diese Weise ausgef\u00fchrten Versuche lehren, dass der Umfang der Aufmerksamkeit keine constante Gr\u00f6\u00dfe ist, sondern dass er, auch wenn die Spannung der Aufmerksamkeit ann\u00e4hernd die n\u00e4mliche maximale Gr\u00f6\u00dfe hat, theils von der einfachen oder zusammengesetzten Beschaffenheit der Eindr\u00fccke, theils von ihrer Gel\u00e4ufigkeit abh\u00e4ngt. Die einfachsten r\u00e4umlichen Eindr\u00fccke sind Punkte von beliebiger Vertheilung: von ihnen k\u00f6nnen im Maximum 6 auf einmal appercipirt werden. Von etwas zusammengesetzteren Eindr\u00fccken von bekannter Beschaffenheit, wie einfachen Linien, Ziffern, Buchstaben, werden in der Kegel nur 3 \u2014 4, unter g\u00fcnstigsten Bedingungen 5 simultan appercipirt. F\u00fcr den Tastsinn scheint dieselbe Grenze zu gelten mit dem Unterschied, dass bei ihm nur die einfachsten dieser Eindr\u00fccke, die Punkte, g\u00fcnstigen Falls in der Sechszahl momentan zusammengefasst werden k\u00f6nnen. Bei gel\u00e4ufigen Eindr\u00fccken von verwinkelterer Beschaffenheit sinkt auch beim Gesichtssinn die Anzahl der Vorstellungen, w\u00e4hrend dagegen die der einzelnen Elemente bedeutend zunimmt. So","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\t249\nk\u00f6nnen von gel\u00e4ufigen einsilbigen W\u00f6rtern noch 2 oder selbst 3 appercipirt werden, was einer Anzahl von 10 bis 12 einzelnen Buchstaben entspricht. Unter allen Umst\u00e4nden ist demnach die von Manchen ausgesprochene Behauptung unrichtig, dass sich unsere Aufmerksamkeit in einem gegebenen Moment nur auf eine Vorstellung richte.\nNicht minder widerlegen diese Beobachtungen die zuweilen gehegte Annahme, dass die Aufmerksamkeit stetig und mit sehr gro\u00dfer Geschwindigkeit eine Menge einzelner Vorstellungen durchlaufen k\u00f6nne. Versucht man n\u00e4mlich bei dem obigen Experiment das momentan nach geschehenem Eindruck deutlich wahrgenommene Bild mittelst der Erinnerung zu erg\u00e4nzen, so zeigt es sich, dass man einer sehr merklichen Zeit bedarf, um sich einen im ersten Augenblick nicht appercipirten Eindruck klar zu vergegenw\u00e4rtigen, und dass bei diesem Vorgang stets zugleich das zuerst appercipirte Bild der Aufmerksamkeit entschwindet. Demnach ist die successive Bewegung der Aufmerksamkeit \u00fcber eine Vielheit psychischer Inhalte stets ein discontinuirlicher Vorgang, der aus einer Mehrzahl auf einander folgender gesonderter Apperceptionsacte besteht. Diese Discontinuit\u00e4t ist daraus erkl\u00e4rlich, dass sich jede einzelne Apperception aus einer Periode wachsender und einer solchen abnehmender Spannung zusammensetzt. Die zwischen beiden liegende maximale Spannung kann in ihrer zeitlichen Dauer betr\u00e4chtlich variiren: entweder ist sie, wie bei momentanen und rasch wechselnden Eindr\u00fccken, sehr kurz, oder, bei einseitiger Richtung auf bestimmte Objecte, l\u00e4nger dauernd. Selbst bei der Richtung der Aufmerksamkeit auf Objecte von constanter Beschaffenheit ist jedoch eine zeitweilige Unterbrechung durch Perioden der abwechselnden Entspannung und Wiederanspannung unerl\u00e4sslich. Dies kann man schon bei den gew\u00f6hnlichen Functionen der Aufmerksamkeit leicht beobachten. N\u00e4here Aufschl\u00fcsse gew\u00e4hrt aber auch hier die experimentelle Beobachtung. L\u00e4sst man n\u00e4mlich, w\u00e4hrend alle sonstigen Sinnesreize m\u00f6glichst ferngehalten werden, einen schwachen, continuirlich andauernden Eindruck, auf den zugleich die Aufmerksamkeit gerichtet wird, auf ein Sinnesorgan einwirken, so beobachtet man, dass der Eindruck in gewissen, meist unregelm\u00e4\u00dfigen Intervallen, die bei sehr schwachen Eindr\u00fccken schon nach 3\u20146\", bei etwas st\u00e4rkeren erst nach 18\u201424'' eintreten, f\u00fcr eine kurze","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nZeit undeutlicher wird oder ganz zu verschwinden scheint, um dann wieder hervorzutreten. Diese Schwankungen sind von Intensit\u00e4tsschwankungen des Eindrucks ohne weiteres zu unterscheiden, wovon man sich leicht \u00fcberzeugt, wenn man in einer Versuchsreihe absichtlich den Eindruck objectiv abschw\u00e4cht oder unterbricht. Hierbei beobachtet man zugleich, dass es wesentlich zwei Merkmale sind, welche jene subjectiven Ver\u00e4nderungen gegen\u00fcber den objectiv verursachten kennzeichnen: erstens hat man, so lange der Eindruck blo\u00df abwechselnd in das dunklere Blickfeld des Bewusstseins zur\u00fcck- und dann wieder aus ihm in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit eintritt, immer die Vorstellung seiner Fortdauer, \u00e4hnlich wie man ja auch bei dem Versuch mit momentanen Eindr\u00fccken von den nicht appercipirten Bestandteilen des Eindrucks eine unbestimmte und dunkle Vorstellung hat; und zweitens sind jene Schwankungen der Aufmerksamkeit au\u00dfer von der Zu- und Abnahme der Klarheit der Eindr\u00fccke immer von charakteristischen Gef\u00fchlen und Empfindungen begleitet, die bei den objectiven Ver\u00e4nderungen v\u00f6llig fehlen. Die Gef\u00fchle bestehen in den nachher zu schildernden Gef\u00fchlen der Erwartung und der Th\u00e4tigkeit, die regelm\u00e4\u00dfig mit der Spannung der Aufmerksamkeit zu- und mit ihrer Entspannung wieder abnehmen; die Empfindungen geh\u00f6ren dem Sinnesorgan des Eindruckes an oder strahlen wenigstens von demselben aus, bestehen also in Spannungsempfindungen des Trommelfells, der Accommodation und Convergenz u. s. w. Diese doppelte Reihe von Merkmalen scheidet \u00fcberhaupt die Begriffe der Klarheit und Deutlichkeit der psychischen Inhalte von der Empfindungsintensit\u00e4t derselben. Ein starker Eindruck kann dunkel und ein schwacher kann klar bewusst sein. Nur insofern existirt eine causale Beziehung zwischen diesen an und f\u00fcr sich verschiedenen Begriffen, als sich von Eindr\u00fccken verschiedener Intensit\u00e4t im allgemeinen der st\u00e4rkere mehr zur Apperception dr\u00e4ngt. Ob er wirklich deutlicher appercipirt wird, dies h\u00e4ngt aber au\u00dferdem immer noch von den sonst stattfindenden Bedingungen ab. Aehnlich verh\u00e4lt es sich mit der Bevorzugung, die bei der Einwirkung von Gesichtseindr\u00fccken den auf die Stelle des deutlichsten Sehens fallenden zu Theil wird. In der Regel sind die fixirten Gegenst\u00e4nde zugleich die appercipirten. Aber bei den oben beschriebenen Versuchen mit momentanen Eindr\u00fccken l\u00e4sst","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a715. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\n251\nsich nachweisen, dass auch dieser Zusammenhang gel\u00f6st werden kann. Dies geschieht, sobald man willk\u00fcrlich auf einen in den Seitentheilen des Sehfeldes gelegenen Punkt die Aufmerksamkeit richtet: dann wird das undeutlich gesehene Object zu einem deutlich vorgestellten.\n6 b. Aehnlich wie momentane r\u00e4umliche Eindr\u00fccke zur Bestimmung des Umfangs der Aufmerksamkeit, so k\u00f6nnen zeitlich auf einander folgende benutzt werden, um ein Ma\u00df f\u00fcr den Umfang des Bewusstseins zu gewinnen. Hierbei geht man von der Voraussetzung aus, dass eine Succession von Eindr\u00fccken nur dann zu einem Vorstellungsganzen vereinigt werden kann, wenn jene wenigstens w\u00e4hrend eines Moments s\u00e4mmtlich gleichzeitig im Bewusstsein sind. L\u00e4sst man z. B. eine Reihe von Taktschl\u00e4gen einwirken, so befinden sich offenbar, w\u00e4hrend der gegenw\u00e4rtige Schall appercipirt wird, die unmittelbar vorangegangenen noch im Blickfeld des Bewusstseins; ihre Klarheit nimmt aber um so mehr ab, je weiter sie zeitlich von dem momentan appercipirten Eindruck entfernt sind, und von einer gewissen Grenze an werden die weiter zur\u00fcckliegenden Eindr\u00fccke ganz aus dem Bewusstsein verschwunden sein. Gelingt es nun diese Grenze zu bestimmen, so ist damit auch ein unmittelbares Ma\u00df f\u00fcr den Umfang des Bewusstseins unter den bei dem Versuch obwaltenden Bedingungen gefunden. Als H\u00fclfsmittel f\u00fcr die Bestimmung jener Grenze dient hierbei die E\u00e4higkeit der Vergleichung unmittelbar auf einander folgender zeitlicher Vorstellungen. Sobald n\u00e4mlich eine solche Vorstellung als ein einheitliches Ganzes in unserm Bewusstsein vorhanden ist, so k\u00f6nnen wir auch eine auf sie folgende Vorstellung mit ihr vergleichen und demnach entscheiden, ob sie ihr gleich ist oder nicht, w\u00e4hrend dagegen eine derartige Vergleichung absolut nicht mehr m\u00f6glich wird, wenn die vorausgegangene zeitliche Reihe keinen zusammenh\u00e4ngenden Bewusstseinsinhalt bildet, weil ein Theil ihrer Glieder schon in den unbewussten Zustand \u00fcbergegangen war, ehe ihr Endglied erreicht wurde. Demnach hat man nur n\u00f6thig zwei auf einander folgende Taktreihen, wie sie z. B. durch Metronomschl\u00e4ge hergestellt werden k\u00f6nnen, dadurch zu begrenzen, dass man den Anfang einer jeden Reihe durch ein Signal, z. B. durch einen Klingelschlag, kennzeichnet. So lange jede Reihe ein im","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252 UI. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nBewusstsein zusammenzufassendes Ganzes bildet, so l\u00e4sst sich auf Gi'und des unmittelbaren Eindrucks und nat\u00fcrlich bei strenger Vermeidung des Z\u00e4hlens der Takte entscheiden, ob die zweite der ersten Reihe gleich ist oder nicht. Hierbei bemerkt man zugleich, dass der Eindruck der Gleichheit vermittelst der fr\u00fcher (S. 183) erw\u00e4hnten Gef\u00fchlselemente der zeitlichen Vorstellungen zu st\u00e4nde kommt, indem jedem Taktschlag der zweiten Reihe ein dem analogen Taktschlag der ersten entsprechendes Erwartungsgef\u00fchl vorausgeht, so dass jedes Glied mehr oder weniger eine St\u00f6rung dieser Erwartung mit begleitendem Gef\u00fchl der Entt\u00e4uschung hervorruft. Hieraus geht hervor, dass nicht etwa beide auf einander folgende Reihen im Bewusstsein anwesend sein m\u00fcssen, damit sie verglichen werden k\u00f6nnen, sondern dass hierzu nur die Zusammenfassung der Eindr\u00fccke je einer Reihe in ein Vorstellungsganzes erforderlich ist. Die relativ feste Begrenzung, die in dieser Beziehung der Umfang des Bewusstseins besitzt, verr\u00e4th sich aber deutlich darin, dass die Identit\u00e4t zweier zeitlicher Vorstellungen, so lange diese die unter den vorhandenen Bedingungen bestehende Grenze nicht erreichen, in allen F\u00e4llen sicher erkannt wird, wogegen mit dem Uebers ehr eiten jener Grenze das Urtheil absolut unsicher wird. Dabei zeigt sich zugleich das Ma\u00df des Umfangs, das man gewinnt, wieder bei constant bleibendem Zustand der Aufmerksamkeit theils von der Geschwindigkeit der auf einander folgenden zeitlichen Eindr\u00fccke theils von der mehr oder minder vollkommenen rhythmischen Verbindung derselben abh\u00e4ngig. Bei einer unteren Grenze der Geschwindigkeit, die etwa bei 4\" erreicht wird, ist es \u00fcberhaupt nicht mehr m\u00f6glich auf einander folgende Eindr\u00fccke zu einer zeitlichen Vorstellung zu verbinden: wenn der neue Eindruck kommt, ist der vorangegangene schon aus dem Bewusstsein verschwunden. Bei einer oberen Grenze, von etwa 0,18\" an, wird die Bildung deutlich abgegrenzter zeitlicher Vorstellungen unm\u00f6glich, weil die Aufmerksamkeit nicht mehr den Eindr\u00fccken folgen kann. Die g\u00fcnstigste Geschwindigkeit liegt bei einer mittleren Taktfolge von 0,2\u20140,3\". Bei ihr werden, wenn die einfachste, bei ungezwungener Auffassung gew\u00f6hnlich von selbst entstehende rhythmische Gliederung des 2/s Taktes stattfindet, 8 Doppeleindr\u00fccke oder IG Einzeleindr\u00fccke noch eben zusammengefasst. F\u00fcr die Aufnahme m\u00f6glichst vieler Einzeleindr\u00fccke im Bewusstsein er-","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\n253\nweist sieh der i/i Takt mit der st\u00e4rksten Betonung auf dem ersten, der mittleren auf dem f\u00fcnften Taktschlag, als der g\u00fcnstigste: hei ihm k\u00f6nnen im Maximum 5 Takte oder 40 Einzel-eindriicke zusammengehalten werden. Vergleicht man diese Zahlen mit den f\u00fcr den Umfang der Aufmerksamkeit gewonnenen, und setzt man die einfachen und die zusammengesetzten zeitlichen Eindr\u00fccke den entsprechenden r\u00e4umlichen gleich, so w\u00fcrde der Umfang des Bewusstseins den der Aufmerksamkeit ungef\u00e4hr um das vierfache \u00fcbertreffen.\n7. Mit jenen Eigenschaften der Bewusstseinsinhalte, die wir ihnen selbst und ihrem wechselseitigen Verh\u00e4ltnisse zuschreiben, indem wir sie als die Grade ihrer Klarheit und Deutlichkeit bezeichnen, sind nun regelm\u00e4\u00dfig noch andere verbunden, die von uns unmittelbar als begleitende Vorg\u00e4nge aufgefasst werden. Sie bestehen theils in Gef\u00fchlsvorg\u00e4ngen, die f\u00fcr bestimmte Verlaufsformen der Perception und Apperception kennzeichnend sind, theils in etwas variableren Empfindungen. Insbesondere ist es die Art des Eintritts psychischer Inhalte in das Blickfeld und in den Blickpunkt des Bewusstseins, die je nach den verschiedenen Bedingungen, die dabei stattfinden k\u00f6nnen, ein verschiedenes Verhalten darbietet. Erhebt sich irgend ein psychischer Vorgang \u00fcber die Schwelle des Bewusstseins, so pflegen die Gef\u00fchlselemente desselben, sobald sie die hinreichende St\u00e4rke besitzen, zun\u00e4chst merkbar zu werden, so dass sie sich bereits energisch in den Blickpunkt des Bewusstseins dr\u00e4ngen, ehe noch von den Vorstellungselementen irgend etwas wahrgenommen wird. Dies kann sowohl bei der Einwirkung neuer Eindr\u00fccke wie bei dem Wiederaiiftauchen fr\u00fcherer Vorg\u00e4nge stattfinden. Es entstehen so jene eigen-th\u00fcmlichen Stimmungen, von deren Ursachen wir uns nicht deutliche Rechenschaft geben, und die bald den Charakter der Lust oder Unlust, bald vorzugsweise den der Spannung an sich tragen. Im letzteren Fall wird dann der pl\u00f6tzliche","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nEintritt der zu dem Gef\u00fchl geh\u00f6rigen Vorstellungselemente in den Umfang der Aufmerksamkeit von Gef\u00fchlen der L\u00f6sung oder Erf\u00fcllung begleitet. Auch bei dem Besinnen auf eine entschwundene Sache kann die n\u00e4mliche Gem\u00fcthslage sich einstellen: h\u00e4ufig ist dabei neben dem regelm\u00e4\u00dfig vorhandenen Spannungsgef\u00fchl der specielle Gef\u00fchlston der vergessenen Vorstellung schon lebhaft gegenw\u00e4rtig, w\u00e4hrend sie selbst noch im dunkeln Hintergrund des Bewusstseins weilt. Aehnlich gehen, wie wir unten (in \u00a7 16) sehen werden, bei dem Erkennungs- und dem Wiedererkennungsact der deutlichen Auffassung der Vorstellungen stets eigen-th\u00fcmliche Gef\u00fchle voraus. Experimentell l\u00e4sst sich eine \u00e4hnliche Gem\u00fcthslage bei Versuchen mit momentaner Erleuchtung des Sehfeldes hersteilen, wenn man Eindr\u00fccke mit m\u00f6glichst starker Gef\u00fchlsbetonung im indirecten Sehen einwirken l\u00e4sst. Alle diese Erfahrungen scheinen darauf hinzuweisen, dass jeder Inhalt des Bewusstseins eine Wirkung auf die Aufmerksamkeit aus\u00fcbt, daher er sich dieser theils durch seine eigene Gef\u00fchlsf\u00e4rbung, theils durch die regelm\u00e4\u00dfig mit den Functionen der Aufmerksamkeit verbundenen Gef\u00fchle verr\u00e4th. Die gesammte R\u00fcckwirkung dieser dunkel bewussten Inhalte auf die Aufmerksamkeit verschmilzt dann aber, gem\u00e4\u00df den allgemeinen Gesetzen der Verbindung der Gef\u00fchlscomponenten (S. \\ 88), mit den an die klar bewussten Inhalte gebundenen Gef\u00fchlen zu einem einzigen Totalgef\u00fchl.\n8. Tritt irgend ein psychischer Inhalt in den Blickpunkt des Bewusstseins ein, so kommen nun zu den bisher geschilderten neue und eigentli\u00fcmliche Gef\u00fchlsprocesse hinzu, die sich nach den Bedingungen des Eintritts wieder verschieden gestalten k\u00f6nnen. Diese Bedingungen k\u00f6nnen n\u00e4mlich nach zwei Verlaufstypen auseinandergellen, die zum gro\u00dfen Theil mit den oben erw\u00e4hnten vorbereitenden","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\n255\nGef\u00fchlswirkungen der noch nicht appercipirten Inhalte Zusammenh\u00e4ngen.\nErstens: Der neue Inhalt dr\u00e4ngt sich pl\u00f6tzlich und ohne vorbereitende Gef\u00fchlswirkung der Aufmerksamkeit auf; wir bezeichnen diesen Verlaufstypus als den der passiven Apperception. W\u00e4hrend sich der Inhalt nach seinen Vor-stellungs- wie Gef\u00fchlselementen zu gr\u00f6\u00dferer Klarheit erhebt, verbindet sich hier zun\u00e4chst mit ihm ein Gef\u00fchl des Erleidens, das, der Richtung der deprimirenden Gef\u00fchle angeh\u00f6rend, im allgemeinen um so st\u00e4rker ist, je intensiver der psychische Vorgang, und je gr\u00f6\u00dfer die Geschwindigkeit seines Eintritts ist; dieses Gef\u00fchl sinkt dann aber rasch wieder, um in das entgegengesetzte, excitirende Gef\u00fchl der Th\u00e4tigkeit \u00fcberzugehen. Mit beiden Gef\u00fchlen sind zugleich charakteristische Empfindungen in den Muskelapparaten des Sinnesgebietes verbunden, dem die Vorstel-lungsbestandtheile des Vorganges angeh\u00f6ren: das Gef\u00fchl des Erleidens pflegt n\u00e4mlich von einer meist rasch vor\u00fcbergehenden Erschlaffungs-, das der Th\u00e4tigkeit von einer darauf folgenden Spannungsempfindung begleitet zu sein.\nZweitens: Der neue Inhalt wird durch die oben (7) erw\u00e4hnten Gef\u00fchlswirkungen vorbereitet, und es ist in Folge dessen schon vor dem Eintritt desselben die Aufmerksamkeit auf ihn gespannt; wir bezeichnen diesen Verlaufstypus als den der activen Apperception. Hier geht der Auffassung des Inhalts bald nur w\u00e4hrend sehr kurzer, bald aber auch w\u00e4hrend l\u00e4ngerer Zeit ein Gef\u00fchl der Erwartung voran, das im allgemeinen der Richtung der spannenden und zuweilen zugleich derjenigen der erregenden Gef\u00fchle angeh\u00f6rt, w\u00e4hrend au\u00dferdem von den Vorstellungselementen her Lust- oder Unlustgef\u00fchle hinzutreten k\u00f6nnen. Dieses Gef\u00fchl der Erwartung pflegt ferner mit ziemlich intensiven Spannungsempfindungen in den zugeh\u00f6rigen","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nMuskelgebieten verbunden zu sein. Im Moment des Eintritts wird dasselbe abgel\u00f6st durch das meist nur sehr kurzdauernde Gef\u00fchl der Erf\u00fcllung, das stets den Charakter eines l\u00f6senden Gef\u00fchls besitzt, sonst aber je nach Umst\u00e4nden deprimirender oder excitirender Art und mit Lustoder Unlustgef\u00fchlen verbunden sein kann. An dieses Gef\u00fchl der Erf\u00fcllung schlie\u00dft sich dann sofort das n\u00e4mliche Gef\u00fchl der Th\u00e4tigkeit an, dass den Abschluss der passiven Apperception begleitet, und das wiederum mit einem Anwachsen der Spannungsempfindungen verbunden ist.\n8a. Die experimentelle Beobachtung dieser verschiedenen Verlaufsformen geschieht am zweckm\u00e4\u00dfigsten mit H\u00fclfe der in \u00a7 14, 11 ff. geschilderten Reactionsversuche, wo man mittelst der Benutzung unerwarteter Eindr\u00fccke den Typus der passiven, bei der Reaction auf erwartete Eindr\u00fccke aber den der activen Apperception herzustellen vermag. Dabei l\u00e4sst sich dann aber zugleich beobachten, dass zwischen diesen typischen Unterschieden Ueber-g\u00e4nge stehen, indem entweder die passive der activen Form durch schwache Ausbildung des ersten Stadiums, oder die active der passiven dadurch sich n\u00e4hern kann, dass bei einer pl\u00f6tzlichen Entspannung der Erwartung der darairf folgende Gegensatz des Erf\u00fcllungsgef\u00fchls, die L\u00f6sung und Depression, ausgepr\u00e4gter als gew\u00f6hnlich wird. Die Wirklichkeit bietet eben auch hier \u00fcberall stetig zusammenh\u00e4ngende Processe, die nur in extremen F\u00e4llen sich zu eigentlichen Gegens\u00e4tzen gestalten.\n9. Betrachtet man diese Gef\u00fchlsseite der Aufmerksamkeitsvorg\u00e4nge genauer, so ist augenf\u00e4llig, dass dieselbe vollst\u00e4ndig mit dem allgemeinen Gef\u00fchlsinhalt der Willensvorg\u00e4nge \u00fcbereinstimmt. Zugleich ist einleuchtend, dass die passive Apperception ihrem wesentlichen Charakter nach einer einfachen Triebhandlung, die active dagegen einer zusammengesetzten Willk\u00fcrhandlung entspricht. Denn bei der ersteren l\u00e4sst sich der unvorbereitet sich aufdr\u00e4ngende psychische Inhalt offenbar als das eine Motiv betrachten,","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\n257\ndas ohne jeden Kampf mit andern Motiven die Handlung der Apperception anregt, die auch hier schlie\u00dflich mit dem f\u00fcr alle Willenshandlungen charakteristischen Gef\u00fchl der Th\u00e4tig-keit verbunden ist. Bei der activen Apperception dagegen dr\u00e4ngen sich w\u00e4hrend des vorbereitenden Gef\u00fchlsstadiums stets noch andere psychische Inhalte mit ihren Gef\u00fchlseffecten der Aufmerksamkeit auf, so dass hier die endlich eintretende Apperception als eine Willk\u00fcrhandlung und in vielen F\u00e4llen, wenn n\u00e4mlich der Kampf verschiedener sich aufdr\u00e4ngender Inhalte selber ein klar bewusster wird, sogar als eine Wahlhandlung erscheint. In diesen letzteren F\u00e4llen ist denn auch die Existenz einer solchen schon von der \u00e4lteren Psychologie anerkannt worden, indem man bei ihnen von \u00bbwillk\u00fcrlicher Aufmerksamkeit\u00ab redete. Aber erstens trat hier der Wille genau so unvermittelt auf wie bei den \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen, da man den springenden Punkt dieser Entwicklung, n\u00e4mlich die Thatsache, dass die so genannte \u00bbunwillk\u00fcrliche Aufmerksamkeit\u00ab nur eine einfachere Form innerer Willenshandlung sei, verkannte; und zweitens wurden dabei ganz in der Weise der alten Verm\u00f6genstheorie \u00bbAufmerksamkeit\u00ab und \u00bbWille\u00ab als verschiedenartige, gelegentlich sich verbindende, gelegentlich aber auch sich ausschlie\u00dfende psychische Kr\u00e4fte einander gegen\u00fcbergestellt, w\u00e4hrend doch beide offenbar Begriffsbildungen sind, die sich auf die n\u00e4mliche Classe psychischer Processe beziehen. Nur umfassen die Apperceptions- oder Aufmerksamkeitsvorg\u00e4nge diejenigen unter diesen Processen, die an und f\u00fcr sich, sofern n\u00e4mlich nicht weitere Vorg\u00e4nge sich anschlie\u00dfen, ohne \u00e4u\u00dfere Wirkungen, blo\u00df als so genannte innere Handlungen, verlaufen.\n10. An diese inneren Willenshandlungen, die wir als Aufmerksamkeitsvorg\u00e4nge bezeichnen, schlie\u00dft sich noch eine f\u00fcr die gesammte psychische Entwicklung \u00e4u\u00dferst\nWundt, Psychologie.\t17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258 III. Dei' Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nwichtige Begriffsbildung an, die zwar in logischer Form erst unter der Mith\u00fclfe der wissenschaftlichen Reflexion zu Stande kommt, die aber doch in jenen Vorg\u00e4ngen selbst ihr reales Substrat hat. Es ist dies die Bildung des Begriffs des Subjectes und die diesem Begriff parallel gehende Voraussetzung von Objecten, die dem Subject als von ihm unabh\u00e4ngige Realit\u00e4ten gegen\u00fcberstehen.\nSchon in der unmittelbaren Erfahrung scheiden sich von den Bestandtheilen, die von dem fr\u00fcher (S. 154) erw\u00e4hnten Orientirungspunkte aus r\u00e4umlich geordnet werden, und die wir entweder als Gegenst\u00e4nde, d. h. als ein dem Wahrnehmenden Gegen\u00fcberstehendes, oder, wenn wir auf ihre psychologische Entstehungsweise R\u00fccksicht nehmen, als Vorstellungen, d. h. als ein von dem Wahrnehmenden vor sich Hingestelltes, bezeichnen, alle die Erfahrungsinhalte, die an dieser r\u00e4umlichen Ordnung nicht theilnehmen, wenn sie auch durch ihre Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t fortw\u00e4hrend zu derselben in Beziehung treten. Diese Inhalte stehen aber, wie wir in \u00a7 12\u201414 gesehen haben, unter sich in einem engen Zusammenhang, indem die Gef\u00fchle stets als die momentanen Theilinhalte von Affecten, die Affecte als Bestandtheile von Willensvorg\u00e4ngen angesehen werden k\u00f6nnen, wobei nur der Process immer auch auf einer der fr\u00fcheren Stufen verbleiben kann, indem sehr h\u00e4ufig ein Gef\u00fchl zu keiner merklichen Affecterregung f\u00fchrt oder der Affect abklingt, ohne dass die sich in ihm vorbereitende Willenshandlung wirklich entsteht. Darum lassen sich nun alle diese Gem\u00fcthsvorg\u00e4nge wiederum dem Willensvorgang unterordnen. Denn dieser ist der vollst\u00e4ndige Process, zu dem die beiden andern nur Theilinhalte von einfacherer oder zusammengesetzterer Beschaffenheit bilden. Unter diesem Gesichtspunkte wird es dann begreiflich, dass schon das einfache Gef\u00fchl in den Gegens\u00e4tzen, zwischen","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\n259\ndenen es sicli bewegt, tlieils eine Willensrichtung enth\u00e4lt, theils die Gr\u00f6\u00dfe der in einem gegebenen Moment vorhandenen Willensenergie zum Ausdruck bringt, theils endlich einer bestimmten Phase des Willensvorgangs selbst entspricht. Die Willensrichtung ist n\u00e4mlich offenbar an-o-edeutet in den Hauptrichtungen der Lust und Unlust, die unmittelbar einem irgendwie qualitativ differenzirten Streben oder Widerstreben entsprechen. Die Willensenergie findet ihren Ausdruck in den Hauptrichtungen der Erregung und Beruhigung; entgegengesetzte Phasen eines Willensvorganges werden endlich durch die Gef\u00fchlsgegens\u00e4tze der Spannung und L\u00f6sung bezeichnet.\n11. Erweist sich auf diese Weise das Wollen als die Grundthatsache, in der alle die Vorg\u00e4nge wurzeln, deren psychische Elemente die Gef\u00fchle sind, so tritt auf der andern Seite diese Grundthatsache in dem Vorgang der Apperception, an dem die psychologische Analyse alle Merkmale eines Willensactes nachweist, in directe Beziehung zu den auf der r\u00e4umlichen Ordnung der Empfindungen beruhenden Vorstellungsinhalten der Erfahrung. Indem nun die Willensvorg\u00e4nge als in sich zusammenh\u00e4ngende und bei aller Verschiedenheit ihrer Inhalte gleichartige Vorg\u00e4nge aufgefasst werden, entsteht ein unmittelbares Gef\u00fchl dieses Zusammenhangs, das insbesondere auf das engste an das alles Wollen begleitende Gef\u00fchl der Th\u00e4tigkeit gekn\u00fcpft ist, das sich aber zugleich in Folge der oben erw\u00e4hnten Beziehungen des Wollens \u00fcber die Gesammtheit der Bewusstseinsinhalte erstreckt. Dieses Gef\u00fchl des Zusammenhangs aller individuellen psychischen Erlebnisse bezeichnen wir als das \u00bbIch\u00ab. Es ist ein Gef\u00fchl, nicht eine Vorstellung, wie es h\u00e4ufig genannt wird. Es ist jedoch, wie alle Gef\u00fchle, zugleich an gewisse Empfindungen und Vorstellungen gebunden: diese in n\u00e4chste Beziehung zu dem\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nIch tretenden Vorstellungsbestandtheile sind die Gemein-empfindungen und die Vorstellung des eigenen K\u00f6rpers.\nDen so entstehenden aus dem gesammten Bewusstseinsinhalt sich aussondernden, mit dem Ichgef\u00fchl innig verschmelzenden Gef\u00fchls- und Vorstellungsinhalt nennen wir das Selbstbewusstsein. Es ist ebenso wenig wie das Bewusstsein \u00fcberhaupt eine von den Vorg\u00e4ngen, aus denen es besteht, verschiedene Realit\u00e4t, sondern es weist schlechterdings nur auf den Zusammenhang dieser Vorg\u00e4nge selbst hin, die \u00fcberdies namentlich in ihrem Vorstellungsinhalt von dem \u00fcbrigen Bewusstsein niemals scharf gesondert werden k\u00f6nnen. Dies zeigt sich vor allem darin, dass die Vorstellungen des eigenen K\u00f6rpers in wechselnder Weise bald mit dem Ichgef\u00fchl fest verschmolzen bald als Objectsvorstellungen von demselben gesondert werden, und dass im allgemeinen die Entwicklung des Selbstbewusstseins immer mehr einer Zur\u00fcckziehung desselben auf seine Gef\u00fchlsgrundlage zustrebt.\n12. In dieser Sonderung des Selbstbewusstseins von dem \u00fcbrigen Bewusstseinsinhalte wurzelt dann auch die Gegen\u00fcberstellung des Subjects und der Objecte, die zwar in den eigenth\u00fcmlichen Unterschieden der urspr\u00fcnglichen Bewusstseinsinhalte bereits vorbereitet ist, aber doch erst in Folge jener Sonderung zu einer klaren Ausbildung gelangt. Der Begriff des Subjectes hat gem\u00e4\u00df dieser seiner psychologischen Entwicklung drei verschiedene und wechselnd f\u00fcr einander eintretende Bedeutungen von verschiedenem Umfang. Im engsten Sinne ist das Subject der in dem Ichgef\u00fchl zum Ausdruck kommende Zusammenhang der Willensvorg\u00e4nge. In der n\u00e4chst weiteren Bedeutung umschlie\u00dft es den realen Inhalt dieser Willensvorg\u00e4nge samt den sie vorbereitenden Gef\u00fchlen und Affecten. In der weitesten Bedeutung endlich erstreckt es sich au\u00dferdem noch","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.\t261\nauf die constante Vorstellungsgrundlage, die jene subjectiven Processe in dem den Tr\u00e4ger der Gemeinempfindungen bildenden K\u00f6rper des Individuums besitzen. Dabei ist aber die weiteste Bedeutung in der wirklichen Entwicklung die urspr\u00fcnglichste, und die engste f\u00e4llt, weil sie eigentlich nur in der begrifflichen Abstraction vollst\u00e4ndig erreichbar ist, in dem wirklichen Fluss des psychischen Geschehens immer wieder in eine der weiteren Bedeutungen zur\u00fcck. Sie bildet auf diese Weise eigentlich nur eine Grenze, der sich die reale Selbstauffassung des Subjectes in wechselndem Grade n\u00e4hern kann.\n12 a. Mit der Unterscheidung des Subjectes und der Objecte oder, wie man diese Begriffe durch Reduction des ersten auf seine urspr\u00fcngliche Gef\u00fchlsgrundlage und durch Zusammenfassung des zweiten in einen generellen Begriff auch auszudr\u00fccken pflegt, des Ich und der Au\u00dfenwelt, ist erst die Grundlage zu allen jenen Ueberlegungen gegeben, denen der zun\u00e4chst in der popul\u00e4ren Weltanschauung verbreitete und dann aus ihr in die philosophischen Systeme \u00fcbergegangene Dualismus seinen Ursprung verdankt. In diesem Sinne pflegt dann auch die Psychologie selbst als die Wissenschaft von dem Subject den andern Wissenschaften und speciell den Naturwissenschaften gegen\u00fcbergestellt zu werden. (Vgl. \u00a7 1, 3 a.) Diese Auffassung k\u00f6nnte nur dann richtig sein, wenn die Unterscheidung des Ich von der Au\u00dfenwelt eine aller Erfahrung vorausgehende Urthatsache w\u00e4re, und wenn die Begriffe des Subjectes und der Objecte einander ein f\u00fcr allemal eindeutig gegen\u00fcbergestellt werden k\u00f6nnten. Weder das erste noch das zweite trifft aber zu. Das Selbstbewusstsein ruht vielmehr auf einer Reihe psychischer Processe: es ist ein Er-zeugniss, nicht die Grundlage dieser Processe; und demzufolge bilden auch Subject und Objecte weder urspr\u00fcnglich noch \u00fcberhaupt jemals absolut von einander verschiedene Erfahrungsinhalte, sondern sie sind Reflexionsbegriffe, die in Folge der Wechselbeziehungen der einzelnen Bestandtheile des an sich vollkommen einheitlichen Inhaltes unserer unmittelbaren Erfahrung sich ausbilden.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nIII. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\n13. Der Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge, der das Wesen des Bewusstseins ausmacht, hat nun nothwendig seine letzte Quelle in Verbindungsprocessen, die fortw\u00e4hrend zwischen den Elementen der einzelnen Bewusstseinsinhalte stattfinden. Wie solche Processe schon bei der Entstehung der einzelnen psychischen Gebilde wirksam sind, so muss auch aus ihnen sowohl die simultane Einheit des in einem gegebenen Moment vorhandenen Bewusstseinszustandes wie die Continuit\u00e4t der successiven Bewusstseinszust\u00e4nde hervorgehen. Diese Verbindungsprocesse selbst aber sind zwar von au\u00dferordentlich mannigfaltiger Beschaffenheit: jeder einzelne hat seine individuelle, in keinem zweiten Fall sich ganz unver\u00e4ndert wiederholende F\u00e4rbung. Dennoch lassen sich ihre allgemeinsten Unterschiede jenen Eigen-th\u00fcmlichkeiten unterordnen, welche die Aufmerksamkeit auf der einen Seite hei der passiven Aufnahme von Eindr\u00fccken, auf der andern Seite bei der activen Apperception derselben darbietet. Um kurze Ausdr\u00fccke f\u00fcr diese Unterschiede zur Verf\u00fcgung zu haben, bezeichnen wir diejenigen Verbindungen, die sich hei passivem Zustand der Aufmerksamkeit zu bilden pflegen, als Associationen, diejenigen hingegen, die einen activen Zustand derselben voraussetzen, als Apperceptionsverbindungen.\n\u00a7 16. Die Associationen.\n1. Der Begriff der Association ist in der neueren Entwicklung der Psychologie einem nothwendigen und sehr eingreifenden Bedeutungswandel unterworfen worden, der freilich noch nicht \u00fcberall durchgedrangen ist, da die urspr\u00fcngliche Bedeutung des Begriffs namentlich von denjenigen Psychologen festgehalten wird, die auch heute noch den Grundanschauungen, aus denen die Associationspsycho-","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"16. Die Associationen.\n263\nlogie erwuchs, zugethan sind. (Vgl. \u00a7 2, S. 15 \u00a3) Indem n\u00e4mlich diese Psychologie, ihrer vorherrschend intellectualisti-sclien Richtung gem\u00e4\u00df, nur den Vorstellungsinhalt des Bewusstseins ber\u00fccksichtigte, beschr\u00e4nkte sie zun\u00e4chst den Begriff der Association auf die Verbindungen zwischen Vorstellungen. In diesem Sinne f\u00fchrten Hartley und Hume, die beiden Begr\u00fcnder der Associationspsychologie, denselben sogleich in der speciellen Bedeutung der \u00bbIdeenassociation\u00ab ein, wobei nach englischem Sprachgebrauch das Wort \u00bbIdee\u00ab unserem Begriff der \u00bbVorstellung\u00ab entspricht. Indem man ferner die Vorstellungen als Objecte oder doch als Vorg\u00e4nge betrachtete, die in derselben Beschaffenheit, in der sie zum ersten Male in dem Bewusstsein entstanden sind, auch in diesem sich wiedererneuern k\u00f6nnen (S. 16, 8), sah man in der Association das Erkl\u00e4rungsprincip f\u00fcr die so genannte \u00bbReproduction\u00ab der Vorstellungen. Und indem man es endlich nicht f\u00fcr n\u00f6thig hielt \u00fcber die Entstehungsweise der zusammengesetzten Vorstellungen mit H\u00fclfe einer psychologischen Analyse Rechenschaft zu geben, da man annahm, die physische Verbindung der Eindr\u00fccke bei der Sinneswahrnehmung erkl\u00e4re auch ohne weiteres deren psychische Zusammensetzung, so beschr\u00e4nkte man den Associationsbegriff \u00fcberdies auf diejenigen Formen so genannter Reproduction, bei denen die associirten Vorstellungen zeitlich auf einander folgen. In der Unterscheidung der Hauptformen dieser successiven Associationen folgte man einem schon von Aristoteles f\u00fcr die Erinnerungsvorg\u00e4nge aufgestellten logischen Schema, indem man nach dem Princip der Zweitheilung nach Gegens\u00e4tzen einerseits die Associationen nach Aehnlichkeit und Contrast und anderseits die nach Gleichzeitigkeit und Succession unterschied. Diese durch eine einfache logische Dichotomie gewonnenen Gattungsbegriffe schm\u00fcckte man mit dem Namen der \u00bbAssociationsgesetze\u00ab.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nDie neuere Psychologie hat meistens die Zahl dieser Gesetze zu reduciren gesucht. Den Contrast sah mau als einen Grenzfall der Aehnlichkeit an, da nur solche con-trastirende Vorstellungen sich associiren, die zugleich einer und derselben allgemeinen Gattung angeh\u00f6ren; und die Verbindungen nach Gleichzeitigkeit und Succession fasste man unter dem Begriff der \u00e4u\u00dferen oder der Ber\u00fchrungsassociation zusammen, die nun der inneren oder Aehn-lichkeitsassociation gegen\u00fcbergestellt wurde. Von dieser Vereinfachung auf zwei Formen aus meinten schlie\u00dflich manche Psychologen noch zu einer Reduction auf ein einziges \u00bbAssociationsgesetz\u00ab fortschreiten zu k\u00f6nnen, indem sie entweder die Ber\u00fchrungsassociation f\u00fcr eine Specialform der Aehnlichkeit oder, und dies h\u00e4ufiger, die Aehnlichkeit f\u00fcr eine Wirkung gewisser Ber\u00fchrungsassociationen erkl\u00e4rten. In beiden F\u00e4llen f\u00fchrte man \u00fcbrigens die Association meistens auf das allgemeinere Princip der Uebung und Gew\u00f6hnung zur\u00fcck.\n2. Dieser ganzen Betrachtungsweise wird nun durch zwei Thatsachen, die sich der experimentellen Beobachtung der Vorstellungsprocesse mit zwingender Gewalt aufdr\u00e4ngen, der Boden entzogen. Die erste besteht in dem allgemeinen Ergebniss der psychologischen Analyse der Wahrnehmungen, dass jene zusammengesetzten Vorstellungen, welche die Associationspsychologie als unzerlegbare psychische Einheiten voraussetzt, selbst schon aus Verbindungsprocessen entstehen, die offenbar mit den gew\u00f6hnlich Associationen genannten complexeren Verbindungen innig Zusammenh\u00e4ngen. Die zweite Thatsache besteht in dem Ergebniss der experimentellen Untersuchung der Erinnerungsvorg\u00e4nge, dass es eine Reproduction der Vorstellungen im eigentlichen Sinne, insofern man n\u00e4mlich darunter die unver\u00e4nderte Erneuerung einer fr\u00fcher dagewesenen Vorstellung versteht,","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 16. Die Associationen.\n265\n\u00fcberhaupt nicht gibt, sondern dass die bei einem Erinnerungsact neu in das Bewusstsein eintretende Vorstellung von der fr\u00fcheren, auf die sie bezogen wird, immer verschieden ist, und dass ihre Elemente in der Kegel \u00fcber verschiedene vorausgegangene Vorstellungen vertheilt sind.