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{"created":"2022-01-31T12:47:44.108347+00:00","id":"lit780","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 12: 1-66","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\nVon\nW. Wundt.\nI.\nEine allgemeine Definition dessen, was eine bestimmte Wissenschaft sei, pflegt um so weniger f\u00fcr eine unerl\u00e4ssliche, vor aller Untersuchung zu erf\u00fcllende Forderung gehalten zu werden, je mehr man im Einzelnen \u00fcber Ziele und Wege einig ist. Die Philologie, die Jurisprudenz, die Naturwissenschaften, ja selbst die mit besonderer Sorgfalt um die exacte Definition ihrer einzelnen Begriffe bem\u00fchte Mathematik verzichten entweder ganz auf eine solche oder begn\u00fcgen sich mit irgend einer provisorischen Begriffsbestimmung, die f\u00fcr den Zweck der praktischen Arbeitstheilung zureicht.\nDieses Verfahren hat seine guten Gr\u00fcnde. Erstens sind die wirklichen Grenzen der einzelnen Wissenschaftsgebiete zun\u00e4chst aus praktischen Motiven entstanden, so dass eine ein f\u00fcr allemal g\u00fcltige Unterscheidung nicht nur schwierig, sondern manchmal unm\u00f6glich ist. Zweitens aber setzt eine exacte Begriffsbestimmung im allgemeinen schon eine so umfassende Kenntniss des Gegenstandes voraus, dass sie eigentlich erst auf Grund der eingehenden Untersuchung desselben gegeben werden kann und, wenn sie ersch\u00f6pfend sein sollte, in einer Wiederholung der wesentlichsten Ergebnisse dieser Untersuchung bestehen m\u00fcsste.\nDies verh\u00e4lt sich nun anders bei solchen Gebieten, in denen man schon innerhalb der Einzeluntersuchungen \u00fcber die Aufgaben,\nWundt, Philos. Studien. XII.\t1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nW. Wundt.\ndie zu l\u00f6sen, und \u00fcber die Methoden, die anzuwenden sind, unsicher ist, und wo daher eine Verschiedenheit der Richtungen besteht, die f\u00fcr den ganzen Inhalt der Wissenschaft ma\u00dfgebend wird. Hier ist es nicht blo\u00df begreiflich, sondern auch w\u00fcnschenswerth, dass vor allen Dingen der Standpunkt, den man in der Beurtheilung der Probleme einnimmt, in einer Definition des Gegenstandes zum Ausdruck gebracht werde. In die Reihe dieser Gebiete geh\u00f6rt in erster Linie die Philosophie; und im gleichen Falle wie sie befinden sich nat\u00fcrlich alle diejenigen Disciplinen, die von philosophischen Richtungen in entscheidender Weise beeinflusst sind.\nIn der Psychologie, von der wohl heute nicht mehr bestritten werden kann, dass sie auf dem Wege ist, sich aus einem Theil-gebiet der Philosophie in eine selbst\u00e4ndige positive Wissenschaft umzuwandeln, hat diese ihre Uebergangsstellung einen charakteristischen Ausdruck darin gefunden, dass im selben Ma\u00dfe, wie die \u00e4lteren speculativen Richtungen auf eine grundlegende Definition ihres Gegenstandes einen entscheidenden Werth legten, in der neueren empirischen Psychologie eine solche meist entweder durch die Hinweisung auf die Aufgabe einer Analyse der Entstehung der Erfahrung \u00fcberhaupt oder aber durch eine provisorische Begriffsbestimmung nach Analogie der Definitionen naturwissenschaftlicher Gebiete ersetzt worden ist. Den ersten dieser Standpunkte nimmt Locke mit der an ihn sich anschlie\u00dfenden empirischen Psychologie der Engl\u00e4nder ein, wobei zugleich die Auffassung der Psychologie als einer allgemeinen Theorie der Erfahrung auf der hier noch mangelnden Sonderung von der Erkenntnisstheorie beruht. Der Gesichtspunkt der provisorischen Begriffsbegrenzung ist haupts\u00e4chlich in der neueren experimentellen Psychologie und im Anschl\u00fcsse an die blo\u00df praktisch-empirische Bedeutung, die das Wort \u00bbSeele\u00ab in ihr eingenommen hat, vorherrschend. Die conereten psychischen Vorg\u00e4nge, Empfinden, F\u00fchlen, Vorstellen, Wollen u. s. w., wie sie schon in der vorwissenschaftlichen Erfahrung als zusammengeh\u00f6rige aufgefasst werden, gelten hier als der Inhalt des empirischen Begriffs Seele, und die Psychologie erh\u00e4lt daher die Aufgabe, den Zusammenhang dieser nicht n\u00e4her zu definirenden, aber uns Allen unmittelbar aus der Erfahrung bekannten \u00bbBewusstseinsthatsachen\u00ab zu untersuchen. Es ist begreiflich, dass namentlich popul\u00e4re und","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n3\nprop\u00e4deutische Werke sich mit einer solchen praktischen Gebietsabgrenzung zu behelfen suchen *).\nL\u00e4sst sich nun aber auch diesem Gesichtspunkte, insofern er in der Gewohnheit der \u00fcbrigen positiven Wissenschaften sein logisches Vorbild hat, seine Berechtigung nicht absprechen, so muss doch auf der andern Seite zugestanden werden, dass sich die Psychologie verm\u00f6ge ihrer vor kurzem erst eingetretenen und noch nicht einmal \u00fcberall zur Anerkennung gelangten Losl\u00f6sung von der Philosophie in einer eigenth\u00fcmlichen Lage befindet. Theils liegt die positiv wissenschaftliche Richtung in ihr immer noch im Streit mit Nachwirkungen und Erneuerungsversuchen \u00e4lterer speculativer Systeme; theils aber und mehr als dies \u00fcben \u2014 eine begreifliche Nachwirkung der so lange bestandenen Verbindung \u2014 noch auf Vertreter der ersteren Richtung philosophische Anschauungen einen mehr als w\u00fcnschenswerthen Einfluss aus. Den Untersuchungen eines Physikers oder selbst eines Physiologen, sofern er sich nur auf sein eigenes Gebiet beschr\u00e4nkt, wird man nicht leicht anmerken, was etwa seine philosophischen Ueberzeugungen seien. Der Psychologe, auch wenn er verspricht unter empirischer Flagge zu segeln, verfehlt selten schon auf den ersten Seiten seines Werkes sein metaphysisches Glaubensbekenntniss abzulegen. Diese Umst\u00e4nde machen es aber selbst f\u00fcr denjenigen, der die Psychologie vor solchen metaphysischen Anticipationen bewahrt sehen m\u00f6chte, w\u00fcnschenswerth, den eigenen Standpunkt von vornherein kenntlich zu machen. Auch ohne sich auf eine Definition einzulassen, die den Resultaten vorausgreift, bleibt es doch immer m\u00f6glich, den Ausgangspunkt der Untersuchung und den zun\u00e4chst einzuschlagenden Weg zu bezeichnen. Eine Begriffsbestimmung in diesem Sinne wird aber namentlich dann nothwendig, wenn sich Richtungen geltend machen, die jenen Ausgangspunkt anders bestimmen und die in Folge dessen abweichende Wege verfolgen.\n1) Vergl. meine Vorlesungen \u00fcber die Menschen- und Thierseele 1 2 S. 8f. und\ndie in \u00e4hnlichem Sinn gehaltenen Ausf\u00fchrungen von H\u00f6ffding, Psychologie 2 S. 1.\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nW, Wundt.\nIL\nSo lange sich die Psychologie in directer Abh\u00e4ngigkeit von irgend einem metaphysischen Systeme wusste und sich als wesentlichen Bestandtheil eines solchen betrachtete, ging die vorherrschende Anschauung dahin, dass es der Gegenstand ihrer Beobachtungen sei, der sie von anderen Erfahrungswissenschaften scheide. Die seit Descartes vorherrschenden dualistischen Systeme, denen Leib und Seele als verschiedene, nur \u00e4u\u00dferlich an einander gebundene Substanzen galten, forderten ohne weiteres eine solche Betrachtungsweise heraus. Mit den unterscheidenden Definitionen, die man von Seele und K\u00f6rper aufstellte, waren dann unmittelbar au'ch die verschiedenen Gegenst\u00e4nde bezeichnet, mit denen sich die Psychologie auf der einen, die Naturwissenschaft auf der anderen Seite zu besch\u00e4ftigen habe. Man k\u00f6nnte es auffallend finden, dass die Leibniz'sehe Monadologie mit den zahlreichen aus ihr hervorgegangenen oder in ihrem Sinne unternommenen Versuchen, jenen Dualismus zu beseitigen, hieran nichts ge\u00e4ndert hat. Doch erkl\u00e4rt sich dies daraus, dass die hier geltend gemachte Lehre von der metaphysischen Wesensgleichheit der Substanzen immerhin die Vorstellung, jede individuelle Seele sei eine besondere, von andern realen Wesen, insbesondere denen ihres eigenen K\u00f6rpers verschiedene Substanz, ruhig fortbestehen lie\u00df. Dazu kam, dass sich der Gradunterschied, den man hier zwischen den Seelen und den sonstigen Substanzen annahm, in den psychologischen Anwendungen, bei denen sich die abstracte H\u00f6he metaphysischer Betrachtungen nicht wohl festhalten lie\u00df, doch unwillk\u00fcrlich wieder in einen Wesensunterschied umwandelte. Demgem\u00e4\u00df wird denn noch heute in den psychologischen Werken der Herbart\u2019schen Schule ebensogut wie in denen anderer metaphysischer Richtungen die Psychologie als eine Wissenschaft definirt, die es mit einem durchaus eigenartigen Gegenst\u00e4nde zu thun habe, womit denn ihre Scheidung von andern Gliedern, die sich mit andern Gegenst\u00e4nden besch\u00e4ftigen, von selbst gegeben ist. Wo die psychologischen Systeme dieser Richtung erkl\u00e4ren, dass auch sie von der Erfahrung ausgehen, da tritt h\u00f6chstens insofern eine kaum wesentliche Modification ein, als man zun\u00e4chst auf irgend welche empirisch gegebene Merkmale des psychischen Geschehens","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n5\nhinweist, von denen aber sofort angedeutet oder ausdr\u00fccklich hervorgehoben wird, dass sie Merkmale eines specifischen Gegenstandes seien. So liest man z. B. hei Volkmann1), das Problem der Psychologie sei, \u00bbdie Erkl\u00e4rung der psychischen Ph\u00e4nomene, d. h. die Zur\u00fcckf\u00fchrung der allgemeinen Classen der blo\u00df zeitlichen Erscheinungen unserer Innenwelt auf das ihnen zu Grunde liegende wirkliche Geschehen und die Aufstellung der Gesetze, denen gem\u00e4\u00df jene aus diesen hervorgehen.\u00ab Hier sind augenscheinlich zwei empirische Merkmale als die den psychischen Ph\u00e4nomenen eigenth\u00fcmlichen aufgef\u00fchrt. Diese sollen erstens \u00bbblo\u00df zeitlich\u00ab sein, und sie sollen zweitens der \u00bbInnenwelt\u00ab angeh\u00f6ren, d. h. doch wohl: sie sollen weder unter Betheiligung der \u00e4u\u00dferen Sinne zu Stande kommen, noch auf \u00e4u\u00dfere Objecte bezogen werden. Dass diese Merkmale empirisch stichhaltig seien, wird kein Unbefangener zugeben. Man muss offenbar schon sehr daran gew\u00f6hnt sein, unsere Vorstellungen im Lichte der metaphysischen Theorie Herbart\u2019s als blo\u00df \u00bbintensive Gr\u00f6\u00dfen\u00ab zu betrachten, um behaupten zu k\u00f6nnen, sie seien zeitlich aber nicht r\u00e4umlich, und sie st\u00fcnden weder zu den Punctionen der \u00e4u\u00dferen Sinne noch zu den Objecten der Au\u00dfenwelt in irgend einer Beziehung. Unverkennbar ist also hier schon das angeblich \u00bbwirkliche Geschehen\u00ab, das erst aus den Ph\u00e4nomenen gefunden werden soll, in diese her\u00fcbergewandert. Da mit diesem \u00bbwirklichen Geschehen\u00ab Herbart\u2019s \u00bbSt\u00f6rungen und Selbsterhaltungen\u00ab der einfachen Seele gemeint sind, so ist es aber klar genug, dass die obige Definition nichts anderes als die empirische Verkleidung einer metaphysischen Begriffsbestimmung vom \u00bbWesen der Seele\u00ab ist.\nGegen\u00fcber der spiritualistischen befindet sich nun die materialistische Psychologie darin im Vortheil, dass sie auf eine besondere Seelensubstanz mit besonderen, durchg\u00e4ngig von der Naturordnung verschiedenen Eigenschaften und Erscheinungen verzichtet. Sie h\u00e4lt sich an den einen, der Beobachtung wirklich gegebenen Gegenstand, den K\u00f6rper, und betrachtet demnach die seelischen seihst als k\u00f6rperliche Erscheinungen oder mindestens als solche, die aus den physischen Eigenschaften bestimmter Gewebe und Organe,\n1) Volkmann, Lehrbuch der Psychologie, I2, S. 2.","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nW. Wundt.\nspeciell des Gehirns und der Sinnesorgane, abzuleiten seien. Aber die Macht metaphysischer Yorurtheile herrscht hier so gut wie dort. Ob man in den psychischen Vorg\u00e4ngen St\u00f6rungen und Selbsterhaltungen der Seele oder Bewegungen centraler Molec\u00fcle, Leistungen der Hirnzellen u. dergl. sieht, ist f\u00fcr die Sache selbst ziemlich gleichg\u00fcltig. Beiderlei Interpretationen sind nur H\u00fclfsmittel, um die Wirklichkeit hinter einer H\u00fclle imagin\u00e4rer oder doch von dem, was erkl\u00e4rt werden soll, total verschiedener Vorg\u00e4nge zu verbergen, und sie verwandeln sich in der Anwendung stets zugleich in t\u00e4uschende Idole, die die unbefangene Auffassung der Dinge st\u00f6ren. Diesem Schicksal ist in der That die materialistische noch in schlimmerer Weise als die spiritualistische Psychologie verfallen. Bei M\u00e4nnern wie Descartes, Leibniz oder Herhart hatte die Ueherzeugung von dem selbst\u00e4ndigen Werth des geistigen Lebens immerhin die M\u00f6glichkeit tieferer Einblicke und fruchtbarer Ideen im Einzelnen offen gelassen. Der Materialismus, der die Psychologie auf Gehirnphysiologie reducirt, und dem in Folge der hierdurch geforderten Anwendung rein physischer Gesichtspunkte \u00fcberhaupt jeder Ma\u00dfstab f\u00fcr geistige Zusammenh\u00e4nge und Entwicklungen abhanden gekommen ist, hat sich damit selbst auf diesem Gebiet zur Leistungsunf\u00e4higkeit verurtheilt.. Da nun aber einmal die Empfindungen, Gef\u00fchle, Affecte u. s. w., was man auch \u00fcber ihren Ursprung denken mag, existiren und mit physiologischen Vorg\u00e4ngen doch nur mittelst irgend welcher H\u00fclfsbegriffe, wie der \u00bbungenauen Selbstwahrnehmung\u00ab oder der \u00bbFunction\u00ab, in Verbindung zu bringen sind, so bleibt auch hier im Grunde die Auffassung bestehen, dass das Psychische die Erscheinungsweise eines besonderen Gegenstandes sei. Nur ist dieser Gegenstand nicht mehr die materielle Seele, sondern das Gehirn.\nDie so auf das engste an die Vorherrschaft metaphysischer Ideen gebundene gegenst\u00e4ndliche Auffassung wurde zum ersten Mal durch LntjcJcg und die an ihn sich anschlie\u00dfende englische Psychologie ersch\u00fcttert. Indem diese Psychologie in der Untersuchung der Entstehung der Erkenntniss ihr Problem sieht, ist sie, wie schon oben bemerkt, zugleich Erkenntnisstheorie. Sie ist ferner, dieser Vereinigung entsprechend, vorherrschend intellec-tualistisch, und sie erblickt endlich in ihren sp\u00e4teren Vertretern","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n7\ndurchg\u00e4ngig in dem Associationsprocess den typischen Vorgang, aus dem alle psychischen Entwicklungen abzuleiten seien. Wichtiger vielleicht als alle diese Eigenthiimlichkeiten ist aber die Gesammt-auffassung, welche die englische Psychologie von der Natur des seelischen Geschehens zur Geltung bringt. Dieses Geschehen besteht ihr in dem Process der Erfahrung \u00fcberhaupt. Die Eindr\u00fccke der \u00e4u\u00dferen Sinne und die der Selbstauffassung angeh\u00f6rigen Wahrnehmungen, die \u00bbSensation\u00ab und die \u00bbReflection\u00ab in der Terminologie Locke\u2019s, sind zwar Bestandteile dieser Erfahrung, aber nicht Inhalte, die jemals von einander zu scheiden w\u00e4ren. Die Ideen der Sensation bilden daher ebenso gut wie die der Reflexion den Inhalt dieser Psychologie. Darin liegt von selbst, dass es hier nicht mehr der Gegenstand ist, der die Psychologie von der Naturwissenschaft scheidet, sondern der Standpunkt der Betrachtung. Die Naturwissenschaft untersucht die Objecte der Erfahrung in ihrer wirklichen ohjectiven Beschaffenheit; die Psychologie betrachtet sie, insofern sie von uns erfahren werden, und in Bezug auf die Entstehung solcher Erfahrungen. Hat auch Locke diesen Gedanken nicht direct ausgesprochen, so liegt er doch stillschweigend allen seinen Er\u00f6rterungen zu Grunde. Auch ist klar, dass die Gleichsetzung von Psychologie und Erkenntnisslehre mit Nothwendigkeit zu demselben f\u00fchren musste. Unter unsern Erkenntnissen spielen diejenigen, die sich auf die Objecte der Au\u00dfenwelt beziehen, eine hervorragende Rolle. Eine Gegen\u00fcberstellung von Au\u00dfen- und Innenwelt im Sinne einer gleichzeitigen Gebietstheilung zwischen Naturwissenschaft und Psychologie, wie eine solche die metaphysische Psychologie versucht, ist also hier von vornherein unm\u00f6glich. Dabei erkennt freilich Locke an, dass in unsere Erfahrung im psychologischen Sinne Elemente eingehen, die wir nicht auf \u00e4u\u00dfere Objecte beziehen. Aber auch von diesen geh\u00f6rt wenigstens ein Theil, n\u00e4mlich der Inhalt der secund\u00e4ren Sinnesqualit\u00e4ten (Farbe, Ton u. dergl.), der Sensation an.\nObgleich demnach in diesen Voraussetzungen der englischen Erfahrungspsychologie und Erkenntnisslehre nirgends ein gegenst\u00e4ndlicher Unterschied zwischen Psychologie und Naturwissenschaft gemacht wird, so lag aber gleichwohl in Locke\u2019s Unterscheidung von \u00bbSensation\u00ab und \u00bbReflection\u00ab abermals der Keim zu einer solchen","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nW. Wundt.\"\nAuffassung, die dann freilich nur durch eine Verpflanzung jenes Keimes auf einen ihm urspr\u00fcnglich fremden Boden entstehen konnte. Indem n\u00e4mlich in der deutschen Psychologie des vorigen Jahrhunderts die empirische Erkenntnisslehre Locke\u2019s mit den Gedanken der Leibniz\u2019schen Philosophie zusammentraf, ging aus dieser Verbindung \u2022jener Gegensatz der \u00bb\u00e4u\u00dfern\u00ab und der \u00bbinnern\u00ab Erfahrung hervor, der f\u00fcr uns heute noch der gangbare Ausdruck f\u00fcr die n\u00e4chste praktische Unterscheidung der Thatsachen der naturwissenschaftlichen und der psychologischen Untersuchung geblieben ist, wenn wir ihm auch nicht mehr dieselbe Bedeutung beilegen wie die Psychologie der Wolff\u2019schen Schule. Dieser gelten n\u00e4mlich jene beiden Formen der Erfahrung als durchg\u00e4ngig verschiedene Erfahrungsgebiete. Ihren sch\u00e4rfsten Ausdruck fand diese Anschauung in dem Begriff des \u00bbinneren Sinnes\u00ab, den man als Organ der inneren Erfahrung den \u00e4u\u00dferen Sinnen gegen\u00fcberstellte. Zugleich gab man aber dem inneren Sinne insofern eine \u00fcbergeordnete Stellung, als man annahm, er habe nicht blo\u00df seine ihm specifisch eigenth\u00fcmlichen Gegenst\u00e4nde, sondern auch die Eindr\u00fccke der \u00e4u\u00dferen Sinne w\u00fcrden zu Objecten desselben, indem wir uns ihrer bewusst werden. Immerhin f\u00fchrte man gewisse Erfahrungsbestandtheile ausschlie\u00dflich auf die Eigenschaften der \u00e4u\u00dferen, andere auf die der inneren Sinne zur\u00fcck. So hat noch im Geiste dieser Psychologie Kant den Raum als die Anschauungsform des \u00e4u\u00dferen, die Zeit als diejenige des inneren Sinnes bezeichnet. Leicht war man dann aber auch geneigt, im Anschluss an die Leibniz\u2019sehe Unterscheidung der inneren Selbstauffassung und der \u00e4u\u00dferen Wechselbeziehung der Monaden, dem inneren Sinn hinsichtlich der Wahrheit seiner Aussagen einen Vorzug vor dem \u00e4u\u00dferen einzur\u00e4umen. Jener sollte eine unmittelbare Wirklichkeit der Beobachtung darbieten, dieser nur Erscheinungen, die eine Wirklichkeit andeuten, ohne sie selbst zu sein. Besonders energisch wird diese Auffassung sp\u00e4ter von Beneke in seiner Psychologie vertreten. Hier haben sich innere und \u00e4u\u00dfere Erfahrung zu einem Gegens\u00e4tze entwickelt, der vollst\u00e4ndig dem von Sein und Erscheinung entspricht. \u00bbUnseren eigenen Leib fassen wir, wie alles K\u00f6rperliche, nur durch Eindr\u00fccke auf unsere Sinne, nicht,, wie bei der Seele, die Kr\u00e4fte und Entwickelungen, wie sie","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"U eher die Definition der Psychologie.\n9\nin sich selber sind, auf1).\u00ab So sind hier \u00e4u\u00dfere und innere Erfahrung nicht mehr verschiedene sich erg\u00e4nzende Bestandtheile der Erfahrung, sondern sie sind v\u00f6llig verschiedene Arten derselben geworden. Wird auch die M\u00f6glichkeit zugelassen, dass das metaphysische Substrat dieser beiden Erfahrungsformen schlie\u00dflich eins und dasselbe sei, \u2014 f\u00fcr das Verh\u00e4ltniss psychologischer und naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise ist dies gleichg\u00fcltig. Hier bleibt es dabei, dass diese verschieden sind, weil ihre Gegenst\u00e4nde es sind. Und auch darin verr\u00e4th diese Psychologie des \u00bbinneren Sinnes\u00ab die metaphysischen Einfl\u00fcsse, die auf ihre Entstehung eingewirkt haben, dass jene \u00bbKr\u00e4fte und Entwicklungen der Seele\u00ab, die angeblich die unmittelbaren Inhalte der inneren Wahrnehmung sein sollen, in Wirklichkeit gerade so gut ein Gewebe von allerlei Hypothesen und Fictionen sind wie die St\u00f6rungen und Selbsterhaltungen und die Vorstellungsmechanik der Herbart\u2019schen Psychologie.\nDem gegen\u00fcber darf es nun wohl als die vorherrschende Tendenz aller neueren Richtungen bezeichnet werden, dass sie im ganzen in der Bestimmung des Verh\u00e4ltnisses von \u00e4u\u00dferer und innerer Erfahrung wieder zu der empirischen Auffassung Locke\u2019s zur\u00fcckzukehren suchen, und dass sie die urspr\u00fcngliche Einheit aller Erfahrung in noch viel entschiedenerer Weise betonen, als es zu Locke\u2019s Zeiten m\u00f6glich war, \u2014 eine nothwendige R\u00fcckwirkung der neueren kritischen Erkenntnisstheorie, f\u00fcr die nat\u00fcrlich Locke\u2019s unvollkommene Begriffsbildungen und naive Wahrheitskriterien l\u00e4ngst nicht mehr ma\u00dfgebend sind. Wer sich heute der Ausdr\u00fccke \u00e4u\u00dfere und innere Erfahrung bedient, der will darum in der Regel weder absolut disparate Erfahrungsinhalte, noch verschiedene Erfahrungsgegenst\u00e4nde bezeichnen, noch will er, dass das \u00bbau\u00dfen\u00ab und \u00bbinnen\u00ab buchst\u00e4blich verstanden werde, sondern er betrachtet diese W\u00f6rter, wie so viele andere, als solche, die ihr Gepr\u00e4ge durch die zur\u00fcckgelegte Bedeutungsentwicklung erlangt haben. Nach dieser soll aber die \u00bbinnere Erfahrung\u00ab den unmittelbaren Erfahrungsinhalt der Psychologie, die \u00bb\u00e4u\u00dfere\u00ab den der Naturwissenschaft bezeichnen, ohne damit irgend eine Aussage \u00fcber Ursprung, Bedeutung und wechselseitiges Verh\u00e4ltniss dieser Erfahrungsinhalte verbinden zu\n1) \u00dfeneke, Lehrbuch der Psychologie 3, S. 34.","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nW. Wundt.\nwollen. In diesem, keiner psychologischen Richtung und Anschauung pr\u00e4judicirenden Sinne ist der Ausdruck \u00bbinnere Erfahrung\u00ab jedenfalls unbedenklich. So lange sich kein anderer eingeb\u00fcrgert hat, der ihn ersetzen k\u00f6nnte, d\u00fcrfte er aber auch unentbehrlich sein.\nM*k\nNicht minder wie- \u00fcber diese ausschlie\u00dflich dem praktischen Zweck der Gebietsscheidung dienende Anwendung der Begriffe innere und \u00e4u\u00dfere Erfahrung ist man jedoch heute wohl ziemlich allgemein dar\u00fcber einig, dass es nicht der besondere empirische Gegenstand, sondern nur der besondere Standpunkt der Betrachtung ist, der die Psychologie von anderen ErfahrungsWissenschaften scheidet. Es mag gen\u00fcgen, als ein einzelnes Zeugniss dieser Anschauung eine Stelle aus Lipps\u2019 \u00bb Grundthatsachen des Seelenlebens\u00ab anzuf\u00fchren. \u00bbVorstellungen\u00ab, so hei\u00dft es hier (S. 3), \u00bbbilden am Ende das Material der Naturwissenschaft wie der Geisteswissenschaft. Aber Vorstellungen treten f\u00fcr uns in ein doppeltes System von Beziehungen, das der objectiven, vom Subject unabh\u00e4ngig gedachten Beziehungen des Vorgestellten unter sich, und das System der Beziehungen, in das die Vorstellungen unserer subjectiven Zust\u00e4nde zu einander und zu dem ganzen seelischen Wesen treten. Mit jenen hat es die \u00e4u\u00dfere, mit diesen die innere Beobachtung zu thun.\u00ab Wenn man hier das \u00bbganze seelische Wesen\u00ab, wie man es vom empirischen Gesichtspunkte aus wohl thun muss, so inter-pretirt, dass man darunter lediglich die Gesammtheit jener der \u00bbinneren Beobachtung\u00ab gegebenen Elemente versteht, die nicht zu den Vorstellungen geh\u00f6ren, so wird es wohl wenige Psychologen geben, die sich nicht im allgemeinen mit dieser Begriffsbestimmung einverstanden erkl\u00e4ren k\u00f6nnten.\nGleichwohl scheint es angesichts der innerhalb der experimentellen Psychologie der Gegenwart bestehenden Divergenz der Anschauungen, als sei mit der in den obigen Worten enthaltenen Anerkennung, dass nur der Standpunkt der Betrachtung die Psychologie kennzeichnet, die Stellung dieser zu anderen Gebieten, namentlich zur Naturwissenschaft, noch nicht zureichend definirt. In der That l\u00e4sst sich jene Divergenz auf zwei Modificationen der soeben gegebenen allgemeinen Begriffsbestimmung zur\u00fcckf\u00fchren, Modificationen, aus denen merkw\u00fcrdiger Weise zwei total verschiedene","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Definition der Psychologie.\n11\nDefinitionen der Psychologie entspringen. Diese Definitionen, die den Inhalt der folgenden Betrachtung bilden sollen, lassen sich nebst ihren haupts\u00e4chlichsten Motiven in die folgenden S\u00e4tze zu-sammenfassen.\nErste Definition. Die Thatsachen, mit denen sich alle Wissenschaften zu besch\u00e4ftigen haben, sind \u00bbErfahrungen\u00ab oder, sofern Erfahrungen von einem sie erlebenden Subjecte gemacht werden m\u00fcssen, \u00bbErlebnisse\u00ab. Solche Erlebnisse k\u00f6nnen entweder in Bezug auf die ihnen objectiv zukommende wirkliche Beschaffenheit untersucht werden, \u2014 dies ist die Aufgabe der Naturwissenschaft. Oder sie k\u00f6nnen in ihrer Abh\u00e4ngigkeit von erlebenden Subjecten untersucht werden, \u2014 dies ist die Aufgabe der Psychologie. Nun weist die Naturwissenschaft nach, dass ein erlebendes Subject nach der ihm objectiv zukommenden wirklichen Beschaffenheit stets ein k\u00f6rperliches Individuum ist. Folglich hat die Psychologie die Erlebnisse in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom k\u00f6rperlichen Individuum zu untersuchen, und die Theorie der psychischen Vorg\u00e4nge besteht in der Nachweisung ihrer Abh\u00e4ngigkeit von bestimmten k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4ngen. Sondert man die Probleme der Psychologie in zwei Aufgaben: in die Zerlegung der Bewusstseinsinhalte in ihre Empfindungselemente und in die Untersuchung des causalen Zusammenhangs dieser Elemente, so ist demnach nur die erste, vorbereitende dieser Aufgaben eine relativ selbst\u00e4ndige, ihre zweite, endg\u00fcltige Aufgabe aber macht die Psychologie ganz und gar zu einem Anwendungsgebiet der Physiologie *).\nZweite Definition. Alle Erfahrung ist eine einheitliche, in sich zusammenh\u00e4ngende. Jede Erfahrung enth\u00e4lt nun zwei in Wirklichkeit untrennbar verbundene Factoren: die Erfahrungsobjecte und das erfahrende Subject. Die Naturwissenschaft sucht die Eigenschaften und wechselseitigen Beziehungen der Objecte zu bestimmen. Sie abstrahirt daher durchg\u00e4ngig, so weit dies verm\u00f6ge der allgemeinen Erkenntnissbedingungen m\u00f6glich ist, von dem\n1) Vergl. Hugo M\u00fcnsterberg, Aufgaben und Methoden der psychologischen Forschung, S. 21 ff. Osw. K\u00fclpe, Grundriss der Psychologie, S. 4, 6. Einleitung in die Philosophie, S. 59, 66. Ich halte mich im Folgenden haupts\u00e4chlich an die pr\u00e4ciseren Ausf\u00fchrungen des letzteren Autors.","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nW. Wundt.\nSubject. Hierdurch ist ihre Erkenntnissweise eine mittelbare und, da die Abstraction von dem Subject hypothetische Hiilfs-begriffe erforderlich macht, denen die Anschauung niemals vollkommen ad\u00e4quat gedacht werden kann, zugleich eine abstract begriffliche. Die Psychologie hebt diese von der Naturwissenschaft ausgef\u00fchrte Abstraction wieder auf, um die Erfahrung in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit zu untersuchen. Sie gibt daher \u00fcber die Wechselbeziehungen der subjectiven und objectiven Factoren der unmittelbaren Erfahrung und \u00fcber die Entstehung der einzelnen Inhalte der letzteren und ihres Zusammenhangs Rechenschaft. Die Erkenntnissweise der Psychologie ist demnach im Gegens\u00e4tze zu derjenigen der Naturwissenschaft eine unmittelbare und, insofern die concrete Wirklichkeit selbst, ohne Anwendung abstracter H\u00fclfs-begriffe, das Substrat ihrer Erkl\u00e4rungen ist, eine anschauliche. Hieraus folgt, dass die Psychologie eine der Naturwissenschaft coordinirte Erfahrungswissenschaft ist, und dass sich die Betrachtungsweisen beider in dem Sinne erg\u00e4nzen, dass sie zusammen erst die uns m\u00f6gliche Erfahrungserkenntniss ersch\u00f6pfen1). \u2014\nIch will es versuchen, im Folgenden den Nachweis zu f\u00fchren, dass die erste dieser Definitionen unhaltbar ist, und dass dagegen die zweite derjenigen Aufgabe wirklich entspricht, die gegenw\u00e4rtig der Psychologie gestellt werden muss.\nIII.\nDie erste der obigen Begriffsbestimmungen der Psychologie ist, wie ich glaube, aus vier Gr\u00fcnden unhaltbar. Sie beruht erstens auf einer logischen Begriffsvermeng\u00fcng, die nach der \u00fcblichen Terminologie der Fehlschl\u00fcsse als die Verbindung einer Quaternio terminorum mit einer Petitio principii betrachtet werden kann. Sie widerspricht zweitens der thats\u00e4chlichen Entwicklung und in Folge dessen auch der realen Bedeutung der naturwissenschaftlichen Forschung. Sie verfehlt drittens die wirkliche Aufgabe der Psychologie und leistet daher nichts f\u00fcr die psychologische Erkenntniss. Sie entpuppt sich endlich viertens ihrer Tendenz nach als ein Ver-\n1) Vergl. meine Grundz\u00fcge der physiol. Psychologie, II4, S. 636 ff. Logik, II2, 2, S. 247ff. System der Philosophie, S. 140.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\t13\nsuch, die Psychologie in die Dienstbarkeit der Metaphysik zur\u00fcckzuf\u00fchren, da ihre logische Begr\u00fcndung keine voraussetzungslose ist, sondern das materialistische Dogma mindestens in dem Sinne voraussetzt, dass es der Untersuchung des Zusammenhangs der psychischen Vorg\u00e4nge zu Grunde zu legen sei.\nDiese letztere Beschr\u00e4nkung muss deshalb hinzugef\u00fcgt werden), weil die Anh\u00e4nger dieser Richtung im allgemeinen dar\u00fcber einig sind, dass nur die Verbindungen der psychischen Elemente, nicht aber, wie der eigentliche Materialismus behauptet, die Elemente selbst aus physischen Vorg\u00e4ngen zu erkl\u00e4ren seien. Es soll daher auch im folgenden diese eigenth\u00fcmliche Spielart des Materialismus mit dem von einigen seiner Vertreter selbst gew\u00e4hlten Namen des \u00bbpsycho-physischen Materialismus\u00ab bezeichnet werden.\n1. Diejenige logische Voraussetzung dieser Definition, die ihr mit der oben an zweiter Stelle angef\u00fchrten gemeinsam ist, besteht darin, das alle Erfahrung Objecte und ein erfahrendes Subject einschlie\u00dft, und dass dieser Zweiheit der Factoren die Gebiets-theilung in Naturwissenschaften und Psychologie entspricht. Diese Gebietstheilung selbst glaubt sie aber dahin feststellen zu d\u00fcrfen, dass der Naturwissenschaft die Erkenntniss der objectiven Wirklichkeit, der Psychologie dagegen die Untersuchung derjenigen Modificationen zufalle, welche diese objective Wirklichkeit durch das sie erlebende Subject erfahre. Hierin liegt das stq&tov ipevdog dieser Auffassung. Aus den in gewissem Betracht richtigen Vorders\u00e4tzen, dass die Naturwissenschaft die Erkenntniss der objectiven Wirklichkeit, wie sie unabh\u00e4ngig von dem Subjecte angenommen werden kann, und dass die Psychologie das Subject in seinen Beziehungen zu dieser objectiven Wirklichkeit zum Gegenstand habe, wird der ganz falsche Schluss gezogen, die Naturwissenschaft sei dasjenige unter diesen beiden Gebieten, welches die Erkenntniss der Wirklichkeit \u00fcberhaupt, also mit Einschluss des Subjectes, zu seinem Inhalte habe, so dass f\u00fcr die Psychologie nur die Aufgabe einer Anwendung der so gewonnenen allgemeinen Erkenntnisse auf ihren besonderen Gegenstand \u00fcbrig bleibe. Dieser besondere Gegenstand ist das Subject. Da f\u00fcr den rein naturwissenschaftlichen Standpunkt das Subject mit dem \u00bbk\u00f6rper-","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nW. Wundt.\nliehen Individuum\u00ab identisch ist, so soll also die Aufgabe der Psychologie darin bestehen, die psychischen Vorg\u00e4nge aus den Eigenschaften des k\u00f6rperlichen Individuums abzuleiten. Die Quaternio terminorum dieser Argumentation liegt darin, dass die objective Wirklichkeit zuerst in dem beschr\u00e4nkteren Sinne genommen wird, in welchem dieselbe die Objecte nach Abstraction von dem Subject, dann aber in dem allgemeineren, in welchem sie die ganze Wirklichkeit in objectiver, von subjectiven Tr\u00fcbungen und T\u00e4uschungen befreiter Auffassung bedeutet. Eine Petiti\u00f6 principii ist es ferner, dass die naturwissenschaftliche Erkenntniss von vornherein als die allgemeing\u00fcltige, also auch f\u00fcr die Erkenntniss des Subjectes und seiner Wechselbeziehungen zu den Objecten ma\u00dfgebende hingestellt wird. Ist sie das, so ist nat\u00fcrlich der von der Naturwissenschaft gewonnene Begriff des Subjectes als des \u00bbk\u00f6rperlichen Individuums\u00ab auch f\u00fcr die Psychologie g\u00fcltig, und f\u00fcr die psychologischen Erfahrungsinhalte, die Empfindungen, Gef\u00fchle u. dergl., bleibt nichts anderes \u00fcbrig als anzunehmen, dass sie ihrem eigentlichen Inhalte nach Modificationen der physischen Wirklichkeit seien, die unter dem besonderen Einfl\u00fcsse des k\u00f6rperlichen Individuums zu Stande kommen.\nDiese fehlerhafte Schlussfolge, die \u00fcberaus durchsichtig ist, wenn man die Dinge bei ihren \u00fcblichen Namen nennt, pflegt nun durch die gew\u00e4hlten Bezeichnungen einigerma\u00dfen verh\u00fcllt zu werden. Statt des Wortes \u00bbErfahrung\u00ab bedient man sich des schwankenderen und dabei doch gewisse Nebenbedeutungen einschlie\u00dfenden: \u00bbErlebniss\u00ab. An und f\u00fcr sich hat dieses Wort zwei Nebenbedeutungen. Die erste weist darauf hin, dass die psychische Erfahrung nicht ein ruhendes Sein, sondern dass es Ereigniss, Geschehen, Vorgang sei. In diesem Sinne, in welchem das Erlebniss mit dem zusammentrifft, was man in der Auffassung der Bewusstseinsvorg\u00e4nge die \u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab genannt hat1), acceptire ich den Ausdruck gern. Aber gerade diese nicht wohl missverst\u00e4ndliche Bedeutung bleibt im vorliegenden Falle ganz au\u00dfer Betracht. Daf\u00fcr tritt hier eine zweite Nebenbedeutung in den Vordergrund: die n\u00e4mlich, dass jedes Erlebniss auf ein erlebendes Subject\n1) Vergl. unten V, B.","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n15\nhinweist. Wenn man die Aufgabe der Naturwissenschaft als Er-s kenntniss der objectiven Beschaffenheit der \u00bbErlebnisse\u00ab bestimmt, so hat das demnach einen andern Sinn, als wenn man ihr blo\u00df den objectiven Inhalt der \u00bbErfahrung\u00ab oder gar blo\u00df diesen Inhalt nach Abstraction von dem Subject zuweist. Da es Erlebnisse ohne ein erlebendes Subject nicht gibt, so scheint es n\u00e4mlich selbstverst\u00e4ndlich zu sein, dass die Naturwissenschaft mit der objectiven Wirklichkeit der Erlebnisse nun auch die objective, d. h. nach der Verallgemeinerung, die man unter der Hand mit diesem Pr\u00e4dicat vorgenommen, die wirkliche Beschaffenheit des Subjectes festzustellen hat. So kommt hier das merkw\u00fcrdige und doch sehr begreifliche Resultat zum Vorschein, dass ein Begriff, der an sich die Tendenz hat, auf den subjectiven Ursprung der Erfahrung hinzuweisen, dazu dient, des eigentlichen Subjectes, n\u00e4mlich desjenigen, das die Erfahrungen macht, des erkennenden und handelnden, los zu werden, damit ein Object, das sogenannte \u00bbk\u00f6rperliche Individuum\u00ab, an dessen Stelle trete.\nDass sich schlie\u00dflich diese Begriffsbestimmung der Psychologie in ein Dilemma verwickelt, welches nur zwischen der Nichtexistenz der definirten Wissenschaft und dem Zugest\u00e4ndniss der principiellen Fehlerhaftigkeit der Definition die Wahl l\u00e4sst, ist einleuchtend. F\u00e4llt der Naturwissenschaft die Erkenntniss der gesammten Wirklichkeit zu, und ist darum insbesondere alles, was den sogenannten \u00bbBewusstseinsvorg\u00e4ngen\u00ab zu Grunde liegt, aus den physiologischen Eigenschaften des k\u00f6rperlichen Individuums ahzuleiten, so findet die Psychologie ihre Arbeit gethan, ehe sie damit angefangen hat. Ihre Probleme hat von Rechts wegen einzig und allein die Physiologie zu erledigen. Beh\u00e4lt dagegen die Psychologie eine selbst\u00e4ndige Aufgabe, weil die Naturwissenschaft nicht die ganze Wirklichkeit umfasst, sondern bei dem Subject von bestimmten Seiten und Zusammenh\u00e4ngen der Erfahrung abstrahirt, dann stellt die obige Begriffsbestimmung an die Physiologie, die doch eine Naturwissenschaft ist, die widersinnige Zumuthung, sie habe eine endg\u00fcltige Erkenntniss von dem zu vermitteln, was sie grunds\u00e4tzlich von ihrer Betrachtung ausgeschlossen hat, n\u00e4mlich von dem Subjecte, insofern es nicht blo\u00df \u00bbErlebniss\u00ab sondern selbst ein \u00bberlebendes\u00ab ist. Auch der scheinbare Mittelweg, den der \u00bbpsycho-physische Materialismus\u00ab","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"W. Wundt.\n16\neinschl\u00e4gt, indem er die Aufsuchung der psychischen Elemente der Psychologie, die der Verbindung dieser Elemente aber der-Physiologie zuweist, hilft nicht aus diesem Dilemma. Denn da von diesem Standpunkte aus die psychischen Elemente nur als Zeichen in Betracht kommen, welche die Existenz bestimmter physischer Elementarvorg\u00e4nge verrathen, so w\u00fcrde die Nachweisung jener Elemente offenbar ein Gesch\u00e4ft sein, das bereits die naturwissenschaftliche Untersuchung zu erledigen h\u00e4tte.\n2. Unter den Einfl\u00fcssen, welche die in der besprochenen Definition niedergelegte Anschauung beg\u00fcnstigen, steht jedenfalls das imponirende Ansehen, dessen sich die Naturwissenschaften erfreuen, in erster Linie. Die Gedanken, die diesen Einfluss verrathen, lassen sich nun in zwei Argumente sondern, von denen sich das eine auf den systematischen Zusammenhang der Naturwissenschaft, das andere auf die Bedingungen ihrer geschichtlichen Entwickelung bezieht.\na. Das erste Argument ist das folgende: Nur die Naturwissenschaft bietet uns eine l\u00fcckenlose Causalit\u00e4t dar. Der Zusammenhang des psychischen Geschehens dagegen reicht stets nur \u00fcber eng begrenzte Reihen von Vorg\u00e4ngen. Nun entspricht verm\u00f6ge des in der neueren Psychologie zur Geltung gelangten Princips des \u00bbpsychophysischen Parallelismus\u00ab jedem psychischen ein physischer Vorgang. Da also nach diesem Princip jeder psychische Zusammenhang in doppelter Form gegeben ist, einmal n\u00e4mlich als psychische und sodann als physische Causalreihe, da aber von diesen beiden Causal-reihen nur die zweite, die physische, vollst\u00e4ndig, die erste, die psychische, l\u00fcckenhaft ist, so folgt daraus, dass eine vollst\u00e4ndige Causalerkl\u00e4rung des psychischen Geschehens nur eine physische sein kannl).\nIch habe bei einer fr\u00fcheren Gelegenheit bereits die Nichtigkeit dieses Argumentes darzulegen versucht2) und kann mich darum hier damit begn\u00fcgen, das Ergebniss jener Kritik in folgenden S\u00e4tzen zusammenzufassen: 1) Die behauptete \u00bbL\u00fcckenlosigkeit der Natur-\n1)\tM\u00fcnsterberg, Aufgaben und Methoden u. s. w. S. 25ff.\n2)\tUeber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psycho - physischen Parallelismus, Phil. Stud. X, S. 47 ff.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n17\ncausalit\u00e4t\u00ab ist eine unberechtigte Uebertragung eines allgemeinen, nur f\u00fcr die einfachsten Zusammenh\u00e4nge erf\u00fcllbaren Postulats auf dje wirkliche Erkenntniss der Naturerscheinungen, insbesondere auch der verwickeltsten, in Wahrheit nur in \u00e4u\u00dferst sp\u00e4rlichen Fragmenten erkennbaren: der physiologischen Gehirnprocesse. Ja f\u00fcr diese kehrt das behauptete Verh\u00e4ltnis vollst\u00e4ndig sich um; denn es kann f\u00fcr den Unbefangenen nicht der geringste Zweifel obwalten, dass wir, wenn wir uns hier der \u00bbpsycho-physischen\u00ab Terminologie bedienen wollen, die psychische Seite der Gehirnvorg\u00e4nge in ganz unvergleichlich weiterem Umfang in ihrem Zusammenhang zu \u00fcberblicken verm\u00f6gen als die physische Seite. 