\nAus der ersten dieser Thatsachen folgt, dass den gew\u00f6hnlich allein so genannten Associationen zusammengesetzterVor-stellungen elementarere Associationsprocesse zwischen ihren Bestandtheilen vorausgehen. Die zweite Thatsache aber beweist, dass jene gew\u00f6hnlichen Associationen selbst nur die complexen Producte solcher elementarer Associationen sein k\u00f6nnen. Mit dieser doppelten Folgerung schwindet dann zugleich jede Berechtigung, diejenigen elementaren Verbindungen, deren Producte nicht successive sondern simultane Vorstellungen sind, von dem Begriff der Association auszuschlie\u00dfen; und ebenso liegt durchaus kein Grund f\u00fcr die Beschr\u00e4nkung dieses Begriffs auf die Vorstellungsprocesse vor. Lehrt doch die Existenz der zusammengesetzten Gef\u00fchle, der Affecte u. s. w., dass die Gef\u00fchlselemente nicht minder regelm\u00e4\u00dfige Verbindungen eingelien, die sich \u00fcberdies, wie uns die Entstehung der zeitlichen Vorstellungen (\u00a7 11, S. 184) gezeigt hat, mit den Associationen der Empfindungselemente zu complexeren Producten verbinden k\u00f6nnen. In dieser engen Beziehung, in welcher die Verbindungsprocesse verschiedener Ordnung zu einander stehen, und in der N\u00f6thigung, mit der alle zusammengesetzten Verbindungen auf elementare Associationen zur\u00fcckweisen, findet die dem allgemeinen Verlauf der Bewusstseinsvorg\u00e4nge entnommene Beobachtung, dass zwischen den Verbindungen der die psychischen Gebilde zusammensetzenden Elemente und dem Zusammenhang der verschiedenen psychischen Gebilde im Bewusstsein nirgends eine scharfe Grenze zu ziehen ist (S. 238), ihre n\u00e4here Begr\u00fcndung.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\n3. Der Begriff der Association kann in Folge dessen nur dann eine feste, f\u00fcr jeden einzelnen Fall eindeutig anzugebende Bedeutung gewinnen, wenn die Association als ein Elementarprocess aufgefasst wird, der sich uns an den realen psychischen Vorg\u00e4ngen immer nur in mehr oder minder verwickelter Zusammensetzung darbietet, so dass die elementaren Associationen selbst aus diesen ihren complexen Producten erst durch psychologische Analyse gewonnen werden k\u00f6nnen. Die gew\u00f6hnlich so genannten Associationen (die successiven) sind nur einzelne und zwar die losesten unter diesen Verbindungsproducten. Ihnen stehen als die im allgemeinen festesten dieser Verbindungen diejenigen gegen\u00fcber, aus denen die verschiedenen Formen psychischer Gebilde entstehen, und die wir eben wegen jener Innigkeit der Verbindung allgemein als Verschmelzungen bezeichnet haben (S. 110 f.). Die elementaren Processe, aus denen die Gebilde, die intensiven, die r\u00e4umlichen und die zeitlichen Vorstellungen, die zusammengesetzten Gef\u00fchle, die Affecte und die Willensvorg\u00e4nge, hervorgehen, sind demnach prin-cipiell durchaus den Associationsprocessen zuzurechnen. Zum Zweck der praktischen Unterscheidung wird es aber dienlich sein, dem Wort \u00bbAssociation\u00ab hier eine engere Bedeutung beizulegen, indem wir unter ihm nur diejenigen Verbin-dungsprocesse zusammenfassen, die sich zwischen Elementen verschiedener Gebilde vollziehen. Dann n\u00e4hert sich dieser engere, der Verschmelzung gegen\u00fcbergestellte Begriff der Association dem der \u00e4lteren Psychologie (S. 263) wieder insofern, als er sich ausschlie\u00dflich auf den Zusammenhang der psychischen Gebilde im Bewusstsein bezieht. Er unterscheidet sich aber von jenem durch die zwei wichtigen Merkmale, dass wir 1) unter ihm elementare Verbin-dungsprocesse oder, wo es sich um zusammengesetzte Erscheinungen handelt, Producte solcher Elementarprocesse","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 16. Die Associationen.\n267\nverstellen, und dass wir 2) ebenso wie bei den Verschmelzungen neben den successiven auch simultane Associationen unterscheiden, wobei die letzteren sogar als die urspr\u00fcnglicheren anzusehen sind.\nA. Die simultanen Associationen.\n4. Die simultanen Associationen, an deren Bildung sich Elemente verschiedener psychischer Gebilde betheiligen, zerfallen in zwei Formen: in Associationen zwischen den Elementen gleichartiger Gebilde, Assimilationen, und in Associationen zwischen den Elementen ungleichartiger Gebilde, Complicationen. Beide k\u00f6nnen, gem\u00e4\u00df der oben f\u00fcr den Begriff der Association eingef\u00fchrten Beschr\u00e4nkung, nur zwischen solchen Gebilden Vorkommen, die selbst schon simultane Verbindungen sind, also zwischen intensiven und r\u00e4umlichen Vorstellungen sowie zwischen zusammengesetzten Gef\u00fchlen.\na. Die Assimilationen.\n5. Die Assimilationen sind eine namentlich bei den intensiven und r\u00e4umlichen Vorstellungen fortw\u00e4hrend zu beobachtende und den Process der Vorstellungsbildung durch Verschmelzung wesentlich erg\u00e4nzende Form der Association. Bei den zusammengesetzten Gef\u00fchlen scheint dieselbe nur zusammen mit einer gleichzeitigen Vorstellungsassimilation vorzukommen. Am deutlichsten nachweisbar ist sie dann, wenn einzelne Componenten des Assimilationsproductes durch einen \u00e4u\u00dferen Sinneseindruck gegeben werden, w\u00e4hrend andere fr\u00fcher gehabten Vorstellungen angeh\u00f6ren. In diesem Fall l\u00e4sst sich das Stattfinden einer Assimilation eben dadurch constatiren, dass gewisse Bestandtheile der Vorstellung, die in dem objectiven Eindruck fehlen oder durch andere vertreten sind, nachweisbar aus fr\u00fcheren Vorstellungen","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nstammen. Unter diesen sind, wie die Erfahrung zeigt, solche ganz besonders bevorzugt, die sehr h\u00e4ufig vorhanden waren. Zugleich pflegen aber einzelne Elemente des Eindrucks f\u00fcr die stattfindende Association vor andern bestimmend zu sein, so dass, falls diese dominirenden Elemente wechseln k\u00f6nnen, wie das namentlich bei den Assimilationen des Gesichtssinns vorkommt, auch das Assimilationsproduct entsprechende Ver\u00e4nderungen erf\u00e4hrt.\n6.\tUnter den intensiven Gebilden kommen besonders die Geh\u00f6rsvorstellungen sehr h\u00e4ufig unter der Mitwirkung von Assimilationen zu Stande. Zugleich bieten sie die augenf\u00e4lligsten Beispiele f\u00fcr das oben erw\u00e4hnte Princip der Gel\u00e4ufigkeit. Unter den Geh\u00f6rsvorstellungen sind n\u00e4mlich die leicht verf\u00fcgbaren Wort vor Stellungen insofern die gel\u00e4ufigsten, als ihnen meist mehr als andern Schalleindr\u00fccken unsere Aufmerksamkeit zugewandt ist. In Folge dessen ist das H\u00f6ren der Worte von fortw\u00e4hrenden Assimilationen begleitet: der Schalleindruck ist unvollst\u00e4ndig, aber er wird aus fr\u00fcheren Eindr\u00fccken so vollkommen erg\u00e4nzt, dass wir es nicht bemerken. Nicht das H\u00f6ren selbst, sondern das Verh\u00f6ren, d. h. die durch unrichtige Assimilationen bewirkte falsche Erg\u00e4nzung, macht uns daher meistens erst auf diesen Process aufmerksam. Ebenso ist aber dieser aus der Leichtigkeit zu erschlie\u00dfen, mit der man in beliebige Schalleindr\u00fccke, z. B. in Thierstimmen, in das Ger\u00e4usch des Wassers, des Windes, einer Maschine u. dgl., fast nach Willk\u00fcr Worte hineinh\u00f6ren kann.\n7.\tBei den intensiven Gef\u00fchlen sind Assimilationen daran bemerklich, dass Eindr\u00fccke, die von sinnlichen oder \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen begleitet werden, sehr h\u00e4ufig unmittelbar noch eine zweite Gef\u00fchlswirkung mit sich f\u00fchren, von der wir uns erst Bechenschaft geben k\u00f6nnen, wenn wir uns gewisse Vorstellungen vergegenw\u00e4rtigen, an die jene","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 16. Die Associationen.\n269\nEindr\u00fccke erinnern. Hierbei pflegt die Association zun\u00e4chst nur in der Form einer Gef\u00fchlsassociation vor sich zu gehen, und nur insoweit sie dies thut, ist sie eine simultane Assimilation. Die die Wirkung erkl\u00e4rende Vorstellungsassociation dagegen ist ein erst nachtr\u00e4glich hinzutretender Process: sie geh\u00f6rt zu den Formen der successiven Association. Aus diesem Grunde ist es auch kaum m\u00f6glich, hei den von bestimmten Gef\u00fchlen begleiteten Klang- und Farbeneindr\u00fccken oder bei einfachen r\u00e4umlichen Vorstellungen zu entscheiden, was der unmittelbaren Gef\u00fchlswirkung des Eindrucks, und was der Association angeh\u00f6rt. In der Regel wird aber in diesen F\u00e4llen der Gef\u00fchlsvorgang als eine Resultante aus einem unmittelbaren und einem associativen Factor anzusehen sein, wobei sich dann beide, gem\u00e4\u00df den allgemeinen Gesetzen der Gef\u00fchlsverschmelzung (S. 187 f.), zu einem einheitlichen Totalgef\u00fchl verbinden.\n8. Von der umfassendsten Bedeutung ist die Association bei den r\u00e4umlichen Vorstellungen. Im Gebiet des Tastsinns ist sie nat\u00fcrlich beim Sehenden wegen der geringen Bedeutung, die hier den Tastvorstellungen im allgemeinen und namentlich f\u00fcr die Erinnerungsvorg\u00e4nge zukommt, wenig bemerkbar. Beim Blinden dagegen ist sie es, die wesentlich die F\u00e4higkeit der raschen r\u00e4umlichen Orientirung vermittelt, wie sie z. B. zum gel\u00e4ufigen Lesen der Blindenschrift erforderlich ist. Am auffallendsten sind diejenigen Assimilationswirkungen, an deren Bildung mehrere Tastfl\u00e4chen betheiligt sind, weil sie sich in diesem Fall leicht durch die Illusionen verrathen, die in Folge irgend welcher St\u00f6rungen in dem gewohnheitsm\u00e4\u00dfigen Zusammenwirken der Empfindungen entstehen k\u00f6nnen. So hat man z. B., wenn man mit gekreuztem Zeige- und Mittelfinger eine kleine Kugel betastet, die Vorstellung von zwei Kugeln, offenbar weil in der gew\u00f6hnlichen Lage der Tastorgane der \u00e4u\u00dfere","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270 HI. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nEindruck in der That zwei Kugeln entspricht. Die auf diese Weise in zahlreichen fr\u00fcheren F\u00e4llen entstandenen Wahrnehmungen wirken aber assimilirend auf den neuen Eindruck.\n9. Eine ungemein wichtige Rolle spielt der Assimilations-process hei den Wahrnehmungen des Gesichtssinns, wo er besonders bei den Vorstellungen der Gr\u00f6\u00dfe, der Entfernung und der k\u00f6rperlichen Beschaffenheit der Gesichtsobjecte mitwirkt und in letzterer Beziehung die bei dem binocularen Sehen entstehenden unmittelbaren Motive der Tiefenwahrnehmung wesentlich vervollst\u00e4ndigt. So erkl\u00e4ren sich die Correlationen, in denen Entfernungs- und Gr\u00f6\u00dfenvorstellung der Objecte zu einander stehen, wie z. B. die scheinbaren Gr\u00f6\u00dfenunterschiede von Sonne und Mond am Horizont und im Zenith, als Assimilationswirkungen. Ebenso beruhen hierauf die Einfl\u00fcsse der zeichnerischen und der malerischen Perspective. Ein in einer Ebene gezeichnetes oder gemaltes Bild kann uns nur dadurch k\u00f6rperlich erscheinen, dass der Eindruck Elemente fr\u00fcherer k\u00f6rperlicher Vorstellungen erweckt, die den neuen Eindruck assimiliren. Am auffallendsten zeigt sich dieser Assimilationseinfluss bei unschattirten zweideutigen Zeichnungen, die ebensowohl erhaben wie vertieft gesehen werden k\u00f6nnen. Zugleich lehrt aber hierbei die Beobachtung, dass ein solcher Wechsel des Reliefs keineswegs ein zuf\u00e4lliger ist, der von dem Belieben der so genannten \u00bbEinbildungskraft\u00ab abh\u00e4ngt, sondern dass es stets Elemente des unmittelbaren Eindrucks gibt, die in vollkommen eindeutiger Weise den Assi-milationsprocess bestimmen. Als solche Elemente sind vor allem die Empfindungen wirksam, die an die Stellungen und Bewegungen des Auges gekn\u00fcpft sind. So sehen wir z. B. eine lineare Zeichnung, die ebensowohl ein k\u00f6rperliches wie ein hohles Prisma bedeuten karm, abwechselnd erhaben und vertieft, je nachdem wir das eine Mal Theile","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 16. Die Associationen.\n271\nder Zeichnung fixiren, die der gewohnten Betrachtung eines erhabenen, das andere Mal solche, die der eines hohlen Prismas entsprechen. Die Zeichnung einer durch drei zusammensto\u00dfende gerade Linien gebildeten k\u00f6rperlichen Ecke erscheint erhaben, wenn man von der Spitze aus eine der Geraden durchl\u00e4uft; sie erscheint vertieft, wenn man bei dem entgegengesetzten Ende der Geraden beginnt und an der Spitze endet, u. s. w. In diesen und allen \u00e4hnlichen F\u00e4llen wird die Assimilation von der Begel bestimmt, dass das Auge bei der Bewegung \u00fcber die Fixationslinien der Objecte von den n\u00e4her zu den entfernter gelegenen Punkten \u00fcbergeht.\nIn andern F\u00e4llen rufen die in \u00a7 10 (19 u. 20) erw\u00e4hnten, in den Bewegungsgesetzen des Auges begr\u00fcndeten geometrisch-optischen T\u00e4uschungen secund\u00e4r bestimmte Entfernungsvorstellungen hervor, wo dann die letzteren nicht selten eine Ausgleichung zwischen den durch die geometrischoptischen T\u00e4uschungen erzeugten Widerspr\u00fcchen des Bildes vermitteln. So erscheint z. B. eine eingetheilte gerade Linie gr\u00f6\u00dfer als eine gleich gro\u00dfe nicht eingetheilte (S. 147); in Folge dessen ist man geneigt die erstere in gr\u00f6\u00dfere Entfernung zu verlegen als die letztere. Indem hier trotz der von der verschiedenen Bewegungsanstrengung herr\u00fchrenden abweichenden Gr\u00f6\u00dfenauffassung beide Linien gleich gro\u00dfe Netzhautstrecken einnehmen, entsteht eine Ausgleichung dieses Widerspruchs durch die verschiedene Entfernungsvorstellung. Denn wenn von zwei Linien, deren Netzhautbilder gleich sind, die eine gr\u00f6\u00dfer erscheint, so muss dieselbe bei den gew\u00f6hnlichen Bedingungen des Sehens von einem entfernteren Gegenst\u00e4nde herr\u00fchren. Wird eine Gerade durch eine andere unter spitzem Winkel geschnitten, so entsteht verm\u00f6ge einer andern in den Bewegungsgesetzen begr\u00fcndeten T\u00e4uschung eine Uebersch\u00e4tzung des spitzen","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nWinkels, die manchmal, wenn die Linie gro\u00df ist, als eine Knickung derselben kurz vor der Durchschneidungsstelle erscheint (S. 147). Auch hier wird dann der Widerspruch zwischen dem Verlaufe der Linie und der Vergr\u00f6\u00dferung des spitzen Durchschneidungswinkels h\u00e4ufig dadurch ausgeglichen, dass die Linie perspectivisch nach der Tiefe des Raumes zu verlaufen scheint. In allen diesen F\u00e4llen kann die perspec-tivische Vorstellung nur aus der assimilirenden, Wirkung fr\u00fcherer Vorstellungen von der entsprechenden Beschaffenheit erkl\u00e4rt werden.\n10. Bei keiner der oben geschilderten Assimilationen l\u00e4sst sich nachweisen, dass irgend eine fr\u00fcher vorhanden gewesene Vorstellung als ein Ganzes auf den neuen Eindruck assimilirend gewirkt habe. In den meisten F\u00e4llen ist dies schon dadurch ausgeschlossen, dass die assimilirende Wirkung sehr vielen Einzelvorstellungen zugeschrieben werden muss, die sich in zahlreichen Eigenschaften von einander unterscheiden. So entspricht z. B. eine gerade Linie, die eine Verticale unter spitzem Winkel schneidet, unz\u00e4hligen F\u00e4llen, in denen eine solche Neigung mit der sie begleitenden Winkelvergr\u00f6\u00dferung als Bestandtheil einer k\u00f6rperlichen Vorstellung vorkam, wobei alle diese F\u00e4lle wieder in Bezug auf Gr\u00f6\u00dfe des Winkels, Beschaffenheit der Linien und sonstige begleitende Umst\u00e4nde in der mannigfaltigsten Weise differiren k\u00f6nnen. Wir haben demnach den Assimilations-process als einen Vorgang aufzufassen, bei dem nicht eine bestimmte Einzelvorstellung und nicht einmal eine bestimmte Verbindung von Elementen fr\u00fcherer Vorstellungen, sondern bei dem in der Regel eine Menge solcher Verbindungen, die s\u00e4mmtlich nur ann\u00e4hernd mit dem neuen Eindruck \u00fcbereinzustimmen brauchen, auf das Bewusstsein einwirken.\nUeber die Art dieser Einwirkung gibt nun die wichtige Rolle, die bei dem Vorgang bestimmte an den Eindruck","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 16. Die Associationen.\n273\ngebundene Elemente, z. B. bei den Gesichtsvorstellungen die Stellungs- und Bewegungsempfindungen des Auges, aus\u00fcben, einigerma\u00dfen Rechenschaft. Diese unmittelbaren Empfindungselemente sind es n\u00e4mlich offenbar, die aus dem hin- und herwogenden Strom der dem Eindruck entgegenkommenden Vorstellungselemente bestimmte, ihnen selbst ad\u00e4quate herausheben und sie in die den sonstigen Elementen des unmittelbaren Eindrucks entsprechende Form \u00fcberf\u00fchren. Hierbei macht sich zugleich geltend, dass nicht nur die Elemente unserer Erinnerungsvorstellungen relativ unbestimmt und in Folge dessen ver\u00e4nderlich sind, sondern dass selbst die Auffassung eines unmittelbaren Eindrucks nach den speciellen Bedingungen in ziemlich weiten Grenzen variiren kann. Auf diese Weise geht der Assimilationsvor-gang zun\u00e4chst von Elementen des unmittelbaren Eindrucks aus, und zwar haupts\u00e4chlich von bestimmten, die f\u00fcr die Vorstellungsbildung von dominirender Bedeutung sind, wie z. B. bei Gesichtsvorstellungen von den Stellungs- und Bewegungsempfindungen des Auges: sie bewirken das Actuell-werden ganz bestimmter, ihnen ad\u00e4quater Erinnerungselemente. Hierauf \u00fcben dann diese ihrerseits eine assimilirende Wirkung auf den unmittelbaren Eindruck, der endlich selbst wieder auf die reproducirten Elemente assimilirend zur\u00fcckwirken kann. Diese einzelne Acte sind, wie der ganze Vorgang, in der Regel nicht successiv, sondern, mindestens in unserer Auffassung, simultan, weshalb auch das Product des Processes als eine unmittelbar gegebene einheitliche Vorstellung appercipirt wird. Die beiden entscheidenden Eigenschaften der Assimilation bestehen demnach darin, dass sie 1, aus einer Summe elementarer Verbindungsprocesse besteht, d. h. solcher die sich nicht auf Vorstellungsganze sondern auf Vorstellungsbestandtheile beziehen, und dass bei ihr 2j die sich verbindenden Bestandtheile im Sinne einer\nWundt, Psychologie.\n18","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nwechselseitigen Assimilation ver\u00e4ndernd auf einander einwirken.\n11. Dies vorausgesetzt erkl\u00e4ren sich nun die haupts\u00e4chlichsten Unterschiede der zusammengesetzten Assimilationsvorg\u00e4nge ohne Schwierigkeit aus der in den einzelnen F\u00e4llen sehr wechselnden Betheiligung der verschiedenen zu jeder Assimilation erforderlichen Factoren. Bei den gew\u00f6hnlichen Sinneswahrnehmungen \u00fcberwiegen die directen Elemente so sehr, dass die reproductiven in der Regel ganz \u00fcbersehen werden, obgleich sie in Wirklichkeit niemals fehlen und oftmals sogar f\u00fcr die Auffassung der Objecte von gro\u00dfer Bedeutung sind. Betr\u00e4chtlich mehr dr\u00e4ngen sich die reproductiven Bestandtheile unserer Beachtung auf, wenn die assimilirende Wirkung der directen durch \u00e4u\u00dfere oder innere Einfl\u00fcsse, wie Undeutlichkeit des Eindrucks, Erregung von Gef\u00fchlen und Affecten, gehemmt ist. In allen den F\u00e4llen, wo auf diese Weise der Unterschied zwischen dem Eindruck und der wirklichen Vorstellung so gro\u00df wird, dass er sich sofort unserer n\u00e4heren Pr\u00fcfung verr\u00e4th, bezeichnen wir das Assimilationsproduct als eine Illusion.\nDie Allgemeinheit der Assimilationen l\u00e4sst \u00fcbrigens nicht daran zweifeln, dass diese auch zwischen reproductiven Elementen Vorkommen, derart also dass z. B. irgend eine in uns auftauchende Erinnerungsvorstellung sofort durch die Wechselwirkung mit andern Erinnerungselementen ver\u00e4ndert wird. Doch fehlen uns selbstverst\u00e4ndlich in diesem Fall die H\u00fclfsmittel zur Nachweisung des Processes. Nur dies l\u00e4sst sich als wahrscheinlich feststellen, dass auch bei solchen so genannten \u00bbreinen Erinnerungsvorg\u00e4ngen\u00ab die directen Elemente in der Form von Empfindungen und sinnlichen Gef\u00fchlen, die durch periphere Reize erweckt werden, nicht ganz fehlen. Bei reproductiven Gesichtsbildern z. B. kommen sie in der Form von Stellungs- und Bewegungsempfindungen des Auges vor.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 16. Die Associationen.\n275\nb. Die Complicationen.\n12. Die Complicationen oder die Verbindungen zwischen ungleichartigen psychischen Gebilden sind nicht minder regelm\u00e4\u00dfige Bestandtheile des Bewusstseins wie die Assimilationen. Gibt es kaum eine intensive oder r\u00e4umliche Vorstellung oder ein zusammengesetztes Gef\u00fchl, das nicht irgendwie durch den Process wechselseitiger Assimilation mit reproductiven Elementen modificirt w\u00e4re, so ist nicht minder wohl fast jedes dieser Gebilde zugleich mit andern, ungleichartigen, zu denen es irgend welche constante Beziehungen hat, verbunden. In allen F\u00e4llen unterscheidet sich aber die Complication von der Assimilation dadurch, dass die Ungleichartigkeit der Gebilde die Verbindung, auch wenn sie noch so regelm\u00e4\u00dfig ist, doch zu einer loseren macht, so dass, wenn etwa der eine Bestandtheil ein directer, der andere ein reprodueirter ist, dieser leicht unmittelbar unterschieden werden kann. Dagegen gibt es hier eine andere Ursache, welche trotz dieser leicht erkennbaren Verschiedenartigkeit der Bestandtheile das Product einer Complication immer wieder als ein einheitliches Gebilde erscheinen l\u00e4sst. Diese Ursache besteht darin, dass unter den verbundenen Gebilden eines das herrschende ist, gegen\u00fcber dem die. andern in das dunklere Blickfeld des Bewusstseins zur\u00fccktreten.\nVerbindet die Complication einen directen Eindruck mit reproducirten Elementen von disparater Beschaffenheit, so ist der directe Eindruck mit den ihm anhaftenden Assimilationen regelm\u00e4\u00dfig der herrschende Bestandtheil, w\u00e4hrend die reproductiven manchmal nur durch ihren Gef\u00fchlston einen merklichen Einfluss aus\u00fcben. So sind, wenn wir sprechen, die akustischen Wortvorstellungen die dominirenden Bestandtheile, neben denen die ebenfalls direct gegebenen\n18*","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nIII. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nBewegungsempfindungen sowie als Reproductionen die optischen Wortbilder dunkler anklingen. Umgekehrt treten heim Lesen diese in den Vordergrund, w\u00e4hrend die erstgenannten Bestandteile schw\u00e4cher werden. Ueherhaupt ist daher, verm\u00f6ge der Eigenschaft der dunkeln Vorstellungen, durch ihren Gef\u00fchlston relativ stark auf die Aufmerksamkeit einzuwirken (S. 253 f.), die Existenz einer Complication h\u00e4ufig nur an der eigenth\u00fcmlichen F\u00e4rbung zu bemerken, welche das die herrschende Vorstellung begleitende Totalgef\u00fchl annimmt. So r\u00fchrt z. B. der eigent\u00fcmliche Eindruck einer rauhen Oberfl\u00e4che, einer Dolchspitze, einer Schusswaffe von der Complication des Gesichtsbildes mit Tast-, im letzteren Fall auch mit Geh\u00f6rseindr\u00fccken her; in der Regel sind aber diese Complicationen nur durch ihre Gef\u00fchlswirkungen bemerkbar.\nB. Die successiven Associationen.\n13. Die successive Association bildet keinen Vorgang, der durch irgend welche wesentliche Eigenschaften von den beiden Formen der simultanen Association, der Assimilation und der Complication, verschieden w\u00e4re. Vielmehr beruht sie auf den n\u00e4mlichen allgemeinen Ursachen wie diese, und sie unterscheidet sich nur durch die Nebenbedingung, dass der Verbindimgsprocess, welcher dort in einem zeitlich f\u00fcr die unmittelbare Beobachtung unteilbaren Acte vor sich geht, hier eine Verz\u00f6gerung erf\u00e4hrt, verm\u00f6ge deren er sich deutlich in zwei Acte sondert. Der erste dieser Acte entspricht dem Auftreten der reproducirenden, der zweite dem der reproducirten Elemente. Auch hier wird in sehr vielen F\u00e4llen der erste Act durch einen \u00e4u\u00dferen Sinneseindruck eingeleitet, der sich in der Regel sofort mit einer Assimilation verbindet. Indem dann aber noch weitere zu einer Assimilation oder auch zu einer Complication geneigte","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 16. Die Associationen.\n277\nreproductive Elemente durch irgend welche Hemmungen, z. B. dadurch dass sich andere Assimilationen vorher der Apperception aufdr\u00e4ngen, zur\u00fcckgehalten werden, um erst nach einiger Zeit zur Wirkung zu gelangen, scheidet sich deutlich von dem ersten ein zweiter Apperceptionsact, dessen psychischer Inhalt um so mehr ein wesentlich ver\u00e4nderter geworden ist, je zahlreicher die durch die verz\u00f6gerte Assimilation und Complication neu liinzugetretenen Elemente sind, und je mehr sie durch ihre abweichende Beschaffenheit die zuerst vorhandenen zu verdr\u00e4ngen streben.\n14. In weitaus den meisten F\u00e4llen beschr\u00e4nkt sich hiernach eine so entstandene Association auf zwei aufeinander folgende, in der angegebenen Weise durch Assimilationsoder Complicationswirkungen verbundene Vorstellungs- oder Gef\u00fchlsprocesse, worauf sich dann an das zweite Glied entweder neue Sinneseindr\u00fccke oder irgend welche Apper-ceptionsverbindungen (\u00a7 17) anschlie\u00dfen k\u00f6nnen. Seltener kommt es vor, dass die n\u00e4mlichen Vorg\u00e4nge, welche die erstmalige Zerlegung einer Assimilation oder Complication in einen successiven Process veranlassten, beim zweiten, ja beim dritten Glied sich wiederholen, so dass auf diese Weise eine ganze Associationsreihe entsteht. Doch ereignet sich dieser Fall meist nur unter Ausnahmebedingungen, namentlich dann wenn St\u00f6rungen in dem normalen Verlauf der Apperceptionsverbindungen eingetreten sind, so z. B. bei der so genannten >Ideenflucht\u00ab der Geisteskranken. Bei normalen Menschen kommt die reihenweise d. h. mehr als zweigliedrige Association kaum vor.\n14a. Am ehesten noch stellt sich eine solche reihenweise Association unter k\u00fcnstlichen Bedingungen der Beobachtung ein, wenn man n\u00e4mlich absichtlich neue Sinneseindr\u00fccke und apperceptive Verbindungen zu unterdr\u00fccken sucht. Aber auch dann zeigt dieselbe einen von dem gew\u00f6hnlich angegebenen Schema","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nIII. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nabweichenden Verlauf, indem nicht jedes folgende Glied an das unmittelbar vorangehende, sondern das dritte, vierte u. s. w. wieder an das erste sich anschlie\u00dft, bis etwa ein neuer Sinneseindruck oder eine besonders gef\u00fchlsstarke Vorstellung einen neuen Ankn\u00fcpfungspunkt f\u00fcr die folgenden Associationen bildet. Den n\u00e4mlichen Typus des Zur\u00fccklaufens auf gewisse dominirende Hauptglieder zeigen meist auch die Associationen bei der Ideenflucht der Geisteskranken.\na. Die sinnlichen Wiedererkennungs- und Erkennungsvorg\u00e4nge.\n15. Die gew\u00f6hnliche zweigliedrige Association l\u00e4sst sich in ihrer Entstehungsweise aus den simultanen Assimilationsund Convplicationsverbindungen am deutlichsten hei den Vorg\u00e4ngen des sinnlichen Wiedererkennens und Erkennens beobachten. Das Attribut \u00bbsinnlich\u00ab gebrauchen wir bei diesen Associationsvorg\u00e4ngen, um einerseits darauf hinzuweisen, dass das erste Glied der Verbindung stets ein Sinneseindruck ist, und um sie anderseits von den logischen Erkenntnissvorg\u00e4ngen zu unterscheiden.\nDer psychologisch einfachste Fall einer Wiedererkennung findet statt, wenn wir ein Object nur einmal wahrgenommen z. B. gesehen haben und es nun bei einer erneuten Begegnung als das n\u00e4mliche wiedererkennen. Ist die erste Begegnung erst vor kurzer Zeit erfolgt, oder ist der Eindruck ein besonders lebhafter, affecterregender gewesen, so pflegt sich die Association unmittelbar als eine simultane Assimilation zu vollziehen, wobei sich der Vorgang von den sonstigen, bei jeder Sinneswahrnehmung vorkommenden Assimilationen nur durch ein eigenth\u00fcmliches begleitendes Gef\u00fchl, das Bekanntheitsgef\u00fchl, unterscheidet. Da ein solches Gef\u00fchl immer nur dann vorhanden ist, wenn zugleich in irgend einem Grade ein \u00bbBewusstsein\u00ab davon existirt, dass der Eindruck schon einmal dagewesen sei, so ist","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 16. Die Associationen.\n279\ndasselbe offenbar jenen Gef\u00fchlen zuzurechnen, welche von den dunkleren im Bewusstsein anwesenden Vorstellungen ausgehen. Der psychologische Unterschied von einer gew\u00f6hnlichen simultanen Assimilation muss also wohl darin gesehen werden, dass in dem Moment, wo sich bei der Apperception des Eindrucks der Assimilationprocess vollzieht, zugleich irgend welche Bestandtheile der urspr\u00fcnglichen Vorstellung, die nicht an der Assimilation theilnehmen, in den dunkleren Regionen des Bewusstseins auftauchen, wobei nun zugleich ihre Beziehung zu den Elementen der appercipirten Vorstellung in jenem Gef\u00fchl zum Ausdruck kommt. Solche nicht assimilirte Bestandtheile k\u00f6nnen theils Elemente des fr\u00fcheren Eindrucks sein, die von bestimmten Elementen des neuen so verschieden sind, dass sie der Assimilation widerstreben, theils und besonders k\u00f6nnen sie in Complicationen bestehen, die fr\u00fcher deutlich vorhanden waren, jetzt aber zun\u00e4chst unbeachtet bleiben. Aus dieser Mitwirkung der Complicationen erkl\u00e4rt es sich, dass hei Gesichtsohjecten die Namen der Gegenst\u00e4nde, z. B. hei Personen die Eigennamen, gelegentlich aber auch andere akustische Merkmale, wie der Klang der Stimme, au\u00dferordentlich wirksame H\u00fclfs-mittel der Wiedererkennung sind. Sie brauchen aber, um diese H\u00fclfe zu leisten, nicht nothwendig als klare Vorstellungen im Bewusstsein zu sein. Wenn wir den Namen eines Menschen geh\u00f6rt haben, so kann das die Wiedererkennung hei der Wiederbegegnung f\u00f6rdern, ohne dass wir uns des Namens sofort deutlich erinnern.\n15 a. Auch experimentell l\u00e4sst sich dieser Einfluss der Complicationen nachweisen. Wenn man eine Anzahl sonst gleicher Scheiben, die zwischen Wei\u00df und Schwarz verschiedene Stufen von Grau zeigen, einmal dem Auge darbietet, so l\u00e4sst sich, so lange man nicht mehr als f\u00fcnf Stufen im ganzen w\u00e4hlt (zwischen Wei\u00df und Schwarz noch drei Abstufungen von Grau), jede ein-","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nIII. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nzelne Scheibe als \u00fcbereinstimmend mit einem bestimmten vorangegangenen Eindruck leicht wiedererkennen; nimmt man mehr Stufen, so ist dies nicht mehr m\u00f6glich. Es liegt nahe zu ver-muthen, dass dies mit den f\u00fcnf gel\u00e4ufigen Bezeichnungen Wei\u00df, Hellgrau, Grau, Dunkelgrau, Schwarz zusammenh\u00e4ngt. In der That best\u00e4tigt dies die Beobachtung, dass man durch willk\u00fcrliche Ein\u00fcbung einer gr\u00f6\u00dferen Zahl von Bezeichnungen auch mehr Stufen (eventuell bis zu 9) wiedererkennt. Nun kann zwar bei diesen Versuchen die Complication deutlich bewusst sein; sie braucht es aber, namentlich bei den gew\u00f6hnlichen 5 Stufen, zun\u00e4chst nicht zu sein: vielmehr wird hier in der Kegel die passende Bezeichnung erst gesucht, wenn der eigentliche Wiedererkennungsact schon vorbei ist.\n16. Die angef\u00fchrten Beobachtungen gehen nun auch \u00fcber die Bedingungen B.echenschaft, unter denen sich die Wiedererkennung aus einer simultanen in eine successive Association umwandeln kann. Verflie\u00dft n\u00e4mlich eine gewisse Zeit, bis die allm\u00e4hlich im Bewusstsein aufsteigenden fr\u00fcheren Vorstellungselemente ein deutliches Wiedererkennungsgef\u00fchl hervorrufen, so trennt sich der ganze Vorgang in zwei Acte, in den der Auffassung und in den der Wiedererkennung, von denen der erste zun\u00e4chst nur mit den gew\u00f6hnlichen simultanen Assimilationen verbunden ist, w\u00e4hrend bei dem zweiten die dunkler bleibenden nicht assimilirbaren Elemente der fr\u00fcheren Vorstellung ihre Wirkungen geltend machen. Dem entspricht es, dass sich der Wiedererkennungsvorgang um so deutlicher in jene zwei Acte gliedert, je gr\u00f6\u00dfer die Unterschiede des fr\u00fcheren und des neuen Eindrucks sind. Es pflegt dann nicht nur eine l\u00e4ngere Pause merklicher Hemmung zwischen Auffassung und Wiedererkennung zu liegen, sondern es wirken auch Apperceptionsvorg\u00e4nge, n\u00e4mlich die dem Zustand des Besinnens entsprechenden Processe der willk\u00fcrlichen Aufmerksamkeit, f\u00f6rdernd auf die Associationen ein. Einen","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 16. Die Associationen.\n281\nGrenzfall dieser Art bildet die Erscheinung, die man als \u00bbmittelbares Wiedererkennen\u00ab bezeichnet hat. Sie besteht darin, dass ein Gegenstand nicht verm\u00f6ge der ihm selbst zukommenden Eigenschaften, sondern mittelst irgend welcher begleitender Merkmale, die nur in zuf\u00e4lliger Verbindung mit ihm stehen, wiedererkannt wird, also z. B. eine begegnende Person mittelst einer andern die sie begleitet u. dergl. Ein wesentlicher psychologischer Unterschied zwischen diesen F\u00e4llen und denen des unmittelbaren Wie-dererkennens findet sich aber nicht: auch solche nicht dem wiedererkannten Gegenstand selbst zukommende Merkmale geh\u00f6ren immerhin zu dem ganzen Complex von Vorstellungselementen, die bei der Vorbereitung und dem schlie\u00df-lichen Zustandekommen der Association Zusammenwirken. Doch kommt begreiflicher Weise jene zeitliche Verz\u00f6gerung, die den ganzen Wiedererkennungsvorgang in zwei Vorstel-lungsprocesse sondert, und die h\u00e4ufig auch noch die Mith\u00fclfe des willk\u00fcrlichen Besinnens in Anspruch nimmt, meist in besonders ausgepr\u00e4gter Form bei diesen mittelbaren Wiedererkennungen vor.\n17. Der einfache Wiedererkennungsvorgang, wie er bei der Begegnung mit einem schon einmal wahrgenommenen Gegenst\u00e4nde sich abspielt, bildet nun den Ausgangspunkt zur Entwicklung der mannigfachsten anderen Associationsvorg\u00e4nge, sowohl solcher, die gleich ihm noch auf der Grenzscheide simultaner und successive!- Association stehen, wie auch anderer, bei denen die zur letzteren f\u00fchrende Verz\u00f6gerung in der Bildung der Assimilations- und Complications-verbindungen noch entschiedener zur Geltung kommt. So ist die Wiedererkennung eines oft wahrgenommen Gegenstandes ein erleichterter und darum in der Kegel simultan sich vollziehender Vorgang, der sich der gew\u00f6hnlichen Assimilation auch darin mehr n\u00e4hert, dass das Bekanntheitsgef\u00fchl","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"232 III- Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nvon weit geringerer Intensit\u00e4t ist. Von dieser Wiedererkennung gel\u00e4ufiger individueller Gegenst\u00e4nde unterscheidet sich der Vorgang des sinnlichen Erkennens in der Regel nur wenig. Der logische Unterschied beider Begriffe besteht darin, dass das Wiedererkennen eine Feststellung der individuellen Identit\u00e4t des neu wahrgenommenen mit einem fr\u00fcher wahrgenommenen Gegenst\u00e4nde, das Erkennen die Subsumtion des Objectes unter einen bereits gel\u00e4ufigen Begriff bezeichnet. Dabei findet nun aber bei dem Vorgang des sinnlichen Erkennens ebenso wenig eine wirkliche logische Subsumtion statt, wie ein ausgebildeter Gattungsbegriff existirt, welchem subsumirt werden k\u00f6nnte. Vielmehr liegt das psychologische Aequivalent einer solchen Subsumtion blo\u00df darin, dass der Eindruck auf eine unbestimmt gro\u00dfe Anzahl von Objecten bezogen wird. Indem nun dies die fr\u00fchere Wahrnehmung verschiedener Gegenst\u00e4nde, die nur in gewissen Eigenschaften \u00fcbereinstimmten, voraussetzt, f\u00e4llt der Erkennungsvorgang psychologisch um so mehr mit einer gew\u00f6hnlichen Assimilation zusammen, einer je gel\u00e4ufigeren Classe von Gegenst\u00e4nden das wahrgenommene Object angeh\u00f6rt, und je mehr es mit den allgemeinen Merkmalen der Classe \u00fcbereinstimmt. In gleichem Ma\u00dfe nimmt dann aber auch das den Erkennungs- und Wiedererkennungsvorg\u00e4ngen eigenth\u00fcmliche Gef\u00fchl ab und verschwindet schlie\u00dflich ganz, daher wir denn in solchen F\u00e4llen der Begegnung mit Objecten von gel\u00e4ufiger Beschaffenheit von einem Erkennungsvorgang \u00fcberhaupt nicht mehr zu reden pflegen. Dieser tritt auch hier erst deutlich hervor, sobald die Assimilation irgend welchen Hemmnissen begegnet, sei es weil die Wahrnehmung der betreffenden Classe von Gegenst\u00e4nden eine ungewohnte geworden ist, sei es weil der einzelne Gegenstand irgend welche abweichende Eigenschaften darbietet. Hier kann","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 16. Die Associationen.\n283\ndann zugleich die simultane der successiven Association weichen, indem Auffassung und Erkennung zu zwei auf einander folgenden Vorg\u00e4ngen werden. In gleichem Ma\u00dfe tritt nun aber auch erst das Erkennungsgefiihl als ein speci-fisches Gef\u00fchl hervor, das zwar dem Bekanntheitsgef\u00fchl verwandt ist, sich aber doch, gem\u00e4\u00df den abweichenden Bedingungen seiner Entstehung, namentlich durch seinen zeitlichen Verlauf charakteristisch unterscheidet.\nb. Die Erinnerungsvorg\u00e4nge.\n18. Each einer wesentlich andern Richtung entwickelt sich der einfache Wiedererkennungsvorgang, wenn jene Hindernisse sofortiger Assimilation, die den Uebergang der simultanen in eine successive Association veranlassen, so gro\u00df sind, dass die der neuen Wahrnehmung widerstreitenden Vorstellungselemente, entweder nachdem der Wiedererkennungsvorgang abgelaufen ist oder auch ohne dass es zu einem solchen kommt, zu einem besondern Vorstellungsgebilde sich vereinigen, das direct auf einen fr\u00fcher stattgefundenen Eindruck bezogen wird. Der so eintretende Vorgang ist ein Erinnerungsvorgang, und die auf diese Weise zur Apperception gelangende Vorstellung hei\u00dft eine Erinnerungsvorstellung oder ein Erinnerungsbild.