2) Dem sogenannten \u00bbPrincip des psycho-physischen Parallelismus\u00ab wird durch die hier von ihm gemachte Anwendung eine Bedeutung gegeben, die es als empirisches Princip berechtigterWeise niemals haben kann. Da es n\u00e4mlich auf ein \u00bbParallelgehen\u00ab von Zusammenh\u00e4ngen himveist, die dispar\u00e4ter Natur sind, und von denen jeder daher, sofern er \u00fcberhaupt ein causal begr\u00fcndeter ist, nur ein solcher sein kann, der gleichartige, d. h. mit einander vergleichbare Thatsachen verbindet, so kann auch das Parallelprincip h\u00f6chstens die Bedeutung eines H\u00fclfsprincips haben, dessen wir uns in den speciellen F\u00e4llen bedienen k\u00f6nnen, wo uns auf der einen oder andern Seite L\u00fccken in dem Zusammenhang der Processe entgegentreten. Dagegen kann es unter keinen Umst\u00e4nden als ein Grundprincip oder vollends, wie es hier geschieht, als das einzige Grundprincip angesehen werden, welches f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der psychischen Vorg\u00e4nge selbst von Bedeutung ist1). 3) Wenn selbst jene falsche Behauptung, dass die Naturcausalit\u00e4t thats\u00e4chlich eine l\u00fcckenlose, die psychische eine fortw\u00e4hrend unterbrochene sei, richtig w\u00e4re, so w\u00fcrde darum doch immer noch eine physiologische Theorie der psychischen Vorg\u00e4nge \u00fcber die Bedeutung und die inneren Beziehungen dieser Vorg\u00e4nge selbst gar keinen Aufschluss geben, also darum noch immer die Aufgabe der Psychologie eine selbst\u00e4ndige bleiben, da es ebenso wenig m\u00f6glich ist, aus einem mechanischen Zusammenhang den psychologischen Charakter einer Verbindung psychischer Elemente abzuleiten, wie etwa daran gedacht werden\n1) Ich werde auf diesen Punkt unten (Nr. V A) noch zur\u00fcckkommen. Wundt, Philos. Studien. XII.\t*","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nW. Wundt.\nkann, aus einer Molecularbew\u00e9gung die Qualit\u00e4t einer Empfindung zu erkl\u00e4ren.\nb. Das zweite naturwissenschaftliche Argument ist ein geschichtlich-genetisches. Es wird von den Anh\u00e4ngern der hier besprochenen Anschauung selbst entweder \u00fcberhaupt nicht erw\u00e4hnt oder nur andeutungsweise ber\u00fchrt. Doch wird es, wenn man die aus diesem Standpunkte sich noth wendig ergebenden Voraussetzungen \u00fcber die Entstehung und Theilung der wissenschaftlichen Aufgaben entwickelt, folgenderma\u00dfen formulirt werden k\u00f6nnen: Die Naturwissenschaft ist auf dem Wege ihrer geschichtlichen Entwicklung allm\u00e4hlich dazu gelangt, die objective Wirklichkeit der Dinge, befreit von den subjectiven Ver\u00e4nderungen, die sie in unseren Empfindungen und Vorstellungen erf\u00e4hrt, festzustellen. Nachdem sie dieses Ziel erreicht hat, tritt nun an die Psychologie die Aufgabe heran, den Ursprung jener subjectiven Ver\u00e4nderungen selbst aufzuhellen. Das kann sie aber nur thun, indem sie die subjectiven Erscheinungen aus den von der Naturwissenschaft festgestellten Gesetzen der objectiven Wirklichkeit, speciell also aus den Eigenschaften des k\u00f6rperlichen Individuums ableitet, das der Tr\u00e4ger dieser Erscheinungen ist.\nDieses Argument, welches, wenn auch nicht genau in der angegebenen Form ausgesprochen, doch logischer Weise als der geschichtliche Grundgedanke der besprochenen Definition nothwendig angesehen werden muss, beruht auf einer v\u00f6lligen Verkennung der thats\u00e4chlichen geschichtlichen Entwickelung der Naturwissenschaft und der Beweggr\u00fcnde, die sie bestimmt haben. In Wirklichkeit hat sich n\u00e4mlich in der Entwicklung der Naturwissenschaft das Motiv der Elimination subjectiver Einfl\u00fcsse auf die Auffassung der objectiven Wirklichkeit durchaus einem anderen Motiv untergeordnet, zu dem es nur einen speciellen Fall bildet. Dieses umfassendere Motiv, das von Anfang an die Naturwissenschaft beherrschte und sie noch heute beherrscht, ist das der Abstraction von dem Subject. Unsere Gef\u00fchle, Affecte, Willensacte lassen sich nicht im mindesten dem Gesichtspunkt einer subjectiven Ver\u00e4nderung der Wirklichkeit unterordnen, die dann \u00e4hnlich wie eine Sinnest\u00e4uschung eliminirt werden m\u00fcsste. Vielmehr abstrahirt die Naturwissenschaft von diesen unmittelbaren Erfahrungsinhalten, weil sie von den beiden Factoren,","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n19\ndie alle Erfahrung enth\u00e4lt, Object und Subject, nur dem Object ihr Interesse zuwendet. Ebenso betrachtet sie aber die Empfindungen und Vorstellungen keineswegs unter dem Gesichtspunkt subjectiver Ver\u00e4nderungen der Wirklichkeit, sondern die Vorstellungen gelten ihr so lange und insoweit selbst als objective Wirklichkeit, als sie nicht durch die Abstraction von dem Subject gen\u00f6thigt ist, gewisse Bestandtheile als subjectiv auszuscheiden. Bei dieser Ausscheidung wird sie durch die logische Voraussetzung geleitet, dass die objective Wirklichkeit in allen ihren Erscheinungen einen in sich geschlossenen Causalzusammenhang bildet. Zugleich ist diese Abstraction die Quelle aller jener hypothetischen H\u00fclfsbegriffe, die in dem Begriff der Materie ihre allgemeine Grundlage haben, einem Begriff, der in letzter Instanz aus der N\u00f6thigung entspringt, das nach der Abstraction von dem erfahrenden Subjecte seiner anschaulichen Beschaffenheit verlustig gegangene Substrat der objectiven Wirklichkeit begrifflich und, da eine solche Feststellung selbst kein unmittelbarer Erfahrungsinhalt sein kann, zugleich hypothetisch zu fixiren.\nHiernach beweist auch die thats\u00e4chliche Entwicklung der naturwissenschaftlichen Abstractionen und Begriffsbildungen \u00fcberzeugend die Fehlerhaftigkeit der besprochenen Definition. Durch eine denkw\u00fcrdige Reihe bewundemswerther Anstrengungen hat die Naturwissenschaft jene Leistung der Abstraction von dem Subjecte vollbracht, so weit sie \u00fcberhaupt verm\u00f6ge der menschlichen Er-kenntnissbedingungen zu vollbringen ist. Es ist daher eine von vornherein unerf\u00fcllbare Forderung, wenn man von der n\u00e4mlichen Naturwissenschaft verlangt, sie solle den Begriff eben desjenigen endg\u00fcltig feststellen, von dem sie geflissentlich abstrahirt hat, des Subjects.\n3. Dass eine Begriffsbestimmung, die auf solchen widerspruchsvollen und mit der wirklichen Entwicklung der Wissenschaft unvereinbaren Forderungen ruht, zu einer befriedigenden L\u00f6sung der psychologischen Aufgaben nicht f\u00fchren kann, ist selbstverst\u00e4ndlich, oolite das aufgestellte Programm folgerichtig durchgef\u00fchrt werden, so musste eine Theorie des Bewusstseins, der Entstehung und der Verbindungen der Vorstellungen, der Gef\u00fchle, Affecte u. s. w. auf\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nW. Wundt.\nGrund bekannter Thatsachen der Gehirnphysiologie gegeben werden. Nun gibt es Thatsachen, die solches leisten k\u00f6nnten, nicht. Es bleibt also nur \u00fcbrig, Hypothesen zu ersinnen, die diese L\u00fccke ausf\u00fcllen. Ueber den Charakter solcher Hypothesen habe ich mich anderw\u00e4rts ausgesprochen1) ; ich will darum hier auf diesen Gegenstand nicht n\u00e4her eingehen. Nur das eine sei hervorgehoben, dass der einzige einigerma\u00dfen brauchbare H\u00fclfsbegritf, der in den erw\u00e4hnten Hypothesen eine Rolle spielt, der Begriff der physiologischen Uebung ist, ein Begriff, der in seiner Bedeutung f\u00fcr die Physiologie der Nervencentren schon l\u00e4ngst gew\u00fcrdigt wurde2), der abeT an sich ein complexer Begriff ist, so dass wir uns von der wirklichen Natur der physiologischen UebungsVorg\u00e4nge bis jetzt nur mittelst sehr roher mechanischer Analogien einigerma\u00dfen ein Bild machen k\u00f6nnen. Alles \u00fcbrige ist, soweit es die Psychologie ber\u00fchrt, hypothetisch \u2014 und leider selten nur hypothetisch in jenem Sinne, in welchem eine Hypothese ein brauchbares H\u00fclfsmittel zur Interpretation der Erfahrungen, sondern meist in jenem andern, in welchem sie eine keinerlei Erkl\u00e4rungszwecke wirklich befriedigende Erfindung ist. Nat\u00fcrlich l\u00e4sst sich mit solchem Material eine Psychologie nicht zu Stande bringen. Da man sich aber doch, so gut es geht, mit den gew\u00f6hnlichen Fragen der Psychologie abfinden muss, so kann nur ein Mischproduct zu Stande kommen, das nach keiner Seite das vorhandene wissenschaftliche Bed\u00fcrfniss befriedigt, eine Psychologie, die selbst eigentlich Physiologie sein m\u00f6chte, eine Art von Versuch mit unzureichenden Mitteln, die Psychologie durch sich selbst vom Leben zum Tode zu bringen.\nVon verschiedenen Seiten hat man nun allerdings zwischen diesen Bestrebungen und den wirklichen Aufgaben der Psychologie in dem Sinne zu vermitteln gesucht, dass man sagte, die Nachweisung der physiologischen Ursachen der psychischen Vorg\u00e4nge falle der \u00bbphysiologischen Psychologie\u00ab, die Untersuchung der psychischen Vorg\u00e4nge selbst aber der eigentlichen oder \u00bbintrospectiven Psychologie\u00ab zu3). Ich kann mich dieser Auffassung nicht an-\n1)\tUeber psychische Causalit\u00e4t u. s. w., Phil. Stud. X, S. 57 ff.\n2)\tVergl. z. B. meine Physiol. Psychol. I4, S. 236.\n3)\tVergl. z. B. H. Schwarz, Ueber die Grenzen der physiologischen Psycho-\nlogie, Anhang zu: Die Umw\u00e4lzung der Wahrnehmungshypothesen, 1895, II, S. 97 ff.","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n21\nschlie\u00dfen. Auch die physiologische Psychologie ist Psychologie, nicht Physiologie. Das Attribut \u00bbphysiologisch\u00ab will nicht sagen, dass sie die Psychologie auf Physiologie zuriickf\u00fchren wolle \u2014 was ich f\u00fcr ein Ding der Unm\u00f6glichkeit halte \u2014, sondern dass sie mit physiologischen, d. h. experimentellen H\u00fclfsmitteln arbeitet und allerdings mehr, als es in der sonstigen Psychologie zu geschehen pflegt, auf die Beziehungen der psychischen zu den physischen Vorg\u00e4ngen R\u00fccksicht nimmt. Ihre Hauptaufgabe ist und bleibt aber, wie die aller Psychologie, die Untersuchung der psychischen Vorg\u00e4nge und ihres wechselseitigen Zusammenhangs1). Die Untersuchung der die psychischen Vorg\u00e4nge begleitenden Gehirnprocesse aber f\u00e4llt an und f\u00fcr sich der Physiologie, nicht der Psychologie zu. Man k\u00f6nnte eine solche Untersuchung allenfalls \u00bbpsychologische Physiologie\u00ab, nimmermehr \u00bbphysiologische Psychologie\u00ab in der durch das Hauptwort gekennzeichneten und bisher angewandten Bedeutung dieses Begriffs nennen. Wegen dieser wesentlich psychologischen Aufgabe der \u00bbphysiologischen\u00ab oder, was in der Hauptsache das gleiche bedeutet, \u00bbexperimentellen Psychologie\u00ab ist \u00fcbrigens dieser Name gleich anderen, die ein Gebiet nach besonderen H\u00fclfsmitteln benennen (z. B. physikalische Chemie, mikroskopische Anatomie u. dergl.), voraussichtlich ein transitorischer. Er wird nicht mehr n\u00f6thig sein, wenn Alle, die sich mit Psychologie besch\u00e4ftigen, \u00fcber die dazu unerl\u00e4sslichen experimentellen H\u00fclfsmittel verf\u00fcgen, und wenn die physiologischen Darstellungen der Nerven- und Sinnesphysiologie der Vorbereitung zur Psychologie in geeigneter Weise Rechnung tragen.\n1) In Bezug auf diese psychologische Bedeutung der experimentellen Methode vergl. Logik 2 II, 2, S. 172 ff. Wenn von meinen \u00bbGrundz\u00fcgen der physiologischen Psychologie\u00ab im Sinne der oben erw\u00e4hnten Auffassung von der Aufgabe einer \u00bbphysiologischen Psychologie\u00ab gesagt worden ist, der herrschende Gedanke dieses Werkes sei der des psycho-physischen Parallelismus, so muss ich dies als irrig zur\u00fcckweisen. F\u00fcr Jeden, der sehen will, besteht der methodologische Zweck meines Werkes darin, der Psychologie die experimentellen H\u00fclfsmittel der Physiologie dienstbar zu machen. Seine Endabsicht aber ist auf die nalyse und die Nachweisung des Zusammenhangs der psychischen Vorg\u00e4nge se bst gerichtet, w\u00e4hrend der psycho-physische Parallelismus \u00fcberall nur als re ativ untergeordnetes H\u00fclfsprincip zur Anwendung kommt.","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nW. Wundt.\n4. Ich halte es nicht f\u00fcr denkbar, dass Begriffsbestimmungen und Argumente wie die oben geschilderten zu Stande kommen, ohne dass man die metaphysische Anschauung, auf die sie hinausf\u00fchren, zuvor schon besitzt. In dem selbstgew\u00e4hlten Namen \u00bbpsycho-physischer Materialismus\u00ab, den freilich nicht alle Vertreter desselben acceptirt haben, kann man ein, vielleicht nicht beabsichtigtes, aber deshalb nur um so bezeichnenderes Eingest\u00e4ndnis dieser Thatsache erblicken. Der entscheidende Beweis liegt aber darin, dass eine unbefangene und voraussetzungslose Behandlung einer empirischen Wissenschaft sich stets ohne die Geltendmachung irgend eines bestimmten metaphysischen Standpunktes durchf\u00fchren l\u00e4sst. Man kann Physiker, Chemiker, Physiologe, oder auf der andern Seite Jurist, National\u00f6konom, Historiker sein, ohne dass jeder einzelnen Untersuchung anzusehen ist, welches die philosophischen Ueberzeugungen ihres Urhebers seien. Wenn die Psychologie wirklich den Charakter einer voraussetzungslosen empirischen Wissenschaft haben soll, so darf es sich mit ihr nicht anders'' verhalten. Man kann daher auch umgekehrt schlie\u00dfen : wo dies nicht so ist, wo man der Behandlung jedes einzelnen Problems den metaphysischen Standpunkt des Autors anmerkt, da handelt es sich nicht mehr um voraussetzungslose empirische Wissenschaft, sondern um eine metaphysische Theorie, zu deren Exemplification die Erfahrung dienen soll.\nIV.\nIch werde nunmehr nachzuweisen suchen, dass die oben an zweiter Stelle angef\u00fchrte Begriffsbestimmung der Psychologie erstens durch die allgemeinen Bedingungen der wissenschaftlichen Erkenntnis logisch gerechtfertigt ist, zweitens im Einklang mit der Aufgabe und den methodischen Principien der Naturwissenschaft steht, drittens den Forderungen entspricht, die von dem unmittelbaren Thatbestand des individuellen Bewusstseins sowie von der Gesammt-heit der Geisteswissenschaften aus an die Psychologie gestellt werden, und dass sie endlich viertens gar keine metaphysischen Voraussetzungen macht und darum an sich mit jeder metaphysischen Anschauung vereinbar ist. Auszunehmen sind hierbei nat\u00fcrlich solche Anschauungen, die selbst die Erfahrung negiren, indem sie z. B.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n23\nbehaupten, die Bewusstseinsvorg\u00e4nge seien nichts Wirkliches, sondern Tr\u00fcbungen und T\u00e4uschungen irgend einer metaphysisch zu construirenden Wirklichkeit.\n1. Der entscheidende Punkt in der hier vertretenen Auffassung der Psychologie liegt darin, dass sie die unmittelbare Erfahrung zu ihrem Gegenst\u00e4nde hat. Diese unmittelbare Erfahrung hat sie nicht, wie das z. B. die heutige Naturwissenschaft in Bezug auf die Empfindungen und Vorstellungen thut, als ein System von Zeichen zu betrachten, aus denen erst die reale Beschaffenheit der Objecte zu erschlie\u00dfen sei, sondern als das gegebene und als solches durch keinerlei Abstractionen oder hypothetische Begriffsbildungen zu ver\u00e4ndernde Substrat ihrer Untersuchung. Alle die Erfahrungsinhalte, die die Psychologie \u00fcberall als die vor ihr Forum geh\u00f6rigen ansieht, die Empfindungen, Vorstellungen, Gef\u00fchle u. s. w., sind unmittelbare Erfahrungsinhalte. Dass dieselben in solche zerfallen, die auf Erfahrungsobjecte, und in andere, die auf das erfahrende Subject selbst bezogen werden, ist ebenfalls eine der unmittelbaren Erfahrung angeh\u00f6rige Thatsache. Darum w\u00fcrde die Aufgabe der Psychologie zu eng bestimmt sein, wenn man ihr blo\u00df die subjective Erfahrung zuweisen wollte. Darin aber, dass sie alle Bestandtheile der unmittelbaren Erfahrung gleichzeitig umfasst, liegt an und f\u00fcr sich die Aufgabe, von den Beziehungen beider Fac-toren zu einander Rechenschaft abzulegen; und hiermit ist zugleich * gefordert, dass die Vorstellungen nicht ausschlie\u00dflich nach ihrer objectiven Beschaffenheit, sondern vorzugsweise sogar mit R\u00fccksicht auf ihre Entstehungsweise im Subjecte betrachtet werden.\nIhre Aufgabe einer Analyse der unmittelbaren Erfahrung bringt es nun mit sich, dass der Inhalt der Psychologie ein durchaus anschaulicher ist, wenn wir hierunter,. gem\u00e4\u00df der erweiterten Bedeutung des Wortes \u00bbAnschauung\u00ab in der neueren Philosophie, allgemein das concret Gegebene im Gegens\u00e4tze zu dem blo\u00df begrifflich Gedachten verstehen. Atome z. B. oder ein mathematischer Punkt sind begrifflich gedacht; aber ein geh\u00f6rter Ton,\n*\nein gesehener Gegenstand, ein erlebtes Gef\u00fchl sind concret gegeben, also in dem oben d\u00e9finir ten Sinne anschaulich1).\n1) Der Begriff der \u00bbAnschauung\u00ab in der urspr\u00fcnglichen Wortbedeutung, in","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nVV. Wundt.\n2. Als Wissenschaft von der \u00bbunmittelbaren Erfahrung\u00ab tritt die Psychologie erst in das richtige Yerh\u00e4ltniss zur Naturwissenschaft, wie es sich sowohl aus der Feststellung der systematischen Aufgabe der letzteren wie aus ihrer geschichtlichen Entwicklung ergibt. Die Aufgabe der Naturwissenschaft im allgemeinsten Sinne besteht n\u00e4mlich in der Erkenntniss der objectiven Wirklichkeit, d. h. der Objecte, wie sie nach Abstraction von den ihnen ausschlie\u00dflich durch die subjective Vorstellungsth\u00e4tigkeit des Beobachters heigelegten Eigenschaften als real existirend vorauszusetzen sind. In Folge dessen setzt die Naturwissenschaft die Objecte niemals so, wie sie unmittelbar gegeben sind, als wirklich voraus, sondern ihre Erkenntnissweise ist eine mittelbare und, insofern nach der Abstraction von gewissen Bestandteilen der unmittelbaren Erfahrung das zur\u00fcckbleibende Object nur noch begrifflich gedacht werden kann, eine begriffliche. Dazu kommt, dass jene Abstraction an der Stelle der durch sie aufgehobenen subjectiven Vorstellungselemente ein objectives Substrat fordert, welches, da es in keiner wirklichen Anschauung gegeben ist, einerseits nur hypothetisch und andererseits nur begrifflich construirt werden kann. Dies ist die eigentliche Quelle des Begriffs der Materie und aller der andern hypothetischen H\u00fclfsbegriffe, die in Anlehnung an denselben von der theoretischen Naturwissenschaft ausgebildet worden sind. Indem auf diese Weise die Naturwissenschaft den Inhalt der Erfahrung nach Abstraction von dem Subject analysirt, fordert sie aber als nothwendige Erg\u00e4nzung eine wissenschaftliche Betrachtung der Erfahrung, welche diese Abstraction wieder auf hebt, und welche demnach den objectiven Inhalt der Erfahrung in ihrem Zusammenhang mit dem Subject untersucht. Diese erg\u00e4nzende, auf solche Weise der Naturwissenschaft coordinirte Disciplin ist eben die Psychologie. Beide zusammen ersch\u00f6pfen erst den ganzen\nwelcher er sich ausschlie\u00dflich auf gesehene oder mindestens sinnlich wahrgenommene Objecte bezieht, wird \u00fcbrigens, trotz Kant, noch immer in der heutigen Philosophie gelegentlich angewandt. So meint z. B. Joh. Behmke in seiner \u00bbAllgemeinen Psychologie\u00ab (S. 10), im Gegensatz zu den obigen Ausf\u00fchrungen, die Aufgabe der Naturwissenschaften unterscheidet sich dadurch von derjenigen der Psychologie, dass \u00bbdas Seelenleben nichts anschaulich gegebenes\u00ab sei.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Definition der Psychologie.\n25\nInhalt der Erfahrung, nicht deshalb, weil jede von ihnen disparate Erfahrungsobjecte betrachtet, sondern weil beide die wechselseitig sich erg\u00e4nzenden Standpunkte repr\u00e4sentiren, welche die Wissenschaft thats\u00e4chlich der Erfahrung gegen\u00fcber einnimmt. Mit der Psychologie theilen \u00fcbrigens die s\u00e4mmtlichen Geisteswissenschaften, die deshalb auch als Anwendungsgebiete der Psychologie zu betrachten sind, diesen Standpunkt der unmittelbaren Erfahrung.