\n18a. Die Erinnerungsvorg\u00e4nge sind es, auf die die Asso-eiationspsychologie zumeist die Anwendung des Begriffs der Association beschr\u00e4nkt bat. Da sie aber, wie die obige Darstellung zeigt, Associationen sind, die unter besonders verwickelten Bedingungen stattfinden, so wurde dadurch ein genetisches Verst\u00e4ndniss der Associationen von vornherein unm\u00f6glich gemacht, und es ist daher begreiflich, dass die herk\u00f6mmliche Associationslehre sich im wesentlichen auf eine nach logischen, nicht nach psychologischen Gesichtspunkten unternommene Ein-theilung der bei den Erinnerungsvorg\u00e4ngen zu beobachtenden verschiedenen Arten von Associationsproducten beschr\u00e4nkt. Eine","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nErkenntniss der bei den Erinnerungsassociationen wirksamen psychischen Processe ist aber selbstverst\u00e4ndlich nur dadurch zu gewinnen, dass man von den einfacheren Associationsprocessen ausgeht. Dann bieten sich von selbst als die Vorstufen der Erinnerungsassociation die gew\u00f6hnliche simultane Assimilation, der simultane und der successive Wiedererkennungsvorgang. Hierbei ist aber der erste dieser Wiedererkennungsvorg\u00e4nge nichts anderes als eine Assimilation, die von einem Gef\u00fchl begleitet ist, das auf dunkler im Bewusstsein anwesende, nicht assimilirbare Vorstellungselemente hinweist. Bei dem zweiten Vorgang \u00fcben diese abweichenden Elemente eine verz\u00f6gernde Wirkung aus, so dass sich die Wiedererkennung zur primitiven Form einer successiven Association entwickelt, indem zuerst der Eindruck in gew\u00f6hnlicher Weise, und dann in einem zweiten Acte mit begleitendem Bekanntheitsgef\u00fchl assimilirt wird, wobei dies zugleich ein Symptom st\u00e4rkerer Betheiligung bestimmter reproductiver Elemente ist. Werden bei dieser einfachsten Form successiver Association die beiden auf einander folgenden Vorstellungen noch auf einen und denselben Gegenstand bezogen, von dem nur in beiden Acten zum Theil abweichende Vorstellungs- und Gef\u00fchlselemente appercipirt werden, so \u00e4ndert sich das nun wesentlich bei der Erinnerungsassociation. Indem bei ihr die heterogenen Elemente der fr\u00fcheren Eindr\u00fccke vorherrschen, folgt der ersten Assimilation des Eindrucks die Bildung einer Vorstellung, in welcher sowohl Elemente des Eindrucks wie solche fr\u00fcherer, durch gewisse ihrer Bestand-theile assimilationsf\u00e4higer Eindr\u00fccke enthalten sind. Je mehr hierbei die differenten Elemente \u00fcberwiegen, um so mehr wird nun die an zweiter Stelle auftretende Vorstellung als eine von der neuen Wahrnehmung verschiedene, je mehr noch \u00fcbereinstimmende Elemente sich geltend machen, um so mehr wird sie als eine ihr \u00e4hnliche aufgefasst. Stets aber tritt zugleich die zweite Vorstellung als eine reproductiv entstandene und demnach als ein selbst\u00e4ndiges Gebilde dem neuen Eindruck gegen\u00fcber.\n19. Die allgemeinen Bedingungen, die der Entstehung der Erinnerungsvorstellungen zu Grunde liegen, k\u00f6nnen nun wieder Abstufungen und Unterschiede darbieten, die den oben er\u00f6rterten Formen der Wiedererkennungs- und","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a716. Die Associationen.\n285\nErkennungsvorg\u00e4nge parallel gehen. Es k\u00f6nnen n\u00e4mlicli die Processe, die wir oben als verschiedene Modificationen der gew\u00f6hnlichen Assimilation kennen lernten (15, 17), die Wiedererkennung eines schon einmal wahrgenommenen, die eines aus h\u00e4ufigen Wahrnehmungen gel\u00e4ufigen, sowie die Erkennung eines seinem allgemeinen Gattungscharakter nach bekannten Gegenstandes, zu verschiedenen Modificationen von Erinnerungsvorg\u00e4ngen Anlass gehen.\nDie einfache Wiedererkennung geht in einen Erinnerungsact \u00fcber, sobald der unmittelbaren Assimilation des Eindruckes solche Elemente hemmend entgegentreten, die nicht dem Gegenstand selbst, sondern den ihn in der fr\u00fcheren Wahrnehmung begleitenden Umst\u00e4nden angeh\u00f6ren. Gerade weil die fr\u00fchere Begegnung nur eine einmalige war oder doch nur als solche bei der Reproduction in Betracht kommt, k\u00f6nnen solche begleitende Elemente verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig klar und bestimmt sein und sich zugleich deutlich in ihrem Unterschied von der Umgebung des neuen Eindrucks geltend machen. Auf diese Weise treten hier zun\u00e4chst Mischformen zwischen Wiedererkennung und Erinnerung auf ; der Gegenstand wird wiedererkannt, und er wird zugleich auf eine bestimmte fr\u00fchere Wahrnehmung bezogen, deren begleitende Umst\u00e4nde dem Erinnerungsbild eine bestimmte Raum- und Zeitbeziehung beif\u00fcgen. Hierbei ist dann der Erinnerungsvorgang besonders in solchen F\u00e4llen \u00fcberwiegend, wo das assimilirend wirkende Element des neuen Eindrucks von den \u00fcbrigen Bestandtheilen des Erinnerungsbildes v\u00f6llig verdr\u00e4ngt wird, so dass die associative Beziehung zwischen diesem und dem vorangehenden Eindruck ganz verborgen bleiben kann.\n19 a. Man hat in diesen F\u00e4llen von \u00bbmittelbarer Erinnerung\u00ab oder \u00bbmittelbarer Association\u00ab gesprochen. Auch hier findet sich aber, ebenso wenig wie bei dem \u00bbmittelbaren Wiedererkennen\u00ab,","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nein principieller Unterschied gegen\u00fcber den gew\u00f6hnlichen Associationen. Jemand erinnert sich z. B. des Abends in seinem Zimmer sitzend pl\u00f6tzlich und scheinbar unvermittelt an eine Landschaft, die er vor vielen Jahren durchwandert hat; die n\u00e4here Nachforschung ergibt, dass sich zuf\u00e4llig im Zimmer eine auffallend riechende Blume befindet, die ihm bei jener Wanderung zum ersten Mal aufgesto\u00dfen war. Der Unterschied von einem gew\u00f6hnlichen Erinnerungsvorgang, bei dem man sich der Verbindung des neuen Eindrucks mit einem fr\u00fcheren Erlebniss deutlich bewusst ist, besteht augenscheinlich nur darin, dass hier die Elemente, die die Verbindung herstellen, durch andere Vorstellungselemente in den dunklen Hintergrund des Bewusstseins gedr\u00e4ngt sind. Wahrscheinlich sind die nicht seltenen Erfahrungen, wo pl\u00f6tzlich und scheinbar unvermittelt ein Erinnerungsbild in uns auftritt, und die man meist als ein so genanntes \u00bbfreies Aufsteigen\u00ab der Vorstellungen gedeutet hat, auf solche latente Associationen zur\u00fcckzuf\u00fchren.\n20. Von den Erinnerungsvorg\u00e4ngen, die sich an die einfache Wiedererkennung des schon einmal Erlebten anschlie\u00dfen, unterscheiden sich jene, die von mehrfachen Wiedererkennungen und von Erkennungen ausgehen, wesentlich in Folge der gr\u00f6\u00dferen Complication ihrer Bedingungen. Bei der Wahrnehmung eines individuell oder nach seinem Gattungscharakter gel\u00e4ufigen Gegenstandes ist zun\u00e4chst der Umfang m\u00f6glicher Associationsbeziehungen ein ungleich gr\u00f6\u00dferer, und es h\u00e4ngt daher nun weniger von den einzelnen Erlebnissen, auf denen die Association selbst beruht, als von allgemeinen Anlagen und momentanen Dispositionen des Bewusstseins, namentlich aber auch von dem Eingreifen bestimmter activer Apperceptionsvorg\u00e4nge und den mit ihnen zusammenh\u00e4ngenden intellectuellen Gef\u00fchlen und Affecten ab, in welcher Weise an irgend ein bestimmtes Erlebniss Erinnerungsvorg\u00e4nge sich anschlie\u00dfen. Bei der Mannigfaltigkeit dieser Bedingungen ist es begreiflich, dass sich im allgemeinen die Associationen jeder Vorausberechnung","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a716. Die Associationen.\n287\nentzieht, w\u00e4hrend dagegen, sobald der Erinnerungsact eingetreten ist, die Spuren seiner associativen Entstehung selten der aufmerksamen Nachforschung entgehen, so dass wir unter allen Umst\u00e4nden berechtigt sind, die Association als die allgemeine und einzige Ursache von Erinnerungsvorg\u00e4ngen zu betrachten.\n21. Bei dieser Ableitung ist aber nie zu vergessen, dass jeder reale Erinnerungsvorgang, wie das die psychologische Entwicklung desselben aus seiner einfachsten Vorstufe, der simultanen Assimilation, zeigt, keineswegs ein einfacher Process ist, sondern sich aus einer Menge elementarer Processe zusammensetzt. Unter diesen stehen auch hier in erster Linie die assimilirenden Wechselwirkungen, in die irgend ein gegebener Eindruck oder unter Umst\u00e4nden auch ein schon vorhandenes Erinnerungsbild mit Elementen fr\u00fcherer psychischer Gebilde tritt. Daran schlie\u00dfen sich dann als zwei weitere f\u00fcr den Erinnerungsvorgang als solchen charakteristische Processe: erstens die Hemmung der Assimilation durch ungleichartige Elemente, und zweitens die von diesen ungleichartigen Elementen ausgehenden Assimilationen und Complicationen, die zu dem Auftreten eines von dem ersten Eindruck verschiedenen psychischen Gebildes f\u00fchren, das namentlich durch die Mitwirkung der Complicationen mehr oder minder bestimmt auf irgend ein vorangegangenes Erlebniss bezogen wird. Diese R\u00fcckbeziehung gibt sich auch liier wieder durch ein eigenthiimliches Gef\u00fchl, das Erinnerungsgef\u00fchl, zu erkennen, das mit dem Be-kanntheitsgef\u00fchl verwandt, aber doch von ihm, wahrscheinlich in Folge der gro\u00dfen Zahl dunkel bewusster Complicationen, die das Auftreten des Erinnerungsbildes begleiten, in seiner zeitlichen Entstehungsweise charakteristisch verschieden ist.\nGeht man auf die elementaren Processe zur\u00fcck, in die sich hierbei der Erinnerungs- wie jeder zusammen-","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\ngesetzte Associationsvorgang zerlegen l\u00e4sst, so ergeben sich als solche Gleichheits- und Ber\u00fchrungsverbindungen, wobei im allgemeinen die ersteren \u00fcberwiegen, wenn sich der Vorgang einem gew\u00f6hnlichen Assimilationsund Wiedererkennungsprocess n\u00e4hert, w\u00e4hrend die letzteren um so st\u00e4rker zur Geltung kommen, je mehr die Vorg\u00e4nge den Charakter \u00bbmittelbarer\u00ab Erinnerungen oder den Schein eines \u00bbfreien Aufsteigens\u00ab von Vorstellungen annehmen.\n21a. Es ist augenf\u00e4llig, dass das \u00fcbliche Schema, nach welchem alle Erinnerungsvorg\u00e4nge entweder Aehnliehkeits- oder Ber\u00fchrungsassociationen sein sollen, v\u00f6llig unzutreffend wird, wenn man es auf die psychologische Entstehungsweise dieser Vorg\u00e4nge anwenden will, w\u00e4hrend es anderseits viel zu allgemein und unbestimmt ist, wenn man die Vorg\u00e4nge ohne R\u00fccksicht auf ihre Entstehung nach ihren Ergebnissen logisch ordnen will. Im letzteren Fall w\u00fcrden die Beziehungen der Unter- und Ueber-ordnung, der Coordination, der Causal- und Zweckbeziehung, die zeitliche Succession und Coexistenz, die verschiedenen Arten r\u00e4umlicher Verh\u00e4ltnisse in den allgemeinen Begriffen der \u00bbAehnlich-keit\u00ab und der \u00bbBer\u00fchrung\u00ab jedenfalls nur einen ungen\u00fcgenden Ausdruck finden. Was aber die Entstehungsweise der Erinnerungsvorg\u00e4nge betrifft, so greifen bei jedem einzelnen derselben Pro-cesse in einander ein, die sich in gewissem Sinne theils als Aehnliehkeits-, theils als Ber\u00fchrungswirkungen bezeichnen lassen. Von einer Aehnlichkeitswirkung k\u00f6nnte man n\u00e4mlich bei jenen Assimilationen reden, die theils den Vorgang einleiten, theils aber bei der ihn abschlie\u00dfenden R\u00fcckbeziehung auf ein bestimmtes fr\u00fcheres Erlebniss stattfinden. Gleichwohl ist hier der Ausdruck \u00bbAehnlichkeit\u00ab deshalb unpassend gew\u00e4hlt, weil vor allen Dingen gleiche Elementarprocesse assimilirend auf einander einwirken, und weil, wo eine wirkliche Gleichheit nicht existirt, diese doch stets durch die wechselseitige Assimilation zu Stande kommt. In der That ist der Begriff der \u00bbAehnlichkeitsassociationen\u00ab durchaus an die Voraussetzung gebunden, dass die zusammengesetzten Vorstellungen unver\u00e4nderliche psychische Objecte und die Associationen Verbindungen zwischen den fertigen Vorstellungen seien.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 16. Die Associationen.\n289\nJener Begriff wird daher von selbst hinf\u00e4llig, wenn man diese der psychologischen Erfahrung v\u00f6llig widersprechende und eine richtige Auffassung derselben unm\u00f6glich machende Vorraussetzung aufgibt. Wo gewisse Associationsproducte, z. B. zwei successiv auftretende Erinnerungsbilder, einander \u00e4hnlich sind, da wird dies stets auf Assimilationsprocesse zur\u00fcckzuf\u00fchren sein, die sich aus elementaren Gleichheits- und Ber\u00fchrungsverbindungen zusammensetzen. Die Clleichheitsverbindung kann hierbei ebenso gut zwischen urspr\u00fcnglich gleichen wie zwischen urspr\u00fcnglich verschiedenen und erst durch die Assimilation gleichwerdenden Bestandteilen zu Stande kommen. Eine Ber\u00fchrungswirkung l\u00e4sst sich aber jenen Elementen zuschreiben, die sich zun\u00e4chst der Assimilation widersetzen und so theils den ganzen Vorgang in eine Succession zweier Vorg\u00e4nge umwandeln, theils in das Erinnerungsbild diejenigen Bestandteile einf\u00fcgen, die ihm den Charakter eines selbst\u00e4ndigen, von dem inducirenden Eindruck verschiedenen Gebildes verleihen.\n22. Mit der verwickelten Natur der Erinnerungsvorg\u00e4nge stellt die Beschaffenheit der Erinnerungsvorstellungen im engsten Zusammenhang. Wenn diese nicht selten als schw\u00e4chere, sonst aber im allgemeinen treue Abbilder der directen Sinnesvorstellungen bezeichnet werden, so ist diese Schilderung so unzutreffend wie m\u00f6glich. Erinnerungsbilder und directe Sinnesvorstellungen weichen nicht nur qualitativ und intensiv, sondern auch in Ihrer elementaren Zusammensetzung durchaus von einander ab. Wenn wir einen Sinneseindruck noch so sehr an St\u00e4rke abnehmen lassen, so bleibt er daher, so lange er nur \u00fcberhaupt wahrnehmbar ist, immer noch ein von einer Erinnerungsvorstellung wesentlich verschiedenes Gebilde. Was die ErinnerungsVorstellung viel mehr kennzeichnet als die geringe Intensit\u00e4t ihrer Empfindungselemente, das ist die Unvollst\u00e4ndigkeit der Vorstellung. Wenn ich mich z. B. eines mir bekannten Menschen erinnere, so stehen nicht etwa blo\u00df die Z\u00fcge seines Angesichts, seiner Gestalt dunkler\nWundt, Psychologie.","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nin meinem Bewusstsein als bei seinem directen Anblick, sondern die meisten dieser Z\u00fcge existiren \u00fcberhaupt gar nicht. An die sp\u00e4rlichen Vorstellungselemente, die vorhanden sind, und die h\u00f6chstens bei absichtlicher Richtung der Aufmerksamkeit etwas vervollst\u00e4ndigt werden k\u00f6nnen, kn\u00fcpft sich dann aber eine Reihe von Ber\u00fchrungsverbindungen und Complicationen, wie die Umgebung, in der ich den Bekannten gesehen habe, sein Name, endlich besonders gewisse bei der Begegnung vorhanden gewesene Gef\u00fchlselemente; und diese begleitenden Bestandtheile sind es erst, die das Bild zu einem Erinnerungsbild machen.\n23. Uebrigens bestehen sowohl in der Wirksamkeit dieser begleitenden Elemente wie in der Deutlichkeit der Empfindungsbestandtheile der Erinnerungsbilder selbst gro\u00dfe individuelle Unterschiede. So sind bei manchen Menschen die Erinnerungsbilder pr\u00e4ciser zeitlich oder r\u00e4umlich orien-tirt als bei andern; die F\u00e4higkeit sich an Farben oder T\u00f6ne zu erinnern ist eine au\u00dferordentlich verschiedene. Deutlicher Geruchs- und Geschmackserinnerungen scheinen nur sehr wenige Menschen f\u00e4hig zu sein; statt ihrer treten dann begleitende Bewegungsempfindungen der Nase und der Geschmacksorgane als stellvertretende Complicationen ein.\n\u2022Die Sprache fasst diese mannigfach verschiedenen Eigenschaften, die mit den Wiedererkennungs- und Erinnerungsvorg\u00e4ngen Zusammenh\u00e4ngen, unter dem Namen des \u00bbGed\u00e4chtnisses\u00ab zusammen. Nat\u00fcrlich hat dieser Begriff nicht, wie die Verm\u00f6genspsychologie (S. 13) annahm, die Bedeutung einer einheitlichen psychischen Kraft; immerhin bleibt er gerade f\u00fcr die Hervorhebung der individuellen Unterschiede der Erinnerungsvorg\u00e4nge ein n\u00fctzlicher H\u00fclfs-begriff. In diesem Sinne reden wir von einem treuen, umfassenden, leichten Ged\u00e4chtnisse oder von einem guten Raum-, Zeit-, Wortged\u00e4chtniss u. dgl., Ausdr\u00fccke die auf","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 17. Die Apperceptionsverbindungen.\n291\ndie verschiedenen Richtungen hinweisen, in denen je nach urspr\u00fcnglicher Anlage und Uebung die elementaren Assimilations- und Complicationsvorg\u00e4nge verlaufen.\nEine wichtige Rolle unter diesen individuellen Unterschieden spielt der Alt erssch wun d des Ged\u00e4chtnisses, mit dessen Erscheinungen im allgemeinen auch die in Folge von Gehirnerkrankungen auftretenden Ged\u00e4chtnissst\u00f6rungen \u00fcbereinstimmen. Diese Erscheinungen sind psychologisch besonders deshalb bemerkenswertk, weil in ihnen deutlich der Einfluss der Complicationen auf die Erinnerungsvorg\u00e4nge zu erkennen ist. Zu den augenf\u00e4lligsten Symptomen des normalen wie des pathologischen Ged\u00e4chtnissschwundes geh\u00f6rt n\u00e4mlich die Abnahme des Wortged\u00e4chtnisses. Sie pflegt in der Regel derart einzutreten, dass am fr\u00fchesten die Eigennamen, dann die Namen concreter Gegenst\u00e4nde der t\u00e4glichen Umgebung, dann erst die ihrer Natur nach abstracteren Verba und zuletzt die ganz abstracten Partikeln vergessen werden. Diese Reihenfolge entspricht genau der f\u00fcr die einzelnen Wortgattungen vorhandenen M\u00f6glichkeit, durch andere, in regelm\u00e4\u00dfiger Complication mit ihnen verbundene Vorstellungen im Bewusstsein vertreten zu werden. Diese M\u00f6glichkeit ist offenbar bei den Eigennamen am gr\u00f6\u00dften, bei den abstracten Partikeln aber, die \u00fcberhaupt nur mittelst ihrer Wortzeichen festgehalten werden k\u00f6nnen, am kleinsten.\n\u00a7 17. Die Apperceptionsverbindungen.\n1. Die Associationen in allen ihren Formen werden von uns, ebenso wie die mit ihnen nahe zusammenh\u00e4ngenden Verschmelzungsprocesse, die der Entstehung der psychischen Gebilde zu Grunde liegen, als passive Erlebnisse aufgefasst, weil das f\u00fcr die Willens- und Aufmerksamkeitsvorg\u00e4nge\n19*","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\ncharakteristische Th\u00e4tigkeitsgef\u00fchl immer nur in der Weise in sie eingreift, dass es an die bereits gebildeten Verbindungen bei der Apperception gegebener psychischer Inhalte sich anschlie\u00dft. (Vgl. S. 255.) Die Associationen sind demnach Erlebnisse, die ihrerseits Willensvorg\u00e4nge erwecken k\u00f6nnen, selbst jedoch nicht unmittelbar durch Willens Vorg\u00e4nge beeinflusst werden. Eben dies ist uns aber das Kriterium eines passiven Erlebnisses.\nIn dieser Hinsicht unterscheiden sich nun wesentlich die Verbindungen zweiter Art, die zwischen verschiedenen psychischen Gebilden und ihren Elementen stattfinden k\u00f6nnen: die App erceptionsverbindungen. Bei ihnen folgt das Gef\u00fchl der Th\u00e4tigkeit, begleitet von wechselnderen Spannungsempfindungen, nicht blo\u00df den Verbindungen als eine von ihnen ausgel\u00f6ste Wirkung nach, sondern es gellt ihnen voraus, daher die Verbindungen selbst unmittelbar als unter der Mitwirkung der Aufmerksamkeit zu Stande k ommend aufgefasst werden. In diesem Sinne bezeichnen wir sie als active Erlebnisse.\n2. Die Apperceptionsverbindungen erstrecken sich \u00fcber eine Menge psychischer Vorg\u00e4nge, die die gew\u00f6hnliche Erfahrung durch gewisse Allgemeinbezeichnungen, wie Denken, Reflexion, Phantasie- und Verstandesth\u00e4tigkeit u. dgl., zu unterscheiden pflegt. Dabei pflegen sie zwar s\u00e4mmtlich als h\u00f6here Stufe psychischer Processe den sinnlichen Wahrnehmungen und den reinen Erinnerungsvorg\u00e4ngen gegen\u00fcber zu gelten, doch wird ihnen im einzelnen wieder ein v\u00f6llig verschiedenartiger Charakter zugeschrieben. Insbesondere wird f\u00fcr die so genannten Phantasie- und Ver-standesth\u00e4tigkeiten ein solcher Unterschied angenommen. Gegen\u00fcber dieser zersplitternden Auffassung der Vulg\u00e4rpsychologie und der ihren Spuren folgenden Verm\u00f6genstheorie suchte nun die Associationspsychologie dadurch","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 17. Die Apperceptionsverbindungen.\t293\neinen einheitlichen Standpunkt zu gewinnen, dass sie auch die apperceptiven VorstellungsVerbindungen dem allgemeinen Begriff der Association subsumirte, wobei \u00fcbrigens zugleich an der oben (S. 263) hervorgehobenen Beschr\u00e4nkung dieses Begriffs auf die successive Association festgehalten wurde. Bei dieser Reduction auf die Association wurden jedoch entweder die wesentlichen subjectiven wie objectiven Unterschiedsmerkmale der Apperceptionsverbindungen vernachl\u00e4ssigt, oder man suchte sich \u00fcber die Schwierigkeiten einer Erkl\u00e4rung derselben durch die Einf\u00fchrung gewisser der Vulg\u00e4rpsychologie entnommener H\u00fclfsbegrifle hinwegzusetzen, indem man dem \u00bbInteresse\u00ab oder der \u00bbIntelligenz\u00ab einen Einfluss auf die stattfindenden Associationen einr\u00e4umte. H\u00e4ufig lag dieser Auffassung \u00fcberdies das Miss-verst\u00e4ndniss zu Grunde, mit der Anerkennung bestimmter Unterschiede zwischen den Apperceptionsverbindungen und den Associationen solle \u00fcberhaupt eine absolute Unabh\u00e4ngigkeit jener von diesen behauptet werden. Nat\u00fcrlich kann aber davon keine Rede sein. An die Associationen sind gerade so gut wie an die urspr\u00fcnglichen Sinneseindr\u00fccke alle psychischen Vorg\u00e4nge gebunden. Aber wie die Associationen selbst sich \u00fcberall schon an den Sinneswahrnehmungen betheiligen und sich trotzdem in den Erinnerungsvorg\u00e4ngen zu relativ selbst\u00e4ndigen Processen gestalten, so ruhen wiederum die Apperceptionsverbindungen ganz und gar auf den Associationen, ohne dass es jedoch m\u00f6glich w\u00e4re, ihre wesentlichen Eigenschaften auf diese zur\u00fcckzuf\u00fchren.\n3. Suchen wir uns \u00fcber diese wesentlichen Eigenschaften der Apperceptionsverbindungen Rechenschaft zu geben, so lassen sich die in ihnen zum Ausdruck kommenden psychischen Vorg\u00e4nge wieder in einfache und in zusammengesetzte Functionen der Apperception","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nunterscheiden. Als einfache begegnen uns die Functionen der Beziehung und der Vergleichung; als zusammengesetzte die Functionen der Synthese und der Analyse.\nA. Die einfachen Apperceptionsfunctionen.\n(Beziehung und Vergleichung.)\n4. Die elementarste aller Functionen der Apperception ist die Beziehung zweier psychischer Inhalte auf einander. Die Grundlagen solcher Beziehung sind \u00fcberall in den einzelnen psychischen Gebilden und ihren Associationen gegeben; aber die Ausf\u00fchrung der Beziehung besteht in einer besonderen Apperceptionsth\u00e4tigkeit, durch welche erst die Beziehung selbst zu einem neben den auf einander bezogenen Inhalten vorhandenen, wenn auch freilich fest mit ihnen verbundenen besonderen Bewusstseinsinhalte wird. Wenn wir uns z. B. bei einer Wiedererkennung der Identit\u00e4t des Gegenstandes mit einem fr\u00fcher wahrgenommenen, oder wenn wir uns bei einer Erinnerung einer bestimmten Beziehung des erinnerten Erlebnisses zu einem gegenw\u00e4rtigen Eindruck bewusst werden, so verbindet sich hier mit den Associationen zugleich eine Function der Apperception in Gestalt beziehender Th\u00e4tigkeit.\nSo lange die Wiedererkennung eine reine Association bleibt, so beschr\u00e4nkt sich die Beziehung auf das unmittelbar oder nach einer kurzen Zwischenzeit der Assimilation des neuen Eindrucks folgende Bekanntheitsgef\u00fchl. Tritt dagegen zur Association die apperceptive Function hinzu, so gewinnt jenes Gef\u00fchl ein deutlich bewusstes Vorstellungssubstrat, indem die fr\u00fchere Wahrnehmung und der neue Eindruck von einander zeitlich unterschieden und zugleich nach ihren wesentlichen Eigenschaften in das Verh\u00e4ltnis der Identit\u00e4t gebracht werden. Aehnlich verh\u00e4lt es sich, wenn wir uns der Motive eines Erinnerungsactes bewusst","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a717. Die Apperceptionsverbindungen.\n295\nwerden. Auch dies setzt voraus, dass zu der associativen Entstehung des Erinnerungsbildes eine Vergleichung desselben mit den die Association ausl\u00f6senden Eindr\u00fccken hinzukomme, ein Vorgang der wiederum nur als eine Function der activen Aufmerksamkeit m\u00f6glich ist.\n5.\tAuf diese Weise wird durch die Associationen \u00fcberall da, wo sie oder ihre Producte zu Gegenst\u00e4nden willk\u00fcrlicher Beobachtung werden, die Function der Beziehung ausgel\u00f6st. Diese aber verbindet sich zugleich stets, wie schon die obigen Beispiele lehren, mit der Function der Vergleichung, so dass beide eigentlich nur als zusammengeh\u00f6rige Theilfunctionen angesehen werden k\u00f6nnen. Jede Beziehung schlie\u00dft eine Vergleichung der auf einander bezogenen psychischen Inhalte in sich, und eine Vergleichung ist hinwiederum erst dadurch m\u00f6glich, dass die verglichenen Inhalte zu einander in Beziehung gebracht werden. Blo\u00df insofern findet sich ein Unterschied, als sich in vielen F\u00e4llen die Vergleichung dem Zweck der wechselseitigen Beziehung der Inhalte vollst\u00e4ndig unterordnet, w\u00e4hrend sie in andern zu einem selbst\u00e4ndigen Zweck wird. Demgem\u00e4\u00df reden wir dann dort von einer Beziehung, hier von einer Vergleichung im engeren Sinne. So nenne ich es eine Beziehung, wenn ich einen gegenw\u00e4rtigen Eindruck als den Grund f\u00fcr die Erinnerung an ein fr\u00fcheres Erlebniss auffasse; eine Vergleichung dagegen, wenn ich zwischen dem fr\u00fcheren und dem jetzigen Erlebniss bestimmte Ueberein-stimmungen oder Unterschiede feststelle.\n6.\tDie Vergleichung setzt sich wieder aus zwei, in der Kegel auf das engste mit einander verbundenen Elementarfunctionen zusammen: aus der Uebereinstim-mung und der Unterscheidung, wobei wir den ersteren Ausdruck als Feststellung von Uebereinstimmungen, \u00e4hnlich wie den zweiten als solche von Unterschieden verstehen.","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296 III- Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nEs ist ein noch heute in der Psychologie weit verbreiteter Fehler, dass man mit der Existenz der psychischen Elemente und Gebilde ohne weiteres auch ihre apperceptive Vergleichung zusammenwirft. Beides ist durchaus zu trennen. Nat\u00fcrlich bestehen in unseren psychischen Vorg\u00e4ngen an und f\u00fcr sich schon Uebereinstimmungen und Unterschiede, und ohne dass sie vorhanden w\u00e4ren, w\u00fcrden wir sie nicht bemerken k\u00f6nnen. Immer aber bleibt die vergleichende Th\u00e4tigkeit, welche die Uebereinstimmungen und Unterschiede feststellt, eine von diesen selbst verschiedene, zu ihnen hinzutretende Function.\n7. Schon die psychischen Elemente, die Empfindungen und einfachen Gef\u00fchle, vergleichen wir nach ihren Ueber-einstimmungen und Unterschieden und bringen sie so in bestimmte Systeme, deren jedes die n\u00e4her zusammengeh\u00f6rigen Elemente enth\u00e4lt. Innerhalb eines solchen Systems, insbesondere eines Empfindungssystems, ist dann wieder eine doppelte Vergleichung m\u00f6glich: die der Intensit\u00e4tsgrade und der Qualit\u00e4tsgrade, zu denen \u00fcberdies, sobald man die Art, wie die Elemente im Bewusstsein gegeben sind, in Betracht zieht, noch die der Klarheits-grade hinzutreten kann. In gleicher Weise erstreckt sich die Function der Vergleichung \u00fcber die zusammengesetzten intensiven und extensiven psychischen Gebilde. Jedes psychische Element und jedes psychische Gebilde ist, insofern es in ein irgendwie geordnetes, gradweise abgestuftes System eingeordnet werden kann, eine psychische Gr\u00f6\u00dfe. Eine Auffassung des Werthes einer solchen Gr\u00f6\u00dfe ist aber nur dadurch m\u00f6glich, dass dieselbe mit andern Gr\u00f6\u00dfen desselben Continuums verglichen wird. Kommt daher auch die Gr\u00f6\u00dfeneigenschaft als solche, und zwar im allgemeinen in verschiedenen Formen, n\u00e4mlich als Intensit\u00e4t, als Qualit\u00e4t, als extensiver (r\u00e4umlicher oder zeitlicher) Werth, und","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 17. Die Apperceptionsverbindungen.\t297\neventuell, n\u00e4mlich wenn die verschiedenen Bewusstseinszustande ber\u00fccksichtigt werden, als Klarheitsgrad, jedem psychischen Element und jedem psychischen Gebilde an und f\u00fcr sich schon zu, so ist doch eine Gr\u00f6\u00dfenbestimmung nur mittelst der apperceptiven Function der Vergleichung-m\u00f6glich.\nS. Hierbei unterscheidet sich nun die psychische von der physischen Gr\u00f6\u00dfenbestimmung durch die Eigenschaft, dass diese, weil sie an relativ constanten Objecten ausgef\u00fchrt werden kann, ein Vergleichungsverfahren gestattet, das in fast beliebig getrennten zeitlichen Acten vorgenommen werden kann: wir k\u00f6nnen z. B. heute durch Barometermessung die H\u00f6he eines gewissen Berges und dann \u00fcber Jahr und Tag die H\u00f6he eines andern Berges bestimmen und gleichwohl, so lange sich nur in der Zwischenzeit keine merklichen Erdrevolutiouen ereignet haben, die Resultate beider Messungen mit einander vergleichen. Da hingegen die psychischen Gebilde nicht relativ feste Objecte sondern fortw\u00e4hrend flie\u00dfende Vorg\u00e4nge sind, so k\u00f6nnen wir zwei psychische Gr\u00f6\u00dfen nur unter der Bedingung vergleichen, dass sie uns in unmittelbarer Aufeinanderfolge gegeben werden. Diese Bedingung f\u00fchrt von selbst die zwei andern mit sich, dass es f\u00fcr die psychische Vergleichung keine absoluten Ma\u00dfst\u00e4be gibt, sondern dass jede Gr\u00f6\u00dfenvergleichung ein zun\u00e4chst f\u00fcr sich alleinstehender und daher blo\u00df relativ g\u00fcltiger Vorgang ist; und dass ferner Gr\u00f6\u00dfenvergleichungen jeweils nur an Gr\u00f6\u00dfen einer und derselben Dimension vorgenommen werden k\u00f6nnen, dass also hier eine analoge Uebertragung, wie sie bei der Reduction der verschiedensten physischen Gr\u00f6\u00dfen, wie Zeitgr\u00f6\u00dfen, Kraftgr\u00f6\u00dfen, auf lineare r\u00e4umliche Gr\u00f6\u00dfen vorgenommen wird, bei den psychischen Gro\u00df en Vergleichungen unm\u00f6glich ist.","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\n9.\tDiese Verh\u00e4ltnisse bringen es mit sich, dass nicht psychische Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse von beliebiger Beschaffenheit direct festgestellt werden k\u00f6nnen, sondern dass eine unmittelbare Vergleichung nur f\u00fcr gewisse ausgezeichnete Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse m\u00f6glich ist. Solche ausgezeichnete Verh\u00e4ltnisse sind: 1) die Gleichheit zweier psychischer Gr\u00f6\u00dfen und 2) der eben merkliche Unterschied zweier Gr\u00f6\u00dfen, z. B. zweier Empfindungsintensit\u00e4ten von gleicher Qualit\u00e4t oder zweier der n\u00e4mlichen Dimension angeh\u00f6render Empfindungsqualit\u00e4ten von gleicher Intensit\u00e4t. Hierzu kommt dann noch als ein etwas verwickelter er, aber dennoch die Grenzen unmittelbarer Vergleichung noch nicht \u00fcberschreitender Fall: 3) die Gleichheit zweier Gr\u00f6\u00dfenunterschiede, namentlich wenn diese unmittelbar an einander grenzenden Gr\u00f6\u00dfengebieten angeh\u00f6ren. Es ist augenscheinlich, dass bei jeder dieser drei Arten psychischer Gr\u00f6\u00dfenmessung die beiden fundamentalen Functionen apper-ceptiver Vergleichung, Uebereinstimmung und Unterscheidung, neben einander zur Anwendung kommen. Bei der ersten stuft man von zwei psychischen Gr\u00f6\u00dfen A und B die zweite B so lange ab, bis sie f\u00fcr die unmittelbare Vergleichung mit A \u00fcbereinstimmt. Bei der zweiten ver\u00e4ndert man von zwei urspr\u00fcnglich gleichen Gr\u00f6\u00dfen A und B die eine, B, so lange, bis sie entweder eben merklich gr\u00f6\u00dfer oder eben merklich kleiner als A erscheint. Die dritte endlich wendet man am zweckm\u00e4\u00dfigsten in der Form an, dass man eine Strecke psychischer Gr\u00f6\u00dfen, z. B. von Empfindungsst\u00e4rken, die von A als unterer bis zu C als oberer Grenze reicht, durch eine mittlere Gr\u00f6\u00dfe B, die wieder durch stetige Abstufung gefunden wird, so eintheilt. dass die Theilstrecken A B und B C als gleich aufgefasst werden.\n10.\tDie am unmittelbarsten und einfachsten zu ver-werthenden Ergebnisse unter diesen Vergleichungsmethoden","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a717. Die Apperceptionsverbind\u00fcngen.\n299\nliefert die zweite, die als Methode der minimalen Unterschiede bezeichnet wird. Nennt man bei ihr den Unterschied der beiden physischen Reize, die den eben unterscheidbaren psychischen Gr\u00f6\u00dfen entsprechen, die Unterschiedsschwelle des Reizes, und nennt man ferner diejenige Reizgr\u00f6\u00dfe, bei der der zugeh\u00f6rige psychische Vorgang, z. B. eine Empfindung, eben noch apper-cipirt werden kann, die Reizschwelle, so ergibt die Beobachtung, dass die Unterschiedsschwelle des Reizes mit der Entfernung von der Reizschwelle immer mehr w\u00e4chst, und zwar so, dass das Verh\u00e4ltniss der Unterschiedsschwelle zur absoluten Gr\u00f6\u00dfe des Reizes oder die relative Unterschiedsschwelle constant bleibt. Muss man z. B. eine Schallst\u00e4rke 1 um vermehren, damit die Schallempfindung eben merklich gr\u00f6\u00dfer werde, so muss man die Schallst\u00e4rke 2 um 3 um -\u00a7- wachsen lassen u. s. w., um die Unterschiedsschwelle zu erreichen. Dieses Gesetz wird nach seinem Entdecker E.H. Weber das Weber\u2019sche Gesetz genannt. Dasselbe ist ohne weiteres verst\u00e4ndlich, wenn wir es als ein Gesetz der apperceptiven Vergleichung auffassen. Denn unter dieser Voraussetzung hat es offenbar die Bedeutung, dass psychische Gr\u00f6\u00dfen nach ihrem relativen Werth verglichen werden.\nDiese Auffassung des Weber\u2019schen Gesetzes als eines allgemeinen Gesetzes der Relativit\u00e4t psychischer Gr\u00f6\u00dfen setzt voraus, dass die psychischen Gr\u00f6\u00dfen selbst, die der Vergleichung unterworfen werden, innerhalb der Grenzen der G\u00fcltigkeit des Weber\u2019schen Gesetzes den sie bedingenden Reizen proportional wachsen. Die Richtigkeit dieser Voraussetzung hat bis jetzt wegen der Schwierigkeit, die Nerven- und Sinneserregungen exact zu messen, physiologisch noch nicht nachgewiesen werden k\u00f6nnen. Dagegen spricht f\u00fcr sie die psychologische Erfahrung, dass in","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nIII. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\ngewissen besonderen F\u00e4llen, in denen durch die Bedingungen der Beobachtung eine Vergleichung absoluter Gr\u00f6\u00dfenunterschiede nahe gelegt wird, statt der Constanz der relativen eine Constanz der absoluten Unterschiedsschwelle gefunden worden ist: so z. B. in weitem Umfang bei der Vergleichung minimaler Tonb\u00f6henunterschiede. Ebenso wurden in vielen F\u00e4llen bei der Vergleichung von gr\u00f6\u00dferen Empfindungsstrecken nach der dritten der oben (S. 298) angegebenen Methoden gleiche absolute, nicht gleiche relative Reizunterschiede als gleich aufgefasst. Hieraus ergibt sich, dass die apperceptive Vergleichung unter abweichenden Bedingungen zwei verschiedenen Principien folgt, einem Princip der relativen Vergleichung, das in dem \"VVeber\u2019schen Gesetz seinen Ausdruck findet und als das allgemeinere betrachtet werden muss, und einem Princip der absoluten Vergleichung, welches unter besonderen, eine solche Auffassung beg\u00fcnstigenden Bedingungen an die Stelle des vorigen tritt.\n10a. Das Weber\u2019sche Gesetz ist in erster Linie f\u00fcr Empfindungsintensit\u00e4ten und sodann noch in gewissem Umfang f\u00fcr die Vergleichung extensiver Gebilde, namentlich zeitlicher Vorstellungen sowie in gewissen Grenzen auch f\u00fcr die r\u00e4umlichen Gesichtsvorstellungen und f\u00fcr die Bewegungsvorstellungen, naeh-gewiesen. Dagegen trifft es f\u00fcr die extensiven Vorstellungen des \u00e4u\u00dferen Tastsinns, offenbar wegen der verwickelten Abstufungen der Localzeichen (S. 124), nicht zu. Ebenso l\u00e4sst es sich durchg\u00e4ngig bei den Empfindungsqualit\u00e4ten nicht best\u00e4tigen. Bei der Vergleichung der Tonh\u00f6hen erweist sich in weiten Grenzen nicht die relative, sondern die absolute Unterschiedsschwelle als constant. Doch ist die Abstufung der Tonintervalle wieder eine relative, indem jedes Intervall einem bestimmten Verh\u00e4ltniss der Schwingungszahlen entspricht (z. B. Octave 1 : 2, Quinte 2 : 3 u. s. w.); dies beruht aber wahrscheinlich auf den durch die Verh\u00e4ltnisse eines Grundtons zu seinen Obert\u00f6nen bestimmten Eigenschaften der Klangverwandtschaft. (Vgl. S. 113 ff.) Wo an Stelle des Weber\u2019schen Relativit\u00e4tsgesetzes eine absolute Gr\u00f6\u00dfen-","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a717. Die Apperceptionsverbindungen.\n301\nVergleichung stattfindet, da ist diese nat\u00fcrlich niemals mit einer Feststellung absoluter Ma\u00dfe zu verwechseln. Eine solche w\u00fcrde eine absolute Einheit, also die M\u00f6glichkeit der Gewinnung eines constanten Ma\u00dfstabes voraussetzen, was, wie oben bemerkt, auf psychischem Gebiet ausgeschlossen ist (S. 297). Vielmehr tritt die absolute Gr\u00f6\u00dfenvergleichung immer nur in der Form der Gleichsch\u00e4tzung gleicher absoluter Unterschiede auf. Eine solche ist aber von Fall zu Fall m\u00f6glich, ohne dass eine constant bleibende Gr\u00f6\u00dfeneinheit vorhanden w\u00e4re. So vergleichen wir z. B. zwei Empfindungsstrecken A B und B C nach ihrem relativen Werthe, wenn wir bei beiden das Verh\u00e4ltniss der oberen zur unteren Grenzempfindung auffassen. In diesem Fall beurtheilen wir die Strecken A B und B C als gleichwertig,\nwenn \u2014 = ist (Weber\u2019sches Gesetz). Wir vergleichen dagegen\nA B und B C nach ihrem absoluten Werthe, wenn uns innerhalb der untersuchten Empfindungsdimension der Abstand von C und B gleich dem von B und A, also C \u2014 B = B \u2014 A, erscheint (Proportionalit\u00e4tsgesetz). Indem man das Weber\u2019sche Gesetz als einen Ausdruck f\u00fcr die functioneile Beziehung zwischen Empfindung und Reiz betrachtete und voraussetzte, dass es noch f\u00fcr unendlich kleine Aenderungen beider gelte, hat man ihm auch die mathematische Form der logarithmischen Function gegeben: die Empfindung w\u00e4chst proportional dem Logarithmus des Reizes (Fechner\u2019s fflfycho-physisches Gesetz).