\nIst hiernach die Scheidung der. Erfahrungswissenschaften in Naturwissenschaft und Psychologie oder allgemeiner ausgedr\u00fcckt in Natur- und Geisteswissenschaft in der urspr\u00fcnglichen Beschaffenheit aller Erfahrung vorgebildet, wonach Erfahrungsobjecte und ein erfahrendes Subject deren Factoren sind, so ist dabei aber der Irrthum fernzuhalten, als wenn von Anfang an eine logische Unterscheidung jener beiden Factoren existirte, und als wenn daher auch jene von der Naturwissenschaft ge\u00fcbte Abstraction von dem Subject ein urspr\u00fcngliches, auf fest gegebene Merkmale gegr\u00fcndetes Motiv der naturwissenschaftlichen Forschung w\u00e4re. Vielmehr ist selbstverst\u00e4ndlich eine logische Begriffsbestimmung dessen, was als Object und was als Subject zu denken sei, erst auf Grund der naturwissenschaftlichen und der psychologischen Untersuchung zugleich m\u00f6glich. Zur Scheidung beider Untersuchungsgebiete bedarf es aber auch nicht einer solchen Begriffsbestimmung, sondern es gen\u00fcgt dazu lediglich das bereits in der fr\u00fchesten Reflexion \u00fcber die Erfahrung enthaltene Bewusstsein, dass durch sie Objecte einem Subjecte gegeben werden. Weder verbindet sich aber dieses Bewusstsein mit einer Kenntniss der Bedingungen noch mit einer solchen der Merkmale, auf denen jene Unterscheidung beruht, so dass die Ausdr\u00fccke \u00bbObject\u00ab und \u00bbSubject\u00ab, angewandt auf diese erste Differenzirung der wissenschaftlichen Erkenntniss, als B\u00fcck \u00dcbertragungen von Begriffsunterschieden, die einer bereits ausgebildeten logischen Reflexion angeh\u00f6ren, auf die Stufe der urspr\u00fcnglichen Erfahrung anzusehen sind. Aehnlich verh\u00e4lt es sich mit der von der Naturwissenschaft ge\u00fcbten Abstraction von dem Subject. Nicht diese Abstraction, sondern lediglich die Erkenntniss der Objecte in ihrer realen Beschaffenheit ist das urspr\u00fcngliche Ziel der naturwissenschaftlichen Forschung. Dass sie auf dem Wege zu diesem Ziel von dem Subject und einer Menge urspr\u00fcnglich als objectiv","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nW. Wunde.\nangenommener Elemente, weil sie sich als subjective herausstellen, abstrahiren muss, ist ein Ergebniss der Untersuchung, das sich die Forschung erst nach einem langen Kampf mit Vorurtheilen und Irrth\u00fcmern zu eigen macht, und das sie daher verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig sp\u00e4t erst jeder weiteren Untersuchung als Postulat entgegenbringt.\nSchlie\u00dflich sei noch hervorgehohen, dass sich diese Abstraction von dem Subject, wie sie f\u00fcr den naturwissenschaftlichen Standpunkt logisch gefordert und geschichtlich nachzuweisen ist, selbstverst\u00e4ndlich \u00fcberall nur auf diejenigen Factoren der Erfahrung bezieht, die im psychologischen Sinn suhjectiv sind, dass aber von den Erkenntnissfunctionen und, insofern als Tr\u00e4ger derselben das erkennende Subject betrachtet wird, demnach in diesem Sinne auch von dem Subject nie und nirgends abstrahirt werden kann. Aber da dieses erkennende Subject dasselbe ist hei der unmittelbaren wie bei der mittelbaren Erfahrung, da sich also in der Aus\u00fcbung seiner Function hier und dort keinerlei Unterschiede darhieten, so kann in Bezug auf dasselbe \u00fcberhaupt von einer Abstraction nicht die Rede sein. Es au\u00dfer Betracht lassen, hie\u00dfe sich der Erkenntnissfunctionen \u00fcberhaupt enthalten, womit die Objecte so gut wie das Subject seihst verschwinden w\u00fcrden.\n3. Dass die Psychologie, wenn sie in dem oben festgestellten Sinne als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung behandelt wird, selbst\u00e4ndige Probleme zu l\u00f6sen hat, durch die sie zugleich in dem Zusammenhang der Erfahrungswissenschaften eine nicht zu ersetzende Stelle ausf\u00fcllt, bedarf kaum noch der n\u00e4heren Ausf\u00fchrung. Am einleuchtendsten wird dies, wenn man diejenigen Gebiete ins Auge fasst, die, sofern man \u00fcberhaupt eine wissenschaftliche Begr\u00fcndung f\u00fcr sie verlangt, nur als Anwendungsgebiete der Psychologie betrachtet werden k\u00f6nnen, und die wir, um diese Beziehung zur Psychologie anzudeuten, unter dem Gesammtnamen der \u00bbGeisteswissenschaften\u00ab zusammenfassen. Manche Vertreter der vorhin an erster Stelle er\u00f6rterten Definition der Psychologie haben, vielleicht in dem Bewusstsein, dass die Existenz eines Zusammenhangs dieser Gebiete an und f\u00fcr sich schon ein Zeugniss wider jene Definition seihst ist, die Berechtigung dieses Gattungsbegriffs bestritten. Ein \u00bbad\u00e4quater Gegensatz zur Naturphilosophie\u00ab","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n27\nsei nicht herzustellen, es habe die \u00bbAesthetik z. B. in gewisser Hinsicht auch sogen. Naturvorg\u00e4nge mit zu ber\u00fccksichtigen\u00ab, und \u00bbder objectiven Bedeutung des Hechtes, der Kunst, der Religion und der geschichtlichen Thatsachen\u00ab werde man schwerlich gerecht, \u00bbwenn man sie lediglich unter dem Gesichtspunkt geistiger Erzeugnisse w\u00fcrdigt\u00ab1). Als ob das \u00fcberhaupt Jemand versucht oder mit der Bezeichnung \u00bbGeisteswissenschaften\u00ab gemeint h\u00e4tte! Das Argument wurzelt augenscheinlich wieder in dem der dogmatischen Metaphysik eigent\u00fcmlichen Gedanken: so viel Classen von Gegenst\u00e4nden, so viel Wissenschaften. Weil es \u00bbreine Geister\u00ab nicht gibt, so soll es auch keine Geisteswissenschaften geben. Dabei verkennt man v\u00f6llig, dass es in erster Linie nicht die Verschiedenheit der Objecte, sondern der verschiedene Standpunkt der Betrachtung der Thatsachen ist, der die Theilung der Wissenschaften bestimmt hat. Besch\u00e4ftigen sich denn Physik und Chemie mit verschiedenen Naturgegenst\u00e4nden? Und sind nicht die Gegenst\u00e4nde der Physiologie nebenbei auch physikalische und chemische K\u00f6rper? Das was Philologie, Geschichte, Jurisprudenz u. s. w. verbindet, ist, neben andern Merkmalen, die ich hier nicht noch einmal weitl\u00e4ufig er\u00f6rtern will2), die ihnen allen gemeinsame psychologische Interpretation; und diese ist wieder gemeinsam, weil alle diese Gebiete gleich der Psychologie die unmittelbare Erfahrung, nicht wie die Naturwissenschaft die Erfahrung nach Abstraction von dem Subject zu ihrem Inhalte haben. In der That w\u00e4re es auch sehr interessant zu sehen, wie es eine die Psychologie principiell auf Gehirnphysiologie reducirende Behandlungs-weise anfangen wollte, den einzelnen Geisteswissenschaften irgend welche Dienste zu leisten. Nichts charakterisirt daher mehr die Unfruchtbarkeit dieser Richtung als der Umstand, dass sie da, wo man ihrer bedarf, nichts leisten kann, und dass man sie da nicht bedarf, wo sie etwas leisten will. Damit man sich das erstere nicht eingestehen m\u00fcsse, soll dann lieber der Zusammenhang der Geisteswissenschaften \u00fcberhaupt nicht existiren. Um \u00fcber das zweite hinwegzut\u00e4uschen, wird die Psychologie zwar im Princip als eine\n1)\tK\u00fclpe, Einleitung in die Philosophie, S. 70f.\n2)\tVergl. meine Logik, II2, 2, S. 16 ff.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nW. Wundt.\nangewandte Gehirnphysiologie proclamirt, im einzelnen l\u00e4sst man aber die alten psychologischen Begriffe, Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Interesse u. s. w., ihres Amtes walten, \u2014 nat\u00fcrlich ohne sie psychologisch zu analysiren, da ja die ganze erkl\u00e4rende Aufgabe der Psychologie in Bezug auf die Verbindungen der psychischen Erfahrungsinhalte angeblich der Physiologie obliegt.\nDie Psychologie als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung ist aber nicht blo\u00df die gegebene Grundlage der Geisteswissenschaften, weil sie, nicht die Naturwissenschaft, denjenigen Standpunkt der Betrachtung der Erfahrung gegen\u00fcber einnimmt, der den Geisteswissenschaften \u00fcberhaupt eigenth\u00fcmlich ist, sondern sie bietet auch der Physiologie gerade in den Gebieten, in denen diese sich mit der Psychologie ber\u00fchrt, g\u00fcnstigere Chancen als der auf eine unklare Verquickung heterogener Standpunkte ausgehende \u00bbpsycho-physische Materialismus\u00ab. Eine Physiologie der Gehirnfunctionen ist ein wirkliches Desiderat; und einer physiologischen Theorie der centralen Processe kann heute schon vorgearbeitet werden, so l\u00fcckenhaft auch unsere Kenntnisse auf diesem Gebiete noch sind. Aber eine solche Theorie fordert zweierlei : erstens ein strenges Festhalten des physiologischen Standpunktes der Betrachtung, und zweitens die zureichende Vorarbeit von Seiten der Psychologie, so weit diese der Physiologie Probleme zu stellen oder Gesichtspunkte zu er\u00f6ffnen hat. Beides wird von der materialistischen Psychologie verabs\u00e4umt. Da ihr die Erkenntniss der Eigenartigkeit des psychologischen Erfahrungsstandpunktes mangelt, so schwankt sie in unertr\u00e4glicher Weise zwischen physiologischer und psychologischer Betrachtung; und da ihr die wirklichen Probleme der Psychologie abhanden gekommen sind, so vermag sie auch der Physiologie keine wirklichen Dienste zu leisten.\n4. Betrachten wir es als die Aufgabe der Psychologie, die unmittelbare Erfahrung in ihrer Entstehung und in den wirklich gegebenen Wechselbeziehungen ihrer Bestandtheile zu analysiren,' so ist das nun eine so eminent empirische Aufgabe, dass man sogar im Vergleich mit der Naturwissenschaft die Psychologie die strenger empirische Wissenschaft nennen muss. Eben darum, weil die Naturwissenschaft von einer fundamentalen Abstraction ausgeht, ist sie ja zur Einf\u00fchrung hypothetischer H\u00fclfsbegriffe gen\u00f6thigt, die, wie","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Deber die Definition der Psychologie.\n29\nvor allem der Begriff der Materie, einen metaphysischen Charakter besitzen. Als rein empirische Wissenschaft l\u00e4sst aber die Psychologie, wie es sich geb\u00fchrt, und wie es richtig verstanden auch die Naturwissenschaft thut, philosophischen Weltanschauungen freien Spielraum. Beide machen in dieser Beziehung nur die eine Ausnahme, dass sie metaphysische Systeme, die mit der Erfahrung im Widerspruch stehen, zur\u00fcckweisen.\nY.\nDie Richtigkeit einer Grundanschauung kann sich \u00fcberall erst in ihren Anwendungen bew\u00e4hren. Da hier nicht der Ort ist, auf solche Anwendungen im Einzelnen einzugehen, so mag wenigstens an einigen \u00bbPrincipien\u00ab, die gewisse allgemeine Eigenschaften der psychologischen Erfahrung zusammenfassen, gezeigt werden, dass die rein empirische Begriffsbestimmung, die oben von der Psychologie gegeben wurde, manche Schwierigkeiten auf leichterem und nat\u00fcrlicherem Wege l\u00f6st, als es einem der metaphysischen Standpunkte m\u00f6glich ist. Es wird mir dies zugleich Gelegenheit geben, auf Missverst\u00e4ndnisse aufmerksam zu machen, denen jene Principien theilweise begegnet sind. Zu diesem Zweck werde ich im folgenden 1) das Princip des psycho-physischen Parallelismus in den drei Bedeutungen, die ihm je nach dem eingenommenen psychologischen Standpunkte zukommen k\u00f6nnen, 2) das Princip der Actualit\u00e4t des psychischen Geschehens oder die \u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab, und endlich 3) den sogenannten \u00bbVoluntarismus\u00ab besprechen.\nA. Die drei Auffassungen des psychophysischen Parallelismus.\nDas Princip des psycho-physischen Parallelismus hat eine wesentlich verschiedene Bedeutung, je nachdem es im Lichte irgend einer der \u00e4lteren metaphysischen Doctrinen oder in dem des ^podernen \u00bbpsycho-physischen Materialismus\u00ab oder endlich in dem der Behandlung der Psychologie als einer \u00bbWissenschaft der unmittelbaren Erfahrung\u00ab betrachtet wird.\n_\tin der \u00e4lteren Metaphysik der \u00bbpsycho-physische\narallelismus\u00ab in Frage kommt, da spielt er nicht die Rolle eines","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nW. Wundt,\nPrincips, sondern die eines metaphysischen Problems. Dieses Problem, in der dogmatischen Philosophie als das der \u00bbWechselwirkung von Leib und Seele\u00ab bekannt, wird durch jedes metaphysische System in seiner besonderen Weise gel\u00f6st, wobei zum Behuf dieser L\u00f6sung der Parallelismus selbst entweder als ein universeller, die Totalit\u00e4t der Dinge umfassender, oder als ein partieller aufgefasst wird, der sich nur so weit erstreckt, als in der Erfahrung physische Ver\u00e4nderungen, denen psychische parallel gehen, nachzuweisen sind. Dabei pflegt sich dann der universelle Parallelismus, wie z. B. in dem System Spinoza\u2019s, selbst schon f\u00fcr eine L\u00f6sung des Problems zu halten, das in dem empirisch vorhandenen partiellen Parallelismus aufgegeben ist. Hier k\u00f6nnen jedoch die Vertreter des letzteren mit Recht einwenden, dass unter dem empirischen Gesichtspunkte zur Annahme eines universellen Parallelismus \u00fcberhaupt kein Anlass vorliege, und dass unter dem metaphysischen die Verallgemeinerung eines Problems nicht mit einer L\u00f6sung desselben identisch sei. Demgem\u00e4\u00df bem\u00fchen sie sich dann, Jeder von seinem besonderen metaphysischen Standpunkte aus, eine solche L\u00f6sung zu finden. Da aber alle diese L\u00f6sungen weder auf die besonderen Bedingungen der physiologischen und der psychologischen Erfahrung R\u00fccksicht nehmen, noch \u00fcberhaupt die Absicht haben, der empirischen Interpretation der \u00bbBewusstseinsvorg\u00e4nge\u00ab irgend welche Dienste zu leisten, vielmehr von Anfang an nur einen transcendenten metaphysischen Zweck verfolgen, so liegen sie au\u00dferhalb des Gesichtskreises unserer gegenw\u00e4rtigen Betrachtung.\n2. Eine wesentlich andere, f\u00fcr die Psychologie selbst fundamentale Bedeutung gewinnt unser Princip auf dem Standpunkt des \u00bbpsycho-physischen Materialismus\u00ab, wie er in der ersten der oben (S. 11) gegebenen Definitionen gekennzeichnet ist. F\u00fcr ihn ist der Parallelismus nicht blo\u00df ein Grundprincip, sondern das Grundprincip der Psychologie, das einzige, \u00fcber das sie \u00fcberhaupt verf\u00fcgt. W\u00e4hrend n\u00e4mlich nach dieser Auffassung alle psychische Causalit\u00e4t auf physischer Seite liegt, wird zugleich zugestanden, dass die physischen Gesetze nicht gen\u00fcgen, um die psychischen Elemente, die Empfindungen (nach Manchen auch die elementaren","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n31\nGef\u00fchle Lust und Unlust) abzuleiten. Dagegen sollen diese Elemente nach dem Princip des psycho-physischen Parallelismus zu bestimmten physischen Elementarvorg\u00e4ngen in regelm\u00e4\u00dfiger Beziehung stehen. Hieraus erhellt, dass hier das Parallelprincip \u00fcberhaupt als das einzige Erkl\u00e4rungsprincip der Psychologie gilt.\nMit dem, was diesem Princip hier zugemuthet wird, steht nun die D\u00fcrftigkeit seiner Begr\u00fcndung und die D\u00fcrftigkeit seiner Leistung au\u00dfer allem Verh\u00e4ltnis. Die Begr\u00fcndung pflegt n\u00e4mlich in einer allgemeinen Berufung auf den Begriff der Function zu bestehen. Wenn bestimmten physischen bestimmte psychische Vorg\u00e4nge regelm\u00e4\u00dfig zugeordnet sind, so k\u00f6nnen, so behauptet man, die letzteren durchaus in der von der Mathematik und Physik diesem Begriff beigelegten Bedeutung als die Functionen der ersteren betrachtet werden. Nun kommt der Begriff der \u00bbFunction\u00ab in der Mathematik und mathematischen Physik in einer doppelten logischen Bedeutung vor. In der ersten und urspr\u00fcnglicheren, in der er eigentlich allein der strengen Bedeutung des Begriffs entspricht, sind Argument und Function derart von einander abh\u00e4ngige Gr\u00f6\u00dfen oder Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen, dass die mit einer gegebenen Ver\u00e4nderung eines Argumentes eintretende Ver\u00e4nderung der Function eine logisch geforderte ist, d. h. aus bestimmten f\u00fcr die betreffenden Gr\u00f6\u00dfengebiete g\u00fcltigen Principien a priori abgeleitet werden kann. In der zweiten, sp\u00e4ter entstandenen und im allgemeinen nur aushilfsweise gebrauchten Bedeutung sind Argument und Function einander zugeordnete Gr\u00f6\u00dfen, deren logische oder causale Beziehung vollkommen dahingestellt bleibt und daher auch aus irgend welchen Principien nicht abgeleitet werden kann. Nun ist es einleuchtend, dass, wer den \u00bbpsycho-physischen Parallelismus\u00ab zum fundamentalen Erkl\u00e4rungsgrund der Psychologie erhebt, dabei nur eine Function der zweiten Art im Auge haben kann, d. h. dass er nicht logische oder causale Beziehung, sondern blo\u00df \u00e4u\u00dfere Coexistenz oder Folge zum Princip der psychologischen Erkl\u00e4rung macht. In der That besteht, vom Gesichtspunkt des Functionsbegriffs aus betrachtet, der charakteristische Unterschied zwischen dem reinen und dem psychophysischen Materialismus darin, dass der erstere das Verh\u00e4ltniss des Physischen zum Psychischen als Function erster Art oder als causale Function, der letztere aber blo\u00df als Function zweiter Art oder als","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nVV. Wundt.\n\u00bbwillk\u00fcrliche\u00ab Function auffasst. In der That wird auch von den Anh\u00e4ngern dieser Anschauung meist ausdr\u00fccklich hervorgehoben, zwischen Physischem und Psychischem bestehe zwar \u00bbAbh\u00e4ngigkeit\u00ab, aber keine Causalit\u00e4t *).\t\u00bb\nHierbei ist jedoch zu beachten, dass in diesem Fall die \u00e4u\u00dfere (Koexistenz nicht einmal, wie es hei den naturwissenschaftlichen Anwendungen des willk\u00fcrlichen FunctionsbegrifFs der Fall zu sein pflegt, als provisorischer Ersatz f\u00fcr eine noch aufzufindende eigentliche Functionsbeziehung angesehen werden kann, weil Argument und Function erstens v\u00f6llig unvergleichbaren Gro\u00df engebieten angeh\u00f6ren, und weil sie zweitens nicht eindeutig und nicht einmal mehrdeutig, sondern im allgemeinen unendlich vieldeutig einander zugeordnet sind. Die erste dieser Eigenschaften, die Unvergleichbarkeit der Gr\u00f6\u00dfen, entspringt daraus, dass es verschiedene Seiten des allgemeinen Inhaltes der Erfahrung sind, welche einerseits der naturwissenschaftlichen und anderseits der psychologischen Betrachtung anheimfallen. Indem die erstere von dem Subject, seinen Gef\u00fchlen, Willensmotiven u. s. w. ahstrahirt, abstrahirt sie nothwendig auch von allen Werth- und Zweckbestimmungen. Bei der Vergleichung physischer Gr\u00f6\u00dfen bleiben daher diese in den besonderen qualitativen Eigenschaften der Erfahrungsinhalte begr\u00fcndeten Bestimmungen au\u00dfer Betracht. Indem dagegen auf der andern Seite die Psychologie die ganze unmittelbare Erfahrung zu ihrem Inhalte hat, sind es gerade in erster Linie die in den qualitativen Eigenschaften der Erfahrungsinhalte begr\u00fcndete Werth- und Zweckbestimmung, die f\u00fcr sie bei der Anwendung des Gr\u00f6\u00dfenbegriffs ma\u00dfgebend werden. Darum bemisst sich f\u00fcr uns der Werth einer physischen Gr\u00f6\u00dfe, z. B. einer Kraft oder eines Energievorrathes, im allgemeinen nur nach der Gr\u00f6\u00dfe, und umgekehrt die Gr\u00f6\u00dfe eines geistigen Werthes, z. B. eines Kunstwerkes, mindestens in erster Linie nach seinem qualitativen Werth, d. h. nach seinen Gef\u00fchls- und Zweckinhalten1 2). Hieraus erhellt von selbst, dass von Functionsbeziehungen zwischen\n1)\tM\u00fcnsterberg, Aufgaben und Methoden der Psychologie, S. 114 f.; K-\u00fclpe, Einleitung in die Philosophie, S. 134 f.\n2)\tN\u00e4heres hier\u00fcber vergl. in meiner Logik II2, 2, S. 275 ff.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n33\nphysischen und psychischen Gr\u00f6\u00dfen, sofern man dabei den Ge-sammtinhalt des psychischen Geschehens im Auge hat, \u00fcberhaupt nicht die Bede sein kann, weil eben jene Beziehungen im allgemeinen nicht eindeutig und nicht einmal begrenzt mehrdeutig, sondern, mathematisch gesprochen, \u00bbunendlich vieldeutig\u00ab sind. Der Begriff einer unendlich vieldeutigen Function ist aber nur ein anderer Ausdruck daf\u00fcr, dass der Begriff der Function \u00fcberhaupt unanwendbar ist, weil eine irgendwie regelm\u00e4\u00dfige, also entweder eindeutige oder mindestens begrenzt mehrdeutige Zuordnung der abh\u00e4ngigen Gr\u00f6\u00dfen die nothwendige Voraussetzung dieses Begriffs ist. Diese allgemeine Unanwendbarkeit schlie\u00dft aber nicht aus, dass sich in jenen einfachsten F\u00e4llen, in denen die qualitativen Werth- und Zweckbestimmungen zur\u00fccktreten, ann\u00e4hernd eindeutige Beziehungen zwischen physischen und psychischen Gr\u00f6\u00dfen heraussteilen k\u00f6nnen. Ein solcher Fall ist z. B. hei den einfachsten Beziehungen zwischen Empfindungen und Beizen oder auch zwischen gewissen relativ einfachen Vorstellungsgebilden und ihren physiologischen Vorbedingungen verwirklicht. Augenscheinlich ist daher der Versuch, den \u00bbpsycho-physischen Parallelismus\u00ab zum einzigen Grundprincip der Psychologie zu machen, aus der Betrachtung dieser einfachen F\u00e4lle hervorgegangen. Aber abgesehen davon, dass selbst hier f\u00fcr das psychologische Verst\u00e4ndniss der That-sachen durch die psycho-physische Interpretation nichts geleistet wird, ist es ein handgreiflicher logischer Fehler, gerade diejenigen Beziehungen, in denen der specifische Charakter des Psychischen m\u00f6glichst zur\u00fccktritt, zu Schl\u00fcssen auf die allgemeing\u00fcltigen Eigenschaften des letzteren zu benutzen. In diesem Schluss offenhart sich wiederum der Grundirrthum dieses Standpunktes: der Naturwissenschaft die Erkl\u00e4rung solcher Bestandtheile der Erfahrung aufzub\u00fcrden, von denen jene selbst grunds\u00e4tzlich abstrahirt hat. Dies Unternehmen ist von Hause aus absurd, und es ist daher selbstverst\u00e4ndlich, dass es zu einem brauchbaren Princip der Untersuchung nicht f\u00fchren kann.\n3. Anders ist die Stellung, die dem Princip des psycho-physischen Parallelismus dann einger\u00e4umt wird, wenn man von derjenigen empirischen Aufgabe ausgeht, die der Psychologie verm\u00f6ge der\nWundt, Philos. Studien. XII.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nW. Wundt.\nlogisch wie geschichtlich wohl begr\u00fcndeten Arbeitstheilung zwischen ihr und der Naturwissenschaft zugefallen ist. Hat die Psychologie die unmittelbare Erfahrung zu ihrem Gegenst\u00e4nde, so kann sie auch ihre eigentlichen Erkl\u00e4rungsprincipien nur in dieser Erfahrung selbst finden. Sie hat daher zun\u00e4chst und vor allen Dingen Psychisches aus Psychischem, nicht Psychisches aus Physischem zu interpretiren. Wo aber der Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge L\u00fccken aufweist, da berechtigt gerade das wechselseitig sich erg\u00e4nzende Verh\u00e4ltniss, in welchem Naturwissenschaft und Psychologie in der Bearbeitung der Erfahrung zu einander stehen, nachzuforschen, ob die physiologische Erfahrung Thatsachen darbiete, die jene L\u00fccken zwar nicht direct und auf dem Wege unmittelbarer, anschaulicher Erfahrung, was unm\u00f6glich ist, aber indirect, durch Interpolation von Gliedern, die der mittelbaren, begrifflichen Form der Erfahrung angeh\u00f6ren, erg\u00e4nzen. Dabei ist freilich zu beachten, dass eine solche physiologische Interpolation ebenso wenig eine eigentliche, d. h. psychologische Erkl\u00e4rung des Zusammenhangs der unmittelbaren Erfahrungsinhalte ist, wie etwa umgekehrt die Nachweisung der subjectiven Eigenschaften der Lichtempfindungen an sich selbst schon zu einer Erkenntniss der physiologischen Processe der Netzhaut- und Opticuserregung verhelfen kann.\nAuf diese Weise ist der psycho-physische Parallelismus \u00fcberhaupt kein Grundprincip der Psychologie, sondern seinem eigensten Charakter nach ein blo\u00dfes H\u00fclfsprincip, durch welches physiologische Erkenntnisse der Psychologie, ebenso aber auch umgekehrt psychologische der Physiologie innerhalb der durch die Verschiedenheit der Betrachtung gezogenen Grenzen dienstbar gemacht werden k\u00f6nnen. Letzteres geschieht ja in der That in weitem Umfang in der Physiologie der Sinnesempfindungen, und auch f\u00fcr die Gehirnphysiologie wird die Psychologie wohl noch mehr leisten als bis jetzt geschehen, wenn sie sich erst auf ihrem eigenen Boden eine gesicherte Grundlage erworben hat, und wenn es die Gehirnphysiologen nicht mehr f\u00fcr zureichend halten, sich mit den zuf\u00e4llig aufgerafften Begriffen der Vulg\u00e4rpsychologie zu behelfen. F\u00fcr die Psychologie selbst besteht der Hauptgewinn jenes H\u00fclfsprincips aber darin, dass damit dem v\u00f6llig unwissenschaftlichen, h\u00f6chstens f\u00fcr die Constructionen einer mystischen Metaphysik brauchbaren Begriff des","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n35\n\u00bbUnbewussten\u00ab ein f\u00fcr alle mal die Wege gewiesen sind. Da das \u00bbUnbewusste\u00ab nicht der unmittelbaren Erfahrung angeh\u00f6rt, so kann es auch kein Gregenstand der Psychologie sein. Insoweit gegebene psychische Erfahrungsinhalte auf fr\u00fchere hinweisen, mit denen sie nicht continuirlich Zusammenh\u00e4ngen, bleibt f\u00fcr die psychologische Seite der Betrachtung nur der unbestimmte Begriff der Disposition \u00fcbrig, der eben nichts als diesen psychologisch allein gegebeneh Einfluss fr\u00fcherer auf sp\u00e4tere Vorg\u00e4nge enth\u00e4lt. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass die physiologische Beobachtung Erscheinungen darbiete, welche als physische Dispositionen, die bestimmten psychischen parallel gehen, gedeutet werden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend sie zugleich verm\u00f6ge des mittelbaren Charakters der naturwissenschaftlichen Erfahrung auf bestimmte materielle Ver\u00e4nderungen zur\u00fcckzuf\u00fchren sind.\nSo hoch nun auch das Parallelprincip um deswillen gesch\u00e4tzt werden mag, weil mit H\u00fclfe desselben das Unbewusste in die Physiologie und damit dahin verwiesen worden ist, wo es allein wissenschaftlich n\u00e4her definirt werden kann, so bew\u00e4hrt es sich doch auch hierin f\u00fcr die Psychologie als ein relativ untergeordnetes H\u00fclfsprincip. Denn in dem Zusammenhang der unmittelbaren Erfahrung und ihrer Interpretation spielt dasselbe eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig geringe Rolle, und f\u00fcr die Erkenntniss des eigensten Zusammenhangs der psychischen Erfahrungen, insbesondere aber ihrer Werth- und Zweckinhalte, kann die Kenntniss des physiologischen Substrates der Dispositionen nicht wesentlich weiter helfen als der allgemeine Begriff der Dispositionen selbst.\nIst das Princip des psycho-physischen Parallelismus unmittelbar gefordert durch die Art, wie Naturwissenschaft und Psychologie in die Untersuchung einer und derselben Erfahrung sich theilen, so bleibt es ferner selbstverst\u00e4ndlich zugleich eingeschr\u00e4nkt auf die Thatsachen, die empirisch jenem Parallelismus sich unterordnen. In dieser Beziehung scheidet sich daher das richtig verstandene Parallelprincip ebensowohl von dem universellen Parallelismus der ontologischen Metaphysik, wie von der die eigentliche Grundlage des Prmcips, die in den sich erg\u00e4nzenden Betrachtungsweisen der Naturwissenschaft und der Psychologie besteht, v\u00f6llig verkennenden Denkweise des psycho-physischen Materialismus. Insoweit das Princip\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nW. Wundt.\n\u00fcberhaupt ein metaphysisches Problem enth\u00e4lt, l\u00e4sst aber nat\u00fcrlich die psychologische so gut wie die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise dasselbe bestehen. Nur das eine ist hier f\u00fcr die philosophische Behandlung dieses Problems von vornherein ma\u00dfgebend, dass der psycho-physische Parallelismus nothwendig auf die n\u00e4mlichen allgemeinen Bedingungen zur\u00fcckf\u00fchrt, aus denen die Unterscheidung der Erfahrungsobjecte und des erfahrenden Subjects hervorgeht.\nB. Die Actualit\u00e4tstheorie.\nDas Princip der \u00bbActualit\u00e4t des Geschehens\u00ab will zun\u00e4chst nicht eine Voraussetzung ausdr\u00fccken, die der Interpretation der psychischen Vorg\u00e4nge zu Grunde zu legen sei, sondern eine thats\u00e4ch-liche Eigenschaft, die diesen zukommt. Demjenigen, der diese Eigenschaft leugnen wollte, der also behauptete, unsere Vorstellungen z. B. seien nicht Vorstellungsacte, die einen bestimmten Verlauf haben, sondern Objecte mit bleibenden Eigenschaften, dem lie\u00dfe sich nat\u00fcrlich nicht das Gegentheil beweisen. Sobald man aber die Thatsache zugesteht, was, wie ich meine, Jeder thun muss, der \u00fcberhaupt einmal auf sie aufmerksam gemacht worden ist, so hat der Ausdruck \u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab nur noch darin seine Berechtigung, dass er zugleich einen Gegensatz gegen die Substantialit\u00e4ts-; theorie ausdr\u00fcckt. Der eigentliche Gegensatz beider ist jedoch der, dass in Wahrheit nur die Substantialit\u00e4tstheorie eine Theorie, d. h. eine Hypothese und ein Versuch der Ableitung der empirischen Thatsachen aus dieser Hypothese ist, w\u00e4hrend die \u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab nur den Grundsatz zur Geltung bringt, dass die Psychologie die ihr gegebenen Thatsachen der Erfahrung aus deren eigenem Zusammenhang unter Verzicht auf jede metaphysische Hypothese zu interpretiren habe. Dieser Grundsatz ist aber wiederum von selbst gegeben, sobald man nach der oben gegebenen Begriffsbestimmung in der Untersuchung des unmittelbaren Inhaltes der Erfahrung die Aufgabe der Psychologie sieht.\nDiese Gesichtspunkte sind nun auch f\u00fcr die Beurtheilung der gegen die Actualit\u00e4tstheorie vorgebrachten Einw\u00e4nde ma\u00dfgebend. Wenn ich bei der Er\u00f6rterung dieser Einw\u00e4nde an bestimmte einzelne gegen mich gerichtete Ausf\u00fchrungen ankn\u00fcpfe, so geschieht","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n37\ndies \u00fcbrigens nicht sowohl, um meinerseits fremde Standpunkte zu bek\u00e4mpfen, als deshalb, weil jene Ausf\u00fchrungen eine dankenswerthe Gelegenheit bieten, Missdeutungen aufzukl\u00e4ren, die, wie ich wohl annehmen darf, auch sonst noch die von mir vertretenen psychologischen Anschauungen erfahren haben.\n1. Die Actualit\u00e4tstheorie macht sich, wie man behauptet, einer \u00bbUebertreibung\u00ab schuldig, indem sie das Psychische als ein immerw\u00e4hrendes Geschehen schildere, w\u00e4hrend doch hier, ebenso wie in der \u00e4u\u00dferen Wahrnehmung, relativ beharrendere von verg\u00e4nglicheren Erscheinungen zu unterscheiden seien1). Nun ist gewiss zuzugeben, dass der Ablauf der psychischen Vorg\u00e4nge mannigfache Unterschiede der Geschwindigkeit zeigt, und dass also gewisse Vorg\u00e4nge relativ dauernder sind als andere. Entweder hat aber ein bestimmter Erfahrungsinhalt \u00fcberhaupt den Charakter eines zeitlich verlaufenden ver\u00e4nderlichen Vorgangs, oder er hat ihn nicht. Wenn das erstere der Fall ist, so kann die noch so energische Hervorhebung, dass dies so sei, keine Uebertreibung genannt werden. Dies lie\u00dfe sich nur etwa dann sagen, wenn den psychischen Vorg\u00e4ngen eine fabelhafte Geschwindigkeit und Verg\u00e4nglichkeit zugeschrieben w\u00fcrde. Dem gegen\u00fcber darf ich wohl bemerken, dass ich selbst mich in meinen Annahmen \u00fcber den zeitlichen Verlauf und die Ver\u00e4nderlichkeit der psychischen Vorg\u00e4nge stets an die Daten der Erfahrung gehalten habe und in diesem Sinne theils ' manchen fr\u00fcher verbreiteten falschen Annahmen \u00fcber eine enorme \u00bbGedankengeschwindigkeit\u00ab entgegengetreten bin2), theils aber auch allerdings die Unhaltbarkeit\n1)\tAllenVann\u00e9rus, Archiv f. systematische Philosophie, II, S. 379 f. ,\n2)\tVergl. Vorlesungen \u00fcber die Menschen- und Thierseele 2 S. 304. Im Gegens\u00e4tze zu dem oben erw\u00e4hnten Vorwurf der Uebertreibung ist mir von einer anderen gegnerischen Seite brieflich eingewendet worden, wenn die \u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab und der \u00bbVoluntarismus\u00ab, wie ich sie verstehe, die Eigenschaft der psychischen Vorg\u00e4nge, Ereignisse, nicht Objecte zu sein betonen, so sei dies eine Anschauung, die sich auch mit ganz anderen Standpunkten, z. B. mit der Theorie Herbart\u2019s, vereinigen lie\u00dfe. Nun verschwindet nach Herbart eine einmal entstandene Vorstellung nicht wieder aus der Seele; sie kann durch die Hemmungen, die sie erf\u00e4hrt, unter die Schwelle des Bewusstseins sinken, in verminderter St\u00e4rke und Klarheit auftreten u. s. w., aber qualitativ bleibt sie unver\u00e4nderlich, ebenso wie ja auch nach der \u00bbAssociationspsychologie\u00ab eine \u00bbrepro-ducirte\u00ab Vorstellung der urspr\u00fcnglichen gleich, nur schw\u00e4cher als sie sein soll.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nW. Wundt.\nder Annahme einer ding\u00e4hnlichen Constanz der Vorstellungen betont habe * 1 2 3 4).\n2. Ein \u00bbbeharrender Tr\u00e4ger\u00ab des Zusammenhangs der psychischen Vorg\u00e4nge oder mindestens eine \u00bbreale Einheit\u00ab derselben2) sei logisch unentbehrlich. Die \u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab verfalle daher unvermeidlich dem Widerspruch, stillschweigend selbst einen solchen Tr\u00e4ger oder eine solche reale Einheit vorauszusetzen. Denn es werde von ihr das \u00bbdenkende Subject\u00ab als eine solche reale Einheit angenommen 3), oder es werde gar eine \u00bbVielheit von Acten als Tr\u00e4ger jedes einzelnen gedacht\u00ab, wobei unbegreiflich bleibe, wie \u00bbdie mannigfaltigen gleichzeitigen psychischen Vorg\u00e4nge, die ja nur eine Vermehrung dessen darstellen, was schon in jedem einzelnen enthalten ist\u00ab, durch eine ihnen zugewiesene \u00bbEinheitsfunction\u00ab bef\u00e4higt werden sollten, \u00bbjeden einzelnen Zustand auf diese Gesammt-heit beziehen zu lassen\u00ab4).\nDem gegen\u00fcber behauptet nun die Actualit\u00e4tstheorie, eine einmal dagewesene Vorstellung sei ein Ereigniss, das nicht blo\u00df intensiv, sondern auch qualitativ und in Bezug auf seine elementare Zusammensetzung nie als dasselbe wiederkehre, und der \u00bbVoluntarismus\u00ab f\u00fcgt hinzu, die concrete Willenshandlung k\u00f6nne in dieser Beziehung als typisches Vorbild jedes psychischen Vorgangs betrachtet werden. Wenn diese Auffassung mit Herbart\u2019s Theorie vereinbar sein soll, dann muss ich bekennen, dass ich nicht mehr wei\u00df, wann \u00fcberhaupt noch Anschauungen unvereinbar sind.\n1)\tPhysiol. Psychologie, II4, S. 466 f.\n2)\tVann\u00e9rus a. a. O. S. 378.\n3)\tVann\u00e9rus a. a.- O. S. 377.\n4)\tK\u00fclpe, Einleitung in die Philosophie, S. 191. Wie mir Prof. K\u00fclpe brieflich mittheilt, beziehen sich manche der Einw\u00fcrfe, die er der Actualit\u00e4tstheorie und dem Voluntarismus gemacht hat, nicht auf meine Arbeiten, sondern auf Ausf\u00fchrungen Paulsen\u2019s in dessen \u00bbEinleitung in die Philosophie\u00ab. Da aber jene Einw\u00fcrfe (abgesehen von einigen untergeordneten Punkten, die ich au\u00dfer Betracht gelassen habe) ganz allgemein gegen \u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab und \u00bbVoluntarismus\u00ab \u00fcberhaupt gerichtet sind, so zwar, dass die der Kritik unterworfenen Ansichten s\u00e4mmtlich zugleich als allgemeine Merkmale jener Theorien behandelt und in dieser Verbindung zur Begr\u00fcndung eines verwerfenden Urtheils benutzt werden, so kann ich nat\u00fcrlich auch in der nachfolgenden Beleuchtung dieser Kritik keinen anderen Standpunkt einnehmen, als denjenigen, den sie selbst einnimmt. Das Missverst\u00e4ndniss, das nothwendig durch K\u00fclpe\u2019s Darstellung erweckt werden muss, als seien \u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab und \u00bbVoluntarismus\u00ab einheitliche Anschauungen, von denen insbesondere der Voluntarismus im wesentlichen mit Schopenhauer\u2019s Willensmetaphysik \u00fcbereinstimme (s. unter C), ist \u00fcberdies, wie ich bemerkt zu haben glaube, ziemlich weit verbreitet. Eine","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n39\nDiesen Ausf\u00fchrungen ist zun\u00e4chst entgegenzuhalten, dass der logische Begriff eines \u00bbSubjectes der inneren Erfahrung\u00ab allerdings nicht entstehen k\u00f6nnte ohne eine zu Grunde liegende reale Einheit, dass aber diese nach der Actualit\u00e4tstheorie lediglich in dem Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge selbst gegeben ist, nicht au\u00dferhalb derselben. In der That ist es klar, dass auch die Sub-stantialit\u00e4tstheorie einen solchen unmittelbar und thats\u00e4chlich gegebenen Zusammenhang zugestehen muss, da er f\u00fcr sie in Wahrheit das einzige empirische Motiv zur Bildung des Substanzbegriffs ist, wozu- dann aber bei ihr noch als metaphysisches Motiv die Voraussetzung hinzukommt, alle Erfahrungsinhalte seien blo\u00dfe \u00bbErscheinungen\u00ab, die auf ein Substrat, dessen Erscheinungen sie sind, zur\u00fcckweisen sollen. Gibt man nun diese metaphysische Annahme preis, so kann jenes empirische Motiv f\u00fcr sich allein nicht mehr gen\u00fcgen. Denn will man trotzdem den Substanzbegriff festhalten, so ergibt sich als Inhalt desselben lediglich der unmittelbare Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge selbst, d. h. die Substantialit\u00e4tstheorie geht ohne weiteres in die Actualit\u00e4tstheorie \u00fcber *).\nEr\u00f6rterung, die von dieser Auffassung ausgeht, wird darum auch am ehesten geeignet sein, die Irrigkeit derselben deutlich zu machen.\n1) In der That scheinen mir die Ausf\u00fchrungen von Vann\u00e9rus'(a. a. O.) im wesentlichen hierauf hinauszuf\u00fchren. Wenn er trotzdem an dem psychologischen Substanzbegriff festh\u00e4lt, so ist wohl haupts\u00e4chlich als Grund f\u00fcr ihn die That-sache ma\u00dfgebend, dass nicht alle Bedingungen, die den Zusammenhang der \u00bbBewusstseinsvorg\u00e4nge\u00ab vermitteln, selbst als Bewusstseinsvorg\u00e4nge gegeben sind. Da aber die wissenschaftliche Analyse solcher \u00bbunbewusster Dispositionen\u00ab, wie oben (S. 35) er\u00f6rtert, nur auf dem Wege der Untersuchung der Entstehung bestimmter physiologischer Ver\u00e4nderungen m\u00f6glich ist, so f\u00fchrt das immer nur auf den H\u00fclfsbegriff der physischen Substanz, nie auf einen bestimmten psychologischen Substanzbegriff. Bei diesem Punkte kommt eben zu Tage, dass auch Vann\u00e9rus die eigent\u00fcmliche Gebietstheilung zwischen Naturwissenschaft und Psychologie, nach welcher der Gegenstand dieser ausschlie\u00dflich die unmittelbare Erfahrung ist, nicht zureichend erfasst hat und daher immer wieder geneigt ist, den Standpunkt der mittelbaren Erfahrung auch auf die Psychologie zu \u00fcbertragen. Hiermit h\u00e4ngt wohl das Missverst\u00e4ndniss zusammen, dass er schon' die Hervorhebung der realen Einheit des Seelenlebens als eine Art Anerkennung der Seelensubstanz auffasst (a. a. O. S. 377). Als wenn nicht ein Zusammenhang von Vorg\u00e4ngen ebenso real sein k\u00f6nnte wie ein relativ dauerndes Object! Und in Wahrheit ist ja auch das letztere psychologisch betrachtet gar nichts anderes als ebenfalls ein solcher Zusammenhang.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nW. Wundt.\nWenn ferner gegen die Actualit\u00e4tstheorie der Vorwurf erhoben wird, dass sie eine \u00bbVielheit von Acten als Tr\u00e4ger jedes einzelnen\u00ab u. s. w. denke, so ist hiergegen zu bemerk\u00e9n, dass dieser Vorwurf selbst auf einer v\u00f6llig unpsychologischen, die Producte einer willk\u00fcrlichen logischen Abstraction in die Wirklichkeit hineintragenden Betrachtungsweise beruht. Zuerst wird der Zusammenhang einer Vielheit psychischer Vorg\u00e4nge in eine abstracte Vielheit um-gewandelt und dann behauptet, die Actualit\u00e4tstheorie selbst mache diesen abstracten Vielheitsbegriff zum \u00bbTr\u00e4ger\u00ab des Ganzen. Die Wirklichkeit der psychischen Vorg\u00e4nge ist aber keine abstracte Vielheit, sondern eine Mannigfaltigkeit stetig zusammenh\u00e4ngender und stetig verlaufender Processe, innerhalb deren trotz einzelner Unterbrechungen die Continuit\u00e4t im ganzen erhalten bleibt, so lange nur \u00fcberhaupt stetige Verbindungen unmittelbar gegeben sind und neue Vorg\u00e4nge eine Wiederholung fr\u00fcherer herbeif\u00fchren, durch die auch diese jenen Verbindungen sich anschlie\u00dfen. Wird der Zusammenhang der psychischen Processe vollst\u00e4ndig unterbrochen, so h\u00f6rt darum auch die Einheit des Bewusstseins auf. Ein empirischer Grund, diese Einheit auf etwas anderes als auf jenen Zusammenhang selbst zur\u00fcckzuf\u00fchren, ist also nicht nach-zuw'eisen. Wenn dann aber weiterhin auch noch die mannigfaltigen Vorg\u00e4nge angeblich nur \u00bbeine Vermehrung dessen darstellen, was schon in jedem einzelnen enthalten ist\u00ab und durch eine \u00bbihnen zugewiesene Einheitsfunction\u00ab bef\u00e4higt werden sollen, \u00bbjeden einzelnen Zustand auf diese Gesammtheit beziehen zu lassen\u00ab, so wird hier jener einseitige logische Begriff der Vielheit noch einmal ins Eeld gef\u00fchrt, um nun gar der Actualit\u00e4tstheorie die Annahme zuzuschreiben, neben der abstracten Vielheit sei auch noch eine abstracte \u00bbEinheitsfunction\u00ab gegeben, die eine Verbindung herstelle, \u2014 eine Einheitsfunction, die dann freilich ungef\u00e4hr eine \u00e4hnliche Bolle wie der Substanzbegriff selbst spielen w\u00fcrde. Von allem dem ist in der wirklichen Actualit\u00e4tstheorie, und vor allem in derjenigen, die in meinen eigenen psychologischen Arbeiten zum Ausdruck gelangt ist, nirgends die Rede. Jene Stetigkeit des Verlaufs und jene stetigen Verbindungen vieler Vorg\u00e4nge unter einander kommen nach ihr mehr oder minder allen psychischen Vorg\u00e4ngen, in besonderem Ma\u00dfe aber allerdings denjenigen Elementen zu, die sich an der Entwicklung","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Uebcr die Definition der Psychologie.