\nDie Methoden zur Nachweisung des Weber\u2019schen Gesetzes oder anderer Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen zwischen psychischen Elementen und Gebilden pflegt man psycho-physische Methoden zu nennen, ein ungeeigneter Ausdruck, weil die Thatsache, dass man sich physischer H\u00fclfsmittel bedient, auch allen andern Methoden der experimentellen Psychologie eigen ist. Zweckm\u00e4\u00dfiger werden sie daher \u00bbMethoden der psychischen Gr\u00f6\u00dfenmessung\u00ab genannt. Im allgemeinen kann man bei diesen Methoden zum Behuf der Auffindung der oben bemerkten ausgezeichneten Punkte in doppelter Weise verfahren. Entweder ermittelt man jene Punkte direct, indem man von zwei psychischen Gr\u00f6\u00dfien A und B die eine A constant l\u00e4sst und die andere B so lange abstuft, bis sie einem jener ausgezeichneten Punkte entspricht, also entweder gleich A oder eben merklich gr\u00f6\u00dfer oder eben","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nmerklich kleiner ist u. s. w.: Einstellungsmethoden. Dahin geh\u00f6rt namentlich die am h\u00e4ufigsten benutzte und am directesten zum Ziel f\u00fchrende \u00bbMethode der Minimal\u00e4nderungen\u00ab; und, als eine Art Modification derselben f\u00fcr den Pall der Gleicheinstellung, die \u00bbMethode der mittleren Fehler\u00ab. Oder man vergleicht in oft wiederholten Versuchen zwei beliebig, aber sehr wenig verschiedene Eeize A und B und berechnet aus der Zahl der F\u00e4lle, in denen A = B, A~^> B, A <[ B gesch\u00e4tzt wurde, die ausgezeichneten Punkte, namentlich die Unterschiedsschwellen: Abz\u00e4hlungsmethoden. Die haupts\u00e4chlich hier angewandte Methode hat man als die der \u00bbrichtigen und falschen F\u00e4lle\u00ab bezeichnet. Sie w\u00fcrde richtiger die \u00bbMethode der drei F\u00e4lle\u00ab (Gleichheit, positiver, negativer Unterschied) genannt werden. Das N\u00e4here \u00fcber diese und andere Methoden geh\u00f6rt in eine specielle Darstellung der experimentellen Psychologie.\nIn Bezug auf die Deutung des Weber\u2019schen Gesetzes sind noch immer neben der oben entwickelten psychologischen zwei andere vertreten, die man die physiologische und die psycho-physische nennen kann. Jene leitet dasselbe aus irgend welchen hypothetischen Verh\u00e4ltnissen der Leitung der Erregungen im centralen Nervensystem ab. Diese betrachtet es als ein specifisches Gesetz der \u00abWechselwirkung zwischen Leib und Seele\u00ab. Von diesen beiden Deutungen ist aber die physiologische nicht nur ganz hypothetisch, sondern auch auf gewisse F\u00e4lle, z. B. zeitliche und r\u00e4umliche Vorstellungen, unanwendbar. Die psycho-physische Deutung beruht auf einer Auffassung des Verh\u00e4ltnisses von Leib und Seele, die von der heutigen Psychologie nicht mehr festgehalten werden kann. (Vgl. \u00a7 22, 8.)\n11. Einen Specialfall der im allgemeinen unter das Weber\u2019sche Gesetz fallenden apperceptiven Vergleichungen bilden diejenigen Erscheinungen, bei denen die zu vergleichenden Gr\u00f6\u00dfen zugleich als relativ gr\u00f6\u00dfte Unterschiede oder, wenn es sich um Gef\u00fchle handelt, als Gegens\u00e4tze aufgefasst werden. Diese Erscheinungen pflegt man unter dem Gesammtnamen des Contrastes zusammenzufassen. Dabei pflegen jedoch gerade auf dem-","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 17. Die Apperceptionsverbindungen.\n303\njenigen Gebiete, auf welchem die Contrasterscheinungen bis dahin am genauesten untersucht sind, bei den Gesichtsempfindungen, zwei in ihren Ursachen offenbar v\u00f6llig verschiedene, wenn auch in ihren Wirkungen bis zu einem gewissen Grade verwandte Erscheinungen zusammengeworfen zu werden, die wir als den physiologischen und den psychologischen Contrast unterscheiden k\u00f6nnen. Der physiologische Contrast h\u00e4ngt mit den Nachbilderscheinungen auf das engste zusammen und ist vielleicht sogar mit denselben identisch. (S. 82f.) Davon wesentlich verschieden ist der psychologische Contrast. Er wird bei intensiveren Eindr\u00fccken stets durch den st\u00e4rkeren physiologischen Contrast \u00fcberdeckt. Von diesem unterscheidet er sich jedoch durch zwei wichtige Merkmale : erstens erreicht er nicht bei den gr\u00f6\u00dften Helligkeiten und S\u00e4ttigungen, sondern bei denjenigen mittleren Stufen, bei denen das Auge f\u00fcr Hellig-keits- und S\u00e4ttigungs\u00e4nderungen am empfindlichsten ist, seine gr\u00f6\u00dfte St\u00e4rke; und zweitens kann er durch die Vergleichung mit einem unabh\u00e4ngig gegebenen Object aufgehoben werden. Besonders durch das letztere Merkmal gibt sich dieser Contrast ohne weiteres als das Product eines Vergleichungsvorganges zu erkennen. Wenn mau z. B. ein graues Quadrat auf schwarzem und daneben ein Quadrat vom gleichen Grau auf wei\u00dfem Grunde anbringt und dann das Ganze mit durchsichtigem Seidenpapier \u00fcberdeckt, so erscheinen die beiden Quadrate ganz verschieden: das auf dem schwarzen Grunde sieht hell, beinahe wei\u00df, das auf dem wei\u00dfen Grunde sieht dunkel, beinahe schwarz aus. Da die Nachbild- und Irradiationswirkungen bei der geringen Helligkeit der Objecte verschwindend klein sind, so kann man annehmen, dass die Erscheinung wesentlich dem psychologischen Contraste angeh\u00f6rt. H\u00e4lt man nun ein aus schwarzem Carton hergestelltes Lineal, das ebenfalls","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nmit dem durchsichtigen Papier bedeckt ist und daher genau in dem n\u00e4mlichen Grau wie die beiden Quadrate erscheint, so an die letzteren, dass es die unteren Enden derselben verbindet, so wird der Contrastunterschied der beiden Quadrate entweder ganz aufgehoben oder doch stark vermindert. W\u00e4hlt man in diesem Versuch statt des farblosen einen farbigen Hintergrund, so erscheint das graue Quadrat sehr auffallend in der zugeh\u00f6rigen Complement\u00e4rfarbe ; aber auch dieser Contrast kann durch die Vergleichung mit einem unabh\u00e4ngigen grauen Object zum Verschwinden gebracht werden.\n12. Der psychologische Contrast findet sich nun nicht blo\u00df bei den Empfindungen aller andern Sinnesgebiete, sofern die Bedingungen zu seiner Nachweisung g\u00fcnstig sind, sondern besonders stark ausgepr\u00e4gt bei den Gef\u00fchlen, und endlich unter geeigneten Bedingungen bei den extensiven r\u00e4umlichen und zeitlichen Vorstellungen. Verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig am freiesten von ihm sind die Empfindungen der Tonh\u00f6hen, wo ihm die bei den meisten Menschen ziemlich gut ausgebildete F\u00e4higkeit absolute Tonh\u00f6hen wiederzuerkennen entgegenwirkt. Bei den Gef\u00fchlen h\u00e4ngt die Wirkung des Contrastes mit der Eigenschaft aller Gef\u00fchle , sich nach bestimmten Gegens\u00e4tzen zu entwickeln, eng zusammen. Namentlich werden Lustgef\u00fchle durch unmittelbar vorangegangene Unlustgef\u00fchle und manche Entspannungsgef\u00fchle durch die vorangegangenen Spannungsgef\u00fchle, so z. B. das Gef\u00fchl der Erf\u00fcllung durch das der vorangegangenen Erwartung, gehoben. Bei den r\u00e4umlichen und zeitlichen Vorstellungen zeigt sich die Wirkung des Contrastes am deutlichsten, wenn eine und dieselbe Raumoder Zeitstrecke das eine Mal mit einer kleineren, das andere Mal mit einer gr\u00f6\u00dferen Strecke verglichen wird. Die n\u00e4mliche Strecke erscheint dann beidemal verschieden: dort im Verh\u00e4ltniss zur kleinen vergr\u00f6\u00dfert, hier im Ver-","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"g 17. Die Apperceptionsverbindungen.\t305\nh\u00e4ltniss zur gro\u00dfen verkleinert. Auch in diesem Fall kann man aber hei den r\u00e4umlichen Vorstellungen den Contrast beseitigen, wenn man ein Vergleichsobject so zwischen den contrastirenden Strecken anbringt, dass eine gleichzeitige Beziehung beider auf dasselbe leicht m\u00f6glich ist.\n13.\tAls eine besondere Modification des psychologischen Contrastes lassen sich die Erscheinungen betrachten, die bei der Auffassung von Eindr\u00fccken eintreten, deren wirkliche von ihrer erwartet en Beschaffenheit abweicht. Wenn man z. B. darauf vorbereitet ist ein schweres Gewicht zu heben, w\u00e4hrend sich bei der wirklichen Hebung das Gewicht als leicht erweist, oder wenn man umgekehrt statt des erwarteten leichten ein schweres Gewicht hebt, so tritt dort eine Untersch\u00e4tzung, hier eine Uebersch\u00e4tzung des gehobenen Gewichtes ein. Stellt man eine Keihe genau gleicher Gewichte her, die ein verschiedenes Volum besitzen, so dass sie wie ein aufsteigender Gewichtssatz aussehen, so scheinen bei der Hebung die Gewichte eine verschiedene Schwere zu besitzen, und zwar scheint das kleinste Gewicht das schwerste und das gr\u00f6\u00dfte das leichteste zu sein. Hierbei wirkt die gel\u00e4ufige Association des gr\u00f6\u00dferen Volums mit der gr\u00f6\u00dferen Masse unterst\u00fctzend. Die abweichende Sch\u00e4tzung selbst wird aber doch durch den Contrast der wirklichen mit der erwarteten Empfindung hervorgebracht.\nB. Die zusammengesetzten Apperceptionsfunctionen.\n(Synthese und Analyse.\n14.\tIndem die einfachen Functionen der Beziehung und der Vergleichung in mehrfacher Wiederholung und Verbindung zur Anwendung kommen, gehen aus ihnen die beiden zusammengesetzten psychischen Functionen der Synthese und der Analyse hervor. Unter ihnen ist die\nWu ndt, Psychologie.\t20","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306 UI. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nSynthese zun\u00e4chst das Product der beziehenden, die Analyse das der vergleichenden Apperceptionsth\u00e4tigkeit.\nAls verbindende Function ruht die apperceptive Synthese auf den Verschmelzungen und Associationen. Sie scheidet sich von diesen durch die Willk\u00fcr, mit der bei ihr von den durch die Association bereit liegenden Vorstellungsund Gef\u00fchlsbestandtheilen einzelne bevorzugt und andere zur\u00fcckgedr\u00e4ngt werden, eine Auswahl deren Motive im allgemeinen erst aus der ganzen zur\u00fcckliegenden Entwicklung des individuellen Bewusstseins erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen. Das Product der Synthese ist in Folge dessen ein zusammengesetztes Ganzes, dessen Bestandteile s\u00e4mmtlich von fr\u00fcheren Sinneswahrnehmungen und deren Associationen herstammen, in welchem sich aber die Verbindung dieser Bestandteile mehr oder minder weit von den wirklichen Eindr\u00fccken und ihren unmittelbar in der Erfahrung gegebenen Verbindungen zu entfernen pflegt.\nInsofern die Vorstellungsbestandtheile eines durch apperceptive Synthese entstandenen Gebildes als die Tr\u00e4ger des \u00fcbrigen Inhaltes betrachtet werden k\u00f6nnen, bezeichnen wir ein solches Gebilde allgemein als eine Gesammtvorstel-lung. Wo die Verbindung der Elemente des Ganzen als eine eigenartige, von den Verschmelzungs- und Associations-producten der Eindr\u00fccke erheblich abweichende erscheint, da wird die Gesammtvorstellung, ebenso wie jeder ihrer relativ selbst\u00e4ndigen Vorstellungsbestandteile, wohl auch eine Phantasievorstellung oder ein Phantasiebild genannt. Da \u00fcbrigens die willk\u00fcrliche Synthese der Elemente je nach der Natur der Motive, unter deren Einwirkung sie stattfindet, bald mehr bald weniger von den in den unmittelbaren Sinneswahrnehmungen und ihren Associationen gegebenen Verbindungen sich entfernen kann, so ist es selbstverst\u00e4ndlich, dass praktisch keine scharfe Grenze zwischen","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 17. Die Appereeptionsverbindungen.\t307\nPhantasie- und Erinnerungsbildern zu ziehen ist. Auch bildet das positive Merkmal der willk\u00fcrlichen Synthese ein \u25a0wesentlicheres Kennzeichen des apperceptiven Vorgangs als das negative der keiner einzelnen bestimmten Sinneswahrnehmung entsprechenden Beschaffenheit der Verbindung. Zugleich liegt hierin der augenf\u00e4lligste \u00e4u\u00dfere Unterschied der Phantasie- von den blo\u00dfen Erinnerungsbildern begr\u00fcndet. Er besteht darin, dass jene in ihrer Klarheit und Deutlichkeit wie auch meist in der Vollst\u00e4ndigkeit und St\u00e4rke ihres Empfindungsinhaltes den unmittelbaren Sinneswahrnehmungen n\u00e4her stehen als diese. Dies erkl\u00e4rt sich wohl daraus, dass jene wechselseitig hemmenden Wirkungen, welche die frei schwebenden Associationen auf einander aus\u00fcben, und welche es zu einer festeren Gestaltung der Erinn erungs-bilder nicht kommen lassen, durch die willk\u00fcrliche Bevorzugung bestimmter Vorstellungsgebilde vermindert oder beseitigt werden. Man kann daher in Phantasiebildern sich ergehen wie in wirklichen Erlebnissen. Bei Erinnerungsbildern ist das nur dann m\u00f6glich, wenn sie zu Phantasiebildern werden, d. h. wenn man die Erinnerungen nicht mehr blo\u00df passiv in sich aufsteigen l\u00e4sst, sondern bis zu einem gewissen Grade frei mit ihnen schaltet, wobei dann freilich auch willk\u00fcrliche Ver\u00e4nderungen derselben, eine Vermengung erlebter mit erdichteter Wirklichkeit, nicht zu fehlen pflegt. Darum bestehen alle unsere Lebenserinnerungen aus \u00bbDichtung und Wahrheit\u00ab. Unsere Erinnerungsbilder wandeln sich unter dem Einfl\u00fcsse unserer Gef\u00fchle und unseres Willens in Phantasiebilder um, \u00fcber deren Aehnlichkeit mit der erlebten Wirklichkeit wir meist uns selbst t\u00e4uschen.\n15. An die so durch apperceptive Synthese entstandenen Gesammtvorstellungen schlie\u00dft nun in zwei Formen die in entgegengesetzter Richtung th\u00e4tige Apperceptions-function der Analyse sich an. Die erste ist unter dem","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nIII. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nVulg\u00e4rnamen der Phantasieth\u00e4tigkeit, die zweite unter dem der Verstandesth\u00e4tigkeit bekannt. Beide sind \u00fcbrigens durchaus nicht, wie diese Namen vermuth en lassen, verschiedene, sondern nahe verwandte und fast immer mit einander verbundene Vorg\u00e4nge. Was sie zun\u00e4chst scheidet, und worauf alle weiteren secund\u00e4ren Unterschiede dieser Formen der apperceptiven Analyse sowie die R\u00fcckwirkungen, die sie auf die synthetische Function aus\u00fcben, beruhen, ist das sie bestimmende Grundmotiv.\nDieses besteht bei der \u00bbPhantasieth\u00e4tigkeit\u00ab in der Nacherzeugung wirklicher oder der Wirklichkeit analoger Erlebnisse. Unmittelbarer an die Associationen sich anlehnend ist die Phantasieth\u00e4tigkeit die urpr\u00fcng-lichere Form der apperceptiven Analyse. Sie beginnt mit einer mehr oder minder umfassenden, aus mannigfachen \\ or-stellungs- und Gef\u00fchlselementen bestehenden Gesammtvor-stellung, die den allgemeinen Inhalt eines zusammengesetzten Erlebnisses umfasst, in welchem die einzelnen Bestandtheile zun\u00e4chst nur unbestimmt ausgepr\u00e4gt sind. Diese Gesammt-vorstellung zerlegt sich dann in einer Reihe successiver Acte in eine Anzahl bestimmterer theils zeitlich theils r\u00e4umlich verbundener Gebilde. So schlie\u00dfen hier an eine prim\u00e4re willk\u00fcrliche Synthese analytische Acte sich an, in Folge deren wieder Motive einer neuen Synthese und damit einer Wiederholung des ganzen Processes mit einer theilweise ver\u00e4nderten oder mit einer beschr\u00e4nkteren Gesammtvor-stellung entstehen k\u00f6nnen.\nDie Phantasieth\u00e4tigkeit zeigt zwei Entwicklungsstufen. Die erste, mehr passive, geht unmittelbar aus den gew\u00f6hnlichen Erinnerungsfunctionen hervor. Sie findet sich namentlich in der Form der Anticipation der Zukunft fortw\u00e4hrend in unserem Gedankenlauf und spielt als Vorbereitung der Willensvorg\u00e4nge eine wichtige Rolle in der psy-","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 17. Die Apperceptionsverbin d\u00fcngen.\t309\nchischen Entwicklung. Doch kann sie in analoger Weise als ein beliebiges Hineindenken in imagin\u00e4re Lebenslagen oder in \u00e4u\u00dfere Erscheinungsfolgen Vorkommen. Die zweite, activere Entwicklungsstufe stebt unter dem Einfluss streng festgehaltener Zweckvorstellungen und setzt daher einen h\u00f6heren Grad willk\u00fcrlicher Gestaltung der Phantasiebilder und ein h\u00f6heres Ma\u00df theils hemmender theils ausw\u00e4hlender Wirkungen gegen\u00fcber den unwillk\u00fcrlich sich aufdr\u00e4ngenden Erinnerungsbildern voraus. Schon die urspr\u00fcngliche Synthese der Gesammtvorstellung ist hier eine planvollere. Eine einmal entstandene Gesammtvorstellung wird strenger festgehalten und durch eine vollst\u00e4ndigere Analyse in ihre Be-standtheile zerlegt, wobei solche Bestandtheile h\u00e4ufig wieder untergeordnete Gesammtvorstellungen bilden, auf die der n\u00e4mliche Process der Analyse abermals Anwendung findet. Auf diese Weise beherrscht das Princip der zweckm\u00e4\u00dfigen organischen Gliederung alle Producte und Processe der activen Phantasieth\u00e4tigkeit. In deutlichster Weise zeigt sich dies an den Erzeugnissen der Kunst. Doch finden sich schon in dem gew\u00f6hnlichen freien Spiel der Phantasie in dieser Beziehung die mannigfachsten Ueberg\u00e4nge zwischen der passiven, noch unmittelbarer an die Erinnerungsfunctionen sich anlehnenden und der activen, von festeren Zwecken geleiteten Phantasieth\u00e4tigkeit.\n1 (5. Dieser Nachbildung wirklicher oder als Wirklichkeit vorstellbarer Erlebnisse gegen\u00fcber, die den Inhalt der unter dem Begriff der \u00bbPhantasie\u00ab zusammengefassten appercep-tiven Functionen ausmacht, besteht nun das Grundmotiv der \u00bbVerstandesth\u00e4tigkeit\u00ab in der Auffassung der Ueber-einstimmungen und Unterschiede, sowie der aus diesen sich entwickelnden sonstigen logischen Verh\u00e4ltnisse der Erfahrungsinhalte. Demnach geht die Verstandesth\u00e4tigkeit urspr\u00fcnglich ebenfalls von Gesammtvor-","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310 TU. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nStellungen aus, in denen eine Anzahl wirklicher oder als wirklich vorstellbarer Erlebnisse willk\u00fcrlich in Beziehung-gesetzt und zu einem einheitlichen Ganzen verbunden sind. Aber der hierauf folgenden Analyse ist nun durch das abweichende Grundmotiv ein anderer Weg vorgezeichnet. Die Analyse besteht n\u00e4mlich hier nicht mehr blo\u00df in einer klareren Vergegenw\u00e4rtigung der einzelnen Bestandtheile der Gesammtvorstellung, sondern in der Feststellung der durch die vergleichende Function zu gewinnenden mannigfachen Verh\u00e4ltnisse, in denen diese Bestandtheile zu einander stehen, eine Feststellung, f\u00fcr welche dann, sobald nur einmal mehrfach solche Analysen vollzogen sind, anderweitig gewonnene Ergebnisse der Beziehung und Vergleichung herbeigezogen werden.\nIn Folge dieser strengeren Anwendung der beziehenden und vergleichenden Elementarfunctionen folgt die Verstan-desth\u00e4tigkeit schon in ihrer \u00e4u\u00dferen Form, namentlich auf den vollkommeren Stufen, festeren Regeln. Das im allgemeinen bereits f\u00fcr die Phantasie- und selbst f\u00fcr die blo\u00dfe Erinnerungsth\u00e4tigkeit g\u00fcltige Princip, dass sich uns die zur Apperception gelangenden Beziehungen verschiedener psychischer Inhalte zu einander nicht simultan, sondern suc-cessiv darbieten, so also dass wir jeweils von einer Beziehung zu einer folgenden fortschreiten, wird bei den Verstandesfunctionen zu einer Regel der diseur si v en Gliederung der Gesammtvorstellungen. Sie findet ihren Ausdruck in dem Gesetz der Dualit\u00e4t der logischen Denkformen, nach welchem die durch beziehende Vergleichung entstehende Analyse den Inhalt einer Gesammt-vorstellung zun\u00e4chst in zwei Theile zerlegt, Subject und Pr\u00e4dicat, worauf dann an jedem dieser Theile die \u00e4hnliche Zweigliederung sich eventuell noch einmal oder mehrmals wiederholen kann, Untergliederungen die durch die ebenfalls","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a717. Die Apperceptionsverbindungen.\n311\ndual einander gegen\u00fcberstellenden und nach ihrem logischen Verh\u00e4ltniss dem des Subjectes Und Pr\u00e4dicates analogen grammatischen Katogorien von Nomen und Attribut, Verbum und Object, Verbum und Adverbium bezeichnet werden. Auf diese Weise geht hier aus dem Process der apper-ceptiven Analyse das Urtheil, das sprachlich in dem Satze seinen Ausdruck findet, hervor.\nF\u00fcr das psychologische Verst\u00e4ndniss der Urtheilsfunction ist es von fundamentaler Bedeutung, dass dieselbe nicht als eine synthetische, sondern als eine analytische Function aufzufassen ist. Die urspr\u00fcnglichen Gesammtvorstellungen, die das Urtheil in seine auf einander bezogenen Bestandteile gliedert, sind durchaus \u00fcbereinstimmend mit den Phantasievorstellungen. Die Zerlegungsproducte, die auf diese Weise entstehen, sind aber nicht, wie bei der Phantasieth\u00e4tigkeit, Phantasievorstellungen von beschr\u00e4nkterem Umfang und gr\u00f6\u00dferer Klarheit, sondern Begriffs Vorstellungen, wobei wir mit dem letzteren Ausdruck solche Vorstellungen bezeichnen, die zu andern dem n\u00e4mlichen Ganzen angeh\u00f6renden Theilvorstellungen in irgend einer der Beziehungen stehen, die durch die Anwendung der allgemeinen Functionen der Beziehung und Vergleichung auf Vorstellungsinhalte gewonnen werden. Nennt man die Gesammtvorstellung, die einer derartigen beziehenden Analyse unterworfen wird, einen Gedanken, so ist demnach das Urtheil die Gliederung eines Gedankens in seine Bestandteile, der Begriff das Product einer solchen Gliederung.\n17. Die Begriffe, die auf diesem Wege gewonnen werden, ordnen sich nach der Art der stattgehabten Analyse in gewisse allgemeine Classen. Solche Classen sind die Begriffe von Gegenst\u00e4nden, Eigenschaften, Zust\u00e4nden. Indem die Urtheilsfunction in der Gliederung einer Gesammtvorstellung besteht, setzt sie einen Gegenstand zu einer Eigenschaft","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312 Hl- Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\noder einem Zustand, oder setzt sie verschiedene Gegenst\u00e4nde zu einander in Beziehung. Da nun hierbei der einzelne Begriff eigentlich niemals isolirt vorgestellt werden kann, insofern er in dem Ganzen der Vorstellung stets an einen andern Begriff oder eine Mehrheit anderer Begriffe gebunden ist, so unterscheiden sich die Begriff'svorstellungen in sein-auffallender Weise durch ihre Unbestimmtheit und Ver\u00e4nderlichkeit von den Phantasievorstellungen. Diese Unbestimmtheit wird dann wesentlich noch dadurch vermehrt, dass sich in Folge des \u00fcbereinstimmenden Ablaufs verschiedener Urtheilsgliederungen solche Begriffe bilden, die als Be-standtheile vieler in ihrer concreten Beschaffenheit variabler Vorstellungen Vorkommen, so dass ein einzelner Begriff in unabsehbar vielen einzelnen Abwandlungen existirt. Solchen Allgemeinbegriffen, die wegen der Ausdehnung der beziehenden Analyse auf verschiedene Urtheilsinhalte, bald die \u00fcberwiegende Mehrheit der Begriffe \u00fcberhaupt bilden, entpricht dann aber stets eine gro\u00dfe Anzahl einzelner Vorstellungsinhalte. So bleibt denn nichts anderes \u00fcbrig, als dass irgend eine einzelne Vorstellung als Stellvertreterin des Begriffs gew\u00e4hlt wird. Dadurch gewinnen dann die Begriffsvorstellungen wieder eine gr\u00f6\u00dfere Bestimmtheit. Es verbindet sich aber freilich zugleich mit jeder solchen Vorstellung das in der Regel nur in der Form eines eigenth\u00fcmlichen Gef\u00fchls zum Ausdruck kommende Bewusstsein der blo\u00df stellvertretenden Bedeutung. Dieses Begriffsgef\u00fchl l\u00e4sst sich wohl darauf zur\u00fcckf\u00fchren, dass dunklere Vorstellungen, die s\u00e4mmtlich zur Vertretung des Begriffs geeignete Eigenschaften besitzen, sich in der Form wechselnder Erinnerungsbilder zur Auffassung dr\u00e4ngen. Hierf\u00fcr spricht besonders die Thatsache, dass das Begriffsgef\u00fchl so lange sehr intensiv ist, als irgend eine der concreten Verwirklichungen des allgemeinen Begriffs als repr\u00e4sentative","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 17. Die Apperceptionsverbindungen.\n313\nVorstellung gew\u00e4hlt wird, wie z. B. ein individueller Mensch f\u00fcr den Begriff des Menschen, wogegen es fast ganz verschwindet, sobald die repr\u00e4sentative Vorstellung ihrem Inhalte nach v\u00f6llig von den Objecten des Begriffs verschieden ist. Darin dass die Wortvorstellungen diesen Zweck erf\u00fcllen, liegt zu einem gro\u00dfen Tlieil die Bedeutung, die ihnen als allgemeing\u00fcltigen H\u00fclfsmitteln des Denkens zukommt. Da dem einzelnen Bewusstsein diese H\u00fclfsmittel bereits in fertigem Zustande \u00fcberliefert werden, so muss \u00fcbrigens die Frage nach der psychologischen Entwicklung der in der Sprache sich beth\u00e4tigenden H\u00fclfsfunctionen des Denkens der V\u00f6lkerpsychologie \u00fcberlassen bleiben. (Vgl. \u00a721, A.)\n18. Phantasie- und Verstandesth\u00e4tigkeit sind nach allem dem nicht specifisch verschiedene, sondern zusammengeh\u00f6rige, in ihrer Entstehung und in ihren Aeu\u00dferungen gar nicht zu trennende Funtionen, die in letzter Instanz auf die n\u00e4mlichen Grundfunctionen der apperceptiven Synthese und Analyse zur\u00fcckf\u00fchren. Auch mit den Begriffen Phantasie und Verstand verh\u00e4lt es sich daher \u00e4hnlich wie mit dem des Ged\u00e4chtnisses. Sie bezeichnen nicht einheitliche Kr\u00e4fte oder Verm\u00f6gen, sondern complexe Erscheinungsformen elementarer psychischer Vorg\u00e4nge nicht von specifischer, sondern von allgemeing\u00fcltiger Art. Wie das Ged\u00e4chtniss ein Allgemeinbegriff f\u00fcr die Erinnerungsvor-\u2022 g\u00e4nge, so sind Phantasie und Verstand Allgemeinbegriffe f\u00fcr bestimmte Richtungen der apperceptiven Functionen. Einen gewissen praktischen Nutzen haben auch sie nur insofern, als sie bequeme H\u00fclfsmittel abgeben, um die unendlich mannigfaltigen Unterschiede individueller Beanlagung f\u00fcr die intellectuellen Processe in gewisse Klassen zu ordnen, innerhalb deren dann freilich wieder unendlich mannigfache Abstufungen und Nuancen m\u00f6glich sind. So","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nlassen sich als Hauptarten der Phantasiebegabung, abgesehen von der allgemeinen Gradunterschieden, die anschauliche und die combinirende Phantasie, als Hauptarten der Verstandesbegabung der vorzugsweise den einzelnen logischen Beziehungen und ihren Verkn\u00fcpfungen zugekehrte inductive und der mehr auf allgemeine Begriffe und ihre Analyse gerichtete deductive Verstand unterscheiden. Als das Talent eines Menschen bezeichnen wir dann die Gesammt-anlage, die ihm in Folge der besonderen Richtungen sowohl seiner Phantasie- wie seiner Verstandesbegabung eigen ist.\n\u00a7 18. Psychische Zust\u00e4nde.\nJ. Der normale Zustand des Bewusstseins, der den Betrachtungen der vorangegangenen \u00a7\u00a7 zu Grande gelegt wurde, kann in so mannigfaltiger Weise Ver\u00e4nderungen erfahren, dass die allgemeine Psychologie um so mehr darauf verzichten muss diese Ver\u00e4nderungen eingehender zu schildern, als die wichtigeren derselben, diejenigen n\u00e4mlich, die bei den verschiedenen Nerven-, Gehirn- und Geisteskrankheiten zu beobachten sind, besonderen, an die Psychologie angrenzenden oder theilweise auf sie sich st\u00fctzenden Gebieten der Pathologie zugeh\u00f6ren. Hier kann es sich daher nur darum handeln, auf die haupts\u00e4chlichsten psychologischen Bedingungen solcher abweichender Zust\u00e4nde des Bewusstseins hinzuweisen. Derartiger Bedingungen lassen sich, gem\u00e4\u00df dem was \u00fcber die Eigenschaften der psychischen Vorg\u00e4nge und \u00fcber ihren Zusammenhang im Bewusstsein bemerkt wurde, im allgemeinen drei unterscheiden. Sie k\u00f6nnen n\u00e4mlich bestehen: 1) in der abweichenden Beschaffenheit der psychischen Elemente, 2) in der Art der Zusammensetzung der psychischen Gebilde, und 3) in der Verbindungsweise der Gebilde im Bewusstsein. Bei dem","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 IS. Psychische Zust\u00e4nde.\t315\nengen Zusammenhang dieser verschiedenen Factoren ist aber in der Kegel keine dieser drei Bedingungen, deren jede wieder in den mannigfaltigsten concreten Formen Vorkommen kann, f\u00fcr sich allein wirksam, sondern sie pflegen sich zu verbinden, indem namentlich die abweichende Beschaffenheit der Elemente auch eine solche der Gebilde und die letztere hinwiederum Ver\u00e4nderungen in dem allgemeinen Zusammenhang der Bewusstseinsvorg\u00e4nge herbeif\u00fchrt.\n2.\tDie psychischen Elemente, die Empfindungen und einfachen Gef\u00fchle, zeigen stets nur in dem Sinne Ver\u00e4nderungen, dass das normale Verh\u00e4ltniss zwischen ihnen und ihren psychophysischen Bedingungen irgendwie gest\u00f6rt ist. Bei den Empfindungen lassen sich solche Ver\u00e4nderungen auf ein Ab- und Zunehmen der Erregbarkeit gegen\u00fcber den Sinnesreizen (An\u00e4sthesie und Hyper\u00e4sthesie zur\u00fcckf\u00fchren, wie sie namentlich in den Sinnescentren in Folge verschiedener physiologischer Einfl\u00fcsse Vorkommen. Als psychologisches Symptom ist hierbei vorzugsweise die erh\u00f6hte Erregbarkeit von Bedeutung, da sie einer der h\u00e4ufigsten Bestandtheile zusammengesetzter psychischer St\u00f6rungen ist. Aehnlich verrathen sich Ver\u00e4nderungen der einfachen Gef\u00fchle als Ab- oder Zunahme der Gef\u00fchlserregbarkeit in den Depressions- oder Exaltationszust\u00e4nden, die sich in der Art des Verlaufs der Affecte und Willensvor-vorg\u00e4nge zu erkennen geben. Auf diese Weise werden die Ver\u00e4nderungen der psychischen Elemente \u00fcberhaupt erst durch den Einfluss, den sie auf die Beschaffenheit der verschiedenen psychischen Gebilde aus\u00fcben, nachweisbar.\n3.\tUnter den Ver\u00e4nderungen der Vorstellungsgebilde besitzen die auf peripherer oder centraler An\u00e4sthesie beruhenden Vorstellungsdefecte im allgemeinen nur eine beschr\u00e4nkte Bedeutung; sie \u00fcben auf den Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge keine tieferen Wirkungen aus.","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nIII. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nWesentlich anders verh\u00e4lt sich dies mit der durch centrale Hyper\u00e4sthesie hervorgerufenen relativen Steigerung der Empfindungsintensit\u00e4t. Ihre Wirkung ist namentlich deshalb eine sehr eingreifende, weil durch sie reproductive Empfindungselemente die St\u00e4rke \u00e4u\u00dferer Sinneseindr\u00fccke erreichen k\u00f6nnen. In Folge dessen kann es geschehen, dass entweder reine Erinnerungsbilder als Wahrnehmungen ob-jectivirt werden: Ilallucinationen; oder dass, wenn direct erregte und reproductive Elemente sich verbinden, durch die Intensit\u00e4t der letzteren der Sinneseindruck wesentlich ver\u00e4ndert erscheint: phantastische Illusionen1). Praktisch sind beide nur insofern zu unterscheiden, als sich zwar in sehr vielen F\u00e4llen bestimmte Vorstellungen als phantastische Illusionen nachweisen lassen, wogegen das Vorhandensein einer reinen Hallucination fast immer zweifelhaft bleibt, da irgend welche directe Empfindungselemente sehr leicht \u00fcbersehen werden k\u00f6nnen. In der That ist es nicht unwahrscheinlich, dass weitaus die meisten so genannten Hallucinationen Illusionen sind. Die letzteren aber geh\u00f6ren ihrer psychologischen Natur nach durchaus zu den Assimilationen (S. 267 ff). Sie k\u00f6nnen geradezu als Assimilationen mit starkem Uebergewicht der reproductiven Elemente definirt werden. Wie die normalen Assimilationen mit den successiven Associationen in nahem Zusammenhang stehen, so sind daher auch die phantastischen Illusionen mit den rillten (5) zu besprechenden Ver\u00e4nderungen des associa-tiven Vorstellungsverlaufs auf das engste verkn\u00fcpft.\n4. Bei den zusammengesetzten Gef\u00fchls- und Willens-\n1) Den Ausdruck \u00bbphantastische Illusionen\u00ab w\u00e4hlt man, wenn diese Art der Illusionen von den bei normalem Bewusstseinszustand vorkommenden Sinnest\u00e4uschungen, wie z. B. der Strahlenfigur der Sterne in Folge der Lichtzerstreuung in der Krystalllinse, der verschiedenen scheinbaren Gr\u00f6\u00dfe von Sonne und Mond am Horizont und Zenith u. s. w., unterschieden werden soll.","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 18. Psychische Zust\u00e4nde.\n317\nVorg\u00e4ngen scheiden sich die Abweichungen von dem normalen Verhalten deutlich in Depressions- und Exaltationszust\u00e4nde. Jene bestehen in dem Vorwalten der hemmenden, asthenischen, diese in einem solchen der erregenden, sthenischen Affecte, w\u00e4hrend dort zugleich Verz\u00f6gerung oder v\u00f6llige Hemmung der Willensentschl\u00fcsse, hier \u00fcberm\u00e4\u00dfig rasche, triebartige Wirksamkeit der Motive zu beobachten ist. Da schon das normale Seelenleben einen fortw\u00e4hrenden Wechsel der Gem\u00fcthsbewegungen darbietet, so ist es bei diesen im allgemeinen schwerer, die Grenze zwischen normalem und abnormem Verhalten zu bestimmen, als bei den Vorstellungsgebilden. Ebenso erscheint der in pathologischen F\u00e4llen h\u00e4ufig sehr auffallende Wechsel zwischen Depressions- und Exaltationszust\u00e4nden nur als eine Steigerung des Schwankens der Gef\u00fchle und Affecte um eine Indifferenzlage (S. 40, 95). Die Depressions- und Exaltationszust\u00e4nde bilden besonders charakteristische Symptome allgemeiner psychischer St\u00f6rungen, daher auch ihre n\u00e4here Schilderung der psychischen Pathologie \u00fcberlassen werden muss. Da die psychischen Allgemeinerkrankungen stets zugleich Symptome von Gehirnerkrankungen sind, so sind \u00fcbrigens zweifellos auch diese Abweichungen der Gef\u00fchlsund Willensvorg\u00e4nge, \u00e4hnlich wie diejenigen der Empfindungen und Vorstellungen, von physiologischen Ver\u00e4nderungen begleitet. Die Natur derselben ist uns aber noch unbekannt; man kann nur vermuthen, dass sie, gem\u00e4\u00df der zusammengesetzteren Beschaffenheit der Gem\u00fcthsbewegungen, entweder einen ausgedehnteren Sitz haben als die centralen Erregbarkeitsver\u00e4nderungen bei den Hallucinationen und Illusionen, oder dass sie sich auf centralere, directer an den Apper-oeptionsprocessen betheiligte Gehirngebiete erstrecken.\n5. Mit den sensoriellen Erregbarkeits\u00e4nderungen, den Depressions- und Exaltationsznst\u00e4nden, verbinden sich in","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nder Regel zugleich Ver\u00e4nderungen in dem Zusammenhang und Verlauf der psychischen Vorg\u00e4nge, die wir, gem\u00e4\u00df dem f\u00fcr diesen Zusammenhang gebildeten Begriff des Bewusstseins (S. 238), als abnorme Ver\u00e4nderungen des Bewusstseins bezeichnen. So lange sich die Abweichung von der Norm auf die einzelnen psychischen Gebilde, die Vorstellungen, Affecte, Willensvorg\u00e4nge, beschr\u00e4nkt, ist zwar selbstverst\u00e4ndlich durch die Ver\u00e4nderungen dieser seiner Bestandtheile auch das Bewusstsein ver\u00e4ndert. Aber von einer Abnormit\u00e4t des Bewusstseins als solcher reden wir doch immer erst dann, wenn nicht blo\u00df die einzelnen psychischen Gebilde, sondern auch ihre Verbindungen irgend welche erheblichere Abweichungen darbieten. Diese stellen sich freilich, sobald jene elementareren St\u00f6rungen tiefere sind, immer ein, da ja die Verbindungen der Elemente zu Gebilden und der Gebilde unter einander Processe sind, die continuirlich in einander \u00fcbergehen.\nEntsprechend den verschiedenen Verbindungsprocessen, die den Zusammenhang des Bewusstseins ausmachen (S. 262), lassen sich nun im allgemeinen drei Arten von Abnormit\u00e4ten des Bewusstseins unterscheiden: 1) Associations\u00e4nderungen, 2) Ver\u00e4nderungen der Apperceptionsverbindungen, und 3) Ver\u00e4nderungen in dem Verh\u00e4ltniss beider Verbinbindungsformen zu einander.\n6. Associations\u00e4nderungen entstehen zun\u00e4chst als unmittelbare Folgen der elementareren St\u00f6rungen. Indem die sensorielle Erregbarkeitssteigerung die normalen Assimilationen in phantastische Illusionen umwandelt, werden zugleich die associativen Wiedererkennungsvorg\u00e4nge (S. 278) wesentlich alterirt: bald kann das Bekannte als ein Unbekanntes, bald das Unbekannte als ein Bekanntes erscheinen, je nachdem die reproductiven Elemente auf bestimmte fr\u00fchere Vorstellungen zur\u00fcckgreifen oder weit von einander","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 18. Psychische Zust\u00e4nde.\n319\nentfernten Wahrnehmungs Vorg\u00e4ngen entlehnt sind. Ferner wirkt die gesteigerte sensorielle Erregbarkeit auf eine Beschleunigung der Associationen hin, in Folge deren wieder die \u00e4u\u00dferlichsten, durch zuf\u00e4llige Eindr\u00fccke oder Gewohnheits\u00fcbung naheliegendsten dominiren. Die Depressionsund Exaltationszust\u00e4nde dagegen werden vorzugsweise f\u00fcr die Qualit\u00e4t und Richtung der Associationen bestimmend.