\n41\ndes Selbstbewusstseins betheiligen. Auch diese stehen jedoch nicht \u00e4u\u00dferlich den \u00fcbrigen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen gegen\u00fcber, sondern sie bilden untrennbare Bestandteile derselben. Hierin folgt die Actualit\u00e4tstheorie also lediglich dem Grunds\u00e4tze, die empirisch gegebenen Zusammenh\u00e4nge nachzuweisen. Indem sie das thut, h\u00e4lt sie aber auch diese nicht nur f\u00fcr gen\u00fcgend, um die empirisch' gegebene Einheit des Bewusstseins zu erkl\u00e4ren, die ja in Wirklichkeit genau so weit und nicht weiter reicht als jene, sondern sie meint damit zugleich der eigensten Aufgabe der Psychologie, wie sie in der fr\u00fcher (S. 11) gegebenen Definition ausgesprochen ist, und wie sie in der Betrachtungsweise der s\u00e4mmtlichen Geisteswissenschaften l\u00e4ngst zum Ausdruck gelangt ist, unmittelbar gerecht zu werden. Indem die Actualit\u00e4tstheorie hierbei den Willensvor-g\u00e4ngen eine hervorragende Bedeutung, besonders f\u00fcr die Entwicklung der Einheit des Bewusstseins, zugesteht, folgt sie gleichfalls nur bestimmten empirischen Zeugnissen, und sie hat dabei stets nur das concrete einzelne Wollen im Auge, das nie anders als in Verbindung mit andern psychischen Elementen vorkommt1). Im Gegens\u00e4tze hierzu construirt die Substanzhypothese auf Grund des empirisch gegebenen Zusammenhangs den Begriff eines beharrlichen Tr\u00e4gers, der an und f\u00fcr sich gar nichts als der zuerst in eine inhaltsleere Abstraction und dann in ein reales metaphysisches Object verwandelte Begriff jenes empirischen Zusammenhangs selber ist. Offenbar ist es nun bei der obigen Argumentation gerade dieses bei der Bildung des ontologischen Substanzbegriffs ge\u00fcbte Verfahren, das man ohne jedes objective Motiv, lediglich unter dem Einfluss der eigenen ontologischen Denkgewohnheiten, auf die Actualit\u00e4tstheorie \u00fcbertr\u00e4gt, um sie dann des n\u00e4mlichen Ontologis-mus anzuklagen.\n3. Die Seelensubstanz sei zwar \u00bbkein Gegenstand unserer Wahrnehmung\u00ab,\u2014 \u00bbaber auch die Atome lassen sich nicht wahrnehmen\u00ab 2). Die Richtigkeit dieser Bemerkung ist ohne weiteres anzuerkennen,\n1)\tVergl. hierzu Physiol. Psych., II4, S. 255 ff., System der Philosophie, S. 562 ff., sowie die unten folgenden Bemerkungen zur Kritik des Voluntarismus (C).\n2)\tK\u00fclpe, Einleitung, S. 190.","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nW. Wundt.\nund wenn au\u00dferdem einige Seiten sp\u00e4ter (S. 193) gesagt wird, die empirische Psychologie sei \u00bbvon der Einmischung des Substanzbegriffs in die Beschreibung und Erkl\u00e4rung der Thatsachen ganz frei zu halten\u00ab, so ist die Verbindung dieser beiden S\u00e4tze wohl eine der b\u00fcndigsten Widerlegungen der Suhstantialit\u00e4tshypothese. Die Atome nimmt man an, weil man ihrer zur Erkl\u00e4rung des Zusammenhangs der physikalischen Erscheinungen zu bed\u00fcrfen glaubt; wer der Ueberzeugung ist, dass man ihrer nicht bedarf, der h\u00e4lt darum auch ihre Annahme f\u00fcr widerlegt. Wer sich zu Gunsten der Seelensubstanz auf die Atome beruft und gleichzeitig einsch\u00e4rft, dass bei der Erkl\u00e4rung der Thatsachen jene Substanz aus dem Spiel bleiben m\u00fcsse, der bekennt also damit seihst, dass seine Annahme, an dem Ma\u00dfstab anderer wissenschaftlicher H\u00fclfsbegriffe gemessen, eine grundlose sei.\n4. Wenn von Seiten mancher Vertreter der Actualit\u00e4tstheorie \u00bbunbewusste psychische Erregungen\u00ab angenommen werden, oder wenn man sich \u00bbeinzelne psychische Functionen mit Eigenschaften und Kr\u00e4ften ausgestattet denke, wovon sich in der inneren Wahrnehmung h\u00f6chstens gewisse Andeutungen wahrnehmen lassen\u00ab, oder wenn man endlich \u00bbden Begriff der materiellen Substanz um das Merkmal geistiger Vorg\u00e4nge bereichert habe\u00ab, so soll man damit \u00bbdem Bed\u00fcrfnis nach einer Vervollst\u00e4ndigung des bewussten inneren Daseins ebenso wie durch die Annahme einer Seelensubstanz\u00ab zu dienen suchen, speciell durch die dritte dieser Voraussetzungen aber sei \u00bbschwerlich eine zweckm\u00e4\u00dfigere oder fester begr\u00fcndete Anschauung gewonnen\u00ab '). Hier handelt es sich offenbar nicht um einen, sondern um drei Einw\u00e4nde, die daher einer gesonderten Beleuchtung bed\u00fcrfen.\na. \u00bbUnbewusste psychische Erregungen\u00ab. Bei diesem Einwand ist zu beachten, dass, was man \u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab nennt, m\u00f6glicher Weise zwei verschiedene Bedeutungen haben kann. Jemand kann sich zu ihr 1) in dem Sinne bekennen, dass er alles Psychische als eine Summe von Ereignissen, Actus, nicht irgend welche von ihnen, wie z. B. die Vorstellungen, als mehr oder minder stabile\n1) K\u00fclpe a. a. O. S. 192.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n43\nObjecte ansieht. Ein Anh\u00e4nger dieser Form der Actualit\u00e4tstheorie kann m\u00f6glicher Weise \u00bbunbewusste psychische Vorg\u00e4nge\u00ab annehmen, auf die er dann wohl die n\u00e4mliche Eigenschaft der Actualit\u00e4t \u00fcbertr\u00e4gt, ohne sich damit eines Widerspruchs schuldig zu machen. Man kann aber auch 2) das Actualit\u00e4tsprincip in dem Sinne auffassen, dass dasselbe neben jener den psychischen Processen zukommenden Eigenschaft, \u00bbTh\u00e4tigkeiten\u00ab zu sein, auch noch die Forderung einschlie\u00dft, dass das Object der Psychologie die unmittelbare Wirklichkeit (Actualit\u00e4t) der psychischen Vorg\u00e4nge selbst sei, nicht ein hinter ihnen verborgenes Substrat. Wer, wie ich es thue, nicht blo\u00df in jener ersten, sondern auch in dieser zweiten Bedeutung die Actualit\u00e4t auffasst, f\u00fcr den ist dann allerdings die Annahme unbewusster psychischer Vorg\u00e4nge ausgeschlossen. Nun habe ich stets sowohl in meiner \u00bb Physiol. Psychologie\u00ab wie in andern, nach ihr erschienenen Arbeiten den Standpunkt festgehalten, dass ich \u00bbunbewusste Vorg\u00e4nge\u00ab, verm\u00f6ge der der Psychologie nach der oben gegebenen Definition gestellten Aufgabe, nicht als ein zul\u00e4ssiges H\u00fclfsmittel psychologischer Interpretation betrachte !). Der Einwand der \u00bbunbewussten psychischen Vorg\u00e4nge\u00ab ist also f\u00fcr mich nicht zutreffend, und er kann es demnach auch nicht wohl f\u00fcr die Actualit\u00e4tstheorie \u00fcberhaupt sein.\nb. \u00bbAusstattung einzelner psychischer Functionen mit Eigenschaften und Kr\u00e4ften, wovon sich in der inneren Wahrnehmung h\u00f6chstens gewisse Andeutungen wahrnehmen lassen.\u00ab Der Ausdruck \u00bbAndeutungen in der inneren Wahrnehmung\u00ab scheint zu verrathen, dass bei diesem Einwurf der wichtige logische Unterschied zwischen Hypothesen der empirischen Psychologie und den fundamentalen Hypothesen der Naturwissenschaft nicht ganz unbemerkt geblieben ist. Dennoch kommt seine Bedeutung nicht hinreichend zur Geltung. Hypothesen gibt es nat\u00fcrlich in jeder Wissenschaft, weil es neben den zweifellos vorhandenen Thatsachen und ihren Verkn\u00fcpfungen immer noch andere gibt, die nicht mit Sicherheit nachgewiesen sind. Aber in den' rein empirischen Wissenschaften, wie eine solche die Psychologie als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung ist, ebenso wie in den auf psychologische Interpretation\n\u25a01) Vergl. dazu oben S. 34 f.","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nW. Wundt.\nzuriickgelienden specielleren Geisteswissenschaften, Geschichte, Jurisprudenz u. s. w., kann sich eine Hypothese principiell nur aus Bestandtheilen zusammensetzen, deren empirische Nachweisung m\u00f6glich sein muss. In der That entsprechen diesem Kriterium alle psychologischen Hypothesen, so weit sie \u00fcberhaupt einen wissenschaftlichen Erkl\u00e4rungszweck verfolgen. Wenn z. B. Jemand die Hypothese aufstellt, dass gewisse Bewegungsempfindungen und Localzeichen auf die r\u00e4umlichen Wahrnehmungen, gewisse Er-wartungs- und Spannungsgef\u00fchle auf die Zeitvorstellungen von Einfluss sind, so h\u00e4lt er alle diese Empfindungen und Gef\u00fchle f\u00fcr Thatsachen der Erfahrung, wenn sie auch vielleicht in einzelnen F\u00e4llen wegen der verwickelten Bedingungen der Beobachtung nur in \u00bbAndeutungen\u00ab wahrnehmbar sein sollten. Wer solchen Hypothesen entgegentritt, st\u00fctzt sich daher stets in erster Linie darauf, dass jene angeblichen Thatsachen der Erfahrung entweder einzeln oder in der ihnen zugeschriebenen Yerbindungsweise nicht sicher nachzuweisen seien. Wie anders steht es hier mit den fundamentalen Hypothesen der Naturwissenschaft! Wann h\u00e4tte sich je Jemand anheischig gemacht, Atome oder (vom Standpunkt der sogenannten Contacthypothese aus) eine absolute Continuit\u00e4t der Materie und so manche zum Behuf der Anwendung dieser Begriffe eingef\u00fchrte H\u00fclfsVorstellungen direct empirisch nachzuweisen? Bei den psychologischen Hypothesen l\u00e4uft also die logische Pr\u00fcfung stets auf eine Thatfrage, hei den fundamentalen Hypothesen der Naturwissenschaft l\u00e4uft sie einzig und allein auf eine Brauchbarkeitsfrage hinaus. Die abstractesten und entlegensten Annahmen k\u00f6nnen hier unter Umst\u00e4nden den anschaulichsten und scheinbar naheliegendsten vorgezogen werden, weil sie sich brauchbarer erweisen1). Diese Eigenschaft des allezeit hypothetischen und meta-\n1) Auf einer \u00e4hnlichen Vermengung der Standpunkte beruht es, wenn Vann\u00e9rus (a. a. O. S. 376) gegen den Satz, dass es die Psychologie mit der unmittelbaren Erfahrung zu thun habe, einwendet, manche unserer psychologischen Annahmen, wie z. B. die Voraussetzung, dass einfache Empfindungen die Elemente der Vorstellungen seien, dass Processe associativer Synthese u. dergl. existiren, seien nicht unmittelbar gegeben. Der Satz, dass der Gegenstand der Psychologie die unmittelbare Erfahrung ist, will nat\u00fcrlich nicht sagen, dass uns die Elemente dieser Erfahrung und ihre Verbindungen ohne jede Analyse der Wahrnehmung gegeben seien. W\u00e4re dies der Fall, so w\u00fcrde ja die wissenschaftliche","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Ucber die Definition der Psychologie.\n45\nphysischen Charakters der grundlegenden Hypothesen der Naturwissenschaft ist es ja, die in der neueren Naturwissenschaft eine Reaction erweckt hat, die auf eine nicht \u00fcberhaupt von Hypothesen, wohl aber auf eine von solchen der direct en Nachweisbarkeit sich entziehenden Hypothesen freie Beschreibung oder^ Erkl\u00e4rung der Naturerscheinungen dringt. Diese Reaction, mag sie Erfolg haben oder nicht, ist jedenfalls eine auch erkenntnisstheoretisch h\u00f6chst bedeutsame Erscheinung. Sie geht, wie aus den obigen Er\u00f6rterungen erhellt, auf nichts mehr und nichts weniger aus als darauf, auch die Naturwissenschaft, trotz der f\u00fcr sie unerl\u00e4sslichen Abstraction von dem Subject, in eine Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung \u00fcberzuf\u00fchren. Man darf, abgesehen von den in der Naturwissenschaft sich erhebenden Schwierigkeiten im einzelnen, wohl auch aus' erkentnisstheoretischen Gr\u00fcnden zweifeln, ob dieser Versuch durchf\u00fchrbar ist, weil eben die f\u00fcr die Naturwissenschaft geforderte Abstraction von dem Subject die Unmittelbarkeit der Erfahrung aufhebt. Wie dem aber auch sei, _____\njedenfalls ist die Uebertragung der von der Naturwissenschaft ge\u00fcbten hypothetischen Begriffsbildungen auf die Psychologie nicht zul\u00e4ssig. Sie beruht auf einer Verkennung des wesentlich verschiedenen logischen Charakters der fundamentalen Hypothesen auf beiden Gebieten. Die Folge ist dann, dass man von der nach Analogie der naturwissenschaftlichen Substanzhypothesen gebildeten Seelenhypothese nachtr\u00e4glich eingestehen muss, dass sie f\u00fcr die Erkl\u00e4rung\nAufgabe der Psychologie \u00fcberhaupt hinf\u00e4llig werden, oder vielmehr: diese w\u00fcrde nicht blo\u00df eine Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung, sondern auch eine unmittelbare Wissenschaft sein, d. h. eine solche, die gar keine Analyse und Combination der Thatsachen erforderte. Nun kommen die einfachen Empfindungen zwar in der Wirklichkeit immer nur in Verbindungen vor, aber es werden ihnen in ihrer durch die Analyse gewonnenen einfachen Beschaffenheit doch nur die n\u00e4mlichen Eigenschaften beigelegt, die sie auch in jenen psychischen Verbindungen besitzen, und es wird nur von allem dem abstrahirt, was erst auf die Verbindungen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden kann. Aehnlich verh\u00e4lt es sich mit den associativen und apperceptiven Verbindungen. Die psychologische Untersuchung zerlegt gewisse Bewusstseinsvorg\u00e4nge in ihre Bestandtheile, und aus der Vergleichung dieser mit ihren complexen Producten, sowie aus den etwa noch wahrnehmbaren begleitenden Vorg\u00e4ngen ergibt sich der stattfindende Verbindungspr\u00f6cess. Der unmittelbare Charakter des letzteren besteht auch hier lediglich darin, dass die Untersuchung keine Elemente voraussetzt, die nicht selbst als unmittelbare Bestandtheile der Erfahrung gegeben w\u00e4ren.","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nW. Wundt.\nnichts leistet, also gerade den Zweck nicht erf\u00fcllt, dem allein die naturwissenschaftlichen Hypothesen ihre Berechtigung verdanken.\nc. \u00bbBereicherung des Begriffs der materiellen Substanz um das Merkmal geistiger Vorg\u00e4nge.\u00ab Ich darf wohl annehmen, dass dieser Einwurf im Hinblick auf das Schlusscapitel meiner \u00bbPhysiologischen Psychologie\u00ab erhoben worden ist, und ich muss daher zur W\u00fcrdigung desselben den Gedankengang dieses Schlusscapitels kurz resumiren. Es wird in ihm davon ausgegangen, dass eine Betrachtung des psychologischen Problems von drei Standpunkten aus m\u00f6glich sei: dem erkenntnisstheoretischen, dem psychologischen und dem psychophysischen. Die erkenntnisstheoretische Betrachtung ergibt eine unmittelbare Realit\u00e4t der innern Erfahrung, gegen\u00fcber der mittelbaren der \u00e4u\u00dfern. Daraus entsteht f\u00fcr die psychologische Betrachtung oder f\u00fcr die eigentliche Psychologie die Aufgabe einer Untersuchung des unmittelbaren, direct in der Erfahrung gegebenen Zusammenhangs der psychischen Vorg\u00e4nge. Insofern jedoch die Erfahrung \u00fcberall Wechselbeziehungen zwischen physischen und psychischen Processen vorfindet, ist f\u00fcr das Problem dieser Wechselbeziehungen eine Verbindung des von der Psychologie eingenommenen Standpunktes der unmittelbaren mit dem von der Physiologie festgehaltenen der mittelbaren Erfahrung unerl\u00e4sslich, eine Verbindung, von der aber ausdr\u00fccklich hervorgehoben wird, dass sie, eben als Verbindung verschiedener Standpunkte der Betrachtung und eingeschr\u00e4nkt auf die Beurtheilung der psycho-physischen Wechselbeziehungen, nur von \u00bbtransitorischer\u00ab Anwendung, d. h. eben dass sie f\u00fcr die eigentliche psychologische Erkl\u00e4rung unzul\u00e4ssig sei1). Hierauf wird daran erinnert, dass die psychischen Vorg\u00e4nge im Grunde an die Gesammtheit der k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge, nat\u00fcrlich unter entsprechender Bevorzugung der durch ihre physiologischen Zusammenh\u00e4nge zu Centralherden der animalischen Functionen geeigneten, gebunden sind. Damit ist von selbst gesagt, dass die Annahme einer einfachen Seelensubstanz, die irgendwo im Gehirn ruhend oder beweglich localisirt w\u00e4re, oder auch die Annahme einer Mehrheit solcher von den physischen Elementen verschiedener Seelensubstanzen vom \u00bbpsycho-physischen\u00ab Standpunkte aus un-\n1) Physiol. Psychol., II4, S. 644.","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n47\nhaltbar, weil mit der Gesammtheit unserer heutigen physiologischen Erfahrungen unvereinbar ist. Demnach bleibt nur \u00fcbrig, so lange wir diesen psycho-physischen Standpunkt festhalten, den physischen Elementen \u00fcberhaupt zugleich eine psychische Qualit\u00e4t oder vielmehr, da wirkliche psychische Leistungen immer nur durch Verbindungen sehr vieler Elemente zu Stande kommen, eine psychische Anlage (etwa in der Form einer Empfindung und Gef\u00fchl vereinigenden .Triebanlage) zuzuschreiben und dabei zugleich innere Beziehungen dieser psycho-physischen Elemente, nicht blo\u00df \u00e4u\u00dfere, wie bei den physischen, anzunehmen, so dass die psychischen Qualit\u00e4ten vieler Elemente auf einander einwirken und sich zu psychischen Resultanten verbinden k\u00f6nnen*).\nDass nun diese augenscheinlich blo\u00df zur Erl\u00e4uterung der psycho-physischen Wechselbeziehungen ausgef\u00fchrte, f\u00fcr die Psychologie seihst aber wegen der dabei obwaltenden Verbindung heterogener Standpunkte ausdr\u00fccklich von mir als unzul\u00e4ssig be-zeichnete Betrachtung gerade als das behandelt werde, was sie nach meiner Erkl\u00e4rung nicht sein kann, als eine rein psychologische Hypothese, ist offenbar nicht gestattet. In Folge dessen ist sie aber auch in keine Art von Analogie mit der Suhstanzhypothese zu bringen. Zugleich verfehlt dieser Einwurf in doppelter Beziehung sein Ziel. Erstens w\u00fcrde die Annahme einer psychischen Anlage der Elemente des lebenden Organismus immer noch in der That-sache, dass die psychischen Vorg\u00e4nge an den physischen Organismus gebunden sind, und in der Erw\u00e4gung, dass die Eigenschaften eines Ganzen irgendwie in den Eigenschaften seiner Bestandtheile begr\u00fcndet sein m\u00fcssen, wenn sie auch nicht als mechanische Resultanten daraus hervorgehen sollten, ihre empirische Rechtfertigung sehen k\u00f6nnen. Zweitens verfolgt die ganze psycho-physische Er\u00f6rterung in dem Schlusscapitel meines Werkes augenscheinlich den Zweck, die Unvereinbarkeit der spiritualistischen Substanzhypothese mit den physiologischen Thatsachen hervorzuheben. Eine Rechtfertigung dieser Hypothese, die auf jene Er\u00f6rterungen Bezug nimmt, h\u00e4tte darum vor allem dar\u00fcber Rechenschaft zu geben, wie sie sich denn die Verbindung der\n1) Vergl. Physiol. Psychol, II\u00ab, S. 636 ff.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nW. Wundt.\nsubstantiellen Seele mit dem K\u00f6rper denkt. Ueber diese letztere Schwierigkeit wird aber, so nahe hier die Aufforderung lag sie in Erw\u00e4gung zu ziehen, stillschweigend hinweggegangen.\n5. Wenn endlich die Hypothese einer Seelensubstanz nicht n\u00fctzlich f\u00fcr die Verkn\u00fcpfung der Erfahrungsthatsachen gefunden werde, so d\u00fcrfe man daran erinnern, \u00bbdass metaphysische Hypothesen niemals diesen Zweck erf\u00fcllen, sondern nur zur Erg\u00e4nzung der wissenschaftlichen Ergebnisse dienen\u00ab '). Zun\u00e4chst kann ich diesem Satz in der Allgemeinheit, in der er hier vorgetragen wird, nicht zustimmen. Alle Hypothesen, die ihrer Natur nach nicht empirisch verificirt werden k\u00f6nnen, aber in dem Sinne die Erfahrung erg\u00e4nzen, dass sie dieselbe zu einem unser intellectuelles Bed\u00fcrfniss befriedigenden Ganzen gestalten, sind ihrem Charakter nach metaphysische Hypothesen. Aber wissenschaftlich und darum (sofern man die Metaphysik \u00fcberhaupt f\u00fcr eine Wissenschaft h\u00e4lt) auch metaphysisch berechtigt sind sie nur dann, wenn sie logisch und methodologisch zureichend begr\u00fcndet sind. Annahmen, die diesen Ma\u00dfstab nicht ertragen, k\u00f6nnen willk\u00fcrliche Einf\u00e4lle, \u00fcberlieferte Vorstellungen oder alles m\u00f6gliche sonst sein, wissenschaftliche Hypothesen sind sie jedenfalls nicht. Doch abgesehen von dem allen: die Annahme einer einfachen Seelensubstanz hat \u00fcberhaupt nur dann Anspruch auf den Namen einer \u00bbErg\u00e4nzung\u00ab der Wirklichkeit, wenn in irgend einer Weise der Versuch gemacht wird, diesen Begriff als einen solchen darzuthun, der, wenn man von der Erfahrung aus in der Reihe der Bedingungen weiter und weiter zur\u00fcckgeht, schlie\u00dflich als eine letzte, transcendente Bedingung zur\u00fcckbleibt. Ein Versuch solcher Art ist z. B. von Leibniz, dann von Herbart gemacht worden, \u2014 nicht mit Erfolg, wie ich glaube, weil beide Denker nicht von der psychologischen Erfahrung, sondern von allgemeinen Begriffen \u00fcber das Seiende \u00fcberhaupt ausgegangen sind. Der Seelenbegriff ergab sich so als Anwendung eines allgemeineren ontologischen Begriffs, auf den nachtr\u00e4glich erst gewisse psychologische Bestimmungen \u00fcbertragen wurden. Immerhin l\u00e4sst sich da noch von einem Versuch der \u00bbErg\u00e4nzung\u00ab der\n1) K\u00fclpe a. a. O. S. 193.