\nAehnlich wirken die elementaren Vorstellungs- und Gef\u00fchlsver\u00e4nderungen auf die Apperceptionsverbindungen tlieils hemmend oder beschleunigend, theils richtunggebend ein. Zugleich f\u00fchren jedoch alle erheblicheren Abweichungen der Vorstellungs- und Gef\u00fchlsprocesse hier die weitere Folge mit sich, dass die an die active Aufmerksamkeit gebundenen Vorg\u00e4nge mehr oder minder erschwert werden, so dass in vielen F\u00e4llen nur noch einfachere Apperceptionsverbindungen, ja manchmal \u00fcberhaupt nur noch solche m\u00f6glich sind, die durch Uebung in Associationen \u00fcbergegangen sind. Hiermit h\u00e4ngen schlie\u00dflich auch die Ver\u00e4nderungen zusammen, die in dem Verh\u00e4ltniss der Apperceptionsverbindungen zu den Associationen eintreten. Indem n\u00e4mlich die bisher er\u00f6rterten Einfl\u00fcsse auf die Associationen vorzugsweise f\u00f6rdernd, auf die Apperceptionsverbindungen dagegen hemmend einwirken, entsteht als h\u00e4ufigstes Symptomenbild irgend tiefer greifender psychischer St\u00f6rungen ein starkes Uebergewicht der Associationen. Am deutlichsten tritt dies dann hervor, wenn, wie bei vielen Geisteskrankheiten, die Bewusstseinsst\u00f6rung ein stetig zunehmender Process ist. Hier beobachtet man, dass die Functionen der Apperception, die den so genannten Phantasie- und Verstandesth\u00e4tigkeiten zu Grunde liegen, immer mehr von Associationen \u00fcberwuchert werden, bis diese endlich allein \u00fcbrig bleiben. Erst bei noch weiter fortschreitender St\u00f6rung werden allm\u00e4hlich auch die Associationen beschr\u00e4nkt und ziehen sich auf gewisse Vorzugs-","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320 III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nweise einge\u00fcbte Verbindungen (fixe Ideen) zur\u00fcck, ein Zustand der endlich in vollst\u00e4ndige geistige Paralyse \u00fcbergeht.\n7.\tAbgesehen von den eigentlichen Geisteskrankheiten finden sich die soeben er\u00f6rterten Abweichungen des Bewusstseins vorzugsweise in zwei in die Breite des normalen Lebens fallenden Zust\u00e4nden: im Traum und in der Hypnose.\nDie Vorstellungen des Traumes gehen jedenfalls zum gr\u00f6\u00dften Theil von Sinnesreizen, namentlich auch von solchen des allgemeinen Sinnes aus, und sie sind daher zumeist phantastische Illusionen, wahrscheinlich nur zum kleineren Theil reine, zu Hallucinationen gesteigerte Erinnerungsvorstellungen. Auffallend ist au\u00dferdem das Zur\u00fccktreten der Apperceptionsverbindungen gegen\u00fcber den Associationen, womit die oft vorkommenden Ver\u00e4nderungen und Vertauschungen des Selbstbewusstseins, die Verwirrungen des Urtheils u. dgl. Zusammenh\u00e4ngen. Das Unterscheidende des Traumes von andern \u00e4hnlichen psychischen Zust\u00e4nden liegt \u00fcbrigens weniger in diesen positiven Eigenschaften als in der Beschr\u00e4nkung der durch die Hallucinationen bezeugten Erregbarkeitserh\u00f6hung auf die sensorischen Functionen, w\u00e4hrend die \u00e4u\u00dferen Willensth\u00e4tigkeiten beim gew\u00f6hnlichen Schlaf und Traum vollst\u00e4ndig gehemmt sind.\nWenn sich die phantastischen Traumvorstellungen zugleich mit entsprechenden Willenshandlungen verbinden, so entstehen die im ganzen seltenen, bereits gewissen Formen der Hypnose verwandten Erscheinungen des Sclilafwan-delns. Am h\u00e4ufigsten kommen solche motorische Begleiterscheinungen beschr\u00e4nkt auf die Sprachbewegungen. als Sprechen im Traum, vor.\n8.\tAls Hypnose bezeichnet man gewisse dem Schlaf und Traum verwandte Zust\u00e4nde, die durch bestimmte psychische Einwirkungen hervorgerufen werden, und in denen","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 18. Psychische Zust\u00e4nde.\n321\ndas Bewusstsein im allgemeimen ein zwischen Wachen und Schlaf in der Mitte stehendes Verhalten darbietet. Die haupts\u00e4chlichste Entstehungsursache der Hypnose ist die Suggestion, d. h. die Mittheilung einer gef\u00fchlsstarken Vorstellung, welche in der Kegel von einer fremden Pers\u00f6nlichkeit in Form eines Befehles mitgetheilt wird (Fremdsuggestion), zuweilen aber auch von dem Hypnotisirten selbst hervorgebracht werden kann (Autosuggestion). Der Befehl oder Vorsatz zu schlafen, bestimmte Bewegungen auszuf\u00fchren, nicht vorhandene Gegenst\u00e4nde zu sehen oder vorhandene nicht zu sehen u. dgl. sind die h\u00e4ufigsten derartigen Suggestionen. Gleichf\u00f6rmige Sinnesreize, namentlich Tastreize, wirken unterst\u00fctzend. Au\u00dferdem ist der Eintritt der Hypnose an eine bestimmte, in ihrer Natur noch unbekannte Disposition des Nervensystems gebunden, die aber durch wiederholtes Hypnotisiren gesteigert wird.\nDas n\u00e4chste Symptom der Hypnose besteht in einer mehr oder minder vollst\u00e4ndigen Willenshemmung, welche zugleich mit einer einseitigen Richtung der Aufmerksamkeit, meist auf die vom Hypnotisator gegebenen Befehle, verbunden ist (Befehlsautomatie). Der Hypnotisirte schl\u00e4ft nicht nur auf Befehl, sondern beh\u00e4lt auch in diesem Zustande jede noch so gezwungene Stellung bei, die man ihm gibt (hypnotische Katalepsie). Steigert sich der Zustand, so f\u00fchrt der Hypnotische ihm aufgetragene Bewegungen anscheinend automatisch aus und gibt zu erkennen, dass er Vorstellungen, die ihm suggerirt werden, hallucinatorisch f\u00fcr wirkliche Gegenst\u00e4nde h\u00e4lt (Somnambulie). In diesem Zustand der Somnambulie k\u00f6nnen endlich motorische oder sensorische Suggestionen f\u00fcr den Eintritt des Erwachens oder sogar f\u00fcr einen bestimmten sp\u00e4teren Zeitpunkt (Terminsuggestionen) gegeben werden. Die solche \u00bbposthypnotische Wirkungen\u00ab begleitenden Erscheinungen machen es\nWundt, Psychologie.\t21","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322 III- Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.\nwahrscheinlich, dass sie auf einer partiellen Fortdauer der Hypnose oder (bei der Terminsuggestion) auf einem Wiedereintritt des hypnotischen Zustandes beruhen.\n9. Nach allen diesen Erscheinungen sind Schlaf und Hypnose verwandte, nur in Folge der verschiedenen Entstehungsweise sich unterscheidende Zust\u00e4nde. Gemeinsam ist beiden eine Hemmung des Willens, die nur noch passive Apperception en gestattet, sowie eine Disposition zu gesteigerter Erregbarkeit der Sinnescentren, die eine hallu-cinatorische Assimilation der Sinneseindr\u00fccke bewirkt. Unterscheidende Merkmale sind dagegen die vollst\u00e4ndigere, namentlich auch die motorischen Functionen ergreifende Willenshemmung im Schlafe, und die einseitige, durch die Suggestion bedingte und zugleich weitere Suggestionen beg\u00fcnstigende Richtung der passiven Aufmerksamkeit in der Hypnose. Doch haben diese Unterschiede keine absolute Bedeutung: so f\u00e4llt beim Schlafwandeln auch im Traum die \u00e4u\u00dfere Willenshemmung hinweg, w\u00e4hrend diese im lethargischen Anfangsstadium der Hypnose \u00e4hnlich wie im Schlafe vorhanden ist.\nHiernach sind die psychophysischen Bedingungen von Schlaf, Traum und Hypnose wahrscheinlich im wesentlichen \u00fcbereinstimmende. Da diese Bedingungen psychologisch als eigenth\u00fcmlich ver\u00e4nderte Dispositionen zu Empfindungs- und Willensreactionen auftreten, so k\u00f6nnen sie, wie alle Dispositionen, physiologisch nur aus den vorauszusetzenden Functions\u00e4nderungen bestimmter Centralgebiete erkl\u00e4rt werden. Direct sind diese Functions\u00e4nderungen noch nicht erforscht. Doch l\u00e4sst sich nach den psychologischen Symptomen annehmen, dass sie sich aus einer Functionshemmung der bei den Willens- und Aufmerksamkeitsvorg\u00e4ngen wirksamen Centralgebiete und aus einer Erregbarkeitssteigerung der Sinnescentren zusammensetzen.","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 18. Psychische Zust\u00e4nde.\n323\n9 a. Die Theorie von Schlaf, Traum und Hypnose ist demnach eigentlich eine physiologische Aufgabe. Neben der allgemeinen Voraussetzung der Functionshemmung gewisser Theile der Gro\u00dfhirnrinde und der Functionssteigerung anderer, die wilden psychischen Symptomen entnehmen, l\u00e4sst sich aber hier vorl\u00e4ufig nur ein allgemeines neurologisches Princip mit einiger Wahrscheinlichkeit verwerthen, n\u00e4mlich das Princip der Compensation der Functionen, wonach sich die Functionshemmung eines bestimmten Centralgebietes mit einer Functionssteigerung anderer, in Wechselbeziehung stehender Gebiete verbindet. Diese Wechselbeziehung kann dann wieder theils eine directe, neurodjmamische, theils eine indirecte, vasomotorische, sein. Die erstere beruht muthma\u00dflich darauf, dass die durch die Functionshemmung angeh\u00e4ufte Energie durch die nerv\u00f6sen Verbindungen nach andern Centralgebieten abflie\u00dft; die zweite beruht darauf, dass eine Functionshemmung von Verengerung der kleinsten Blutgef\u00e4\u00dfe und diese von compensato-rischer Erweiterung der Gef\u00e4\u00dfe anderer Gebiete, der erh\u00f6hte Blutzufluss aber wieder von Functionssteigerung begleitet ist.\nTraum und Hypnose sind h\u00e4ufig, und zum Theil sogar bei Psychologen, Gegenst\u00e4nde mystischer und phantastischer Hypothesen gewesen. Man redete von einer gesteigerten Seelenth\u00e4tig-keit im Traum, von geistigen Fernewirkungen in Traum und Hypnose. Besonders der Hypnotismus ist in dieser Beziehung noch in neuerer Zeit zur St\u00fctze abergl\u00e4ubischer spiritistischer Vorstellungen verwendet worden. Dabei wirkten schon bei dem durchaus auf Suggestion und Hypnose zur\u00fcckzuf\u00fchrenden \u00bbthie-rischen Magnetismus\u00ab und \u00bbSomnambulismus\u00ab vielfach Selbstt\u00e4uschungen und absichtliche T\u00e4uschungen zusammen. In Wirklichkeit ist alles, was bei diesen Erscheinungen der exacten Pr\u00fcfung standh\u00e4lt, ohne Schwierigkeit im allgemeinen psychologisch und physiologisch erkl\u00e4rbar; was aber nicht auf diesem Wege erkl\u00e4rbar ist, das hat sich noch stets bei n\u00e4herer Pr\u00fcfung als abergl\u00e4ubische Selbstt\u00e4uschung oder als absichtlicher Betrug erwiesen.\n21*","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"IY. Die psychischen Entwicklungen.\n\u00a7 19. Die psychischen Eigenschaften der Thiere.\n1. Das Thierreicli bietet uns eine Reihe geistiger Entwicklungen dar, die wir als Vorstufen der geistigen Entwicklung des Menschen betrachten k\u00f6nnen, insofern sich das geistige Leben der Thiere \u00fcberall als ein dem des Menschen in seinen Elementen und in den allgemeinsten Gesetzen der Verbindung dieser Elemente gleichartiges verr\u00e4th.\nSchon die niedersten Thiere (Protozoon, C\u00f6lenteraten u. a.) zeigen Lebens\u00e4u\u00dferungen, die auf Vorstellungs- und Willensvorg\u00e4nge schlie\u00dfen lassen. Sie ergreifen anscheinend spontan ihre Nahrung, entfliehen verfolgenden Feinden u. dergl. Ebenso finden sich Spuren von Associationen und Repro-ductionen, namentlich Vorg\u00e4nge des sinnlichen Erkennens und Wiedererkennens (S. 278) schon auf sehr niederen Stufen, und sie vervollkommnen sich bei den h\u00f6heren Thieren wesentlich nur durch die gr\u00f6\u00dfere Mannigfaltigkeit der Vorstellungen und die Zunahme der Zeit, \u00fcber die sich die Erinnerungsvorg\u00e4nge erstrecken. Nicht minder sind, wie wir aus der gleichartigen Anlage und Entwicklung der Sinnesorgane schlie\u00dfen m\u00fcssen, die Formen der Sinnesvorstellungen im allgemeinen \u00fcbereinstimmend, nur dass sich bei den niedersten Wesen die Sinnesfunctionen, entsprechend dem primitiven Zustand in der individuellen Entwicklung h\u00f6herer Organismen, auf den allgemeinen Tastsinn beschr\u00e4nken 'S. 46).","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 19. Die psychischen Eigenschaften der Thiere. 325\nGegen\u00fcber dieser Gleichartigkeit der psychischen Elemente und ihrer einfacheren Verbindungen bestehen nun aber sehr gro\u00dfe Unterschiede in allen den Vorg\u00e4ngen, die mit der Entwicklung der Apperception Zusammenh\u00e4ngen. W\u00e4hrend passive Apperceptionen als die Grundlagen der \u00fcberall vorkommenden einfachen Triebhandlungen niemals fehlen, finden sich dagegen active Apperceptionsprocesse, in der Form willk\u00fcrlicher Aufmerksamkeit auf gewisse Eindr\u00fccke und einer Wahl zwischen verschiedenen Motiven, wahrscheinlich nur bei den entwickelteren Thieren. Auch bei ihnen bleiben sie jedoch beschr\u00e4nkt auf die von unmittelbaren Sinneseindr\u00fccken angeregten Vorstellungen und n\u00e4chsten Associationen, so dass von intellectuellen Functionen im engeren Sinne des Wortes, von Phantasie- und Verstandesth\u00e4tigkeiten, selbst bei den geistig enwickeltsten Thieren nicht oder doch h\u00f6chstens in vereinzelten Spuren und Anf\u00e4ngen die Bede sein kann. Hiermit h\u00e4ngt zugleich zusammen, dass zwar die h\u00f6heren Thiere durch mannigfache, oft den menschlichen verwandte Ausdrucksbewegungen ihre Affecte und selbst ihre Vorstellungen, insoweit sie an Affecte gebunden sind, nach au\u00dfen kundgeben k\u00f6nnen, dass ihnen aber eine entwickelte Sprache mangelt.\n2. So weit aber auch die Entwicklung der Thiere im allgemeinen trotz der qualitativen Gleichartigkeit der fundamentalen psychischen Vorg\u00e4nge hinter der des Menschen zur\u00fcckbleibt, so ist sie derselben doch in vielen F\u00e4llen in doppelter Beziehung \u00fcberlegen: erstens in der Geschwindigkeit der psychischen Ausbildung, und zweitens in gewissen einseitigen Functionsrichtungen, die durch die besonderen Lebensverh\u00e4ltnisse einer bestimmten Thier-species beg\u00fcnstigt werden. Die gr\u00f6\u00dfere Geschwindigkeit der Ausbildung zeigt sich darin, dass sehr viele Thiere weit fr\u00fcher, ja manche unmittelbar nach der Geburt f\u00e4hig sind","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\tIV. Die psychischen Entwicklungen.\nrelativ deutliche Sinneswahrnehmungen zu bilden und zweckm\u00e4\u00dfige Bewegungen auszuf\u00fchren. Finden sich auch in dieser Beziehung hei den h\u00f6heren Thieren sehr gro\u00dfe Unterschiede \u2014 so beginnt z. B. das aus dem Ei geschl\u00fcpfte H\u00fchnchen sofort K\u00f6rner zu picken, w\u00e4hrend der neugeborene Hund blind ist und noch l\u00e4ngere Zeit ungeschickt in seinen Bewegungen bleibt -\u2014 so scheint es doch, dass die menschliche Entwicklung die langsamste und die am meisten von \u00e4u\u00dferer H\u00fclfe und Pflege abh\u00e4ngige ist.\n3. Viel auffallender noch ist aber die einseitige Functionsausbildung gewisser Thiere, die sich in bestimmten, regelm\u00e4\u00dfig mit gewissen Nahrungs-, Fort-pflanzungs- oder Schutzbed\u00fcrfnissen zusammenh\u00e4ngenden Triebhandlungen und in der Ausbildung bestimmter Sinneswahrnehmungen und Associationen \u00e4u\u00dfert, die als Motive in jene Triebhandlungen eingehen. Solche einseitig ausgebildete Triebe nennt man Instincte. Die Annahme, dass der Instinct eine nur dem thierischen, nicht dem menschlichem Bewusstsein zukommende Eigenschaft sei, ist nat\u00fcrlich v\u00f6llig unpsychologisch und steht im Widerspruch mit der Erfahrung. Die Anlage zur Aeu\u00dferung der allgemeinen thierischen Triebe, namentlich des Nahrungs- und Geschlechtstriebes, ist dem Menschen so gut wie jedem Thiere angeboren. Eigenth\u00fcmlich ist nur vielen Thieren die besondere, in verwickelteren zweckm\u00e4\u00dfigen Handlungen bestehende Aeu\u00dferungsweise dieser Triebe. Doch verhalten sich in dieser Beziehung die Thiere selbst au\u00dferordentlich verschieden. Es gibt zahlreiche sowohl niedere wie h\u00f6here Thiere, bei denen die von angeborenen Instincten ausgehenden Handlungen ebenso wenig wie beim Menschen besonders augenf\u00e4llige Eigenschaften zeigen. Auch ist be-merkenswerth, dass die Z\u00fcchtung der Thiere meist die ihnen im wilden Zustande zukommenden Instinct\u00e4u\u00dferungen ab-","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 IS). Die psychischen Eigenschaften der Thiere. 327\nschw\u00e4cht, dass sie aber auf der andern Seite neue Instincte, die sich meist als Modificationen jener wilden Instincte betrachten lassen, wie z. B. die gewisser Jagdhunde, besonders der H\u00fchnerhunde, Vorstehehunde u. dergl., hervorbringen kann. Die relativ hohe Ausbildung bestimmter Instinct-richtungen bei den Thieren im Vergleich mit dem Menschen h\u00e4ngt \u00fcbrigens augenscheinlich mit ihrer einseitigeren Ausbildung \u00fcberhaupt zusammen, verm\u00f6ge deren das psychische Leben der Thiere fast ganz in den mit dem vorwaltenden Instinct zusammenh\u00e4ngenden Vorg\u00e4ngen aufzugehen pflegt.\n4. Die Instincte im allgemeinen lassen sich als Triebhandlungen betrachten, die aus bestimmten sinnlichen Empfindungen und Gef\u00fchlen entspringen. Die physiologischen Ausgangspunkte der f\u00fcr die Instincte vornehmlich ma\u00dfgebenden Empfindungen sind hierbei die Nahrungs- und die Eortpflanzungsorgane. Demnach lassen sich wohl alle thierischen Instincte schlie\u00dflich auf die beiden Classen der Nalirungs- und der Fortpflanzungsinstincte zur\u00fcckf\u00fchren, wobei jedoch namentlich zu den letzteren bei ihren verwickelteren Aeu\u00dferungen stets auxili\u00e4re Schutztriebe und sociale Triebe hinzukommen, die somit ihrer Entstehung nach als besondere Modificationen der Fortpflanzungstriebe aufzufassen sind. Hierher geh\u00f6rt der Trieb vieler Thiere zum H\u00e4user- und Nestbau, wie der Biber, der V\u00f6gel, zahlreicher Insecten (z. B. Spinnen, Wespen, Bienen, Ameisen), ferner die haupts\u00e4chlich in der Classe der V\u00f6gel verbreitete Thierehe, die bald die monogamische bald die polygamische Form zeigt. Endlich sind auch die so genannten \u00bbThierstaaten\u00ab der Bienen, Ameisen, Termiten hierher zu rechnen. Sie sind in Wirklichkeit nicht Staaten, sondern Geschlechtsverbindungen, bei denen sich der die Individuen eines Stockes zusammenhaltende sociale Trieb","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nIV. Die psychischen Entwicklungen.\nsowie der ihnen gemeinsame Schutztrieb dem Fortpflanzungstrieb unterordnen.\nBei allen Instincten gehen die individuellen Triebhandlungen von bestimmten theils \u00e4u\u00dferen theils inneren Empfindungsreizen aus. Die Handlungen selbst sind aber den Trieb- oder einfachen Willenshandlungen zuzurechnen, weil bestimmte Vorstellungen und Gef\u00fchle als einfache Motive ihnen vorausgehen und sie begleiten (S. 218). Die zusammengesetzte, auf angeborener Anlage beruhende Beschaffenheit der Handlungen l\u00e4sst sich hierbei nur aus generell erworbenen Eigenschaften des Nervensystems erkl\u00e4ren, in Folge deren auf bestimmte Reize sofort und ohne individuelle Ein\u00fcbung bestimmte angeborene Reflexmechanismen ausgel\u00f6st werden. Die zweckm\u00e4\u00dfige Wirksamkeit dieser Mechanismen kann ebenfalls nur als ein Product genereller psycho-physi-scher Entwicklung betrachtet werden. Hierf\u00fcr spricht \u00fcberdies die Thatsache, dass die Instincte nicht blo\u00df mannigfache individuelle Ab\u00e4nderungen, sondern auch eine gewisse Vervollkommung durch individuelle Uebung zulassen. So lernt der Vogel allm\u00e4hlich sein Nest vollkommener bauen. Die Biene passt ihren Bau ver\u00e4nderten Bed\u00fcrfnissen an. Statt neue Colonien zu gr\u00fcnden, erweitert ein Bienenstock den vorhandenen Bau, wenn man ihm den erforderlichen Raum gibt. Selbst abnorme Gewohnheiten kann sich ein einzelner Bienen- oder Ameisenstock zulegen, der erstere z. B. die Gewohnheit benachbarte St\u00f6cke auszurauben statt selbst den Bl\u00fcthenhonig zu suchen, oder der letztere die merkw\u00fcrdige Gewohnheit die Individuen anderer Ameisenarten zu Sclaven zu machen, oder Blattl\u00e4use als nahrunggebende Hausthiere zu z\u00fcchten. Die nachweisbare Entstehung, Befestigung und Vererbung solcher Gewohnheiten zeigt uns deutlich den Weg, auf dem \u00fcberhaupt verwickelte Instincte entstanden sein k\u00f6nnen. Niemals kommt ein solcher","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 19. Die psychischen Eigenschaften der Thiere. 329\nisolirt vor, sondern bei verwandten Gattungen und Arten zeigen sich einfachere Formen des n\u00e4mlichen Instinctes. So kann das Loch, welches die Mauerwespe in eine Wand bohrt, um ihre Eier darin zu legen, als das primitive Vorbild des kunstvollen Baues der Honigbiene gelten. Zwischen beiden steht der relativ einfache, aus wenigen sechseckigen Zellen mittelst verklebter Pflanzenstoffe gebildete Bau der gemeinen Wespe,als ein nat\u00fcrliches Mittelglied.\nHiernach lassen sich die verwickelten Instincte als Entwicklungserzeugnisse urspr\u00fcnglich einfacher Triebe erkl\u00e4ren, die sich im Laufe zahlloser Generationen durch allm\u00e4hlich hinzutretende, sich befestigende und vererbende individuelle Gewohnheiten immer mehr differenzirt haben. Hierbei ist jeder einzelne Gewohnheitsvorgang als eine Stufe in dieser psychischen Entwicklung aufzufassen; der allm\u00e4hliche Ueber-gang desselben in eine angeborene Anlage ist aber aus den psycho-physischen Vorg\u00e4ngen der Uebung abzuleiten, durch die allm\u00e4hlich zusammengesetzte Willenshandlungen in zweckm\u00e4\u00dfige Bewegungen \u00fcbergehen, die unmittelbar und reflectorisch auf den zugeh\u00f6rigen Eindruck erfolgen.\n5. Sucht man auf Grund der psychologischen Vergleichung die allgemeine Frage nach dem genetischen Verli\u00e4ltniss des Menschen zu den Thieren zu beantworten, so muss in Anbetracht der Gleichartigkeit der psychischen Elemente sowie der einfachsten und allgemeinsten Verbindungsformen derselben die M\u00f6glichkeit zugestanden werden, dass das menschliche Bewusstsein aus einer niedrigeren thierischen Bewusstseinsform sich entwickelt hat. Auch hat diese Annahme psychologisch schon deshalb eine gro\u00dfe Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich, weil einerseits die Thierreihe selbst wieder verschiedene psychische Entwicklungsstufen darbietet, anderseits aber jeder individuelle Mensch eine analoge Entwicklung durchl\u00e4uft. F\u00fchrt somit die psy-","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\tIV. Die psychischen Entwicklungen.\nchische Entwicklungsgeschichte im allgemeinen zu einem die physische Entwicklungstheorie best\u00e4tigenden Ergebnisse, so darf aber doch nicht \u00fcbersehen werden, dass die psychischen Unterschiedsmerkmale zwischen Mensch und Thier, wie sie in den von den Apperceptionsverbindungen ausgehenden intellectuellen und Gem\u00fcthsvorg\u00e4ngen ihren Ausdruck linden, ungleich tiefer greifen als die physischen Merkmale. Zugleich macht es die gro\u00dfe Stabilit\u00e4t in dem psychischen Zustand der Thiere, welcher sogar durch die Einfl\u00fcsse der Z\u00fcchtung nur geringe Ver\u00e4nderungen erf\u00e4hrt, \u00e4u\u00dferst unwahrscheinlich, dass jemals eine der jetzt lebenden Thierformen erheblich die in psychischer Beziehung erreichten Grenzen \u00fcberschreiten werde.\n5a. Die Versuche, das Verh\u00e4ltniss zwischen Mensch und Thier psychologisch zu definiren, schwanken zwischen zwei Extremen, n\u00e4mlich zwischen der in der alten Psychologie herrschenden Anschauung, dass die h\u00f6heren \u00bbSeelenverm\u00f6gen\u00ab, namentlich die \u00bbVernunft\u00ab, dem Thiere vollst\u00e4ndig fehlen, und der hei Vertretern der speciellen Thierpsychologie verbreiteten Meinung, dass die Thiere in allem, auch in der F\u00e4higkeit zu \u00fcberlegen, zu urtheilen und zu schlie\u00dfen, in ihren moralischen Gef\u00fchlen u. s. w., vollst\u00e4ndig dem Menschen gleichen. Mit der Beseitigung der Verm\u00f6genspsychologie ist die erste dieser Anschauungen unhaltbar geworden. Die zweite beruht auf der in der popul\u00e4ren Psychologie verbreiteten Neigung, alle m\u00f6glichen objectiv beobachteten Erscheinungen in menschliche Denkweisen und namentlich in logische Reflexionen umzudeuten. Die n\u00e4here psychologische Untersuchung der so genannten Intelligenz\u00e4u\u00dferungen der Thiere zeigt aber durchweg, dass sie vollst\u00e4ndig aus einfachen sinnlichen Wiedererkennungsacten und Associationen zu begreifen sind, wogegen ihnen die den eigentlichen Begriffen und logischen Operationen zukommenden Merkmale fehlen. Da nun die associativen in die apperceptiven Processe continuirlich \u00fcbergehen, und da Anf\u00e4nge der letzteren, einfache active Aufmerk-samkeits- und Wahlacte, bei den h\u00f6heren Thieren zweifelsohne Vorkommen, so ist \u00fcbrigens auch diese Differenz schlie\u00dflich mehr","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 19. Die psychischen Eigenschaften der Thiere. 331\nals eine solche des Grades und der Zusammensetzung denn als eine solche der Art der psychologischen Processe aufzufassen.\nEine ganz besondere Schwierigkeit boten den \u00e4lteren Richtungen der Psychologie, wie der Verm\u00f6genstheorie und den intellectualistisehen Theorien (\u00a7 2), die thierischen Instincte. Da der Versuch sie aus individuellen Bedingungen abzuleiten zu einer gar zu unwahrscheinlichen Sch\u00e4tzung der psychischen Leistungen, namentlich bei den verwinkelteren Instincten, f\u00fchrte, so entschloss man sich vielfach, sie f\u00fcr unbegreiflich oder, was auf dasselbe hinauskam, f\u00fcr Wirkungen angeborener Vorstellungen u. dergl. zu erkl\u00e4ren. Dieses \u00bbR\u00e4thsel des Instincts\u00ab h\u00f6rt auf ein principiell unl\u00f6sbares zu sein, wenn man die Instincte, wie oben geschehen, als specielle Formen von Trieberscheinungen auffasst und mit den psychologisch verst\u00e4ndlichen einfacheren Trieberscheinungen bei Thieren und Menschen in Parallele bringt, und wenn man an den namentlich beim Menschen leicht zu verfolgenden Uebungserscheinungen, z. B. an der Ein\u00fcbung compli-cirter Bewegungen, wie des Clavierspielens, den Uebergang urspr\u00fcnglich zusammengesetzter Willenshandlungen in trieb- und reflexartige Bewegungen verfolgt. (Vgl. hierzu S. 226 f.) Gegen diese Auffassung der Instincte ist eingewandt worden, die bei ihr vorausgesetzte Vererbung individuell erworbener Ab\u00e4nderungen lasse sich in der Erfahrung nicht nachweisen, da z. B. f\u00fcr die fr\u00fcher oft behauptete Vererbung von Verst\u00fcmmlungen durchaus keine sicheren Beobachtungen beizubringen seien. Manche Biologen nehmen deshalb an, dass alle Eigenschaften der Organismen aus der Auslese, die durch das Ueberleben der den Naturbedingungen besser angepassten Individuen entstehe, also aus \u00bb\u00e4u\u00dferer Naturz\u00fcchtung\u00ab abzuleiten seien, und dass demnach nur diese \u00e4u\u00dfere Naturz\u00fcchtung Ver\u00e4nderungen der Keimanlage hervorbringen k\u00f6nne, die sich auf die Nachkommen vererben. Wenn nun auch zugegeben werden muss, dass eine von einem Individuum erworbene Eigenschaft im allgemeinen noch keine Vererbungswirkung aus\u00fcbt, so ist doch nicht einzusehen, warum Gewohnheiten des Handelns, die zwar indirect durch \u00e4u\u00dfere Naturbedingungen angeregt werden, zun\u00e4chst aber auf den inneren psychophysischen Eigenschaften der Organismen selbst beruhen, nicht, falls sie Generationen hindurch ge\u00fcbt werden, gerade so gut Ver\u00e4nderungen der Keimanlage bewirken k\u00f6nnen wie die","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\tIV. Die psychischen Entwicklungen.\ndireeten Einfl\u00fcsse der Naturz\u00fcchtung. Hierf\u00fcr spricht \u00fcberdies die Beobachtung, dass sich namentlich beim Menschen gewisse eigenth\u00fcmliche Ausdrucksbewegungen oder technische Fertigkeiten in Familien vererben (S. 334). Dies schlie\u00dft selbstverst\u00e4ndlich die Mitwirkung der \u00e4u\u00dfern Natureinfl\u00fcsse in keinem Falle aus, sondern es wird nur im Einklang mit den Thatsachen der Beobachtung eine doppelte Wirkungsweise dieser Einfl\u00fcsse gefordert: erstens eine directe, bei welcher der Organismus selbst nur passiv durch die Wirkungen der Naturz\u00fcchtung ver\u00e4ndert wird, und zweitens eine indirecte, bei der die \u00e4u\u00dferen Einfl\u00fcsse zun\u00e4chst psychophysische Reactionen ausl\u00f6sen, die dann die n\u00e4chsten Ursachen der entstehenden Ver\u00e4nderungen sind. Schlie\u00dft man die letztere Wirkungsweise aus, so verschlie\u00dft man sich damit nicht blo\u00df eine der wichtigsten Quellen f\u00fcr die Erkenntniss der eminenten Zweckm\u00e4\u00dfigkeit gerade der thierischen Organismen, sondern es wird dadurch insbesondere auch das psychologische Ver-st\u00e4ndniss der allm\u00e4hlichen Entwicklung der Willenshandlungen und ihrer R\u00fcckverwandlung in zweckm\u00e4\u00dfige Reflexe, wie eine solche bei einer Menge angeborener Ausdrucksbewegungen uns entgegentritt, unm\u00f6glich gemacht (\u00a7 20, 1).\n\u00a7 20. Die psychische Entwicklung des Kindes.\n1. Die im allgemeinen langsamere psychische Entwicklung des Menschen gegen\u00fcber derjenigen der meisten Thiere gibt sich an der sehr allm\u00e4hlichen Ausbildung der Sinnesfunctionen zu erkennen. Das Kind reagirt zwar sofort nach der Geburt auf Sinnesreize jeder Art, am deutlichsten auf Tast- und Geschmackseindr\u00fccke, am unsichersten auf Schallerregungen. Doch ist es zweifellos, dass hierbei die besonderen Formen der Reactionsbewegung auf vererbten Reflexmechanismen beruhen. Insbesondere gilt das auch von den Schreibewegungen bei K\u00e4lte- und andern Tasteinwirkungen, sowie von den ebenfalls von Anfang an zu beobachtenden mimischen Reflexen auf s\u00fc\u00dfe, saure und bittere Geschmacksstoffe. Daher ist es zwar wahrschein-","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 20. Die psychische Entwicklung des Kindes. 333\nlieh, dass alle diese Eindr\u00fccke von dunklen Empfindungen und Gef\u00fchlen begleitet sind; aber die Beschaffenheit der Reactionsbewegungen kann nicht aus den Gef\u00fchlen, als deren Symptome wir sie betrachten, sondern nur aus den angeborenen centralen Reflexverbindungen abgeleitet werden.\nEtwas klarer bewusste, wenn auch, wie der rasche Wechsel der Stimmungen zeigt, immer noch relativ sehr verg\u00e4ngliche Empfindungen und Gef\u00fchle sind wahrscheinlich erst vom Ende des ersten Lebensmonats an vorhanden, weil nun erst nicht mehr blo\u00df Unlust-, sondern auch Lustsymptome, Lachen, lebhafte rhythmische Bewegungen der Arme und Beine, nach bestimmten Sinneseindr\u00fccken zu beobachten sind. Auch die Reflexmechanismen sind \u00fcbrigens in der ersten Lebenszeit noch nicht vollst\u00e4ndig ausgebildet, wie dies durch die anatomische Thatsache, dass manche der Faserverbindungen zwischen Gro\u00dfhirncentren erst nach der Geburt entstehen, verst\u00e4ndlich wird. So fehlen namentlich noch die associirten Reflexbewegungen der beiden Augen. Zwar wendet sich meist schon von Anfang an das einzelne Auge einem Lichte zu, aber die Bewegungen beider Augen sind noch vollkommen unregelm\u00e4\u00dfig, und erst im Laufe der drei ersten Monate stellt sich allm\u00e4hlich die normale Coordination der Bewegungen mit gemeinsamem Fixationspunkt beider Augen ein. Auch hier ist jedoch die eintretende Regelm\u00e4\u00dfigkeit nicht als eine Folge vollkommenerer Gesichtswahrnehmungen aufzufassen, sondern als das Symptom eines in Function tretenden Reflexcentrums, dessen Wirkungen umgekehrt erst vollkommenere Gesichtswahrnehmungen m\u00f6glich machen.\n2. Ueber die qualitativen Verh\u00e4ltnisse der psychischen Elemente beim Kinde lassen sich im allgemeinen keine zureichenden Aufschl\u00fcsse gewinnen, weil es uns an sicheren objectiven Symptomen mangelt. Wahrscheinlich ist die","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nIV. Die psychischen Entwicklungen.\nMannigfaltigkeit der Tonempfindungen, vielleicht auch die der Farbenempfindungen eine beschr\u00e4nktere. Wenn aber Kinder noch im zweiten Lebensjahr nicht selten Farbenbezeichnungen verwechseln, so darf dies nicht ohne weiteres auf einen Mangel der Empfindungen bezogen werden, sondern es ist viel wahrscheinlicher, dass Mangel an Aufmerksamkeit und Verwechslung der Farbennamen hieran die Schuld tragen.\nAugenf\u00e4llig gibt sich dagegen die haupts\u00e4chlich gegen Ende des ersten Lebensjahres erfolgende Differenzirung der Gef\u00fchle und die damit zusammenh\u00e4ngende Entwicklung mannigfaltiger Affecte in den allm\u00e4hlich entstehenden charakteristischen Ausdrucksbewegungen kund. So treten zu der Unlust und der Freude nach einander Erstaunen, Erwartung, Zorn, Scham, Neid u. a. hinzu. Auch hier beruht aber die Anlage zu den combinirten Bewegungen, an denen sich die einzelnen Affecte zu erkennen geben, auf vererbten physiologischen Eigenschaften des Nervensystems, die nur, analog wie die combinirte Innervation der Augenmuskeln, zumeist erst im Laufe der ersten Lebensmonate in Function treten. Hierf\u00fcr spricht namentlich auch die Thatsache, dass sich nicht selten besondere Eigentli\u00fcmlich-keiten der Ausdrucksbewegungen in Familien vererben.\n3. Zur Entstehung r\u00e4umlicher Vorstellungen bringt das Kind zwar in den vererbten Reflexverbindungen physische Anlagen zur Welt mit, die eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig rasche Entwicklung dieser Vorstellungen erm\u00f6glichen. Aber gerade beim Menschen scheinen doch, im Unterschiede von vielen Thieren, die r\u00e4umlichen Wahrnehmungen zun\u00e4chst noch \u00e4u\u00dferst imvollkommen zu sein. Auf Hautreize folgen zwar Schmerz\u00e4u\u00dferungen, aber keine deutlichen Localisa-tionssymptome. Erst allm\u00e4hlich entwickeln sich aus den schon in den ersten Lebenstagen zu bemerkenden ziellosen","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 20. Die psychische Entwicklung des Kindes. 335\nBewegungen der H\u00e4nde deutliche Greifbewegungen, die aber in der Regel erst von der 12. Woche an unter der Mitwirkung der Gesichtswahrnehmungen sicherer und zweckbewusster werden. Die meist schon nach den ersten Tasren zu beobachtende Richtung des Auges nach einer Lichtquelle ist, ebenso wie die allm\u00e4hlich eintretende Coordination der Augenbewegungen, als Reflex zu deuten. Doch entwickeln sich wahrscheinlich unmittelbar mit diesen Reflexen zugleich r\u00e4umliche Vorstellungen, so dass sich wegen der Stetigkeit dieses Processes und seines Zusammenhanges mit den urspr\u00fcnglichen physiologischen Functionsanlagen nur eine fortw\u00e4hrende Ausbildung dieser Vorstellungen von sehr unvollkommenen Anf\u00e4ngen an beobachten l\u00e4sst. Zugleich erscheint schon beim Kinde der Gesichtssinn entschieden als der dem Tastsinn vorauseilende Sinn, da Symptome der Gesichtslocalisation jedenfalls fr\u00fcher zu beobachten sind als solche der Tastlocalisation, und da sich die Greifbewegunffen. wie oben bemerkt, erst unter der Mith\u00fclfe des Gesichtssinns entwickeln. Weit sp\u00e4ter als die in der Unterscheidung der Richtungen des Raumes sich kundgebende Entwicklung des Sehfeldes f\u00e4llt die des binocularen Sehens. Die Anf\u00e4nge\no\ndieses Processes fallen zwar jedenfalls mit der eintretendsn Coordination der Augenbewegungen zusammen, geh\u00f6ren also wohl schon der zweiten H\u00e4lfte des ersten Lebensjahres an. Die Auffassung von Gr\u00f6\u00dfen, Entfernungen und von ver-wickelteren k\u00f6rperlichen Formen bleibt aber noch lange sehr unvollkommen. Namentlich werden durchweg entfernte Objecte f\u00fcr nahe gehalten, daher sie dem Kinde verh\u00e4lt-nissm\u00e4\u00dfig klein erscheinen.\n4. Zugleich mit den r\u00e4umlichen entwickeln sich die zeitlichen Vorstellungen. An den rhythmischen Bewegungen seiner Tastorgane und namentlich an der Neigung, geh\u00f6rte Rhythmen mit \u00e4hnlichen taktm\u00e4\u00dfigen Bewegungen","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\niy. Die psychischen Entwicklungen.\nzu begleiten, verr\u00e4th sich schon in den ersten Lebens-monaten die F\u00e4higkeit der Bildung regelm\u00e4\u00dfiger zeitlicher Vorstellungen und das Wohlgefallen an solchen. Auch k\u00f6nnen manche Kinder noch ehe sie sprechen die Rhythmen geh\u00f6rter Melodien in Lauten und Betonungen richtig wiedergeben. Dagegen bleiben die Vorstellungen gr\u00f6\u00dferer Zeiten bis \u00fcber die ersten Lebensjahre hinaus \u00e4u\u00dferst unvollkommen, so dass das Kind nicht nur \u00fcber die Dauer verschiedener Zeiten, sondern auch \u00fcber die Zeitfolgen \u00e4u\u00dferst schwankende Urtheile abgibt.\n5. Mit der Entwicklung der r\u00e4umlichen und zeitlichen Vorstellungen geht die der Associationen und der einfacheren Apperceptionsverbindungen Hand in Hand. Symptome des sinnlichen Wiedererkennens (S. 278) sind von den ersten Lebenstagen an zu beobachten: so an der raschen Uebung in dem Auffinden der Mutterbrust, an der sichtbaren Angew\u00f6hnung an die Gegenst\u00e4nde und Personen der Umgebung u. dgl. Aber noch w\u00e4hrend l\u00e4ngerer Zeit erstrecken sich die Associationen nur \u00fcber sehr kurze Zeitstrecken, zuerst nur \u00fcber Stunden, dann \u00fcber Tage; und noch im 3. und 4. Lebensjahr werden Personen nach der Abwesenheit von einigen Wochen entweder vollst\u00e4ndig vergessen oder zun\u00e4chst nur unvollkommen wiedererkannt.\nEntsprechend verh\u00e4lt sich die Aufmerksamkeit. Anf\u00e4nglich vermag sie nur w\u00e4hrend ganz kurzer Zeit einen und denselben Gegenstand festzuhalten, und sichtlich func-tionirt sie zugleich nur in der Form der passiven, stets dem vorwaltenden, namentlich gef\u00fchlsst\u00e4rkeren Reize folgenden Apperception (S. 255). Aber schon in den ersten Lebenswochen beginnt sich in der Art, wie das Kind w\u00e4hrend l\u00e4ngerer Zeit Objecte, besonders bewegte Objecte, fixirt und verfolgt, eine dauerndere Aufmerksamkeit zu verrathen, und gleichzeitig tritt die F\u00e4higkeit hervor, zwischen ver-","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 20. Die psychische Entwicklung des Kindes. 