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition derTsychoIogie.\n49\nErfahrung reden. Das ist anders, wenn, wie es hier geschieht, der Substanzbegriff ausdr\u00fccklich nur gefordert wird, um dem in der Erfahrung gegebenen Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge als Substrat zu dienen. Dieser Zusammenhang ist in der Verbindung der einzelnen psychischen Vorg\u00e4nge unter einander hinreichend empirisch begr\u00fcndet. Der Begriff einer beharrenden Substanz vermag ihn daher in Wahrheit nicht im geringsten begreiflicher zu machen, als er durch sich selbst schon ist. Auch ist dieser Begriff \u00fcberhaupt keine in regelm\u00e4\u00dfigem Regressus von der Erfahrung aus gewonnene Erg\u00e4nzung, sondern, wie Kant mit Recht bemerkt hat, ein auf Grund eines Paralogismus gewonnener Scheinbegriff. Jener thats\u00e4chliche Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge liefert durch Abstraction den formalen Begriff der logischen Einheit, und diesem substituirt man dann den Begriff des realen einfachen und beharrenden Dinges. Da dieser v\u00f6llig inhaltsleere Begriff, bei dessen Bildung auf die Mannigfaltigkeit der psychischen Vorg\u00e4nge geflissentlich keine R\u00fccksicht genommen wurde, nat\u00fcrlich nicht nur f\u00fcr die Erfahrung nichts leistet, sondern ihr widerspricht, so sucht man dann diesen Widerspruch durch andere schematische Begriffsbildungen, wie \u00bbAccidenzen, Erscheinungen, Aeu\u00dferungsweisen\u00ab der Substanz, auszugleichen ').\nDiese Begriffe sind aber an und f\u00fcr sich ebenso inhaltsleer wie der Begriff der Substanz selbst. Eine wissenschaftliche Bedeutung w\u00fcrden sie erst gewinnen k\u00f6nnen, wenn man zeigte, was denn unter den \u00bbAccidenzen, Erscheinungen, Aeu\u00dferungsweisen\u00ab zu verstehen sei, kurz durch eine auf die Substanzhypothese gegr\u00fcndete Theorie des psychischen Geschehens, wie eine solche z. B. Herbart \u2014 freilich ohne einen die Forderungen der Erfahrung befriedigenden Erfolg \u2014 zu geben versucht hat. Wenn man dagegen einen solchen Versuch, ablehnt und dennoch jenen Begriffen ' eine reale Berechtigung zuschreibt, so hei\u00dft dies : die Wirklichkeit durch einen leeren, mittelst oberfl\u00e4chlicher Abstraction gewonnenen Schematismus ersetzen.\nZugleich verr\u00e4th sich hier der charakteristische Fehler, an dem die meisten dieser kritischen Ein w\u00fcrfe gegen die \u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab\n1) K\u00fclpe a. a. O. S. 193.\nWundt, Philos. Studien. XII.\n4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nW. Wundt.\nleiden. Statt zu allererst den Grundgedanken der kritisirten Ansicht zu w\u00fcrdigen und dann die weiteren Annahmen und Folgerungen auf ihre Uebereinstimmung mit jenem Grundgedanken zu pr\u00fcfen Und mit H\u00fclfe der an ihm ge\u00fcbten Kritik zu widerlegen oder zu best\u00e4tigen, schl\u00e4gt diese Kritik den entgegengesetzten Weg ein. An dem Grundgedanken der Actualit\u00e4tstheorie, nach welchem die Psychologie Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung ist, geht sie vor\u00fcber. Dagegen legt sie ihren Er\u00f6rterungen fortw\u00e4hrend die entgegengesetzte Ansicht zu Grunde, wonach es die Psychologie ebenso wie die Naturwissenschaft blo\u00df mit mittelbaren, erst mittelst begrifflicher Abstractionen und Hypothesenbildungen auf die ihnen zu Grunde liegende Wirklichkeit zur\u00fcckzuf\u00fchrenden \u00bbErscheinungen\u00ab zu thun habe. Dies ist eben der Standpunkt einer dogmatischen Metaphysik, der, mag er nun psycho-physischer Materialismus oder spiritualistischer Dualismus oder beides zugleich sein, dem durch die eigenste Aufgabe der Psychologie geforderten rein empirischen Standpunkt als eine fremde Gedankenwelt gegen\u00fcbersteht1).\n1) Auf einer solchen Hereintragung eines fremdartigen metaphysischen Gesichtspunktes beruht es wohl auch, wenn K\u00fclpe (a. a. O. S. 192) von der\n\u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab bemerkt, sie behaupte, \u00bbdass der Unterschied zwischen Ding an sich und Erscheinung f\u00fcr die innere Erfahrung keine Bedeutung habe\u00ab. Das \u00bbDing an sich\u00ab ist ein transcendentes metaphysisches Object. Die Psychologie aber ist nach der oben gegebenen Begriffsbestimmung eine rein empirische Wissenschaft, deren Gegenstand daher weder Ding an sich noch Erscheinung im Kantischen Sinne genannt werden kann. Ich glaube darum auch nicht, dass ich mich jemals in einerWeise ausgesprochen habe, welche anzudeuten scheint, dass die innere Erfahrung sowohl Ding an sich wie Erscheinung sei. Wo ich von dem Begriff des Dinges an sich in diesem Zusammenhang gehandelt habe, da kann es nur entweder in dem Sinne geschehen sein, dass ich \u00fcberhaupt die Unhaltbarkeit dieses metaphysischen Begriffs behauptete, oder in dem andern, dass ich. die Substanzhypothese jenen Begriffshypostasen der ontologischen Metaphysik zuz\u00e4hlte, die Kant als \u00bbDinge an sich\u00ab bezeichnet hat. Wenn nun K\u00fclpe hiergegen bemerkt, schon vor Kant seien Descartes und Leibniz Anh\u00e4nger der Substantialit\u00e4tstheorie gewesen, so \u00fcbersieht er, dass Kant unter anderem gerade f\u00fcr die von diesen Philosophen angenommenen metaphysischen Entit\u00e4ten den Ausdruck \u00bbDinge an sich\u00ab einf\u00fchrte. Die Cartesianische Seele nannte Kant ein Ding an sich. Nun kann man doch wahrlich nicht behaupten, deshalb weil Descartes diesen Namen noch nicht kannte, sei sein Seelenbegriff nicht zu den \u00bbDingen an sich\u00ab zu rechnen. R\u00fccksiehtlich meiner mit der \u00bbActualit\u00e4tstheorie\u00ab auf das engste zusammenh\u00e4ngenden Auffassung des Begriffs der \u00bbDinge an sich\u00ab verweise ich \u00fcbrigens hier auf System der Philosophie, S. 95 ff. 183 ff., Logik 2 I,","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n51\nC. Der Voluntarismus.\nDer Beleuchtung der gegen die Richtung des sogenannten Voluntarismus geltend gemachten Ein w\u00e4nde darf ich wohl zur vorl\u00e4ufigen Orientirung die Bemerkung 'vorausschicken, dass es wesentlich drei Punkte sind, in denen sich der Voluntarismus in der von mir vertretenen Auffassung von dem \u00bbIntellectualismus\u00ab und von andern Anschauungen, wie z. B. der Verm\u00f6genspsychologie, scheidet: 1) Die psychischen Vorg\u00e4nge bilden ein einheitliches Geschehen; Vorstellen, F\u00fchlen, Wollen u. s. w. sind nicht real getrennte, sondern erst durch psychologische Analyse und Abstraction unterschiedene Bestandtheile dieses Geschehens; demnach sind auch F\u00fchlen und Wollen ebenso urspr\u00fcnglich wie Empfinden und Vorstellen. 2) Dem Wollen wird in der Wahl des Ausdrucks \u00bbVoluntarismus\u00ab insofern eine repr\u00e4sentative Bedeutung beigelegt, als die sonstigen suhjectiven Vorg\u00e4nge, insbesondere die Gef\u00fchle, Bestandtheile von Willensvorg\u00e4ngen bilden, welche Bestandtheile freilich auch Vorkommen k\u00f6nnen, ohne in eine vollst\u00e4ndige Willenshandlung \u00fcberzugehen, welche aber immerhin erst in einer solchen zur vollen Entwicklung gelangen. 3) Die Willenshandlung hat im Hinblick auf die Gesammtheit der psychischen Vorg\u00e4nge eine typische Bedeutung, insofern der bei dem Wollen l\u00e4ngst anerkannte Charakter des Vorgangs, des Ereignisses, auch allen andern psychischen Erfahrungsbestandtheilen, insbesondere den Vor-\nS. 546ff. In dem letzteren Werk S. 555 hei\u00dft es: \u00bbVerstehen wir unter dem Ding an sich, wie es, wenn dieser Ausdruck eine berechtigte Bedeutung besitzen soll, sein muss, den Gegenstand unmittelbarer Realit\u00e4t, so ist uns als solcher gegeben das denkende Subject.\u00ab Aus dem ganzen Zusammenhang geht hervor, dass diese berechtigte Bedeutung, in welcher der Ausdruck \u00bbDing an sich\u00ab gebraucht werden k\u00f6nnte, hier der unberechtigten Bedeutung gegen\u00fcbergestellt ist, in welcher er nicht blo\u00df einen Gegenstand unmittelbarer Realit\u00e4t, sondern auch einen unerkennbaren Hintergrund der Erscheinungen bedeutet. Wenn man daher, wie es auch Vann\u00e9rus (a. a. O. S. 367, 371) zu thun scheint, jenen Satz so versteht, als sollte damit das denkende Subject oder das Seelenleben \u00fcberhaupt als ein \u00bbDing an sich\u00ab in diesem Kant\u2019schen Sinne oder gar; als eine merkw\u00fcrdige Einheit von Kant\u2019schem \u00bbDing an sich\u00ab und \u00bbErscheinung\u00ab bezeichnet werden, so ist das ein Missverst\u00e4ndniss, das ich nach dem Inhalt der unmittelbar vorangegangenen Er\u00f6rterungen f\u00fcr ausgeschlossen halten musste.\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nW. Wundt.\nStellungen zukommt, denen der Intellectualismus zumeist den Charakter mehr oder minder beharrender Objecte beilegt1).\nDer \u00bbVoluntarismus\u00ab ist, wie aus diesen drei Bestimmungen hervorgeht, zun\u00e4chst und vor allem eine psychologische Anschauung, und als solche besteht auch er, ganz wie die \u00bbActualit\u00e4ts-theorie\u00ab, nicht in einer den Thatsachen hinzugef\u00fcgten Hypothese, sondern in der Forderung, die in der unmittelbaren Erfahrung gegebene Realit\u00e4t der Willensvorg\u00e4nge anzuerkennen, statt sie, wrie der Intellectualismus thut, aus andern psychischen Inhalten, z. B. Vorstellungen, ableiten zu wollen.\nNeben diesem psychologischen l\u00e4sst sich nun aber allerdings auch noch ein metaphysischer \u00bbVoluntarismus\u00ab unterscheiden. Hierher geh\u00f6rt z. B. Schopenhauer\u2019s Metaphysik, die dem neueren psychologischen Voluntarismus v\u00f6llig fern steht, wie unter anderem daraus erhellt, dass sich Schopenhauer in den psychologischen Theilen seines Systems offenbar dem Intellectualismus zuneigt2). Auch gewisse Ideen, die ich selbst in meinem \u00bbSystem der Philosophie\u00ab entwickelt habe, lassen sich einem metaphysischen Voluntarismus zuz\u00e4hlen, und zwar einem solchen, der, im Unterschied von Schopenhauer\u2019s Willenslehre, direct von der psychologischen Bedeutung des Willens ausgeht3). In Wahrheit ist es aber nicht dieser metaphysische Voluntarismus, weder der Schopenhauer\u2019sche noch der von mir vertretene, gegen den kritische Einw\u00e4nde erhoben worden sind, sondern der psychologische. Dies geht ohne weiteres daraus hervor, dass man den Voluntarismus, der das Object dieser Kritik ist, als diejenige Anschauung definirt, welche \u00bbdie Willenserscheinungen, also die Triebe, Leidenschaften, Affecte, Gef\u00fchle als\n1)\tYergl. Logik II2, 2, S. 166 ff. Sind auch diese Punkte erst in der zweiten Auflage meiner Logik als Merkmale des Voluntarismus bestimmt formulirt, da ich erst in dieser mich des zuerst von Paulsen gebrauchten Ausdrucks bedient habe, so versteht es sich doch von selbst, dass ich damit nur den schon l\u00e4ngst in meinen psychologischen und philosophischen Arbeiten vertretenen Ansichten einen kurzen Ausdruck zu geben versucht habe. Wer meine fr\u00fcheren Ausf\u00fchrungen kennt, wird daher auch die drei angegebenen Merkmale ohne weiteres als diejenigen anerkennen, die f\u00fcr meinen \u00bbVoluntarismus\u00ab stets ma\u00dfgebend gewesen sind.\n2)\tBezeichnend ist in dieser Beziehung namentlich seine Lehre von der \u00bbIntellectualit\u00e4t der Anschauung\u00ab.\n3)\tSystem der Philosophie, S. 368 ff.","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\t53\ndas Bestimmende und Prim\u00e4re in unserer inneren Erfahrung\u00ab ') betrachtet, \u2014 eine Definition, deren Richtigkeit vorl\u00e4ufig dahingestellt bleiben mag, die aber jedenfalls dem Voluntarismus den Charakter einer psychologischen Theorie zuschreibt. Es muss freilich zugleich gesagt werden, dass sich die Kritik selbst dieses ihres durchg\u00e4ngig psychologischen Charakters nicht bewusst ist. An dem Charakter der Kritik selbst wird dadurch nat\u00fcrlich nichts ge\u00e4ndert. Ihre psychologische Richtung erhellt \u00fcberdies noch bestimmter aus den einzelnen Einw\u00e4nden, bei denen die metaphysische Frage ganz aus dem Spiele bleibt und einzig allein davon die Rede ist, ob der Voluntarismus als psychologische Theorie mit den Thatsachen der inneren Erfahrung \u00fcbereinstimme oder nicht. Freilich findet sich dann auch hier wieder eine merkw\u00fcrdige Vermengung dieses psychologischen mit dem metaphysischen Standpunkte. Aehnlich wie man die Actualit\u00e4tstheorie f\u00fcr eine metaphysische Theorie h\u00e4lt, so wird n\u00e4mlich der psychologische Voluntarismus zu einer metaphysischen Doctrin umgestempelt, und damit nicht genug, dieser metaphysische Voluntarismus wird nun auch noch als eine vollkommen einheitliche Denkweise behandelt, bei deren Schilderung haupts\u00e4chlich Schopenhauer\u2019s halb mystischer Willensbegriff als Vorbild dient. Das Resultat dieser Confusion heterogener Standpunkte und Systeme ist daher im wesentlichen das folgende: eine einseitige und, wie ich meine, \u00fcberwundene Form des metaphysischen Voluntarismus wird zur allgemeing\u00fcltigen Form desselben gemacht und dann so behandelt, als wenn sie eine psychologische Theorie w\u00e4re; endlich aber werden gegen diese vermeintliche Theorie Einw\u00e4nde erhoben, die zum Theil selbst den Anschauungen des neueren psychologischen Voluntarismus entnommen sind. Nat\u00fcrlich geschieht das alles in redlichster Absicht. Denn diese ganze Vermengung der Begriffe hat ihre Quelle offenbar in der Gewohnheit, theils bewusst, theils unbewusst alles unter metaphysischen Gesichtspunkten zu sehen, einer Gewohnheit, die in der philosophischen Vorgeschichte\n1) K\u00fclpe, Einleitung in die Philosophie, S. 188. F\u00fcr die oben erw\u00e4hnte Vermengung von Psychologie und Metaphysik scheint es mir \u00fcbrigens bezeichnend, dass der Paragraph dieses Werkes, der im Sinne der angef\u00fchrten Definition den Voluntarismus als psychologische Theorie er\u00f6rtert, den Titel \u00bbDie psychologischen Richtungen in der Metaphysik\u00ab f\u00fchrt.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"W. Wundt.\n' 54\nder Psychologie ihre Erkl\u00e4rung und zugleich bis zu einem gewissen Grade ihre Entschuldigung findet.\nDie gegen den \u00bbVoluntarismus\u00ab erhobenen Einw\u00e4nde sind nun im wesentlichen die folgenden:\n1. Derselbe betrachte den \u00bbTrieb\u00ab als \u00bbGrundfunction des inneren Geschehens\u00ab. Bei den niedern Organismen, ebenso beim Kinde sei zun\u00e4chst \u00bbnur das Willensleben ausgebildet\u00ab, allm\u00e4hlich erst \u00bbverkn\u00fcpfen sich damit in wachsender Complication die Th\u00e4tig-keiten der Intelligenz\u00ab. Dagegen wird bemerkt, dass \u00bbder Entwicklungsgedanke methodologisch ein undifferenzirtes Ganzes als Ursprung der geistigen Functionen fordert, nicht aber eine in unserm entwickelten Seelenleben zur specifischen Differenz ausgebildete Erscheinung\u00ab u. s. w. \u2019).\nNun hei\u00dft es z. B. in meiner physiologischen Psychologie (4. Aufl. II. S. 566): \u00bbGerade bei den niedersten Wesen, z. B. den Protozoen, C\u00f6lenteraten, W\u00fcrmern u. s. w., treten die K\u00f6rperbewegungen von automatischem und reflectorischem Charakter durchaus zur\u00fcck gegen\u00fcber solchen Handlungen, die auf eine einfache Empfindung oder Vorstellung und einen daraus entstandenen Trieb hinweisen, und denen wir demnach den Charakter einfacher Willenshandlungen beilegen m\u00fcssen\u00ab; im gleichen Sinne wird dann die Triebbewegung definirt als eine einfache Willenshandlung, d. h. als eine solche, die in einem Motiv (worunter nat\u00fcrlich nach dem ganzen Zusammenhang eine von Gef\u00fchl begleitete Empfindung oder Vorstellung gemeint ist) ihren Ursprung hat (ebenda S. 593); und demgem\u00e4\u00df wird endlich in den metaphysischen Schlusser\u00f6rterungen des n\u00e4mlichen Werkes der Trieb als \u00bbder gemeinsame Ausgangspunkt des Vorstellens und Wollens\u00ab bezeichnet, der in seiner einfachsten, freilich in der Erfahrung nirgends aufzufindenden, Form als \u00bb gef\u00fchlsbetonte Empfindung \u00ab gedacht werden k\u00f6nne (S. 640, 645), in welchen beiden Bestandtheilen eben die Elemente des Wollens und des Vorstellens gleichzeitig enthalten seien. In \u00e4hnlicher Weise habe ich noch an vielen anderen Stellen vollkommen unzweideutig mich ausgesprochen, ja ich habe die\n1) K\u00fclpe a. a. O. S. 195.","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Lieber die Definition der Psychologie.\t55\nNoth, wendigkeit einer urspr\u00fcnglichen Einheit der psychischen Functionen nicht blo\u00df f\u00fcr den Standpunkt der psychologischen Erfahrung wiederholt betont, sondern ich habe auch f\u00fcr den eines etwa von dieser ausgehenden transcendenten \u00bbRegressus\u00ab, im Gegens\u00e4tze zu Schopenhauer, die Unm\u00f6glichkeit behauptet, Vorstellen und Wollen anders denn als in ihren Elementen urspr\u00fcnglich gleichzeitig zu denken1). Sollte daher behauptet werden, der Voluntarismus \u00fcberhaupt setze ein abstractes Wollen als Anfang der psychischen Entwicklung voraus, so lie\u00dfe sich das nicht einmal durch die Verwechslung des psychologischen mit dem metaphysischen Voluntarismus erkl\u00e4ren, sondern eine solche Behauptung w\u00fcrde in jeder Beziehung meinen eigenen wiederholt und auf das eindringlichste gemachten Aussagen stricte widerstreiten. In der That sind die bei diesem Einwande vorausgesetzten Annahmen im allgemeinen die der S c h o p e n h a u e r\u2019sehen Willensmetaphysik. Da nun diese weder eine allgemeing\u00fcltige voluntaristische Metaphysik noch auch, wie hier vorausgesetzt wird, eine psychologische Theorie der Willensvorg\u00e4nge ist, ja auf das letztere nicht einmal selbst Anspruch macht, so ist es einleuchtend, dass diese kritischen Einw\u00e4nde, insofern sie sich gegen den \u00bbVoluntarismus\u00ab \u00fcberhaupt und insonderheit gegen ihn als psychologische Theorie richten, vollkommen gegenstandslos sind.\n2. Der Voluntarismus soll \u00bbauch im entwickelten Seelenleben\u00ab den Willen zum \u00bbprim\u00e4ren und bestimmenden Factor\u00ab machen. Er \u00bblenkt unsere Aufmerksamkeit\u00ab, \u00bbtrifft die Auswahl unter den das Bewusstsein erregenden Beizen\u00ab, \u00bbauch der Vorstellungsverlauf wird nach Richtung und Tendenz vom Willen beherrscht\u00ab u. s. w. Dem sei entgegenzuhalten : \u00bbwas man hier als Wille beschreibt, ist gar nicht jener einfache Trieb, jener blinde Drang, von dem man zun\u00e4chst bei der Schilderung der seelischen Processe ausgegangen war. Nicht grundlos verf\u00e4hrt dieser Wille, sondern gest\u00fctzt auf Motive und Ueberlegungen\u00ab, und so k\u00f6nne man \u00bbmit demselben Recht sagen, das eigentlich Bestimmende und Prim\u00e4re unseres Seelenlebens ist nicht der Wille, sondern dasjenige was ihn zu\n1) Au\u00dfer den metaphysischen Schlusser\u00f6rterungen der Physiol. Psychol, vergl. mein System der Philosophie, S. 388 f.","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nW. Wundt.\nseiner Wirksamkeit veranlasst\u00ab1). Nachdem der vorige Einwurf dem Voluntarismus im Widerspruch mit ihm selber (oder doch jedenfalls im Widerspruch mit derjenigen Auffassung, die ich stets vertreten habe) einen abstracten einfachen Willen aufgeb\u00fcrdet hat, wird also jetzt eingewandt: dieser einfache Wille, dieser \u00bbblinde Drang\u00ab sei erstens in den zusammengesetzten Willenshandlungen nicht nachzuweisen, und zweitens sei bei diesen nicht der Wille, sondern der Zusammenhang der Motive das Prim\u00e4re.