337\nschiedenen Eindr\u00fccken willk\u00fcrlich zu wechseln, also die erste Spur einer activen Aufmerksamkeit. Von nun an bildet sich dann diese F\u00e4higkeit langsam weiter aus, so jedoch, dass noch in dem sp\u00e4teren Kindesalter die Aufmerksamkeit viel schneller erm\u00fcdet als beim Erwachsenen und theils einen gr\u00f6\u00dferen Wechsel der Gegenst\u00e4nde theils h\u00e4ufigere Ruhepausen verlangt.\n6. Mit der Entwicklung der Associationen und Apper-ceptionen h\u00e4lt die des Selbstbewusstseins gleichen Schritt. Bei der Beurtheilung dieser Entwicklung muss man sich h\u00fcten, irgend welche einzelne Symptome, wie die Unterscheidung der Theile des eigenen Leibes von Gegenst\u00e4nden der Umgebung, den Gebrauch des Wortes \u00bbIch\u00ab oder gar die richtige Erkennung des eigenen Bildes im Spiegels u. \u00e4hnl., f\u00fcr Kennzeichen des Selbstbewusstseins anzusehen. Das Bild im Spiegel h\u00e4lt auch der erwachsene Wilde, wenn er es noch nie gesehen, f\u00fcr die Person eines Andern. Der Gebrauch des pers\u00f6nlichen Pronomens beruht auf einer \u00e4u\u00dferen Aneignung, bei der das Kind dem Beispiel seiner Umgebung folgt. Diese Aneignung tritt bei sonst gleicher geistiger Entwicklung bei verschiedenen Kindern zu sehr verschiedener Zeit ein; und jedenfalls ist sie. das Symptom eines bereits vorhandenen Selbstbewusstseins, dessen erste Entstehung demnach dieser sprachlichen Unterscheidung bald k\u00fcrzere bald l\u00e4ngere Zeit vorausgehen kann. Nur ein solches Symptom ist endlich auch die Unterscheidung der Theile des eigenen Leibes von andern Gegenst\u00e4nden. Die Erkennung des eigenen Leibes ist zwar ein Vorgang, der im allgemeinen der Erkennung des Bildes im Spiegel vorausgeht, der aber doch ebenso wenig wie diese ein Kriterium des beginnenden Selbstbewusstseins ist, sondern vielmehr die Existenz eines gewissen Grades desselben schon voraussetzt. Wie noch dem entwickelten Selbst-\nWundt, Psychologie.\n22","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nIV. Die psychischen Entwicklungen.\nBewusstsein eine Mehrheit von Bedingungen zu Grunde liegt (S. 260), so ist auch das Selbstbewusstsein des Kindes von Anfang an ein Product mehrerer Componenten, die zur einen H\u00e4lfte den Vorstellungen, zur andern dem F\u00fchlen und W ollen angeh\u00f6ren. In der ersteren Beziehung ist es namentlich die Aussonderung einer constanten Vorstellungsgruppe, in der letzteren die Ausbildung zusammenh\u00e4ngender Aufmerksamkeitsvorg\u00e4nge und Willenshandlungen, die als solche Componenten anzusehen sind. Dabei kann aber die constante Vorstellungsgruppe ebenso gut gelegentlich einen Th eil des eigenen Leibes, wie z. B. die Beine, falls dieselben gew\u00f6hnlich zugedeckt sind, nicht umfassen, wie sie noch h\u00e4ufiger \u00e4u\u00dfere Gegenst\u00e4nde, z. B. die gew\u00f6hnlich getragenen Kleider, mitenthalten kann. Von entscheidendem Einfluss sind darum die subjectiven Componenten der Gef\u00fchle und des Wollens und die Beziehungen, in die jene Vorstellungsbestandtheile zu diesen bei den \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen treten. Dieser gr\u00f6\u00dfere Einfluss der subjectiven Componenten gibt sich namentlich auch darin zu erkennen, dass starke Gef\u00fchle, besonders Schmerzgef\u00fchle, sehr oft in der individuellen Erinnerung den ersten Lebensmoment bezeichnen, bis zu welchem ein zusammenh\u00e4ngendes Selbstbewusstsein zur\u00fcckreicht. Aber da zweifellos schon vor diesem ersten Moment deutlich bewusster Erinnerung, der in der Regel dem 5. oder 6. Lebensjahre angeh\u00f6rt, ein wenn auch minder zusammenh\u00e4ngendes Selbstbewusstsein existirt, und da die objective Beobachtung des Kindes anf\u00e4nglich keine unzweifelhaften Kriterien an die Hand gibt, so l\u00e4sst sich ein bestimmter Zeitpunkt f\u00fcr den Anfang des Selbstbewusstseins nicht festsetzen. Wahrschein-' lieh beginnen die Spuren desselben schon in den ersten Lebenswochen, worauf es dann unter dem fortwirkenden Einfluss der erw\u00e4hnten Bedingungen stetig an Klarheit und,","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 20. Die psychische Entwicklung des Kindes. 339\nwie das Bewusstsein \u00fcberhaupt, zeitlich an Ausdehnung zunimmt.\n7. Mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins h\u00e4ngt die des Willens nahe zusammen. Sie l\u00e4sst sich theils aus der schon oben geschilderten Entwicklung der Aufmerksamkeit theils aus der Entstehung und allm\u00e4hlichen Vervollkommnung der \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen, deren Einfluss auf das Selbstbewusstsein soeben erw\u00e4hnt wurde, erschlie\u00dfen. Die unmittelbare Beziehung der Aufmerksamkeit zum Willen tritt hierbei darin hervor, dass deutliche Symptome einer activen Aufmerksamkeit und willk\u00fcrlichen Handelns auch in der Zeit ihres Auftretens zusammenfallen. W\u00e4hrend sehr viele Thiere unmittelbar nach der Geburt schon ziemlich vollkommene Triebbewegungen, also einfache Willenshandlungen ausf\u00fchren, die unter der Mith\u00fclfe vererbter zusammengesetzter Reflexapparate zu Stande kommen, zeigt das neugeborene Kind noch keine Spur derselben. Doch treten schon in den ersten Lebenstagen in Folge der von den Hungerempfindungen ausgehenden Reflexe und der mit der Stillung des Hungers verbundenen Sinneswahrnehmungen in dem augenscheinlichen Suchen nach der Nahrungsquelle die ersten Anf\u00e4nge einfacher triebartiger Willenshandlungen auf. Mit dem deutlicheren Erwachen der Aufmerksamkeit folgen dann zun\u00e4chst die an Eindr\u00fccke des Gesichts- und Geh\u00f6rssinns gebundenen Willensbewegungen nach: das Kind verfolgt gesehene Gegenst\u00e4nde mit Absicht, nicht blo\u00df reflectorisch, oder wendet den Kopf geh\u00f6rten Ger\u00e4uschen zu. Viel sp\u00e4ter folgen die \u00e4u\u00dferen Scelet-muskeln nach. Diese, namentlich die Muskeln der Arme und Beine, zeigen von Anfang an lebhafte, meistens oft wiederholte Bewegungen, welche alle m\u00f6glichen Gef\u00fchle und Affecte begleiten und mit der Diff'erenzirung der letzteren allm\u00e4hlich gewisse, f\u00fcr die Qualit\u00e4t derselben charak-\n22*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nIV. Die psychischen Entwicklungen.\nteristische Unterschiede zeigen, deren haupts\u00e4chlichster darin besteht, dass die Lustaffecte in rhythmischen, die Unlust-affecte in arhythmischen und in der Regel heftigeren Bewegungen sich \u00e4u\u00dfern. Diese Ausdrucksbewegungen, die als Reflexe mit begleitenden Gef\u00fchlen gedeutet werden m\u00fcssen, gehen dann gelegentlich, sobald die Aufmerksamkeit auf die Umgebung rege geworden ist, in gewollte Ausdrucksbewegungen \u00fcber, bei denen das Kind durch verschiedene begleitende Symptome verr\u00e4th, dass es nicht blo\u00df Schmerz, Verdruss, Aerger u. dgl. f\u00fchlt, sondern dass es diese Affecte auch nach au\u00dfen kundzugeben w\u00fcnscht. Die ersten Bewegungen aber, bei denen zweifellos ein der Bewegung vorausgehendes Motiv zu erkennen ist, sind die von der 12. bis 14. Woche an auftretenden Greifbewegungen, an denen sich namentlich anf\u00e4nglich neben den H\u00e4nden die F\u00fc\u00dfe betheiligen, und die, ebenso wie sie zu den ersten deutlichen Symptomen von Sinneswahrnehmungen geh\u00f6ren, so auch zum ersten Mal die Existenz eines aus Motiv, Entschluss imd Handlung zusammengesetzten einfachen Willensvorganges verrathen. Etwas sp\u00e4ter sind absichtliche Nachahmungsbewegungen zu beobachten, unter denen die einfachsten mimischen Nachahmungen, wie Zuspitzen des Mundes, Stirnrunzeln, den pantomimischen, wie Ballen der Faust, Taktbewegungen u. dgl., vorausgehen. Ganz allm\u00e4hlich, in der Regel erst vom Beginn der zweiten H\u00e4lfte des ersten Lebensjahres an, gehen aus diesen einfachen zusammengesetzte Willenshandlungen hervor, indem deutlich entweder ein der Handlung vorausgehendes Schwanken des Entschlusses oder auch eine willk\u00fcrliche Unterdr\u00fcckung einer beabsichtigten oder schon begonnenen Handlung zu beobachten ist.\nBei dieser Entwicklung der eigentlichen Willk\u00fcrhandlungen spielt das Gehenlernen des Kindes, das im letzten","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 20. Die psychische Entwicklung des Kindes.\t34 1\nDritttheil des ersten Lebensjahres zu beginnen pflegt, eine gro\u00dfe Rolle, da das Gehen nach bestimmten Zielen beson-ders h\u00e4ufig den Anlass zur Entstehung einer Mehrheit mit einander streitender Motive bildet. Das Gehenlernen selbst ist aber als ein Vorgang aufzufassen, bei dem die Entwicklung des Willens und die Wirksamkeit vererbter Anlagen zu bestimmten combinirten Bewegungen fortw\u00e4hrend in einander eingreifen. Dabei geht der erste Impuls zur Bewegung von Willensmotiven aus, die zweckm\u00e4\u00dfige Art der Ausf\u00fchrung ist aber dann zun\u00e4chst eine Wirkung der centralen Coordi-nationsmechanismen, und diese gestalten sich endlich wieder in Folge der unter der Leitung des Willens stattfindenden individuellen Uebung fortw\u00e4hrend zweckm\u00e4\u00dfiger.\n8. Die Sprache des Kindes schlie\u00dft sich in ihrer Entwicklung den \u00fcbrigen Willenshandlungen an. Auch sie beruht auf einem Zusammenwirken vererbter, in den Centralorganen des Nervensystems begr\u00fcndeter Anlagen, und der durch die Lebenseinfl\u00fcsse, in diesem Fall insbesondere durch die Einfl\u00fcsse der redenden Umgebung gesetzten Einwirkungen. In dieser Beziehung entspricht die Entwicklung der Sprache durchaus derjenigen der \u00fcbrigen Ausdrucksbewegungen, zu denen sie nach ihrem allgemeinen psychophysischen Charakter geh\u00f6rt. Die fr\u00fchesten articulirten Lautbildungen der Sprachorgane treten als reflexartige Erscheinungen, namentlich in Begleitung angenehmer Gef\u00fchle und Affecte, schon im Laufe des 2. Lebensmonats auf; sie nehmen in der folgenden Zeit an Mannigfaltigkeit zu, auch zeigt sich immer mehr die Neigung zu Lautwiederholungen ;wie ba-ba-ba, da-da-da-da u. dergl.). Diese Ausdruckslaute unterscheiden sich nur durch ihre gr\u00f6\u00dfere und immer wechselnde Mannigfaltigkeit von den Ausdruckslauten zahlreicher Thiere. Sie haben, da sie bei allen m\u00f6glichen Gelegenheiten und ohne jede Absicht der Mittheilung hervorge-","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\n1Y. Die psychischen Entwicklungen.\nbracht werden, noch durchaus nicht die Bedeutung von Sprachlauten. In diese gehen sie allm\u00e4hlich, in der Regel vom Anfang des 2. Lebensjahres an, durch den Einfluss der Umgebung \u00fcber. Die haupts\u00e4chlichste Wirkung \u00fcben hierbei die Nachahmungsbewegungen aus, die speciell als Schallempfindungen eine doppelte Richtung zeigen, indem nicht nur das Kind den Erwachsenen, sondern auch dieser das Kind nachahmt. In der Regel ist sogar zuerst der Erwachsene der Nachahmende: er bildet die willk\u00fcrlichen Articulationslaute des Kindes nach, denen er zugleich eine bestimmte Bedeutung beilegt, wie z. B. \u00bbPa-pa\u00ab f\u00fcr Vater, \u00bbMa-ma\u00ab f\u00fcr Mutter, \u00bbda\u00ab f\u00fcr alle m\u00f6glichen W\u00f6rter von hinweisender Bedeutung (hier, dieser, nimm u. dergl.). Erst sp\u00e4ter, und nachdem es durch absichtliche Nachahmung solche Laute in bestimmter Bedeutung hat gebrauchen lernen, ahmt das Kind auch andere W\u00f6rter der Sprache des Erwachsenen nach, assimilirt sie aber dem Lautbestand seiner eigenen Articulationsbewegungen.\nAls ein wichtiges Hiilfsmittel, durch das der Erwachsene mehr instinctiv als willk\u00fcrlich das Verst\u00e4ndniss des Kindes f\u00fcr die von ihm gebrauchten W\u00f6rter f\u00f6rdert, dient dabei die Geb erde, meist in der Form der auf den Gegenstand hinweisenden, seltener, gew\u00f6hnlich nur bei W\u00f6rtern, die Th\u00e4tigkeiten, wie schlagen, schneiden, gehen, schlafen u. dergl. bedeuten, als malende Geberde. F\u00fcr die Geberde hat das Kind ein nat\u00fcrliches Verst\u00e4ndniss, f\u00fcr das Wort nicht. Selbst die Onomatopoetica der Kindersprache (wauwau f\u00fcr Hund, hott-hott f\u00fcr Pferd u. a.) werden ihm stets erst durch mehrfaches Hinweisen auf den Gegenstand verst\u00e4ndlich. Auch ist nicht das Kind selbst der Sch\u00f6pfer dieser Onomatopoetica, sondern der Erwachsene, der auch in dieser Beziehung instinctiv der Bewusstseinsstufe des Kindes sich anzupassen sucht.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 20. Die psychische Entwicklung des Kindes. 343\nNach allem dem beruht die Entwicklung der Sprache auf einer Reihe von Associationen und Apperceptionen, an deren Bildung das Kind und dessen sprechende Umgebung gleichm\u00e4\u00dfig betheiligt sind. Mit gewissen, den nat\u00fcrlichen Ausdruckslauten des Kindes entnommenen oder nach dem Vorbild derselben frei erfundenen onomatopoetischen Wortbildungen bezeichnet der Erwachsene willk\u00fcrlich bestimmte VoiStellungen. Das Kind appercipirt diese ihm durch Geberden verst\u00e4ndlich gemachte Verbindung von Wort und Vorstellung und associirt sie mit den imitativ erzeugten eigenen Articulationsbewegungen. Nach dem Vorbild dieser ersten Apperceptionen und Assocationen f\u00fchrt dann das Kind andere aus, indem es mehr und mehr aus eigenem Antrieb zuf\u00e4llig geh\u00f6rte W\u00f6rter und Wortverbindungen aus der Sprache der Erwachsenen nachahmt und die zugeh\u00f6rigen Bedeutungsassociationen bildet. Der ganze Process der Sprachentwicklung beruht demnach auf einer psychischen Wechselwirkung zwischen dem Kinde und seiner redenden Umgebung, bei welcher im Anfang dem Kinde ausschlie\u00dflich die Lautbildung, der Umgebung aber die sprachliche Verwendung der kindlichen Laute zuf\u00e4llt.\n9. Aus der Gesammtheit der er\u00f6rteren einfacheren Entwicklungsvorg\u00e4nge geht endlich die Entwicklung der zusammengesetzten Functionen der Apperception, der beziehenden und vergleichenden Th\u00e4tigkeit und der aus ihnen bestehenden Phantasie- und Verstandesfunctionen hervor (\u00a7 17).\nZun\u00e4chst vollziehen sich die Apperceptionsverbindungen ausschlie\u00dflich in der Form der Phantasieth\u00e4tigkeit, d. h. als ein Verbinden, Zerlegen und Beziehen concreter sinnlicher Vorstellungen. Die individuelle Entwicklung best\u00e4tigt also das oben im allgemeinen \u00fcber das genetische Verh\u00e4lt-niss dieser Functionen Bemerkte (S. 313). Auf der Grundlage","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"341\n1\\ . Die psychischen Entwicklungen.\nder mehr und mehr sich ausbildenden Associationen unmittelbarer hindr\u00fccke mit fr\u00fcheren Vorstellungen entsteht in dem Kinde, sobald die active Aufmerksamkeit erwacht ist, die Neigung willk\u00fcrlich solche Verbindungen zu bilden, bei denen dann zugleich die F\u00fclle der frei eombinirten und zu dem Eindruck hinzugef\u00fcgten Erinnerungsbestandtlieile ein Ma\u00df f\u00fcr den Grad der individuellen Phantasiebegabung ist. Fiese combinirende Phantasieth\u00e4tigkeit \u00e4u\u00dfert sich, sobald sie einmal erwacht ist, mit einer triebartigen Macht, der das Kind um so weniger zu widerstehen vermag, weil noch nicht wie beim Erwachsenen die Verstandesfunctionen und d\u2019e durch sie gesetzten intellectuelle!! Zwecke regulirend und hemmend auf das freie Schweifen der Einbildungsvorstellungen ein wirken.\nIndem sich diese ungehemmte Beziehung und Verkn\u00fcpfung der Phantasievorstellungen mit Willensantrieben verbindet, die den Vorstellungen gewisse, wenn auch noch so d\u00fcrftige Anhaltspunkte in der unmittelbaren Sinneswahr-uelimung zu schaffen suchen, entsteht der Spieltrieb des Kindes. Das urspr\u00fcngliche Spiel des Kindes ist ganz und gar Phantasiespiel, wd\u00fcirend umgekehrt das des Erwachsenen (Kartenspiel, Schachspiel, Lottospiel u. dergl.) fast ebenso einseitig Verstandesspiel ist. Nur wo das \u00e4sthetische Bed\u00fcrfnis\u00ae ein wirkt, ist auch noch hier das Spiel in erster Linie ein Erzeugnis der Phantasie (Schauspiel, Clavierspiel u. dergl.;, aber nicht mehr, wie urspr\u00fcnglich beim Kinde, einer v\u00f6llig ungebundenen, sondern einer durch den Verstand geregelten Phantasie. Das Spiel des Kindes in den verschiedenen Zeiten seiner Entwicklung zeigt, wenn es seiner Natur gem\u00e4\u00df ge\u00fcbt und gelenkt wird, alle Ueberg\u00e4nge von jenem reinen Phantasiespiel zu dieser Verbindung von Phantasie- und Verstandesspiel. In den ersten Lebens-monaten beginnt es als Erzeugung rhythmischer Bewegungen","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 20. Die psychische Entwicklung des Kindes. 345\nder eigenen Glieder, der Arme und Beine, die dann auch auf \u00e4u\u00dfere Gegenst\u00e4nde, mit Vorliebe namentlich auf schall-erregende oder auf lebhaft gef\u00e4rbte, \u00fcbertragen werden. In ihrem Ursprung sind diese Bewegungen offenbar Trieb\u00e4u\u00dferungen, die durch bestimmte Empfindungsreize ausgel\u00f6st werden, und deren zweckm\u00e4\u00dfige Coordination auf vererbten Anlagen des centralen Nervensystems beruht. Die rhythmische Ordnung der Bewegungen sowie der von ihnen hervorgerufenen Gef\u00fchls- und Schalleindrftcke erzeugt dann aber sichtlich Lustgef\u00fchle, die sehr bald die willk\u00fcrliche Wiederholung solcher Bewegungen veranlassen.. Hierauf geht das Spiel in den ersten Lebensjahren allm\u00e4hlich in die willk\u00fcrliche Nachbildung von Besch\u00e4ftigungen und Scenen der Umgebung \u00fcber. Dieses Nachahmungsspiel zieht endlich weitere Kreise, indem es nicht mehr auf die Nachbildung des Gesehenen beschr\u00e4nkt bleibt, sondern zur freien Nacherzeugung des in Erz\u00e4hlungen Geh\u00f6rten wird. Gleichzeitig beginnt der Zusammenhang der Vorstellungen und Handlungen einem festeren Plan sich zu f\u00fcgen: damit tritt bereits die regulirende Verstandesth\u00e4tigkeit ein, die in den Spielen des sp\u00e4teren Kindesalters in der Feststellung bestimmter Spielregeln ihren Ausdruck findet. M\u00f6gen auch diese Ueberg\u00e4nge durch die Einfl\u00fcsse der Umgebung und durch die k\u00fcnstlichen Spielformen, die, zumeist Erfindungen Erwachsener, nicht immer der kindlichen Phantasie zureichend sich anpassen, beschleunigt werden, so ist doch diese Entwicklung durch ihre Uebereinstimmung mit der gesummten Ausbildung der intellectuellen Functionen als eine nat\u00fcrliche, in dem wechselseitigen Zusammenhang der associativen und apperceptiven Processe nothwendig begr\u00fcndete zu erkennen. Zugleich macht es die Art, wie hierbei die allm\u00e4hliche Beschr\u00e4nkung der Phantasievorg\u00e4nge mit der Zunahme der Verstandesfunctionen zusammengeht, wahrscheinlich, dass","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nIY. Die psychischen Entwicklungen.\njene Beschr\u00e4nkung \u00fcberhaupt urspr\u00fcnglich nicht sowohl auf einer quantitativen Abnahme der Phantasiebegabung als vielmehr auf einer Hemmung durch das begriffsm\u00e4\u00dfige Denken beruht, worauf dann freilich durch die vorwaltende Uebung des letzteren schlie\u00dflich die Phanthasieth\u00e4tigkeit ihrerseits durch Mangel an Uebung beeintr\u00e4chtigt werden kann. Dies scheint durch das Verhalten des Naturmenschen best\u00e4tigt zu werden, der zeitlebens einen dem kindlichen verwandten phantastischen Spieltrieb zu beth\u00e4tigen pflegt.\n10. Aus der urspr\u00fcnglichen phantasiem\u00e4\u00dfigen Form des Denkens entwickeln sich sehr allm\u00e4hlich die Verstandesfunctionen. indem in der fr\u00fcher 'S. 310 f.) angegebenen Weise die in der Wahrnehmung gegebenen oder durch combi-nirende Phantasieth\u00e4tigkeit gebildeten Gesammtvorstellungen in ihre begrifflichen Bestandtheile, wie Gegenst\u00e4nde und Eigenschaften, Gegenst\u00e4nde und Handlungen, Verh\u00e4ltnisse verschiedener Gegenst\u00e4nde zu einander, gegliedert werden. Das entscheidende Symptom f\u00fcr die Entstehung der Verstandesfunctionen ist daher die Bildung von Begriffen, wogegen Handlungen, die von Seiten des Beobachters mittelst einer logischen Reflexion erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen, durchaus nicht die Existenz einer solchen beweisen, da sie, gerade so wie bei den Thieren, sehr h\u00e4ufig offenbar aus Associationen abzuleiten sind. Aus demselben Grunde kann die Sprache ohne ein eigentlich begriffsm\u00e4\u00dfiges Denken in ihren ersten Anf\u00e4ngen vorhanden sein, da urspr\u00fcnglich das Wort zun\u00e4chst nur einen concreten sinnlichen Eindruck bezeichnet. Dagegen ist ein vollkommenerer Gebrauch der Sprache allerdings nicht m\u00f6glich, ohne dass begriffsm\u00e4\u00dfige, wenn auch noch durchaus concret sinnliche Zerlegungen, Beziehungen und Uebertragungen der Vorstellungen stattfinden. Demgem\u00e4\u00df f\u00e4llt denn auch schlie\u00dflich die Entwicklung der Verstandesfunctionen mit der Sprache","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a721. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. 347\nzusammen, und diese ist dabei zugleich ein unentbehrliches H\u00fclfsmittel f\u00fcr die Festhaltung der Begriffe und f\u00fcr die Fixirung der Denkoperationen.\n10 a. Die Psychologie des Kindes leidet, wie die der Thiere, h\u00e4ufig an dem Fehler, dass die Beobachtungen nicht objectiv in-terpretirt, sondern durch subjective Reflexionen erg\u00e4nzt werden. In Folge dessen werden dann nicht blo\u00df die fr\u00fchesten thats\u00e4ch-lich rein associativ entstandenen Vorstellungsverbindungen als Acte einer logischen Reflexion gedeutet, sondern es werden auch die urspr\u00fcnglichsten mimischen Ausdrucksbewegungen, wie z. B. die des Neugeborenen auf Geschmacksreize, f\u00fcr Gef\u00fchlsreactionen angesehen, w\u00e4hrend sie zun\u00e4chst offenbar nur die Bedeutung angeborener Reflexe besitzen, bei denen zwar eine dunkle Gef\u00fchlsbegleitung m\u00f6glich, aber nicht sicher nachzuweisen ist. An dem \u00e4hnlichen Mangel leidet die gew\u00f6hnliche Auffassung der Entwicklung der Willenshandlungen und der Sprache. Insbesondere die Kindersprache ist man meist geneigt wegen ihrer besonderen Eigenth\u00fcmlichkeiten f\u00fcr eine Sch\u00f6pfung des Kindes selbst zu halten, w\u00e4hrend doch die genauere Beobachtung zeigt, dass sie zum gr\u00f6\u00dften Theil eine Sch\u00f6pfung der Umgebung ist, bei der nur diese dem Lautvorrath und so gut es geht auch dem Bewusstseinszustand des Kindes sich anpasst. Einige zum Theil sehr eingehende und dankenswerthe Schilderungen der seelischen Entwicklung des Kindes in der neueren Literatur k\u00f6nnen deshalb, da sie \u00fcberall auf dem Standpunkt dieser reflexionsm\u00e4\u00dfigen Vulg\u00e4rpsychologie stehen, nur in Bezug auf den objectiven That-bestand als Quellen dienen, w\u00e4hrend die daraus gezogenen psychologischen Schlussfolgerungen durchweg einer Correctur in dem oben angedeuteten Sinne bed\u00fcrfen.\n\u00a7 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.\n1. Wie die psychische Entwicklung des Kindes aus der Wechselwirkung mit seiner Umgebung hervorgeht, so steht auch noch das reife Bewusstsein in fortw\u00e4hrenden Beziehungen zu der geistigen Gemeinschaft, an der es empfangend","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nIV. Die psychischen Entwicklungen.\nund selbstth\u00e4tig theilnimmt. Bei den meisten Thieren fehlt eine solche Gemeinschaft v\u00f6llig; in den Thierehen, Thierstaaten und Thierschw\u00e4rmen sind nur unvollkommene, auf einzelne Zwecke beschr\u00e4nkte Vorstufen derselben zu finden. Die dauernderen derselben, die Thierehen und die f\u00e4lschlich so genannten Thierstaaten (S. 327), besitzen die Bedeutung von Geschleclitsgemeinschaften, die vor\u00fcbergehenderen, die Thierschw\u00e4rme, wie z. B. die Schw\u00e4rme der Wanderv\u00f6gel, die von Schutzgemeinschaften. In allen diesen F\u00e4llen sind es bestimmte, durch Vererbung befestigte Instincte, die den Zusammenhalt der Individuen bewirken, und dieser zeigt daher die n\u00e4mliche, nur \u00e4u\u00dferst wenig durch individuelle Einfl\u00fcsse abzu\u00e4ndernde Constanz, die dem Instinct \u00fcberhaupt zukommt.\nSind auf diese Weise die Vereinigungen der Thiere stets nur auf bestimmte physische Lebenszwecke ausgehende Erg\u00e4nzungen des individuellen Daseins, so ist dagegen die menschliche Entwicklung von Anfang an darauf gerichtet, dass sich der Einzelne mit seiner geistigen Umgebung zu einem Ganzen verbindet, das, der Entwicklung f\u00e4hig, ebensowohl der Befriedigung der physischen Lebensbed\u00fcrfnisse wie der Verfolgung der verschiedensten geistigen Zwecke dient und in diesen Zwecken die mannigfaltigsten Ver\u00e4nderungen zul\u00e4sst. In Folge dessen sind die Formen menschlicher Gemeinschaft ungemein ver\u00e4nderlich, w\u00e4hrend zugleich die vollkommeneren Formen in eine Continuit\u00e4t geschichtlicher Entwicklung treten, die das geistige Zusammenleben der Einzelnen \u00fcber die Grenzen des unmittelbaren r\u00e4umlichen und zeitlichen Zusammenseins hinaus fast ins Unbegrenzte erweitert. Das Resultat dieser Entwicklung ist daher schlie\u00dflich die mit Bewusstsein erfasste Idee der Menschheit als der allgemeinen geistigen Gemeinschaft, die sich nach den besonderen Bedingungen ihres Daseins in","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a721. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. 349\neinzelne concrete Gemeinschaften, V\u00f6lker, Staaten, Cultur-gesellscliaften verschiedener Art, St\u00e4mme und Familien, gliedert. Darum ist die geistige Gemeinschaft, in welcher der Einzelne steht, nicht eine, sondern eine wechselnde Vielheit geistiger Verbindungen, die in der mannigfaltigsten Weise \u00fcber einander greifen und mit zunehmender Entwicklung immer reicher werden.\n2. Die Aufgabe, diese Entwicklungen in ihren concreten Gestaltungen oder auch nur in ihrem allgemeinen Zusammenhang zu verfolgen, f\u00e4llt der Cultur- und Universalgeschichte zu, nicht der Psychologie. Diese hat jedoch \u00fcber die allgemeinen psychischen Bedingungen und \u00fcber die aus diesen Bedingungen entspringenden psychischen Vorg\u00e4nge Rechenschaft zu gehen, durch die sich das Leben der Gemeinschaft von dem des Einzelnen sondert.\nDiejenige Bedingung, durch die \u00fcberall eine geistige Gemeinschaft erst m\u00f6glich wird, und die zugleich an der Entwicklung derselben fortw\u00e4hrend theilnimmt, ist die Function der Sprache. Sie ist es zugleich, die den Uebergang von dem Einzeldasein zu der geistigen Gemeinschaft psychologisch vermittelt, indem sie ihrem Urspr\u00fcnge nach zu den individuellen Ausdrucksbewegungen geh\u00f6rt, durch die Entwicklung die sie erf\u00e4hrt aber zur unerl\u00e4sslichen Form f\u00fcr alle gemeinsamen geistigen Inhalte wird. Diese letzteren oder die der Gemeinschaft eigenen geistigen Vorg\u00e4nge Zerf\u00e4llen dann wieder in zwei Classen, die in der Wirklichkeit freilich, ebenso wie das individuelle Vorstellen und Wollen, nicht sowohl gesonderte Vorg\u00e4nge als zusammengeh\u00f6rige Bestandteile des Gemeinschaftslebens sind: erstens in gemeinsame Vorstellungen, in denen sich namentlich die \u00fcbereinstimmenden Gedanken \u00fcber Weltinhalt und Weltbedeutung niedergelegt finden, die mythologischen Vorstellungen; und zweitens in gemeinsame Motive","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nTV. Die psychischen Entwicklungen.\ndes Wollens, die den gemeinsamen Vorstellungen und den sie begleitenden Gef\u00fchlen und Affecten entsprechen, die Normen der Sitte.\nA. Die Sprache.\n3. Ueber die allgemeine Entwicklung der Sprache gibt uns ihre individuelle Entwicklung beim Kinde deshalb keine Rechenschaft, weil diese ein Vorgang ist, an dem die sprechende Umgebung \u00fcberwiegend betheiligt ist 'S. 312). Immerhin zeigt das Sprechenlernen des Kindes, dass bei ihm physische und psychische Anlagen der Mittheilung der Sprache beg\u00fcnstigend entgegenkommen. In der That l\u00e4sst sich annehmen, dass diese Anlagen selbst dann, wenn die \u00e4u\u00dfere Mittheilung unterbliebe, zu irgend welchen von Lauten begleiteten Ausdrucksbewegungen, f\u00fchren m\u00fcssten, welche die Bedeutung einer unvollkommenen Sprache bes\u00e4\u00dfen. Diese Vermuthung wird durch die Beobachtung der Taubstummen, namentlich solcher taubstummer Kinder best\u00e4tigt, die ohne absichtlichen Unterricht aufwachsen, und zwischen denen sich trotzdem ein reger geistiger Verkehr entwickeln kann. Dieser beruht aber in solchem Falle, da der Taubstumme ausschlie\u00dflich auf gesehene Zeichen angewiesen ist, in der nat\u00fcrlichen Entwicklung einer Geberdensprache, die sich aus bedeutungsvollen Ausdrucksbewegungen zusammensetzt. Die Gef\u00fchle werden dabei im allgemeinen durch mimische, die Vorstellungen durch pantomimische Zeichen ausgedr\u00fcckt, indem mit dem Finger entweder auf die Vorstellungsobjecte hingewiesen oder ein ungef\u00e4hres Bild der Vorstellung in der Luft gezeichnet wird: hinweisende und malende Geberden. (Vgl. S. 203.) Indem solche Zeichen, der Reihenfolge der Gedanken entsprechend, aneinandergef\u00fcgt werden, entsteht sogar eine Art von Satzbildung, mittelst deren Dinge beschrieben oder Ereignisse","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. 351\nerz\u00e4hlt werden k\u00f6nnen. Diese nat\u00fcrlich entstandene Geberdensprache beschr\u00e4nkt sich jedoch stets auf die Mittheilung concreter sinnlicher Vorstellungen und ihres Zusammenhangs; an Zeichen f\u00fcr abstracte Begriffe fehlt es ihr vollst\u00e4ndig.\n4. Die urspr\u00fcngliche Entwicklung einer Lautsprache l\u00e4sst sich nun nicht wohl anders als nach Analogie dieser Entstehung der nat\u00fcrlichen Geherdensprache denken, nur dass die H\u00f6rf\u00e4higkeit zu den mimischen und pantomimischen Geherden noch als eine dritte Form die Lautgeberden hinzuf\u00fcgen wird, die, weil sie nicht blo\u00df leichter wahrnehmbar sind, sondern auch ungleich reichere Modifikationen zulassen, nothwendig bald den Vorzug vor jenen gewinnen m\u00fcssen. Wie aber die mimische und pantomimische Geberde ihre Verst\u00e4ndlichkeit der unmittelbaren Beziehung verdankt, die bei ihr zwischen der Beschaffenheit der Bewegungen und ihrer Bedeutung besteht, so wird eine solche Beziehung auch f\u00fcr die urspr\u00fcnglichen Lautgeberden vorauszusetzen sein. Ueberdies ist es nicht unwahrscheinlich, dass dieselben zuerst durch begleitende mimische und pantomimische Geberden unterst\u00fctzt wurden, entsprechend der durchg\u00e4ngig zu beobachtenden ungehemmteren Aeu\u00dferung solcher beim Naturmenschen, sowie der Bolle, die ihnen beim Sprechenlernen des Kindes zukommt. Demnach ist die Entwicklung der Lautsprache wahrscheinlich als ein Process der Differenzirung zu denken, bei welchem aus einer Menge verschiedenartiger sich wechselseitig unterst\u00fctzender Ausdrucksbewegungen allm\u00e4hlich die Lautgeberde als die allein \u00fcbrig bleibende hervorging, die jene andern H\u00fclfsmittel erst abstreifte, als sie selbst sich zureichend fixirt hatte. Psychologisch l\u00e4sst sich hiernach dieser Process in eine Aufeinanderfolge von zwei Acten zerlegen: in die in der Form triebartiger Willenshandlungen von den ein-","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nIV. Die psychischen .Entwicklungen.\nzelnen Mitgliedern einer Gemeinschaft erzeugten Ausdrucksbewegungen, von denen diejenigen der Sprachorgane unter dem Einfluss des Strebens nach Mittheilung vor den andern den Vorzug gewinnen, imd in die hieran sich anschlie\u00dfenden Associationen zwischen Laut und Vorstellung, die sich allm\u00e4hlich befestigen und zugleich von ihren anf\u00e4nglichen Entstehungscentren aus \u00fcber gr\u00f6\u00dfere Kreise der redenden Gemeinschaft verbreiten.\n5. In die Entstehung der Sprache greifen dann aber von Anfang an weitere physische und psychische Bedingungen ein, die stetige und unabl\u00e4ssige Ver\u00e4nderungen ihrer Bestandtheile hervorbringen. Solcher Ver\u00e4nderungen lassen sich zwei unterscheiden : der Lautwandel und der B e -deutungswan d e 1.\nT)er erstere hat seine physiologische Ursache in den allm\u00e4hlich in der physischen Disposition der Sprachorgane eintretenden Aenderungen. Diese sind aber jedenfalls zum gro\u00dfen Th eil wieder physisch oder psy clio-physisch bedingt, da sie theils aus allgemeinen Aenderungen, die der Wechsel der Natur- und Cnlturbedingungen in der physischen Organisation hervorbringt, theils aus den speciellen Bedingungen hervorgehen, welche die zunehmende Uebung f'\u00fcr^lie Articulationsbewegungen mit sich f\u00fchrt. In letzterer Beziehung scheint, wie manche Erscheinungen lehren, namentlich die allm\u00e4hlich zunehmende Geschwindigkeit der Articulationsbewegungen einen gro\u00dfen Einfluss auszu\u00fcben. Zudem wirken die verschiedenen, irgendwie einander analogen Bestandtheile des Wortschatzes auf einander in einer Weise ein, die auf das Eingreifen des psychischen Eactors der Association hinweist.\nWie der Lautwandel das \u00e4u\u00dfere Ger\u00fcste, so ver\u00e4ndert der Bedeutungswandel den inneren Gehalt der W\u00f6rter. Die urspr\u00fcngliche Association zwischen dem Wort und der durch","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. 353\ndasselbe bezeichneten Vorstellung wird ver\u00e4ndert, indem eine von der ersten abweichende Vorstellung an deren Stelle tritt, ein Process der sich im Laufe der Zeit an dem n\u00e4mlichen Wort mehrmals wiederholen kann. Hiernach beruht der Bedeutungswandel auf allm\u00e4hlich sich vollziehenden Ver\u00e4nderungen in denjenigen Associationsbedingungen, welche die bei dem H\u00f6ren oder Sprechen des Wortes in den Blickpunkt des Bewusstseins tretende Vorstellungscomplication bestimmen. Er kann daher auch kurz als ein Process asso-ciativer Verschiebung der mit der Lautvorstellung verbundenen Vorstellungscomponente der sprachlichen Compli-cationen definirt werden (S. 275).\nLaut- und Bedeutungswandel wirken nun in dem Sinne zusammen, dass sie die urspr\u00fcnglich vorauszusetzende Beziehung zwischen Laut und Bedeutung immer mehr schwinden lassen, so dass das Wort schlie\u00dflich nur noch als ein \u00e4u\u00dferes Zeichen der Vorstellung aufgefasst wird. Dieser Process ist ein so tiefgreifender, dass selbst diejenigen Lautzeichen, bei denen diese Beziehung noch erhalten zu sein scheint, die onomatopoetischen Wortbildungen, zumeist ver-h\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig sp\u00e4te Producte einer secund\u00e4r eingetretenen Assimilation zwischen Laut und Bedeutung zu sein scheinen, eines Assimilationsprocesses durch den sich die verloren gegangene urspr\u00fcngliche Affinit\u00e4t zwischen Laut und Bedeutung wiederherzustellen strebt.\nEine weitere wichtige Folge jenes Zusammenwirkens von Laut- und Bedeutungswandel besteht darin, dass zahlreiche W\u00f6rter allm\u00e4hlich ihre urspr\u00fcngliche concret sinnliche Bedeutung ganz verlieren und in Zeichen f\u00fcr allgemeine Begriffe und f\u00fcr den Ausdruck der apperceptiven Functionen der Beziehung und Vergleichung und ihrer Producte \u00fcbergehen. Auf diese Weise entwickelt sich das abstracte Denken, das, weil es ohne den zu Grunde liegenden","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\niy. Die psychischen Entwicklungen.\nBedeutungswandel der W\u00f6rter nicht m\u00f6glich w\u00e4re, selbst erst ein Erzeugniss jener psychischen und psychophysischen Wechselwirkungen ist, aus denen die fortschreitende Entwicklung der Sprache hervorgeht.\n6. Wie die Bestandteile der Sprache, die W\u00f6rter, in Laut und Bedeutung einer fortw\u00e4hrenden Entwicklung unterworfen sind, so vollziehen sich aber auch allm\u00e4hliche, wenngleich im allgemeinen langsamere Ver\u00e4nderungen in der Verbindung dieser Bestandteile zu einem zusammengesetzten Ganzen, dem Satze. Keine Sprache ist ohne eine solche syntaktische Wortfolge zu denken. Satz und Wort sind daher gleich urspr\u00fcngliche psychologische Formen des Denkens, ja in gewissem Sinne kann der Satz die urspr\u00fcnglichere Form genannt werden, da namentlich auf unvollkommeneren Sprachstufen die W\u00f6rter eines Satzes oft nur unsicher gegen einander abzugrenzen sind, so dass sie erst als Producte der Zerlegung des urspr\u00fcnglich einheitlichen, durch den Satz ausgedr\u00fcckten Gedankens erscheinen. Auch f\u00fcr die Wortfolge gibt es nun, so wenig wie f\u00fcr das Ver-h\u00e4ltniss von Laut und Bedeutung, irgend eine allgemeing\u00fcltige Norm. Insbesondere hat daher diejenige Wortfolge, die von der Logik mit R\u00fccksicht auf die Verh\u00e4ltnisse der wechselseitigen logischen Abh\u00e4ngigkeit der Begriffe bevorzugt wird, keine psychologische Allgemeing\u00fcltigkeit; ja sie erscheint als ein ziemlich sp\u00e4tes und zum Theil durch willk\u00fcrliche Convention entstandenes Entwicldungsproduct, dem nur manche der neueren, syntaktisch beinahe erstarrten Sprachformen in dem gew\u00f6hnlichen Prosastil nahe kommen. Das urspr\u00fcngliche Princip, dem die sprachlichen Apper-ceptionsverbindungen folgen, ist dagegen sichtlich dieses, dass die Wortfolge der Vorstellungsfolge entspricht, und dass daher namentlich diejenigen liedetlieile vorausgehen, welche die am st\u00e4rksten das Gef\u00fchl erregenden und","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. 355\ndie Aufmerksamkeit fesselnden Vorstellungen bezeichnen. In Folge dessen bilden sich dann erst in einer bestimmten redenden Gemeinschaft gewisse Kegelm\u00e4\u00dfigkeiten der Wortfolge heraus. In der That ist eine solche schon an den nat\u00fcrlichen Geberdezeichen der Taubstummen zu beobachten. Doch ist es begreiflich, dass in dieser Beziehung unter speciellen Bedingungen die mannigfachsten Abweichungen Vorkommen k\u00f6nnen, und dass zugleich der Spielraum dieser Abweichungen ein ungemein gro\u00dfer ist. Im allgemeinen zeigt sich aber hierbei, dass die associative Uebung mehr und mehr zur Fixirung bestimmter syntaktischer Formen f\u00fchrt, so dass allm\u00e4hlich eine gewisse Erstarrung einzutreten pflegt.\nDie n\u00e4heren Eigenschaften der syntaktischen Verbindungen und ihrer allm\u00e4hlichen Ver\u00e4nderungen sind \u00fcbrigens, abgesehen von den bei der allgemeinen Betrachtung der Apperceptionsverbindungen hervorgehobenen Gesetzen, die aus den allgemeing\u00fcltigen psychischen Functionen der Beziehung und der Vergleichung hervorgehen (S. 310), so sehr von den specifischen Anlagen und Culturbedingungen der Sprachgemeinschaften abh\u00e4ngig, dass ihre Er\u00f6rterung trotz ihres hervorragenden psychologischen Interesses der V\u00f6lkerpsychologie zugewiesen werden muss.\nB. Der Mythus.\n7. Mit der Entwicklung der Sprache ist die des Mythus auf das engste verkn\u00fcpft. Das mythologische Denken beruht zwar, gerade so wie die Entstehung der Sprache, auf Eigenschaften, die dem menschlichen Bewusstsein niemals ganz verloren gehen; doch werden diese Eigenschaften durch mannigfache Einfl\u00fcsse theils ver\u00e4ndert theils eingeschr\u00e4nkt. Als die Grundfunction, auf deren verschiedenartiger Beth\u00e4tigung alle mythologischen Vorstellungen be-\n23*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nIV. Die psychischen Entwicklungen.\nruhen, ist eine eigenth\u00fcmliche, dem naiven Bewusstsein \u00fcberall zukommende Art der Apperception anzusehen, die man als die personificirende Apperception bezeichnen kann. Sie besteht darin, dass die appercipirten Objecte ganz und gar durch die eigene Natur des wahrnehmenden Subjects bestimmt werden, so dass dieses nicht blo\u00df seine Empfindungen, Affecte und willk\u00fcrlichen Bewegungen in den Objecten wiederfindet, sondern dass es insbesondere auch durch seinen augenblicklichen Gem\u00fcthszustand jeweils in der Auffassung der wahrgenommenen Erscheinungen bestimmt und zu Vorstellungen \u00fcber die Beziehungen derselben zu dem eigenen Dasein veranlasst wird. In dieser Auffassung liegt dann von selbst, dass dem Object die pers\u00f6nlichen Eigenschaften, die das Subject an sich selbst vorfindet, zugeschrieben werden. Unter diesen Eigenschaften fehlen namentlich die inneren des Gef\u00fchls, Affects u. s. w. niemals, w\u00e4hrend die \u00e4u\u00dferen der willk\u00fcrlichen Bewegung und sonstiger menschen\u00e4hnlicher Lebens\u00e4u\u00dferungen meist von wirklich wahrgenommenen Bewegungen abh\u00e4ngen. So kann der Naturmensch Steinen, Pflanzen, Kunstobjecten ein inneres Empfinden und F\u00fchlen und davon ausgehende Wirkungen zuschreiben ; ein unmittelbares \u00e4u\u00dferes Handeln pflegt er aber nur bei bewegten Gegenst\u00e4nden, wie Wolken, Gestirnen, Winden u. dergl., vorauszusetzen. Beg\u00fcnstigt wird dabei in allen F\u00e4llen dieser Process durch associative Assimilationen, die sich leicht zur phantastischen Illusion steigern k\u00f6nnen (S. 316).\n8. Die mythische oder personificirende Form der Apperception ist nun nicht etwa als eine besondere oder gar normwidrige Abart der Apperception \u00fcberhaupt zu betrachten, sondern sie ist die nat\u00fcrliche Anfangsstufe derselben. Das Kind zeigt fortan deutliche Spuren einer solchen: sie ver-rathen sich tlieils in der spielenden Phantasieth\u00e4tigkeit 'S. 344)","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. 357\ntlieils darin, dass bei ihm lebhafte Affecte, besonders Furcht und Schreck, leicht phantastische Illusionen von analogem Gef\u00fchlscharakter hervorrufen. Aber diese Aeu\u00dferungen eines mythenbildenden Bewusstseins werden hier durch die Einfl\u00fcsse der Umgebung und Erziehung fr\u00fch erm\u00e4\u00dfigt und bald ganz unterdr\u00fcckt. Anders beim Natur- und primitiven Culturmenschen, wo umgekehrt die Umgebung dem Einzelbewusstsein eine F\u00fclle mythischer Vorstellungen zuf\u00fchrt, die, auf \u00fcbereinstimmende Weise urspr\u00fcnglich individuell entstanden, allm\u00e4hlich sich in einer bestimmten Gemeinschaft befestigt haben und, analog der Sprache und vielfach in Wechselwirkung mit derselben, von Generation zu Generation sich fortpflanzen, indem sie sich dabei allm\u00e4hlich mit den Ver\u00e4nderungen der Natur- und Culturbedingungen selber ver\u00e4ndern.\n9. F\u00fcr die Richtung, in der diese Ver\u00e4nderungen erfolgen, ist im allgemeinen die Thatsache bestimmend, dass, wie oben bemerkt, der jeweilige Gem\u00fcthszustand auf die besondere Art der mythischen Apperception haupts\u00e4chlich von Einfluss ist. Ueber die Art, wie sich dieser Gem\u00fcthszustand von den ersten Anf\u00e4ngen geistiger Entwicklung an ver\u00e4ndert hat, gibt uns aber wieder bei dem g\u00e4nzlichen Mangel anderer Zeugnisse haupts\u00e4chlich die Entwicklungsgeschichte der mythologischen Vorstellungen einigerma\u00dfen Rechenschaft. Sie zeigt nun, dass durcligehends die fr\u00fchesten mythischen Gedankenbildungen einerseits sich auf das eigene Schicksal der n\u00e4chsten Zukunft beziehen, und anderseits von den Affecten, die durch den Tod der Genossen, durch die Erinnerung an sie erweckt werden, besonders auch durch die Erinnerungsvorstellungen des Traumes, bestimmt sind. Hierin liegt der Ursprung des sogenannten \u00bbAnimismus\u00ab, d. h. aller jener Vorstellungen, bei denen die Geister Verstorbener die Rolle von Schicksals-","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nTV. Die psychischen Entwicklungen.\nmachten spielen, die bald gl\u00fcck- bald unheilbringend in das Leben des Menschen eingreifen. Eine Art Abzweigung dieses Animismus ist der \u00bbFetischismus\u00ab, bei dem die Vorstellung. der Schicksalsmacht auf die mannigfachsten Gegenst\u00e4nde der Umgebung, wie Thiere, Pflanzen, Steine, Kunstobjecte, besonders auf solche, die durch auffallende Beschaffenheit oder zuf\u00e4llige \u00e4u\u00dfere Umst\u00e4nde die Aufmerksamkeit fesseln, \u00fcbertragen wird. Die Erscheinungen des Animismus und Fetischismus haben das Eigenth\u00fcmliche, dass sie nicht nur die primitivsten, sondern auch die dauerhaftesten Erzeugnisse der mythischen Apperception sind, da sie nach Verdr\u00e4ngung aller andern in den mannigfachsten Formen des Culturaberglaubens, wie des Gespenster-, Zauber-, Amuletglaubens, noch fortleben.\n10. Erst auf einer gereifteren Stufe des mythenbildenden Bewusstseins beth\u00e4tigt sich die personificirende Apperception auch an den gro\u00dfen, durch ihre Ver\u00e4nderungen sowie durch ihren directen Einfluss auf das Leben des Menschen eindrucksvollen Naturerscheinungen, wie den Wolken, Fl\u00fcssen, St\u00fcrmen, gro\u00dfen Gestirnen u. s. w. Hierbei regt zugleich die Regelm\u00e4\u00dfigkeit gewisser Naturerscheinungen, wie des Wechsels von Tag und Nacht, von Winter und Sommer, der Vorg\u00e4nge beim Gewittersturm u. dergl., zu poetischen Mythenbildungen an, in denen eine Beihe zusammengeh\u00f6riger Vorstellungen zu einem in sich geschlossenen Ganzen verkn\u00fcpft wird. So entsteht der Naturmythus, der durch seine Beschaffenheit unmittelbar die poetische Gestaltungskraft Einzelner zu seiner weiteren Ausbildung herausfordert. Dadurch geht derselbe allm\u00e4hlich in einen Bestandtheil zuerst der Volks-, dann der Kunstpoesie \u00fcber, und zugleich erf\u00e4hrt er in Bezug auf die einzelnen mythischen Gestalten durch das Verblassen urspr\u00fcnglicher und das Hervortreten neuer Z\u00fcge einen Bedeutungswandel, der, dem der sprach-","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. 359\nliehen Symbole analog und durchweg von ihm begleitet, eine fortschreitende innere Umwandlung des Mythus m\u00f6glich macht. Bei diesem Vorgang gewinnen dann einzelne Dichter und Denker einen wachsenden Einfluss.\nAuf diese Weise vollzieht sich allm\u00e4hlich die Scheidung des gesammten urspr\u00fcnglichen Mythengehaltes in Wissenschaft (Philosophie) und Religion, w\u00e4hrend zugleich in der letzteren die Naturg\u00f6tter mehr und mehr ethischen G\u00f6tter-vorstellungen Platz machen, eine Scheidung an die \u00fcberdies bedeutungsvolle Wechselwirkungen beider Gebiete sich anschlie\u00dfen. Auch diese Erscheinungen m\u00fcssen jedoch, da in ihnen neben den allgemeinen psychologischen Gesetzen besondere Culturbedingungen in Betracht kommen, der V\u00f6lkerpsychologie und Culturgeschichte Vorbehalten bleiben.\nC. Die Sitte.\n11. An die Entwicklung des Mythus ist die der Sitte in einer Weise gebunden, die durchaus dem Verh\u00e4ltniss der inneren Motive zur \u00e4u\u00dferen Willenshandlung entspricht. Ueberall wo wir den Ursprung uralter, weit verbreiteter Sitten mit einiger Wahrscheinlichkeit erforschen k\u00f6nnen, da verrathen sie sich als Reste oder Umwandlungsproducte bestimmter Cultformen. So weisen der Leichenschmaus und andere Bestattungsceremonien der Culturv\u00f6lker auf den primitiven Ahnencultus, so zahlreiche an bestimmte Tage, an den Wechsel der Jahreszeiten, an die Bestellung des Feldes und die Ernte gekn\u00fcpfte Feste oder Sitten auf einstige Naturmythen hin; so verr\u00e4th die Sitte des Gru\u00dfes in ihren mannigfachen Formen ihre directe Herkunft aus Gebets-ceremonien u. s. w.\nDaneben ist nat\u00fcrlich die M\u00f6glichkeit nicht ausgeschlossen, dass auch andere Motive, namentlich solche der praktischen Zweckm\u00e4\u00dfigkeit, zur Entstehung zun\u00e4chst indi-","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\tIV. Die psychischen Entwicklungen.\nvidueller Gewohnheiten Anlass gaben, die sich dann allm\u00e4hlich \u00fcber eine Gemeinschaft ausbreiteten und so zu Normen der Sitten wurden. Aber der vorherrschende Zug dieser Entwicklung ist jedenfalls der, dass die urspr\u00fcngliche Sitte, mag sie auch nebenbei, wie z. B. die Sitte gleichm\u00e4\u00dfiger Formen der Kleidung, die Regelung gemeinsamer Mahlzeiten u. a., durchaus dem praktischen Bed\u00fcrfnisse dienen, doch zugleich an bestimmte mythologische Vorstellungen sich anlehnt, wie das \u00fcbrigens auf einer Bewusstseinsstufe, die von der mythischen Apperception noch v\u00f6llig beherrscht wird, an und f\u00fcr sich nicht wohl anders denkbar ist.\n12.\tBei der Sitte hat dann aber der Bedeutungswandel, \u00e4hnlich wie bei der Sprache, umgestaltend in die Entwicklung eingegriffen. In Folge dieses Bedeutungswandels sind haupts\u00e4chlich zwei Metamorphosen eingetreten. Bei der einen geht das urspr\u00fcngliche mythische Motiv verloren, ohne dass ein neues an die Stelle tritt: die Sitte dauert nur in Folge der associativen Uebung fort, indem sie zugleich ihren zwingenden Charakter verliert und in ihren \u00e4u\u00dferen Erscheinungsformen sich abschw\u00e4cht. Bei der zweiten Metamorphose treten an die Stelle der urspr\u00fcnglichen mythisch-religi\u00f6sen Motive sittlich-sociale Zwecke. Beide Arten der Umwandlung k\u00f6nnen sich dann im einzelnen Fall auf das engste verbinden ; und selbst da, wo eine Sitte nicht unmittelbar einem bestimmten socialen Zwecke dient, wie das z. B. bei gewissen Regeln des Anstandes, der H\u00f6flichkeit, der Art sich zu kleiden, zu essen u. dgl. der Fall ist, schafft sie sich mittelbar einen solchen, indem die Existenz irgend welcher \u00fcbereinstimmender Normen f\u00fcr die Mitglieder einer Gemeinschaft das Zusammenleben und eben damit die gemeinsame geistige Entwicklung f\u00f6rdert.\n13.\tDie angedeuteten psychologischen Umwandlungen","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. 361\nder Sitte bilden zugleich die Vorbereitung zur Verzweigung derselben in die drei Lebensgebiete der Sitte, des Bechts und der Sittlichkeit, von denen die beiden letzteren als besondere Ausgestaltungen der auf sittlich-sociale Zwecke gerichteten Sitten zu betrachten sind. Die n\u00e4here Untersuchung des psychologischen Processes der Entwicklung und Differenzirung der Sitte \u00fcberhaupt geh\u00f6rt aber wiederum in das specielle Gebiet der V\u00f6lkerpsychologie, die Schilderung der Entstehung von Recht und Sittlichkeit au\u00dferdem in das der Culturgeschichte und Ethik.\n14. In den geistigen Gemeinschaften und insonderheit in den in ihnen hervortretenden Entwicklungen von Sprache, Mythus und Sitte treten uns geistige Zusammenh\u00e4nge und Wechselwirkungen entgegen, die sich zwar in sehr wesentlichen Beziehungen von dem Zusammenhang der Gebilde im individuellen Bewusstsein unterscheiden, denen aber darum doch nicht weniger wie diesem Realit\u00e4t zuzuschreiben ist. In diesem Sinne kann man daher den Zusammenhang der Vorstellungen und Gef\u00fchle innerhalb einer Volksgemeinschaft als ein Gesammtbewussts ein und die gemeinsamen Willensrichtungen als einen Gesammtwillen bezeichnen. Dabei ist freilich nicht zu vergessen, dass diese Begriffe ebenso wenig etwas bedeuten, was au\u00dferhalb der individuellen Bewusstseins- und Willensvorg\u00e4nge existirt, wie die Gemeinschaft selbst etwas anderes ist als die Verbindung der Einzelnen. Indem aber diese Verbindung geistige Erzeugnisse hervorbringt, wie Sprache, Mythus und Sitte, zu denen in dem Einzelnen nur spurweise Anlagen vorhanden sind, und indem sie f\u00fcr die Entwicklung des Einzelnen von fr\u00fch an bestimmend wird, ist sie gerade so gut wie das Einzelbewusstsein ein Object der Psychologie. Denn f\u00fcr diese entsteht nothwendig die Aufgabe, \u00fcber jene Wechselwirkungen Rechenschaft zu geben, aus denen die Erzeugnisse des","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nIV. Die psychischen Entwicklungen.\nGesammtbewusstseins und Gesammtwillens und ihre Eigenschaften hervorgehen.\n14 a. Die Thatsachen, die aus der Existenz der geistigen Gemeinschaften entspringen, sind erst in neuester Zeit in den Umkreis psychologischer Aufgaben eingetreten. Man wies fr\u00fcher die hierher geh\u00f6rigen Probleme entweder gewissen einzelnen Geisteswissenschaften (Sprachwissenschaft, Geschichte, Jurisprudenz u. dgl.) oder, soweit sie allgemeinerer Natur waren, der Philosophie d. h. Metaphysik zu. Soweit die Psychologie sich auf dieselben einlie\u00df, war sie aber, ebenso wie die einschlagenden Einzelwissenschaften, Geschichte, Jurisprudenz u. s. w., meist beherrscht von jenem Reflexionsstandpunkt der Vulg\u00e4rpsychologie, der geneigt ist alle geistigen Erzeugnisse der Gemeinschaften so viel wie m\u00f6glich als willk\u00fcrliche, von Anfang an auf bestimmte N\u00fctzlichkeitszwecke gerichtete Erfindungen zu behandeln. Ihren haupts\u00e4chlichsten philosophischen Ausdruck fand diese Anschauung in der Lehre vom \u00bbStaatsvertrag\u00ab, nach welcher die geistige Gemeinschaft \u00fcberhaupt nichts urspr\u00fcngliches und nat\u00fcrliches sein sollte, sondern auf die willk\u00fcrliche Vereinigung einer Summe von Individuen zur\u00fcckgef\u00fchrt wurde. Eine Nachwirkung dieser unpsychologischen und gegen\u00fcber den Problemen der V\u00f6lkerpsychologie v\u00f6llig rathlosen Auffassung ist es \u00fcbrigens, wenn heute noch die Begriffe eines Gesammtbewusstseins und Gesammtwillens den gr\u00f6bsten Missverst\u00e4ndnissen begegnen, da man, statt sie einfach als einen Ausdruck f\u00fcr die thats\u00e4chliche Ueberein-stimmung und die thats\u00e4chlichen Wechselwirkungen der Individuen einer Gemeinschaft zu betrachten, vielmehr hinter ihnen irgend ein mythologisches Wesen oder mindestens eine metaphysische Substanz zu wittern pflegt.","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"V. Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\n\u00a7 22. Der Begriff der Seele.\n1. Jede Erfahrungswissenschaft hat zu ihrem n\u00e4chsten und eigentlichsten Inhalte bestimmte Thatsachen der Erfahrung, deren Beschaffenheit und wechselseitige Beziehungen sie zu erforschen sucht. Bei der L\u00f6sung dieser Aufgabe erweisen sich aber allgemeine H\u00fclfsbegriffe, die selbst nicht unmittelbar in der Erfahrung enthalten sind, sondern erst auf Grund einer logischen Bearbeitung derselben gewonnen werden, als unerl\u00e4sslich, falls man nicht auf die Zusammenfassung der Thatsachen unter leitende Gesichtspunkte g\u00e4nzlich verzichten will. Der allgemeinste Htilfs-begriff dieser Art, der in allen Erfahrungswissenschaften seine Hechte geltend macht, ist der Begriff der Causalit\u00e4t. Er entstammt dem Bed\u00fcrfniss unseres Denkens, alle uns gegebenen Erfahrungen nach Gr\u00fcnden und Folgen zu ordnen und \u00fcberall, wo sich der Herstellung eines auf diesem Wege erstrebten widerspruchslosen Zusammenhangs Widerst\u00e4nde entgegensetzen, dieselben durch secund\u00e4re H\u00fclfsbegriffe, eventuell von hypothetischer Art, zu beseitigen. In diesem Sinne lassen sich alle f\u00fcr die Interpretation eines Erfahrungsgebietes \u00fcberhaupt in Frage kommenden H\u00fclfsbegriffe als Anwendungen des allgemeinen Causalprincips betrachten: sie sind gerechtfertigt, insoweit sie durch dieses Princip gefordert oder mindestens als wahrscheinlich nahe gelegt sind; sie sind nicht gerechtfertigt, sobald sie sich","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\tV. Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\nals willk\u00fcrliche Fictionen heraussteilen, die, aus irgend welchen fremdartigen Motiven entstanden, f\u00fcr die Interpretation der Erfahrung nichts leisten.\n2. In diesem Sinne^ ist der Begriff der Materie ein fundamentaler H\u00fclfsbegriff der Naturwissenschaft. In seiner allgemeinsten Fassung bezeichnet er das im Weltraum vorausgesetzte beharrende Substrat, als dessen Wirkungen wir alle Naturerscheinungen betrachten. In dieser allgemeinsten Fassung kann keine naturwissenschaftliche Erkl\u00e4rung des Begriffs der Materie entbehren. Wenn in neuerer Zeit versucht worden ist, den Begriff der Energie zum beherrschenden Princip zu erheben, so ist damit nicht der Begriff der Materie selbst beseitigt, sondern es ist ihm nur ein anderer Inhalt gegeben. Diesen Inhalt gewinnt der Begriff stets erst durch einen zweiten H\u00fclfsbegriff, der sich auf die causale Wirksamkeit der Materie bezieht. Der bisher in der Naturwissenschaft g\u00fcltige Begriff der Materie, der sich auf die mechanische Physik Galilei\u2019s st\u00fctzt, benutzt als solchen H\u00fclfsbegriff den als Product von Masse und momentaner Beschleunigung definirten Begriff der Kraft. Eine Physik der Energie m\u00fcsste statt dessen auf allen Gebieten den Begriff der Energie benutzen, der in der specieilen Form der mechanischen Energie als das halbe Product der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit zu definiren ist. Da aber die Energie ebenso wie die Kraft in dem objectiven Raum ihren Sitz hat, und da unter bestimmten Bedingungen die Punkte, von denen Energie ausgeht, ebenso ihren Ort im Raum ver\u00e4ndern k\u00f6nnen wie die Punkte, von denen Kr\u00e4fte ausgehen, so bleibt der Begriff der Materie als eines im Raum enthaltenen Substrates in beiden F\u00e4llen bestehen, und der einzige, allerdings wichtige Unterschied bleibt der, dass man bei der Zuh\u00fclfenahme des Kraftbegriffs die Reducirbarkeit aller Naturerscheinungen","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 22. Der Begriff der Seele\n365\nauf mechanische Bewegungsvorg\u00e4nge voraussetzt, w\u00e4hrend man bei der Zuh\u00fclfenahme des Energiebegriffs der Materie neben der Eigenschaft der Bewegung bei unver\u00e4nderter Energieform noch die Eigenschaft der Transformirbarkeit qualitativ verschiedener Energieformen in einander bei unver\u00e4ndert bleibender Energiegr\u00f6\u00dfe zuschreibt.\n3. In \u00e4hnlicher Weise wie der Begriff der Materie ein H\u00fclfsbegriff der Naturwissenschaft, so ist nun der Begriff der Seele ein H\u00fclfsbegriff der Psychologie. Auch er ist insofern unentbehrlich, als wir durchaus eines die Gesammt-heit der psychischen Erfahrungen eines individuellen Bewusstseins zusammenfassenden Begriffs bed\u00fcrfen, wobei aber nat\u00fcrlich auch hier der n\u00e4here Inhalt dieses Begriffs ganz und gar von den weiteren H\u00fclfsbegriffen abh\u00e4ngt, welche die Natur der psychischen Causalit\u00e4t n\u00e4her angeben. In der Bestimmung dieses Inhaltes hat urspr\u00fcnglich die Psychologie darin das Schicksal der Naturwissenschaft getheilt, dass der Begriff der Seele ebenso wie der der Materie zun\u00e4chst nicht sowohl aus dem empirischen Erkl\u00e4rungsbed\u00fcrfnisse als vielmehr aus dem Streben nach einer phantasievollen Construction des allgemeinen Weltzusammenhangs hervorging. Aber w\u00e4hrend die Naturwissenschaft l\u00e4ngst schon diesem mythologischen Stadium der Begriffsbildung entwachsen ist und sich einzelner in demselben entstandener Vorstellungen nur bedient hat, um bestimmte Ausgangspunkte f\u00fcr eine methodisch strengere Begriffsbildung zu gewinnen, ist in der Psychologie der mythologisch-metaphysische Seelenbegriff bis in die neueste Zeit herrschend geblieben und zum Theil noch herrschend. Man bedient sich desselben nicht als eines allgemeinen H\u00fclfsbegriffs, der in erster Linie die Zusammenfassung . der psychischen That-sachen und in zweiter Linie die causale Interpretation derselben vermitteln soll, sondern als eines H\u00fclfsmittels, um","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\tV. Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\ndem Bed\u00fcrfniss naeli einem allgemeinen, die Natur und das individuelle Dasein gleichm\u00e4\u00dfig umfassenden Weltbilde so viel als m\u00f6glich entgegenzukommen.\n4.\tIn diesem mythologisch-metaphysischen Bed\u00fcrfnisse wurzelt der substantielle Seelenbegriff in seinen verschiedenen Gestaltungen. Hat es auch in der Entwicklung desselben keineswegs an Bestrebungen gefehlt, auf dem durch ihn geschaffenen Boden den Forderungen psychologischer Causalerkl\u00e4rung einigerma\u00dfen gerecht zu werden, so sind doch solche Bestrebungen \u00fcberall erst nachtr\u00e4glich entstanden; und unverkennbar w\u00fcrde nicht blo\u00df die psychologische Erfahrung unabh\u00e4ngig von jenen ihr fremden metaphysischen Motiven niemals zu einem substantiellen Seelenbegriff gef\u00fchrt haben, sondern es hat auch dieser zweifellos sch\u00e4digend auf die Auffassung der Erfahrung zur\u00fcckgewirkt. Die Ansicht z. B., dass alle psychischen Inhalte ihrem Wesen nach Vorstellungen, dass die Vorstellungen mehr oder minder unverg\u00e4ngliche Objecte seien u.s.w., w\u00fcrde ohne solche Voraussetzungen kaum verst\u00e4ndlich sein. Ueberdies spricht hierf\u00fcr der enge Zusammenhang, in welchem der substantielle Seelenbegriff mit dem Begriff der materiellen Substanz steht. Entweder wird er n\u00e4mlich als identisch mit diesem, oder er wird zwar als eigenartiger Begriff betrachtet, bei dem aber gleichwohl die allgemeinsten formalen Merkmale auf eine bestimmte Form des Begriffs der Materie, n\u00e4mlich auf das Atom, zur\u00fcckf\u00fchren.\n5.\tHiernach lassen sich zwei Gestaltungen des substantiellen Seelenbegriffs unterscheiden, entsprechend den in \u00a7 2 (S. 7) unterschiedenen beiden Richtungen der metaphysischen Psychologie : die materialistische, welche die psychischen Vorg\u00e4nge als Wirkungen der Materie oder gewisser materieller Complexe, wie der Gehirnbestandtheile, betrachtet, und die spiri tuali s tis ch e, welche dieselben","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 22. Der Begriff der Seele.\n367\nals Zust\u00e4nde und Ver\u00e4nderungen eines unausgedehnten, darum untheilbaren und beharrenden Wesens von specifisch geistiger Natur ansieht. Im letzteren Fall wird dann entweder auch die Materie als bestehend aus \u00e4hnlichen Atomen niedereren Grades gedacht (monistischer oder monadologischer Spiritualismus), oder es wird das Seelenatom als specifisch verschieden von der eigentlichen Materie angenommen (dualistischer Spiritualismus). (Vgl. S. 8.)\nIn beiden Formen, der materialistischen und der spiri-tualistischen, leistet der Substanzbegriff f\u00fcr die Interpretation der psychologischen Erfahrung nichts. Der Materialismus beseitigt die Psychologie \u00fcberhaupt, um an ihre Stelle eine imagin\u00e4re Gehirnphysiologie der Zukunft oder, soweit er sich selbst auf Theorien einl\u00e4sst, zweifelhafte und unzul\u00e4ngliche gehirnphysiologische Hypothesen zu setzen. Mit dem Verzicht auf eine eigentliche Psychologie verzichtet endlich dieser Standpunkt selbstverst\u00e4ndlich zugleich ganz und gar auf die Aufgabe, den Geisteswissenschaften eine f\u00fcr sie brauchbare Grundlage zu geben. Der Spiritualismus l\u00e4sst zwar die Psychologie als solche bestehen, aber er l\u00e4sst die wirkliche Erfahrung von v\u00f6llig willk\u00fcrlichen metaphysischen Hypothesen \u00fcberwuchern, durch welche die unbefangene Beobachtung der psychischen Vorg\u00e4nge getr\u00fcbt wird. In der That spricht sich dies schon darin aus, dass diese metaphysische Richtung selbst die Aufgabe der Psychologie von vornherein unrichtig bestimmt, indem sie \u00e4u\u00dfere und innere Erfahrung als v\u00f6llig heterogene, aber in irgend welchen \u00e4u\u00dferen Wechselwirkungen stehende Gebiete bezeichnet.\n6. Nun sind, wie schon in \u00a7 1 (S. 3) hervorgehoben wurde, beide, die naturwissenschaftliche und die psychologische Erfahrung, \u00fcberhaupt an und f\u00fcr sich die Bestand-theile einer Erfahrung, die von verschiedenen Standpunkten aus, dort als ein Zusammenhang objectiver Erscheinungen und","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\t\"Vr\u2022 Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\ndaher in Folge der Abstraction von dem erkennenden Subject als mittelbare, hier aber als unmittelbare und urspr\u00fcngliche Erfahrung betrachtet wird.\nMit der Erkenntniss dieses Verh\u00e4ltnisses tritt von selbst an die Stelle des Substantialit\u00e4tsb egriffs der Actua-lit\u00e4tsbegriff als der f\u00fcr die Auffassung der psychischen Vorg\u00e4nge ma\u00dfgebende. Da die psychologische Betrachtung die Erg\u00e4nzung der naturwissenschaftlichen ist, insofern jene die unmittelbare Wirklichkeit der Erfahrung zu ihrem Inhalte hat, so liegt darin von selbst eingeschlossen, dass in ihr hypothetische H\u00fclfsbegriffe, wie sie in der Naturwissenschaft durch den Begriff eines von dem Subjecte unabh\u00e4ngigen Gegenstandes notliwendig werden, keine Stelle finden k\u00f6nnen. Tn diesem Sinne ist der Actualit\u00e4tsbegriff der Seele kein Begriff, der, wie derjenige der Materie, hypothetischer Bestimmungsst\u00fccke bedarf, um ihn seinem n\u00e4heren Inhalte nach zu definiren, sondern er schlie\u00dft im Gegentheil solche hypothetische Elemente von vornherein aus, indem er als das Wesen der Seele die unmittelbare Wirklichkeit der Vorg\u00e4nge selbst bezeichnet. Da aber ein wichtiger Bestandtheil dieser Vorg\u00e4nge, n\u00e4mlich die Gesammtheit der Vorstellungsobjecte, zugleich den Inhalt der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise ausmacht, so ist damit auch ausgesprochen, dass Substantialit\u00e4t und Actualit\u00e4t Begriffe sind, die sich auf eine und dieselbe allgemeine Erfahrung beziehen, welche nur bei jedem von ihnen unter einem wesentlich andern Gesichtspunkte betrachtet wird. Abstrahiren wir bei der Betrachtung der Erfahrungswelt von dem erkennenden Subject, so erscheint sie uns als eine Mannigfaltigkeit in Wechselwirkung stehender Substanzen; betrachten wir sie umgekehrt als den gesummten, das Subject selbst einschlies-senden Inhalt der Erfahrung dieses Subjectes, so erscheint sie uns als eine Mannigfaltigkeit unter sich verbundener","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 22. Der Begriff der Seele.\n369\nEreignisse. Indem dort die Erscheinungen in dem Sinne als \u00e4u\u00dfere aufgefasst werden, dass sie auch dann noch unver\u00e4ndert stattfinden w\u00fcrden, wenn das erkennende Subject \u00fcberhaupt nicht Vorhanden w\u00e4re, wird die naturwissenschaftliche Form der Erfahrung auch die \u00e4u\u00dfere Erfahrung genannt. Indem dagegen hier alle Erfahrungsinhalte als unmittelbar in dem erkennenden Subject selbst gelegen betrachtet werden, hei\u00dft der psychologische Standpunkt in der Auffassung der Erfahrung auch der der inneren Erfahrung. In diesem Sinne sind daher \u00e4u\u00dfere und innere Erfahrung durchaus identisch mit mittelbarer und unmittelbarer oder auch mit objectiver und subjectiver Form der Erfahrung. Sie bezeichnen gerade so wie diese Ausdr\u00fccke nicht verschiedene Erfahrungsgebiete, sondern verschiedene sich erg\u00e4nzende Standpunkte in der Betrachtung der an sich uns vollkommen einheitlich gegebenen Erfahrung.\n7. Dass von diesen beiden Betrachtungsweisen der Erfahrung die naturwissenschaftliche fr\u00fcher ihre Ausbildung erlangt hat, ist angesichts des praktischen Interesses, das sich an die Feststellung der von dem Subject unabh\u00e4ngig gedachten regelm\u00e4\u00dfigen Naturerscheinungen kn\u00fcpft, vollkommen begreiflich; und dass diese Priorit\u00e4t der naturwissenschaftlichen Erkenntniss lange Zeit eine unklare Vermengung des naturwissenschaftlichen und des psychologischen Standpunktes der Betrachtung herbeif\u00fchrte, wie eine solche in den verschiedenen psychologischen Substanz-begriffen ihren Ausdruck fand, war fast unvermeidlich. Darum ist nun aber auch jene Reform der Grundanschauungen, welche die Eigenart der psychologischen Aufgabe nicht in der Besonderheit des Erfahrungsgebietes sondern in der Auffassungsweise aller uns gegebenen Erfahrungsinhalte in ihrer unmittelbaren, nicht durch hypothetische H\u00fclfsbegriffe ver\u00e4nderten Wirklichkeit sucht, zun\u00e4chst nicht von der Psycho-\nWundt, Psychologie.\t24","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370 V. Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\nlogie, sondern von den einzelnen Geisteswissenschaften ausgegangen. In diesen war die unter dem Gesichtspunkt des Actualit\u00e4tsbegriffs stehende Auffassung der geistigen Vorg\u00e4nge l\u00e4ngst heimisch, ehe sie in der Psychologie Eingang fand. In dieser an sich unzul\u00e4ssigen Verschiedenheit der grundlegenden Anschauungen zwischen Psychologie und Geisteswissenschaften ist daher auch der Grund daf\u00fcr zu suchen, dass die Psychologie ihrer Aufgabe, der Gesammtheit der Geisteswissenschaften als Grundlage zu dienen, bisher nur wenig nachgekommen ist.\n8. Vom Gesichtspunkte des Actualit\u00e4tsbegritfs aus erledigt sich zugleich eine Streitfrage, die lange Zeit die metaphysischen Systeme der Psychologie entzweite: die Frage nach dem Verh\u00e4ltniss von Leib und Seele. Betrachtet man Leib und Seele beide als Substanzen, so bleibt jenes Verh\u00e4ltniss ein R\u00e4thsel, wie man auch die zwei Substanzbegriffe bestimmen m\u00f6ge. Sind sie gleichartige Substanzen, so ist der verschiedene Inhalt der naturwissenschaftlichen und der psychologischen Erfahrung unbegreiflich, und es bleibt nur \u00fcbrig, die selbst\u00e4ndige Bedeutung irgend einer dieser beiden Erkenntnissformen ganz zu leugnen. Sind sie ungleichartige Substanzen, so ist ihre Verbindung ein immerw\u00e4hrendes Wunder. Vom Standpunkte der Actualit\u00e4tstheorie aus ist nun die unmittelbare Wirklichkeit des Geschehens in der psychologischen Erfahrung enthalten. Unser physiologischer Begriff des k\u00f6rperlichen Organismus aber ist lediglich ein Theil dieser Erfahrung, den wir, wie alle andern naturwissenschaftlichen Erfahrungsinhalte, auf Grund der Voraussetzung eines von dem erkennenden Subjecte unabh\u00e4ngigen Objectes gewonnen haben. Gewisse Bestandtheile dieser mittelbaren k\u00f6nnen gewissen Bestandtheilen jener unmittelbaren Erfahrung entsprechen, ohne dass darum die eine auf die andere zu reduciren oder aus ihr abzuleiten","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 22. Der Begriff der Seele.\n371\nw\u00e4re. Vielmehr ist eine solche Ableitung in Folge des in beiden F\u00e4llen v\u00f6llig abweichenden Standpunktes der Auffassung an sich ausgeschlossen. Wohl aber bringt es der Umstand, dass hier nicht verschiedene Erfahrungsobjecte sondern nur verschiedene Standpunkte gegen\u00fcber einer und derselben Erfahrung gegeben sind, mit sich, dass zwischen beiden durchg\u00e4ngige Beziehungen bestehen. Dabei kommt zugleich in Betracht, dass es unendlich viele Objecte gibt, die uns nur in der Form der mittelbaren oder naturwissenschaftlichen Erfahrung zug\u00e4nglich sind: dahin geh\u00f6ren alle, die wir nicht gen\u00f6thigt sind als physiologische Substrate psychischer Vorg\u00e4nge aufzufassen; und dass es anderseits nicht minder eine Anzahl wichtiger Thatsachen gibt, die uns nur in der Form der unmittelbaren oder psychologischen Erfahrung gegeben sind: dahin geh\u00f6rt in unserem subjectiven Bewusstsein alles, was nicht den Charakter eines Vorstellungsobjectes besitzt, d. h. eines Inhaltes, der direct auf \u00e4u\u00dfere Gegenst\u00e4nde bezogen wird.\n9. Aus diesem Verh\u00e4ltniss folgt, dass alle Thatsachen, die gleichzeitig der mittelbaren oder naturwissenschaftlichen und der unmittelbaren oder psychologischen Erfahrung angeh\u00f6ren, da sie eben Bestandtheile einer einzigen, nur jedesmal von einem verschiedenen Standpunkte aus betrachteten Erfahrung sind, auch nothwendig in Beziehungen stehen, insofern innerhalb dieses Gebietes jedem elementaren Vorgang auf psychischer Seite auch ein solcher auf physischer entsprechen muss. Man bezeichnet diesen Satz als das Princip des psycho-physischen Parallelismus. Dasselbe ist in seiner empirisch-psychologischen Bedeutung durchaus verschieden von gewissen metaphysischen S\u00e4tzen, die zuweilen mit dem n\u00e4mlichem Namen bezeichnet wurden, in Wahrheit aber eine v\u00f6llig abweichende Bedeutung besitzen. Diese metaphysischen Principien stehen s\u00e4mmtlich auf dem\n24*","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372 V. Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\nBoden der psychologischen Substanzhypothese, und sie suchen das Problem der Wechselbeziehung zwischen Leib und Seele zu l\u00f6sen, indem sie entweder zwei reale Substanzen annehmen, deren Eigenschaften verschieden seien, aber in ihren Ver\u00e4nderungen einander parallel gehen, oder indem sie eine Substanz mit zwei verschiedenartigen Attributen voraussetzen, deren Modificationen einander entsprechen sollen. In jeder dieser Formen beruht das metaphysische Parallelprincip auf dem Satze: jedem Physischen entspricht ein Psychisches, und ebenso umgekehrt; oder auch: die geistige Welt ist ein Spiegelbild der k\u00f6rperlichen, die k\u00f6rperliche eine objective Realisirung der geistigen Welt. Dieser Satz ist aber eine v\u00f6llig unerweisbare willk\u00fcrliche Annahme, und er f\u00fchrt in seinen psychologischen Anwendungen zu einem aller Erfahrung widersprechenden Intellectualismus. Das psychologische Princip in seiner oben gegebenen Formulirung hingegen geht davon aus, dass es an und f\u00fcr sich nur eine Erfahrung gibt, die jedoch, sobald sie zum Inhalt wissenschaftlicher Analyse wird, in bestimmten ihrer Bestandtheile eine doppelte Form wissenschaftlicher Betrachtung zul\u00e4sst: eine mittelbare, die die Gegenst\u00e4nde unseres Vorstellens in ihren objectiven Beziehungen zu einander, und eine unmittelbare, die sie in ihrer anschaulichen Beschaffenheit inmitten aller \u00fcbrigen Erfahrungsinhalte des erkennenden Subjects untersucht. So weit es nun Objecte gibt, die dieser doppelten Betrachtung unterworfen sind, fordert das psychologische Parallelprincip eine durchg\u00e4ngige Beziehung der beiderseitigen Vorg\u00e4nge zu einander. Diese Forderung st\u00fctzt sich aber darauf, dass sich beide Formen der Analyse in diesen F\u00e4llen in Wirklichkeit auf einen und denselben Erfahrungsinhalt beziehen. Dagegen kann sich das psychologische Parallelprincip der Natur der Sache nach nicht beziehen auf alle die Erfahrungsinhalte, die nur Gegenst\u00e4nde","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 22. Der Begriff der Seele.\n373\nnaturwissenschaftlicher Analyse sind, und ebenso wenig auf diejenigen, die den specifischen Charakter der psychologischen Erfahrung ausmachen. Zu den letzteren geh\u00f6ren zun\u00e4chst die eigenth\u00fcmlichen Verhindungs- und Beziehungsformen der psychischen Elemente und Gebilde. Ihnen werden zwar Verbindungen psychischer Processe insofern parallel gehen, als \u00fcberall, wo ein psychischer Zusammenhang auf eine regelm\u00e4\u00dfige Coexistenz oder Succesion physischer Vorg\u00e4nge zur\u00fcckweist, diese direct oder indirect ebenfalls in einer causal en Verkn\u00fcpfung stehen m\u00fcssen; von dem eigenth\u00fcmlichen Inhalte der psychischen Verbindung kann aber die letztere Verkn\u00fcpfung nat\u00fcrlich nichts enthalten. So werden z. B. die Elemente, die eine r\u00e4umliche oder zeitliche Vorstellung constituiren, auch in ihren physiologischen Substraten in einem regelm\u00e4\u00dfigen Verh\u00e4ltniss der Coexistenz oder Succession stehen; oder den Vorstellungselementen, aus denen sich ein Vorgang der Beziehung und Vergleichung psychischer Inhalte zusammensetzt, werden irgend welche Verbindungen physiologischer Erregungen correspondiren, die sich, wenn jene psychischen Vorg\u00e4nge wieder eintreten, ebenfalls wiederholen. Aber von allem dem, was die specifisehe Natur der r\u00e4umlichen und zeitlichen Vorstellungen, der Beziehungs- und Vergleichungsvorg\u00e4nge als solcher ausmacht, werden jene physiologischen Processe deshalb nichts enthalten k\u00f6nnen, weil ja von allem dem was hiermit in Beziehung steht bei der naturwissenschaftlichen Betrachtung geflissentlich abstrahirt worden ist. Hieraus folgt dann weiterhin, dass auch die Werth- und Zweckbegriffe, zu deren Bildung die psychischen Verbindungen herausfordern und die mit ihnen im Zusammenhang stehenden Gef\u00fchlsinhalte g\u00e4nzlich au\u00dferhalb des Gesichtskreises der dem Parallelprincip subsumirbaren Erfahrungsinhalte liegen. Die Formen der Verbindung, die uns in den Ver-","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nY. Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\nsclimelzungsprocessen, den Associationen und Apperceptions-verbindungen entgegentreten, sowie die Wertlie, die ihnen in dem gesammten Zusammenhang der psychischen Entwicklung zukommen, k\u00f6nnen daher ebenso nur durch eine psychologische Analyse erkannt werden, wie die ob-jectiven Erscheinungen von Schwere, Schall, Licht, W\u00e4rme u. s. w. oder die Processe im Nervensystem nur einer physikalischen und physiologischen, d. h. mit den substantiellen H\u00fclfsbegriffen der naturwissenschaftlichen Erkenntniss ope-rirenden Analyse zug\u00e4nglich sind.\n10. Auf diese Weise f\u00fchrt das Princip des psychophysischen Parallelismus in der ihm unbestreitbar zukommenden empirisch-psychologischen Bedeutung mit Nothwendigkeit zugleich zur Anerkennung einer selbst\u00e4ndigen psychischen Causalit\u00e4t, die zwar \u00fcberall Beziehungen zur physischen Causalit\u00e4t darbietet und niemals in Widerspruch mit derselben gerathen kann, gleichwohl aber von ihr nicht minder verschieden sein muss, wie der in der Psychologie festgehaltene Standpunkt der unmittelbaren subjectiven Erfahrung von dem f\u00fcr die Naturwissenschaft geltenden mittelbarer, abstract objectiver Erfahrung ab weicht. Wie sich uns aber das Wesen der physischen Causalit\u00e4t nur in den fundamentalen Naturgesetzen entfaltet, so werden wir uns auch \u00fcber die Eigenart der psychischen Causalit\u00e4t nur Rechenschaft geben k\u00f6nnen, indem wir aus der Gesanimtheit der psychischen Vorg\u00e4nge gewisse Grundgesetze des psychischen Geschehens zu ab-strahiren suchen. Solcher Grundgesetze lassen sich zwei Classen unterscheiden. Die einen geben sich vorzugsweise in den Processen zu erkennen, die der Entstehung und unmittelbaren Wechselwirkung der psychischen Gebilde zu Grunde liegen: wir nennen sie die psychologischen Beziehungsgesetze; die andern sind schon abgeleiteter","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 23. Die psychologischen Beziehungsgesetze.\n375\nArt, denn sie bestehen in den zusammengesetzten Wirkungen, die diese Beziehungsgesetze innerhalb umfassenderer psychischer Thatsachenreihen in Folge ihrer Verbindung hervorbringen: wir nennen sie die psychologischen Entwicklungsgesetze.\n\u00a7 23. Die psychologischen Beziehungsgesetze.\n1.\tDer allgemeinen psychologischen Beziehungsgesetze lassen sich drei unterscheiden. Wir bezeichnen sie als die Gesetze der psychischen Resultanten, Relationen und Contraste.\n2.\tDas Gesetz der psychischen Resultanten findet seinen Ausdruck in der Thatsache, dass jedes psychische Gebilde Eigenschaften zeigt, die zwar, nachdem sie gegeben sind, aus den Eigenschaften seiner Elemente begriffen werden k\u00f6nnen, die aber gleichwohl keineswegs als die blo\u00dfe Summe der Eigenschaften der Elemente anzusehen sind. Ein Zusammenklang von T\u00f6nen ist nach seinen Vorstellungs- wie Gef\u00fchlseigenschaften mehr als eine blo\u00dfe Summe von Einzelt\u00f6nen. Bei den r\u00e4umlichen und den zeitlichen VorsteUungen ist die r\u00e4umliche und die zeit-liehe Ordnung zwar in durchaus gesetzm\u00e4\u00dfiger Weise in dem Zusammenwirken der Elemente begr\u00fcndet, die diese Vorstellungen bilden; dabei k\u00f6nnen aber doch jene Ordnungen selbst keinesfalls als Eigenschaften angesehen werden, die den Empfindungselementen selbst bereits inh\u00e4riren. Die nativistischen Theorien, die dies voraussetzen, verwickeln sich vielmehr in unl\u00f6sbare Widerspr\u00fcche und m\u00fcssen, insofern sie nachtr\u00e4gliche Ver\u00e4nderungen der urspr\u00fcnglichen Raum- und Zeitanschauungen in Folge bestimmter Erfahrungseinfl\u00fcsse zulassen, schlie\u00dflich selbst in einem gewissen Umfang eine Neuentstehung von Eigen-","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"37G V. Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\nsch\u00e4ften annehmen. Bei den apperceptiven Functionen endlich , den Phantasie- und Verstandesth\u00e4tigkeiten, kommt das n\u00e4mliche Gesetz in einer klarbewussten Form zum Ausdruck , indem die durch apperceptive Synthese verbundenen Bestandtheile neben der Bedeutung, die sie im isolirten Zustand besitzen, nicht nur selbst in der durch ihre Verbindung entstehenden Gesammtvorstellung zum Theil eine neue Bedeutung gewinnen, sondern indem namentlich auch die Gesammtvorstellung selbst ein neuer psychischer Inhalt ist, der zwar durch jene Bestandtheile erm\u00f6glicht wird, darum aber doch in ihnen noch nicht enthalten ist. Dies zeigt sich wieder am augenf\u00e4lligsten an den verwickelteren Erzeugnissen apperceptiver Synthese, wie an dem Kunstwerk, an dem logischen Gedankenzusammenhang.\n3. In dem Gesetz der psychischen Resultanten kommt auf diese Weise ein Princip zum Ausdruck, welches wir im Hinblick auf die entstehenden Wirkungen als ein Princip sch\u00f6pferischer Synthese bezeichnen k\u00f6nnen. F\u00fcr die h\u00f6heren geistigen Sch\u00f6pfungen l\u00e4ngst anerkannt, ist es zumeist f\u00fcr die Gesammtheit der \u00fcbrigen psychischen Pro-cesse nicht zureichend gew\u00fcrdigt, ja durch eine falsche Vermengung mit den Gesetzen der physischen Causalit\u00e4t geradezu in sein Gegentheil verkehrt worden. Auf einer \u00e4hnlichen Vermengung beruht es, wenn man zuweilen zwischen dem Princip der sch\u00f6pferischen Synthese auf geistigem Gebiet und den allgemeinsten Naturgesetzen, namentlich dem der Erhaltung der Energie, einen Widerspruch hat finden wollen. Ein solcher Widerspruch ist schon deshalb von vornherein ausgeschlossen, weil \u00fcberall die Gesichtspunkte der Beurtheilung und darum auch die Gesichtspunkte der Ma\u00dfbestimmungen, wo etwa solche in Frage kommen, beidemal andere sind und andere sein m\u00fcssen, da sich Naturwissenschaft und Psychologie nicht mit verschiedenen","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 23. Die psychologischen Beziehungsgesetze.\n377\nErfahrungsinkalten, sondern mit einem und demselben Erfahrungsinlialt von verschiedenen Standpunkten aus besch\u00e4ftigen (\u00a71, S. 3). Die physischen Ma\u00dfbestimmungen beziehen sich auf objective Massen, Kr\u00e4fte und Energien, H\u00fclfsbegriffe, zu deren Abstraction wir durch die Be-urtheilung der objectiven Erfahrung gen\u00f6thigt werden, und deren der Erfahrung entnommenen allgemeinen Gesetzen nat\u00fcrlich keine einzelne Erfahrung widerstreiten darf. Die psychischen Ma\u00dfbestimmungen dagegen, die bei der Vergleichung psychischer Componenten mit ihren Resultanten in Frage kommen, beziehen sich auf subjective Werthe und Zwecke. Der subjective Werth eines Ganzen kann zunehmen, der Zweck desselben kann gegen\u00fcber demjenigen seiner Bestandtheile ein eigenartiger und vollkommenerer sein, ohne dass darum die Massen, Kr\u00e4fte und Energien irgend welche Ver\u00e4nderungen erfahren. Die Muskelbewegungen bei einer \u00e4u\u00dferen Willenshandlung, die physischen Vorg\u00e4nge, welche die Sinneswahrnehmungen, die Associationen und die apperceptiven Functionen begleiten, folgen unwandelbar dem Princip der Erhaltung der Energie. Aber bei gleich bleibender Gr\u00f6\u00dfe dieser Energie k\u00f6nnen die in ihr repr\u00e4sentirten geistigen Werthe und Zwecke von sehr verschiedener Gr\u00f6\u00dfe sein.\n4. Die physische Messung hat es, wie diese Unterschiede zeigen, mit quantitativen Gr\u00f6\u00dfenwerthen zu thun, d. h. mit Gr\u00f6\u00dfen, die eine Werthabstufung nur nach den quantitativen Verh\u00e4ltnissen der gemessenen Erscheinungen zulassen. Die psychische Messung dagegen bezieht sich in letzter Instanz immer auf qualitative Werthgr\u00f6\u00dfen, d. h. auf Werthe, die blo\u00df mit R\u00fccksicht auf ihre qualitative Beschaffenheit nach Graden abgestuft werden k\u00f6nnen. Der rein quantitativen Wirkungsf\u00e4higkeit, die wir als physische Energiegr\u00f6\u00dfe bezeichnen,","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nV. Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\nl\u00e4sst sich daher die qualitative Wirkungsf\u00e4higkeit in Bezug auf die Erzeugung von Werthgraden als psychische Energiegr\u00f6\u00dfe gegen\u00fcberstellen.\nDies vorausgesetzt ist nun eine Zunahme der psychischen Energie nicht nur mit der f\u00fcr die naturwissenschaftliche Betrachtung der Erfahrung g\u00fcltigen Constanz der physischen Energie vereinbar, sondern beide bilden sogar die sich erg\u00e4nzenden Ma\u00dfst\u00e4be der Beurtheilung unserer Gesammterfahrung. Denn die Zunahme der psychischen Energie r\u00fcckt dadurch erst in die richtige Beleuchtung, dass sie die geistige Kehrseite der physischen Constanz bildet. Wie \u00fcbrigens die erstere in ihrem Ausdruck unbestimmt ist, indem das Ma\u00df derselben unter verschiedenen Bedingungen ein au\u00dferordentlich verschiedenes sein kann, so gilt sie \u00fcberhaupt nur unter der Voraussetzung der Continuit\u00e4t der psychischen Vorg\u00e4nge. Als ihr in der Erfahrung unzweifelhaft sich aufdr\u00e4ngendes psychologisches Correlat steht ihr daher die Thatsache des Verschwindens psychischer Werthe gegen\u00fcber.\n5. Das Gesetz der psychischen Relati on en bildet eine Erg\u00e4nzung zu dem Gesetz der Resultanten, indem es sich nicht auf das Verh\u00e4ltniss der Bestandtheile eines psychischen Zusammenhangs zu dem in diesem zum Ausdruck kommenden Werthinhalte, sondern auf das Verh\u00e4ltniss der einzelnen Bestandtheile zu einander bezieht. Wie das Gesetz der Resultanten f\u00fcr die synthetischen, so gilt daher das Gesetz der Relationen f\u00fcr die analytischen Processe des Bewusstseins. Jede Zerlegung eines Bewusstseinsinhaltes in einzelne Glieder, wie sie bei der successiven Auffassung der Theile eines zuerst nur im allgemeinen vorgestellten Ganzen schon bei den Sinneswahrnehmungen und Associationen und dann in klarer bewusster Form bei der Gliederung der Gesammtvorstellungen stattfindet, ist ein Act beziehender","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"23. Die psychologischen Beziehungsgesetze.\n379\nAnalyse. Ebenso ist jede Apperception ein analytischer Vorgang, als dessen zwei Factoren die Hervorhebung eines Einzelinhaltes und die Abgrenzung desselben gegen\u00fcber anderen Inhalten zu unterscheiden sind. Auf dem ersten dieser Factoren beruht die Klarheit, auf dem zweiten die Deutlichkeit der Apperception (S. 244, 4). Zu seinem vollkommensten Ausdruck gelangt endlich das Gesetz der Relationen in den Vorg\u00e4ngen der apperceptiven Analyse und den ihnen zu Grunde liegenden einfacheren Functionen der Beziehung und der Vergleichung (S. 305 u. 294). Bei den letzteren insbesondere erweist sich als der wesentliche Inhalt des Gesetzes der Relationen das Princip, dass jeder einzelne psychische Inhalt seine Bedeutung empf\u00e4ngt durch die Beziehungen, in denen er zu anderen psychischen Inhalten steht. Wo sich uns diese Beziehungen als Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen darbieten, da nimmt dann das genannte Princip von selbst die Form eines Princips der relativen Gr\u00f6\u00dfenvergleichung an, wie ein solches in dem Weber\u2019-schen Gesetze seinen Ausdruck findet (S. 299).\n6. Das Gesetz der psychischen Contraste ist wieder eine Erg\u00e4nzung zu dem Gesetz der Relationen. Denn es bezieht sich gleich diesem auf die Verh\u00e4ltnisse psychischer Inhalte zu einander. Es selbst gr\u00fcndet sich aber auf jene in den Bedingungen der psychischen Entwicklung gelegene fundamentale Unterscheidung der unmittelbaren Erfahrungsinhalte in objective und subjective, wobei die letzteren alle diejenigen Elemente und Verbindungen von Elementen umfassen, die, wie die Gef\u00fchle und Affecte, als wesentliche Bestandtheile von Willensvorg\u00e4ngen auf-treten. Indem diese subjectiven Erfahrungsinhalte s\u00e4mmtlich nach Gegens\u00e4tzen sich ordnen, denen die fr\u00fcher (S. 98) erw\u00e4hnten Hauptrichtungen der Gef\u00fchle, Lust und Unlust, Erregung und Hemmung, Spannung und L\u00f6sung, entsprechen,","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380 V. Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\nfolgen diese Gegens\u00e4tze zugleich in ihrem Wechsel dem allgemeinen Gesetz der Contrastverst\u00e4rkung. In der concreten Anwendung wird aber dieses Gesetz stets von besonderen zeitlichen Bedingungen mitbestimmt, da jeder subjective Zustand einerseits eine gewisse Zeit zu seiner Entwicklung bedarf, anderseits, wenn er sein Maximum erreicht hat, durch l\u00e4ngere Dauer in seiner contrasterregenden Wirkung sich abschw\u00e4cht. Hiermit h\u00e4ngt es zusammen, dass es f\u00fcr alle Gef\u00fchle und Alfecte ein gewisses mittleres, \u00fcbrigens mannigfach variirendes Ma\u00df der Geschwindigkeit der psychischen Vorg\u00e4nge gibt, welches f\u00fcr ihre St\u00e4rke das g\u00fcnstigste ist.\nHat nun aber auch das Contrastgesetz seinen Ursprung in den Eigenschaften der subjectiven psychischen Erfahrungsinhalte, so \u00fcbertr\u00e4gt es sich doch von diesen aus auch auf die Vorstellungen und ihre Elemente, da an diese stets mehr oder minder ausgepr\u00e4gte Gef\u00fchle gekn\u00fcpft sind, m\u00f6gen nun solche mit dem Inhalt der einzelnen Vorstellungen oder mit der Art ihrer r\u00e4umlichen oder zeitlichen Verkn\u00fcpfung Zusammenh\u00e4ngen. Auf diese Weise findet das Princip der Contrastverst\u00e4rkung namentlich auch auf gewisse Empfindungen, wie die Gesichtsempfindungen, sowie auf die r\u00e4umlichen und zeitlichen Vorstellungen seine Anwendung.\n7. Das Gesetz der Contraste steht zu den beiden vorangegangenen Gesetzen in naher Beziehung. Auf der einen Seite l\u00e4sst es sich als eine Anwendung des allgemeinen Relationsgesetzes auf den speciellen Fall betrachten, wo sich die auf einander bezogenen psychischen Inhalte zwischen Gegens\u00e4tzen bewegen. Auf der andern Seite aber bildet die unter das Contrastgesetz fallende Thatsache, dass unter geeigneten Bedingungen entgegengesetzt gerichtete psychische Vorg\u00e4nge sich verst\u00e4rken k\u00f6nnen, eine besondere Anwendung des Princips der sch\u00f6pferischen Synthese.","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 24. Die psychologischen Entwicklungsgesetze.\n381\n\u00a7 24. Die psychologischen Entwicklungsgesetze.\n1.\tDen drei Beziehungsgesetzen stehen ebenso viele psychologische Entwicklungsgesetze gegen\u00fcber, die sich zugleich als Anwendungen der ersteren auf umfassendere psychische Zusammenh\u00e4nge betrachten lassen. Wir bezeichnen dieselben als das Gesetz des geistigen Wachsthums, das Gesetz der Heterogonie der Zwecke und das Gesetz der Entwicklung in Gegens\u00e4tzen.\n2.\tDas Gesetz des geistigen Wachsthums ist ebenso wenig wie irgend ein anderes der psychologischen Entwicklungsgesetze ein \u00fcberall und auf alle psychischen Erfahrungsinhalte anwendbares Princip. Vielmehr gilt es unter der beschr\u00e4nkenden Bedingung, unter der das Resultantengesetz, dessen Anwendung es ist, ebenfalls gilt, n\u00e4mlich unter der Voraussetzung der Continuit\u00e4t der Vorg\u00e4nge. (Siehe oben S. 378.) Da aber Umst\u00e4nde, die dieser Bedingung entgegenwirken, bei den eine gro\u00dfe Anzahl psychischer Synthesen umfassenden geistigen Entwicklungen selbstverst\u00e4ndlich viel h\u00e4ufiger Vorkommen als bei den einzelnen Synthesen selbst, so l\u00e4sst sich das Gesetz des geistigen Wachsthums nur an bestimmten unter normalen Bedingungen erfolgenden Entwicklungen und auch hier nur zwischen gewissen Grenzen nachweisen. Innerhalb dieser Grenzen haben jedoch gerade die umfassenderen Entwicklungen, wie z. B. die geistige Entwicklung des normalen einzelnen Menschen, die Entwicklung geistiger Gemeinschaften, offenbar die fr\u00fchesten Bew\u00e4hrungen des diesen Entwicklungen zu Grunde liegenden fundamentalen Gesetzes der Resultanten gebildet.\n3.\tDas Gesetz der Heterogonie der Zwecke steht in n\u00e4chster Verbindung mit dem Gesetz der Relationen, gr\u00fcndet sich aber zugleich auf das in einem gr\u00f6\u00dferen Zu-","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382 V- Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\nsammenhang psychischer Entwicklung stets mit in R\u00fccksicht zu ziehende Gesetz der Resultanten. In der That l\u00e4sst es sich als ein Entwicklungsprincip betrachten, welches die in Folge der successiven sch\u00f6pferischen Synthesen entstehenden Ver\u00e4nderungen in den Relationen der einzelnen Theilinhalte psychischer Gebilde beherrscht. Indem die Resultanten zusammengeh\u00f6riger psychischer Vorg\u00e4nge Inhalte umfassen, die in den Componenten nicht vorhanden waren, treten nun diese Inhalte gleichwohl in Beziehung zu den bisherigen Componenten, so dass damit die Relationen derselben und in Folge dessen auch die aus ihnen neu entstehenden Resultanten abermals ver\u00e4ndert werden. Dieses Princip fortschreitend ver\u00e4nderlicher Relationen springt dann am deutlichsten in die Augen, wenn auf Grund gegebener Relationen eine Zweckvorstellung sich bildet. Denn nun wird die Beziehung der einzelnen Factoren zu einander als ein Zusammenhang von Mitteln betrachtet, zu dem das sich ergebende Product als der erstrebte Zweck geh\u00f6rt. Hier stellt sich daher das Verh\u00e4ltniss der Wirkungen zu den vorgestellten Zwecken so dar, dass in den ersteren stets noch Nebeneffecte gegeben sind, die in den vorausgehenden Zweck vorstell ungen nicht mitgedacht waren, die aber gleichwohl in neue Motivreihen eingehen und auf diese Weise entweder die bisherigen Zwecke um\u00e4ndern oder neue zu ihnen hinzuf\u00fcgen.\nDas Princip der Ileterogonie der Zwecke in seiner allgemeinsten Bedeutung beherrscht alle psychischen Vorg\u00e4nge; in der besonderen teleologischen F\u00e4rbung, die ihm den Namen gegeben hat, ist es aber zun\u00e4chst im Gebiet der Willens Vorg\u00e4nge zu finden, weil in diesen die von Gef\u00fchlsmotiven begleiteten Zweckvorstellungen haupts\u00e4chlich von Bedeutung sind. Unter den angewandten Gebieten der Psychologie ist es daher besonders die Ethik, f\u00fcr welche das Princip eine hervorragende Bedeutung besitzt.","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"\u00a7 24. Die psychologischen Entwicklungsgesetze. 383\n4. Das Gesetz der Entwicklung in Gegens\u00e4tzen ist eine Anwendung des Gesetzes der Contrast-verst\u00e4rkung auf umfassendere, in Entwicklungsreihen sich ordnende Zusammenh\u00e4nge. Diese bieten n\u00e4mlich in Folge jenes fundamentalen Beziehungsgesetzes die Eigenschaft dar, dass Gef\u00fchle und Triebe, die zun\u00e4chst von geringer Intensit\u00e4t sind, durch den Contrast zu den w\u00e4hrend einer gewissen Zeit \u00fcberwiegenden Gef\u00fchlen von entgegengesetzter Qualit\u00e4t allm\u00e4hlich anwachsen, um endlich die bisher vorherrschenden Motive zu \u00fcberw\u00e4ltigen und nun selbst w\u00e4hrend einer k\u00fcrzeren oder l\u00e4ngeren Zeit die Herrschaft zu gewinnen. Hierauf kann sich dann der n\u00e4mliche Wechsel noch einmal oder sogar mehrmals wiederholen. Doch pflegen bei solchen Oscillationen in der Kegel zugleich das Princip des geistigen Wachsthums und das der Heterogonie der Zwecke ihre Wirkungen geltend zu machen, so dass die nachfolgenden Phasen zwar in der allgemeinen Gef\u00fchlsrichtung den vorangegangenen gleichartigen Phasen \u00e4hnlich sind, in ihren einzelnen Bestandheilen aber wesentlich verschieden zu sein pflegen.\nDas Gesetz der Entwicklung in Gegens\u00e4tzen macht sich schon in der individuellen geistigen Entwicklung theils in individuell wechselnder Weise innerhalb k\u00fcrzerer Zeitr\u00e4ume theils aber auch mit einer gewissen allgemeing\u00fcltigen Regelm\u00e4\u00dfigkeit in dem Verh\u00e4ltniss einzelner Lebensperioden zu einander geltend. In diesem Sinne hat man l\u00e4ngst beobachtet, dass die vorwiegenden Temperamente der verschiedenen Lebensalter gewisse Contraste darbieten. So geht die leichte, aber selten tiefgehende sanguinische Erregbarkeit des Kindesalters in die die Eindr\u00fccke langsamer verarbeitende, aber energischer festhaltende und h\u00e4ufig melancholisch angehauchte Gem\u00fcthsrichtung des J\u00fcnglingsalters, dieses wieder in das bei ausgereiftem Charakter im allgemeinen am meisten zu raschen, thatkr\u00e4ftigen Entschl\u00fcssen und Hand-","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nV. Die psychische Causalit\u00e4t und ihre Gesetze.\nlungen angelegte Mannesalter, und letzteres endlich allm\u00e4hlich in die zu beschaulicher Ruhe sich neigende Stimmung des Greisenalters \u00fcber. Mehr als im individuellen kommt aber das Princip der Gegens\u00e4tze im socialen und geschichtlichen Gemeinschaftsleben in dem Wechsel der geistigen Str\u00f6mungen und in ihren R\u00fcckwirkungen auf Cultur und Sitte, auf sociale und politische Entwicklungen zur Geltung. Wie das Princip der Heterogonie- der Zwecke f\u00fcr das sittliche, so hat daher das der Entwicklung in Gegens\u00e4tzen seine Bedeutung vorzugsweise f\u00fcr das allgemeinere Gebiet des geschichtlichen Lebens.","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Register.\nAbz\u00e4hlungsmethoden 302. Accommodationsbewegungen 164. Actualit\u00e4tsbegriff der Seele 368. Aehnliehkeitsassociation 264. 288. Affecte 198. Anfangsgef\u00fchl dos A. 201. Endgef\u00fchl des A. 201. Yorstellungsverlauf des A. 201. Vorstellungs\u00e4u\u00dferungen im A. 203. Gef\u00fchls\u00e4u\u00dferungen im A. 203. Athmungsbewegungen im A. 203. Sthenische A. 204. Asthenische A. 205. Langsame A. 205. Schnelle A. 205. Verst\u00e4rkung der A. durch sinnliche Gef\u00fchle 208. Grundformen der A. 209. Intensit\u00e4t der A. 209. Qualit\u00e4t der A. 209. Verlaufsform der A. 209.212. Schwache A. 211. Starke A. 211. Inter-mittirende A. 212. Allgemeinbegriffe 312.\nAnalyse, apperceptive 307. An\u00e4sthesie 315.\nAnfangsgef\u00fchl des Affectes 201. Animismus 357.\nAphasie, amnestische 241. Ataktische A. 241.\nApperception 245. Centrum der j A. 241. Gef\u00fchlswirkungen der activen A. 255. Gef\u00fchlswirkungen der passiven A. 255. Wundt, Psychologie.\nWillensvorg\u00e4nge bei der A. 256. A. als Willensvorgang 259. Einfache Functionen der A. 294. Zusammengesetzte Functionen der A. 305. Functionen der A. beim Kinde 343. Personifici-rende A. 356.\nApperceptionsverbindungen 291. Aufmerksamkeit bei den A. 292. Abnormit\u00e4ten der A. 319. A. beim Kinde 336.\nAristoteles 263.\nAssimilationen 267. A. bei intensiven Gef\u00fchlen 268. A. bei Geh\u00f6rsvorstellungen 268. A. bei r\u00e4umlichen Vorstellungen 269. A. beim Gesichtssinn 270. Wirkung der A. bei der succes-siven Association 277. A. bei der Wiedererkennung 280. A. bei der phantastischen Illusion 316.\nAssociationen 262. Association als Elemental-process 266. Simultane A. 267. Successive A. 276. Mittelbare A. 285. Abnorme Aenderungen der A. 318. A. beim Kinde 336.\nAssociationspsychologie 263.\nAssociationsreihe 277.\nAssociationstheorie 15.\n25","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nRegister.\nAthmungsbewegungen im Affect 204.\nAufmerksamkeit 245. Umfang der A. 247. Willk\u00fcrliche A. 257. A. hei den Apperceptionsvcr-bindungen 292. A. beim Kinde 336.\nAufrechtsohen 161.\nAuge, Localisationssch\u00e4rfe dess.\n138.\nAugenbewegungen 142. 149. Coordination der A. beim Kinde 335.\nAusdrucksbewegungen 202. 228.\nAusdrucksmethode 102.\nAu\u00dfenwelt 261.\nAutosuggestion 321.\nBedeutungswandel 352.\nBefehlsautomatie 321.\nBegriff 311.\nBegriffsclassen 311.\nBegriff'sgef\u00fchl 312.\nBegriffsvorstellungen 311.\nBekanntheitsgef\u00fchl 278.\nBeobachtung 27.\nBer\u00fchrungsassociation 264. 288.\nBeriihrungsVerbindungen 288.\nBetonung 179.\nBeweggrund 218.\nBewegung, eigene. Vorstellungen ders. 131.\nBewegungen, mimische 203. Pantomimische B. 203.\nBewegungsempfindung 126. Einfluss der B. auf die Zeitvorstellungen 184.\nBewusstlos 238.\nBewusstlosigkeit 243.\nBewusstsein 238. individuelles B. 239. Grade des B. 245. Blickfeld des B. 245. Blickpunkt des B. 245. Schwelle des B. 245. Umfang des B. 247. 251. Ge-\nf\u00fchlsvorg\u00e4nge im B. 253. Abnorme Ver\u00e4nderungen des B. 318.\nBeziehung 294.\nBeziehungsgesetze, psychologische 375.\nBinoculares Sehen 154. 166.\nBisonanz 118.\nBlicklinie 139.\nBlickpunkt 139. 182.\nBlickpunkt, innerer 183. 215.\nBlinde 126.\nBlindenschrift 127.\nCausalit\u00e4t, psychische 363.\nChronometrische H\u00fclfsmittel 236.\nComplement\u00e4rfarbcn 78. 84.\nComplicationen 275. Wirkung der C. bei der successiven Association 277.\nContrast 302. Psychologischer C. 303. C. wirklicher und erwarteter Eindr\u00fccke 305. Gesetz der psychischen Contraste 379.\nContrastgef\u00fchle 192.\nContrastverst\u00e4rkung, Gesetz ders. 380.\nDenken 292. Abstractes D. 353.\nDepressionszust\u00e4nde 315. 317.\nDeutlichkeit 244.\nDifferenzt\u00f6ne 116.\nDirectes Sehen 139.\nDissonanz 128.\nDoppelbilder 160.\nDruckempfindungen 55.\nDruckpunkte 56.\nDualit\u00e4t der logischen Denh-formen, Gesotz ders. 310.\nEinstellungsmethoden 302.\nEinzelkl\u00e4nge 112.\nElementargef\u00fchle, \u00e4sthetische 192.\nElemente, psychische 33. Psychische E. beim Kinde 333.","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Register.\n:ss7\nEmpfindung 43. 45. Empfindungen, farblose (15. Empirismus 134.\nEmpiristische Theorie 165. Endgefiihl des Affects 201. Energie 364. Specifisehe E. 51. Gr\u00f6\u00dfe der physischen E. 377. Gr\u00f6\u00dfe der psychischen E. 378. Constanz der physischen E. 378. Zunahme der psychischen E. 378. Entfernung der Objecte 155. Entfernungsvorstellung 158. Entscheidung 221.\nEntschlie\u00dfung 221. Entwicklungen, psychische 324. Erfahrung, mittelbare 368. Unmittelbare E. 368.\nErf\u00fcllung, Gef\u00fchl ders. 256. Erinnerung, mittelbare 285. Erinnerungsbild 283. Erinnerungsgef\u00fchl 287. Erinnerungsvorg\u00e4nge 283. Ein-theilung der E. 263. Beziehung derE. zur Wiedererkennung 285. Beziehung der E. zurErkennung 286.\nErinnerungsvorstellungen 283.289. Erkennung, sinnliche 278. 282. Erkennungsgef\u00fchl 283. Erkennungsvorgang, Beziehung dess. zur Erinnerung 286. Erleiden, Gef\u00fchl dess. 255. Erregbarkeits\u00e4nderungen, centrale 315.\nErwartung 172. 185. Gef\u00fchl der \u2022E. 255.\nErg\u00e4nzungsfarben 78. Exaltationszust\u00e4nde 315. 317. Experiment 22.\nF\u00e4lle, richtige und falsche, Methode ders. 302. Farbenblindheit 84. 86.\nFarbencontrast 82.\nFarbendreieck 79. Farbenempfindungen 66. Farbenkreis 67.\nFarbenton 68.\nRechners psycho-pliysisclics Gesetz 301.\nFehler, mittlere, Methode ders. 302.\nFetischismus 358.\nFixationslinie 159.\nFixationspunkt 139. Fl\u00e4chenvorstellungen 161.\nFlie\u00dfen der Zeit 169. 183. Formgef\u00fchl, optisches 195. Fortpflanzungsinstincte 327. Fremdsuggestion 321.\nFunctionen, psychophysische, Localisation ders. 240.\nGeberde, ihre Bedeutung f\u00fcr die Sprachentwicklung des Kindes 342.\nGeberdensprache 350.\nGebilde, psychische 106. Ged\u00e4chtniss 290. Altersschwund des G. 291.\nGefallen 193.\nGef\u00fchl 43. Einfache Gef\u00fchle 87. Sinnliches G. 88. Hauptrichtungen des G. 97. Beruhigende Gef\u00fchle 98. 102. G. der Lust 98. 102. 191. G. der Unlust 98. 102.191. Erregendes G. 98.102. L\u00f6sendes G. 98. 103. Spannendes G. 98. 102. Einfluss des G. auf die Zeitvorstellungen 175. 184. Zusammengesetzte Gef\u00fchle 186. Verwebungen der Gef\u00fchle 188. Extensive G. 193. Intensive G. 193. Rhythmisches G. 196.199. G. der Erwartung 255. G. der Th\u00e4tigkeit 255. G. des 25*","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nRegister.\nKrleidens 255. G. der Erf\u00fcllung 250. Assimilation bei den intensiven G. 268. Differenzirung der G. beim Kinde 334.\nGef\u00fchls\u00e4u\u00dferungen im Aft'ect 203.\nGef\u00fchlscomponenten 187.\nGef\u00fchlslage. Einheit dors. 198.\nGef\u00fchlsresultante 187.\nGef\u00fchlston der Empfindung 88.\nGef\u00fchlsvorg\u00e4nge im Bewusstsein 253.\nGef\u00fchlswirkungen der activen Apperception 255. G. der passiven Apperception 255.\nGegenfarbe 67. 84.\nGegens\u00e4tze, Gesetz der Entwicklung in dens. 383.\nGehenlernen des Kindes 340.\nGeh\u00f6rssinn 112.\nG eh\u00f6rsvorstellungen, zeitliche 174. Assimilation bei den G. 268.\nGeisteswissenschaften 4. 19. Beziehungen der G. zur Psychologie 367. 370.\nGemeinempfindungen 55.\nGemeingef\u00fchl 189.\nGemeinschaften, geistige 347.\nGem\u00fcthsbewegungen 109.\nGenetische Theorien 135. 165. 180.\nGer\u00e4usch 112. 114. 117. 118.\nGer\u00e4uschempfindungen 58.\nGeruchsempfindungen 62. 112.\nGeruchssinn 49. Betheiligung des G. am Gemeingef\u00fchl 189.\nGesammtbewusstsein 239.301.362.\nGesammtk\u00f6rper, Vorstellungen von Lage und Bewegung dess. 134.\nGesammtvorstellung 306.\nGesammtwillo 361. 362.\nGeschmacksempfindungen 63. 112.\nGeschmackssinn 49. Betheiligung des G. am Gemeingef\u00fchl 189.\nGesichtssinn 49. Grundqualit\u00e4ten des G. 74. Assimilationen beim G. 270.\nGesichtsvorstellungen, r\u00e4umliche 136.\nGesichtswinkel 138.\nGleichheit,'^Verbindungen 288.\nG\u00f6ttervorstellungen, ethische 359.\nGrau 65.\nGreifbewegungen des Kindes 340.\nGr\u00f6\u00dfe, psychische 296.\nGr\u00f6\u00dfenbestimmung, psychische 297. Methoden der psychischen Gr. 301.\nGr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen 145. 147.\nGr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse, ausgezeichnete psychische 298.\nGrundfarben 79.\nGrundton 114.\nHallucinationen 316.\nHartley 263.\nHauptempfindungen 74.\nHauptton 112.\nHebung im Takt 179.\nHebungsstufen 179.\nHelligkeit 65. 68. 70.\nHelmholtz\u2019sclie Hypothese, siehe Young-Helmholtz\u2019scho H.\nHering\u2019sche Hypothese 86.\nHeterogonie der Zwecke, Gesetz ders. 381.\nHume 263.\nHyper\u00e4sthesie 315.\nHypnose 320.\nIch 261.\nIllusion 274. Phantastische!. 316. Assimilation bei der phantast. I. 316.\nIndirectes Sehen 139.\nInhalte, psychische, Unbewusstwerden ders. 243.","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Register.\n389\nInstincte, thierische 326. 331. lntensit\u00e4tsgrade 296.\nK\u00e4lteempfindungen 55. K\u00e4ltepunkte 56.\nKatalepsie, hypnotische 321. Kind, psychische Entwicklung dess. 332. Sinnesfunctionen des\nK.\t332. Psychische Elemente des K. 333. Sprache des K. 341.\nKitzelgef\u00fchl 192.\nKlang, Theilt\u00f6ne dess. 112. Klangfarbe 112.\nKlarheit 244.\nKlarheitsgrade 296.\nKraft 364.\nKugel, als geometrische Darstellung der Lichtempfindungen 72.\nLautgeberden 351.\nLautsprache 351.\nLautwandel 352.\nLeib und Seele, Verh\u00e4ltniss ders. 370.\nLichtcontrast 82. Lichtempfindungen 65. Localisation des Reizes 123. L. psychophysischer Functionen 240.\nLocalzeichen 124. 129. Complexe\nL.\t153. 158. Complexe L. der Tiefe 162.\nLogische Theorie 15.\nLust s. Gef\u00fchle.\nMagnetismus, thierischer 323. Marsch 174.\nMechanisirung der Vorg\u00e4nge 227. Metamorphopsien 140.\nMethode der richtigen und falschen F\u00e4lle 302. M. der mittleren Fehler 302. M. der Minimal\u00e4nderungen 302. M. der mini-\nmalen Unterschiede 299. M. der psychischenGr\u00f6\u00dfenmessung\n301.\tPsycho-physische M. 301. Minimal\u00e4nderungen, Method, ders.\n302.\nMissfallen 193.\nMythus 355.\nNachbild 81.\nNahrungsmstincte 327. Nativismus 134.\nNativistische Theorie 165. 186. Naturmythus 358. Naturwissenschaften 3. 5. 19. Naturz\u00fcchtung, \u00e4u\u00dfere 331. Netzhautelemente 149. Neurodynamische Wechselwirkungen in der Hypnose 323.\nObert\u00f6ne 112.\nObjecte, Entfernung ders. 155.\nK\u00f6rperliche O. 157. Onomatopoetica d. Kindersprache 342.\nOrientirungslinie 154. Richtung der O. 154.\nOrientirungspunkt 154.\nParallaxe, binoculare 162. Parallelismus, psycho-physischer, Princip dess. 371.\nPartialgef\u00fchl 188.\nPerception 245.\nPhantasie 313. Anschauliche Ph.\n314. Combinirende Ph. 314. Phantasiebild 306.\nPhantasiespiel 344. Phantasieth\u00e4tigkeit 292. 308. Ph.\ndes Kindes 343. Phantasievorstellungen 306. Posthypnotische Wirkungen 321. Processe, photochemische 86. Proportionalit\u00e4tsgesetz 301.","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nRegister.\nPsychologie, Aufgabe ders. I. Empirische Ps. 8. Experimentelle Ps. 11. 28. Intellectualistischc Ps. 14. 15. Materialistische Ps. 8. 366. Metaphysische Ps. 7. Spiri-tualistische Ps. 8. 366. Volun-taristische Ps. 16.\nPsycho-physisclie Methoden 301.\nPuls 102. 103.\n(jualit\u00e4tensysteine 37.\nQualit\u00e4tsgrade 296.\nRandcontrast 82.\nRaumsehwelle des Tastsinns 124.\nReaction, muscul\u00e4re 233. Sensorielle R. 233.\nIioactionsversuche 231. 236.\nReflexe, zweckm\u00e4\u00dfiger Charakter j ders. 227.\nReflexion 292.\nReflexvorgang 227.\nReiz, Transformation dess. 49. Localisation des R. 123. Unterschiedsschwelle des R. 299.\nReizschwelle- 299.\nRelationen, psychische, Gesetz ders. 378.\nRelativit\u00e4t psychischer Gr\u00f6\u00dfen 299.\nReproduction 276. R. der Vorstellungen 264.\nResonanzhypothese 119.\nResultanten, psychische, Gesetz ders. 375.\nRichtungst\u00e4uschungen 144. 145. 147.\nRichtungs Vorstellung 158.\nS\u00e4ttigung der Farben 68.\nSatz, als sprachlicher Ausdruck der Vorstellungsfolge 354.\nSchallempfindungen 58.\nSchieist\u00f6rungen 141. Schlafwandeln 320. Schmerzempfindungen 55.\nSchwarz 65. 70.\nSchwebungen 117. Schwindelerscheinungen 134. Seele, Begriff ders. 363. 365. Seelenbegriff, substantieller 366. Actueller 368.\nSehfeld 138. Richtungen im S.\n149. Strecken im S. 149. Sehpurpur 87.\nSehsch\u00e4rfe 140. 149. Selbstbeobachtung 10. Selbstbewusstsein 260. Entwicklung des S. beim Kinde 337. Senkung im Takt 179.\nSinn, allgemeiner 54. Chemische Sinne 50.80. Mechanische Sinne 50.\nSinnesfunctionen beim Kinde 332. Sinusschwingungen 60.\nSitte 359.\nSomnambulie 321. Somnambulismus 323.\nSpieltrieb des Kindes 344. Spiritualismus, monistischer 367.\nMonadologischer S. 367. Sprache 350. Localisation der S.\n241. S. des Kindes 341. Stereoskop 163. 166.\nStirnhirn 241.\nSubstantialit\u00e4tsl>egriff 368. Suggestion 321.\nSynthese, apperceptive 306. Sch\u00f6pferische S. 376.\nTakt 173. 175. 178. Hebung im T. 179. Senkung im T. 179. Talent 314.\nTanz 174.\nTastbewegungen, arhy thmische 171. Rhythmische T. 171.","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Register.\n391\nTastempfindungen 55.\nTastsinn, Raumsehwelle dess. 124.\nTastvorstellungen, r\u00e4umliche 123. Zeitliche T. 170.\nT\u00e4uschungen, geometrisch - optische 271.\nTerminsuggestionen 321.\nTh\u00e4tigkeit, Gef\u00fchl ders. 222. 255.\nThiere, psychische Eigenschaften ders. 324. Genetisches Verh\u00e4lt-niss der T. zum Menschen 329, Psychische Unterschiedsmerk-male der T. vom Menschen 330.\nThierstaaten 327.\nTiefenvorstellungen 161.\nTon, h\u00f6chster 61. Tiefster T. 61.\nTonempfindungen 59.\nTonh\u00f6he 59. 112.\nTonlinie 61.\nTonscala 61.\nTonst\u00f6\u00dfe 117.\nTotalgef\u00fchl 88. 188.\nTransformation des Reizes 49.\nTraum 320.\nTriebfeder 218.\nTriebhandlungen 219. 223, T. bei Thieren 326.\nUebereinstimmung 295.\nUnbewusstwerden psychischer Inhalte 243.\nUnlust s. Gef\u00fchle.\nUnterscheidung 295.\nUnterschiedsschwelle des Reizes 299.\nUrtheil 311.\nVasomotorische Wechselwirkungen in der Hypnose 323.\nVererbung individuell erworbener Ab\u00e4nderungen 331.\nVergleichung 295.\nVerm\u00f6genspsychologie 13.\nVerschmelzung 125. 130.\nVerstand 313. Deductiver V. 314.\nInduetiver V. 314. Verstandesfunctionen des Kindes 346.\nVerstandesspiel 344. Verstandesth\u00e4tigkeit 292.308. 309. V\u00f6lkerpsychologie 11. 28. Volksbewusstsein 239.\nVorg\u00e4nge, psychische, Geschwindigkeit ders. 231.\nVorstellungen 109. Intensive V. 109. R\u00e4umliche V. 120. V. der eigenen Bewegung 131. Zeitliche V. 167. Allgemeine Bedingungen der zeitlichen V. 180. Reproduction der V. 264. Assimilation bei r\u00e4umlichen V. 269. R\u00e4umliche V. beim Kinde 334. Zeitliche V. beim Kinde 335. Vorstellungsassociationen 165. Vorstellungs\u00e4u\u00dferungen im Affect 203.\nVorstellungsverlauf im Affect 201.\nWachsthum, geistiges, Gesetz dess. 381.\nWahlhandlung 221.\nWahlvorgang 221. W\u00e4rmeempfindungen 55. W\u00e4rmepunkte 56.\nWeber\u2019sches Gesetz 299. 300. 301. Wei\u00df 65. 70.\nWerthbegriffe 373. 377. Werthgr\u00f6\u00dfen, qualitative 277. Wiedererkennung 280. Assimilation hoi der W. 280. Mittelbare W. 281. Beziehung der W. zu Erinnerungsvorg\u00e4ngen 285. Sinnliche W. 278.\nWille, Entwicklung dess. 219. Motive des W. 218. Entwicklung des W. beim Kinde 339.","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nRegister.\nWillenshandlungen 215. Aeu\u00dfere W. 215. Innere W. 215. 225. ZusammengesetzteW. 22U. Vollst\u00e4ndige W. 223. Progressive KntwicMung ders. 220. Regressive Entwicklung ders. 226. R\u00fcckbildung der W. 235. Willenstheorien 228.\nWillens Vorg\u00e4nge 214. Einfache W. 219. Anfangsstadien der W. 222. Endstadien der W. 222. Entwicklung der W. 234. W. bei der Apperception 256. Zusammenhang der W. mit den Gef\u00fchlen und Atfecten 258.\nWillk\u00fcrhandlung 221. Winkelt\u00e4uschungen 147. Wortfolge, syntaktische 354. Wortged\u00e4chtniss 291. Wortvorstellungen 313.\nYoung-Helmholtz\u2019sche Hypothese\n86.\nZeit, Flie\u00dfen ders. 169. 183. Zeitstufen 170.\nZeitverlauf, Arten dess. 170. Zeitzeichen 184.\nZusammenkl\u00e4nge 112. 114. 1)5. Zust\u00e4nde, psychische 311. Zveekbegriffo 373. 377.\nDruck von lireitkopf & H\u00e4rtel in Leipzig.","page":392}],"identifier":"lit779","issued":"1896","language":"de","pages":"392","startpages":"392","title":"Grundri\u00df der Psychologie","type":"Book"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:43:18.762966+00:00"}