\nDas erste dieser Argumente f\u00e4llt von selbst, nachdem oben jener fingirte abstracte Wille \u00fcberhaupt als eine dem psychologischen Voluntarismus fremde Annahme nachgewiesen ist. Wenn aber die einfachen Willens- oder Triebhandlungen in Wahrheit selbst schon Empfindungen oder Vorstellungen als Motive enthalten, so wird damit auch die Entwicklung zusammengesetzter Willenshandlungen in Folge der Zunahme solcher Motive und ihres Kampfes gegen einander verst\u00e4ndlich. Die zusammengesetzte Willenshandlung ist nicht eine Summe einfacher Willenshandlungen oder eine Anzahl von intellectuellen Motiven und ein hinzutretender \u00bbblinder Drang\u00ab, sondern sie ist ein Entwicklungsproduct der einfachen Willenshandlungen, deshalb verst\u00e4ndlich, weil diese schon, wenngleich in einfacherer Verbindung, die n\u00e4mlichen Vorstellungs- und Gef\u00fchlselemente enthalten.\nDas zweite Argument spinnt nun den bereits in der vorherigen Ausf\u00fchrung herrschenden Gedanken der gesonderten Existenz eines abstracten Willens und eines abstracten Vorstellens noch weiter aus. Wenn diese abstracten Kr\u00e4fte als gesonderte existiren, dann ist es unzweifelhaft wahr, dass man die Vorstellungsmotive ebenso gut das prim\u00e4r Bestimmende nennen kann wie den Willen. Nur dass eben der \u00bbVoluntarismus\u00ab, wie ich ihn verstehe, gerade dies behauptet, dass ein solcher abstracter Wille, und dass ein solches abstractes Vorstellen nicht existiren, dass vielmehr die Vorstellungselemente ebenso wesentlich und nothwendig zu einem Willens Vorgang geh\u00f6ren wie die Gef\u00fchlselemente. Dagegen spielen allerdings in dem Ganzen, welches wir ein concretes Wollen nennen, sowie bei der \u00bbAufmerksamkeit\u00ab, bei dem was die popul\u00e4re Psycho-\n1) K\u00fclpe a. a. O. S. 195 f.","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n57\nlogie als das \u00bbInteresse\u00ab, als die \u00bbBevorzugung\u00ab gewisser Vorstellungen vor andern bezeichnet u. s. w., gewisse Gef\u00fchle, die mit der den Willensvorgang' abschlie\u00dfenden Willenshandlung in n\u00e4herer Beziehung stehen, eine hervorragende Bolle. Man sieht hieraus, dass der besprochene Einwand nur daraus begreiflich ist, dass er unter einer Voraussetzung argumentirt, die der vom psychologischen Voluntarismus vertretenen diametral widerspricht. Diese Voraussetzung ist aber keine andere als die der Verm\u00f6genstheorie. An die Stelle des concreten Wollens, das allein psychologische Wirklichkeit hat, setzt man den abstracten Willen, und da dieser abstracte Begriff nat\u00fcrlich keine Vorstellungen enth\u00e4lt, so bleibt nichts anderes \u00fcbrig, als sich jener alten Willenslehre wieder zuzuwenden, nach welcher Vorstellungen zun\u00e4chst da sind, dann der Wille entsteht oder vielmehr die Seele pl\u00f6tzlich entdeckt, dass sie einen Willen hat, und demzufolge veranlasst wird, ihn zu geeigneter Zeit anzuwenden, \u2014 lauter Dinge die man ja anschaulich genug geschildert hat1).\n3. Die Vorstellungen sollen von dem Voluntarismus \u00bbnicht als unabh\u00e4ngige, sondern als aneignende Th\u00e4tigkeiten geschildert\u00ab, eben darum aber auch ihnen \u00bbdie F\u00e4higkeit bestritten werden, die that-s\u00e4chliche Einheit unseres geistigen Lebens zu begr\u00fcnden\u00ab. Es bleibe daher \u00bbals einzige Einheitsfunction der Wille \u00fcbrig\u00ab, der \u00bbdurch seine qualitative Constanz\u00ab allein f\u00fcr \u00bbpositiv dazu bef\u00e4higt\u00ab gehalten werde. Dem wird nun entgegengehalten, ein \u00bbsolcher qualitativ constanter Wille\u00ab werde \u00bbin der Psychologie zumeist als eine den Thatsachen nicht entsprechende Abstraction abgelehnt\u00ab. Au\u00dferdem sei \u00bbdie Einheit unseres geistigen Seins, unserer Pers\u00f6nlichkeit oder unseres Charakters nicht eine einfache Thatsache der Erfahrung, sondern selbst eine Beflexion \u00fcber die Thatsachen\u00ab. Diese \u00bbAnnahme der Einheit unserer Pers\u00f6nlichkeit\u00ab beruhe aber \u00bbnicht sowohl auf einer einfachen und constanten Qualit\u00e4t psychischer Art, als vielmehr auf der Wahrnehmung eines durchg\u00e4ngigen Zusammenhangs der einzelnen psychischen Acte, wie er durch die Association der Vorstellungen vermittelt wird, ferner auf\n1) Vergl. meine Abhandlung: Zur Lehre vom Willen, Phil. Stud. I, S. 348 ff.","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nW. Wundt.\nder Stetigkeit unserer Entwicklung, die nirgends sprunghafte Ueber-g\u00e4nge, gegens\u00e4tzliche Zust\u00e4nde u. dergl. auftreten l\u00e4sst, endlich auf der Constanz des sinnlichen Hintergrundes unseres geistigen Lebens, der k\u00f6rperlichen Form, mit der wir uns umgeben wissen\u00ab1).\nDiese Er\u00f6rterung enth\u00e4lt nun zweifellos einige S\u00e4tze, die meinem \u00bbSystem der Philosophie\u00ab entlehnt sind, aher durch die Art, wie diese S\u00e4tze2) aus dem Zusammenhang herausgegrilfen und im Sinne einer psychologischen Theorie behandelt sind, werden sie in eine v\u00f6llig falsche Beleuchtung ger\u00fcckt. Wenn gesagt wird, den Vorstellungen werde die F\u00e4higkeit bestritten, die Einheit unseres Seelenlebens zu begr\u00fcnden, so ist das wahr, insofern gemeint ist, den Vorstellungen allein werde sie bestritten; es ist aher unwahr, wenn, wie es hier den Anschein hat, gemeint sein sollte, dass den Vorstellungen \u00fcberhaupt alle und jede Betheiligung an der Entwicklung der \u00bbEinheit unseres geistigen Lebens\u00ab abgesprochen werde. Inwiefern ich dem Zusammenhang der Vorstellungen in der That eine sehr wichtige Theilnahme an der Entstehung der \u00bbEinheit des Bewusstseins\u00ab zuschreibe, erhellt aus zahlreichen Stellen des gleichen Werkes sowohl wie aus anderw\u00e4rts gegebenen Ausf\u00fchrungen3). Wenn ferner der Wille nicht blo\u00df als die \u00bbeinzige Einheitsfunction\u00ab, sondern auch, angeblich im Sinne des Voluntarismus, als eine \u00bbeinfache und constante Qualit\u00e4t\u00ab bezeichnet wird, so hat sich hier die wirkliche Ansicht nicht nur in einen im allgemeinen v\u00f6llig unpsychologischen, sondern speciell meiner volunta-ristischen Anschauung absolut widerstreitenden Gedanken verwandelt. Wenn von mir gelegentlich der Wille als \u00bbconstante Th\u00e4tigkeit\u00ab, oder das ihn charakterisirende Th\u00e4tigkeitsgef\u00fchl als ein \u00bbconstantes, nur nach dem Grad seiner Wirksamkeit wechselndes Element des Bewusstseins\u00ab bezeichnet worden ist4), so sollten doch schon das Wort Th\u00e4tigkeit, die wiederholte Hervorhebung, dass auch die Gef\u00fchle nichts Dauerndes, sondern Processe sind, vor dem Missverst\u00e4ndnisse sch\u00fctzen, als werde hier der Wille wie ein abstractes Object von constanter Qualit\u00e4t gedacht. Im Sinne des Voluntaris-\n1)\tK\u00fclpe a. a. O. S. 196f.\n2)\tDieselben finden sich im wesentlichen auf S. 564.\n3)\tSystem der Philosophie S. 579 if. Physiol. Psychol. II4 S. 302 ff.\n4)\tVergl. z. B. System der Philosophie S. 565. Physiol. Psychol. II4, S. 266.","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n59\nmus, wie ich ihn verstehe, gibt es \u00fcberhaupt keinen Willen im allgemeinen, sondern nur einzelnes concretes Wollen, indem aber stets Gef\u00fchle von \u00fcbereinstimmendem Charakter wiederkehren. Deswegen sind aber auch diese Gef\u00fchle noch keineswegs \u00bbconstante Qualit\u00e4ten\u00ab: erstens weil sie, wie alle psychischen Vorg\u00e4nge, Ereignisse sind, also einen bestimmten Verlauf haben, und zweitens weil die allgemeine Uebereinstimmung des Th\u00e4tigkeitsgef\u00fchls die besonderen Gef\u00fchle, die der abweichende Motivinhalt verschiedener Willensvorg\u00e4nge mit sich bringt, nat\u00fcrlich nicht ausschlie\u00dft. 'Nicht jene allgemeine Uebereinstimmung der mit dem Willensvorgang, namentlich mit dem Act der Willensentschlie\u00dfung verbundenen Gef\u00fchle allein, sondern wesentlich auch die Stetigkeit des Verlaufs ist es aber, die dem Wollen nach meiner Ansicht allerdings in gewissem Sinne die Bedeutung einer \u00bbEinheitsfunction\u00ab verleiht. Freilich nicht dem isolirt und au\u00dfer dem Zusammenhang der sonstigen Bewusstseinsvorg\u00e4nge gedachten Wollen \u2014 das w\u00fcrde ja wieder jener abstracte Wille sein, den gerade der \u00bbVoluntarismus\u00ab grunds\u00e4tzlich negirt \u2014 sondern dem Wollen in seiner Verbindung mit der Gesammtheit der psychischen Vorg\u00e4nge. Daher auch z. B. die Associationen der Vorstellungen in ihrer Bedeutung f\u00fcr die Entwicklung der Einheit der Pers\u00f6nlichkeit durchaus von mir anerkannt werden. Ich habe ausdr\u00fccklich hervorgehoben, dass der Begriff \u00bbBewusstsein\u00ab nach meiner Auffassung nichts anderes bedeutet, als den unmittelbar erlebten Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge, dass ferner aus diesem Zusammenhang die sogenannte \u00bbEinheit des Bewusstseins\u00ab sich ergebe. F\u00fcr die Entwicklung des Selbstbewusstseins, also der Pers\u00f6nlichkeit, erkenne ich dann allerdings den Willensvorg\u00e4ngen den entscheidenden Einfluss zu, und ich behaupte, dass sich diese Entwicklung aus der blo\u00dfen Association der Vorstellungen nicht erkl\u00e4ren l\u00e4sst. Denn erstens glaube ich, dass die letztere Annahme der thats\u00e4chlichen Existenz der Gef\u00fchls- und Willensproeesse nicht gerecht wird; und zweitens glaube ich, dass sie \u00fcber die wirkliche Entwicklung des Selbstbewusstseins keine zureichende Rechenschaft gibt. Aber es ist mir wiederum niemals eingefallen zu behaupten, dass hierbei die Willensvorg\u00e4nge in abstracter Isolirung von dem \u00fcbrigen Bewusstseinsinhalte wirksam seien. W\u00fcsste ich doch kaum irgend eine Ueberzeugung","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nVV. Wundt.\nzu nennen, die ich h\u00e4ufiger und entschiedener betont h\u00e4tte als eben die, dass eine solche abstracte Trennung eine verfehlte, \u00fcberall die Wirklichkeit verf\u00e4lschende Anwendung eines leeren Schematismus sei1). F\u00fcr eine \u00bbeinfache Thatsache der Erfahrung\u00ab habe ich darum auch niemals die \u00bb Einheit unserer Pers\u00f6nlichkeit oder unseres Charakters\u00ab gehalten. Ich halte sie sogar f\u00fcr eine sehr verwickelte Thatsache und habe in diesem Sinne auf die mannigfachen Fac-toren, in die sie sich nach Ma\u00dfgabe der psychologischen Erfahrung zerlegen l\u00e4sst, hingewiesen2).\nDass alle diese Er\u00f6rterungen \u00fcber die psychologische Bedeutung und Entwicklung des Willens g\u00e4nzlich \u00fcbersehen worden seien, ist nat\u00fcrlich kaum denkbar. Hier gerade tritt aber der allgemeine Charakter dieser Kritik augenf\u00e4llig hervor, dass sie gewisse, einem andern Zusammenhang entnommene und noch dazu unvollst\u00e4ndig wiedergegebene metaphysische Betrachtungen so behandelt, als sollten sie psychologische Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnde sein. Um ermessen zu lassen, inwiefern solche metaphysische Betrachtungen richtig wiedergegeben und angewandt worden sind, scheint es mir jedoch unerl\u00e4sslich, auf den bei dieser Kritik g\u00e4nzlich au\u00dfer Betracht gebliebenen Zusammenhang derselben etwas n\u00e4her einzugehen.\nBei der Er\u00f6rterung der Fragen, inwiefern transcendente, d. h. die Grenzen der Erfahrung \u00fcberschreitende und in keiner Weise, weder direct noch indirect, durch die Erfahrung zu erweisende Ideen gleichwohl f\u00fcr unser Denken eine gewisse Berechtigung haben k\u00f6nnen, bin ich von der Bemerkung ausgegangen, dass ein solches Recht \u00fcberall nur in der Methode, durch welche jene Ideen gew\u00f6nnen sind, nimmermehr aber etwa in irgend welchen empirischen Anwendungen derselben gefunden werden k\u00f6nne. Ich habe in dieser Beziehung auf das Vorbild der Mathematik hingewiesen, welche gewisse transcendente (transcendent im philosophischen, nicht im gew\u00f6hnlichen mathematischen Sinne3)) Gr\u00f6\u00dfen-und Zahlbegriffe gewinne, indem sie Operationen, die zun\u00e4chst aus\n1)\tIch verweise nur auf folgende Stellen: Essays S. 203. Vorlesungen \u00fcber die Menschen- und Thierseele 2, S. 239 f. Physiol. Psychol. II4, S. 497.\n2)\tVergl. Physiol. Psychol. Il4, S. 302ff.\n3)\tUeber das Verh\u00e4ltnis beider Arten der Transcendenz vergl. a. a. 0.\nS. 194 Anm.","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n61\nAnlass realer empirischer Objecte und ihrer Beziehungen angewendet worden seien, \u00fcber diese Grenzen hinaus und eventuell ins unbegrenzte fortsetzt. Ein solcher \u00bbtranscendenter Regressus\u00ab kann nun, auf ein philosophisches Problem angewandt, in einer doppelten Form stattfinden: entweder indem er einen blo\u00df quantitativen Fortschritt \u00fcber alle gegebenen Grenzen der Erfahrung ausf\u00fchrt, oder indem er stetig von dem empirisch Gegebenen aus zu qualitativen Ideen \u00fcbergeht, die in keiner Erfahrung gegeben sind. Zu beiden Formen des Regressus bietet die Mathematik Vorbilder (a. a. O. S. 190 ff). Dort entsteht das \u00bbReal-Transcendente\u00ab, hier das \u00bbIma-gin\u00e4r-Transcendente\u00ab. Das erstere kann mit gewissen Vorbehalten die Erkl\u00e4rung des Zusammenhangs der Erfahrungen f\u00f6rdern helfen; bei dem letzteren ist das niemals m\u00f6glich. Der einzige Nutzen, den es allenfalls mit R\u00fccksicht auf die Erfahrung gew\u00e4hrt, ist der, dass es, \u00bban sich selbst ein Unwirkliches, doch die Begriffe, zu deren Bildung uns die Wirklichkeit antreibt, in ein helleres Licht zu stellen vermag\u00ab (S. 200). Ebensowenig wie man aber etwa aus den Eigenschaften eines Systems transcendenter Zahlen die Eigenschaften der realen Zahlen deduciren kann, ebensowenig ist es gestattet, jenes Imagin\u00e4r-Transcendente \u00fcberhaupt zum Erkl\u00e4rungsgrund der empirischen Wirklichkeit machen zu wollen. Nun geh\u00f6ren die transcendenten psychologischen \u00bbEinheitsideen\u00ab, gem\u00e4\u00df dem allgemeinen Inhalt der psychologischen Erfahrung, zum \u00bbIma-gin\u00e4r-Transcendenten\u00ab (S. 371). Dem entspricht, dass der trans-cendente Regressus hier von verschiedenen Ausgangspunkten aus unternommen werden kann, die zu verschiedenen metaphysischen Systemen f\u00fchren, zwischen denen \u00fcberall nur in dem Sinne eine Wahl m\u00f6glich ist, dass derjenige Regressus den Vorzug verdient, der von den s\u00e4mmtlichen f\u00fcr die psychologische Erfahrung bedeutsamen Thatsachen, ohne geflissentliche oder gewaltsame Ignorirung einzelner derselben, ausgeht (S. 209ff. 373ff.). In diesem Sinne wird von mir dem metaphysischen Voluntarismus *) der Vorzug einger\u00e4umt. Denn sein empirischer Ausgangspunkt ist nicht, wie der des intellectualistischen Spiritualismus, einseitig die Vorstellung,\n1) In dem System habe ich daf\u00fcr noch gelegentlich den Ausdruck \u00bbAnimismus\u00ab gebraucht (S. 209).","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nW. Wundt.\nsondern die vorstellende Th\u00e4tigkeit, die alle wesentlichen Elemente der psychischen Functionen in sich vereinigt (S. 385). Begrifflich gefasst enth\u00e4lt nun die vorstellende Th\u00e4tigkeit in sich die beiden Momente der Th\u00e4tigkeit und des Leidens, die beide an sich als gleich urspr\u00fcnglich angesehen werden m\u00fcssen, von denen aber das Moment der Th\u00e4tigkeit oder des Wollens dasjenige ist, das als die metaphysische Grundlage des Subjectes, das Moment des Leidens dasjenige, das als die metaphysische Grundlage der dem Subject gegebenen Objecte angesehen werden kann. Insofern nun das Moment des Leidens auf eine dem th\u00e4tigen Subject gegen\u00fcber-stehende Th\u00e4tigkeit bezogen wird, f\u00fchrt dieser Regressus schlie\u00dflich auf eine Vielheit in Wechselwirkung stehender einfacher Willensth\u00e4tigkeiten zur\u00fcck (S. 387, 418 ff.). Nur die so gewonnene \u00bbindividuelle\u00ab Einheitsidee steht, da der Ausgangspunkt des sie ergehenden Regressus das individuelle Bewusstsein ist, zugleich in Uebereinstimmung mit den Thatsachen der psychologischen Erfahrung, insoweit eine solche bei diesen transcendenten Ideen \u00fcberhaupt gefordert werden muss, n\u00e4mlich nicht in dem Sinne einer Deduction der Erfahrung aus ihnen, die, wie oben bemerkt, schlechterdings abzulehnen ist, sondern in dem andern Sinne, dass die transcendente Entwicklung keine willk\u00fcrliche \u00bbBegriffsdichtung\u00ab, sondern ein regelm\u00e4\u00dfiger Fortschritt von dem Gegebenen zu der zuletzt gewonnenen Einheitsidee sei. In der That entspricht dem gew\u00e4hlten Ausgangspunkte, der \u00bbvorstellenden Th\u00e4tigkeit\u00ab, der Endpunkt des metaphysischen Regressus, die Vielheit in Wechselwirkung stehender Willenseinheiten, weil damit auch metaphysisch die Untrennbarkeit von Wollen und Vorstellen betont ist (S. 415). Eine universelle Einheitsidee ist sodann, als das Ergehniss eines diese individuelle Entwicklung erg\u00e4nzenden \u00bbuniversellen Regressus\u00ab, durch die Beziehungen gefordert, in denen das individuelle Bewusstsein zu einer geistigen Gemeinschaft und demnach der Individualwille zu einem Gesammtwillen steht (S. 392ff.). Dagegen ist es v\u00f6llig verfehlt, und nicht Ergehniss eines methodisch berechtigten \u00bbtranscendenten Regressus\u00ab, sondern einer willk\u00fcrlichen Begriffsdichtung, wenn man von vornherein mit Schopenhauer einen universellen Willen zum metaphysischen Grundprincip macht. Ein solcher bietet zum wirklichen Wollen gar keine oder nur ebenso willk\u00fcrlich und","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"63\nUeber die Definition der Psychologie.\nphantastisch erdichtete Beziehungen wie zu den physischen Naturkr\u00e4ften dar. Statt mit dem Namen \u00bbWille\u00ab kann er ebenso gut mit dem des \u00bb Unbewussten \u00ab, des \u00bb Absoluten \u00ab u. dergl. belegt werden. Neben der Hervorhebung dieser wesentlichen Unterschiede des von mir vertretenen metaphysischen Voluntarismus von der mystischen Willensmetaphysik Schopenhauer\u2019s ist es mein besonderes Bem\u00fchen gewesen, die Anwendung solcher trans-cendenter metaphysischer Einheitsideen auf die Interpretation des Zusammenhangs der psychologischen Erfahrungsinhalte als unzul\u00e4ssig zur\u00fcckzuweisen, wie dies ja \u00fcbrigens auch schon aus der metaphysischen Bedeutung des \u00bbImagin\u00e4r-Transcendenten\u00ab \u00fcberhaupt hervorgeht (s. oben). In diesem Sinne hei\u00dft es a. a. O. S. 388 f., der \u00bbreine Wille\u00ab sei \u00bbkein Erfahrungsbegriff, sondern eine Vernunftidee, die an sich schon die Verwirklichung in irgend einer Erfahrung ausschlie\u00dft, da jede Th\u00e4tigkeit nothwendig Objecte voraussetzt, auf die sie sich beziehen muss. Der reine Wille bleibt also ein transcendenter Seelenbegriff, den die empirische Psychologie als letzten Grund der Einheit der geistigen Vorg\u00e4nge fordern, von dem sie aber schlechterdings f\u00fcr ihre Zwecke keinen Gebrauch machen kann.\u00ab Aehnliche Ausf\u00fchrungen finden sich auf S. 391 f., 415, 422f. u. a. a. O.\nHiernach beruht die gegen diese metaphysischen Er\u00f6rterungen meines Systems gerichtete KritikVaugenscheinlich auf einem dreifachen Irrthum: 1) Die dort auf Grund eines \u00bbtranscendenten Regressus\u00ab gewonnenen metaphysischen Einheitshegriffe werden im Widerspruch mit dem unzweideutigen Sinn meiner Er\u00f6rterungen und uneingedenk der von mir ausdr\u00fccklich gegen eine solche Verwendung ausgesprochenen Warnungen als empirisch-psychologische Hypothesen behandelt. 2) Jene Entwicklungen erfahren dadurch eine wesentliche, die methodologische Berechtigung des ausgef\u00fchrten \u00bbRegressus\u00ab geradezu aufhebende Ver\u00e4nderung, dass die Annahme der urspr\u00fcnglichen Einheit von Th\u00e4tigkeit und Leiden als Wirkung einer Vielheit individueller Willenseinheiten, eine Annahme, in welcher die Continuit\u00e4t der transcendenten Idee mit ihrem Ausgangspunkt, der \u00bbvorstellenden Th\u00e4tigkeit\u00ab, gewahrt ist, vollst\u00e4ndig \u00fcbergangen wird, so dass nur eine ahstracte Willensth\u00e4tigkeit, der nichts gegen\u00fcbersteht, allein \u00fcbrig bleibt. 3) Im Zusammenhang","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nW. Wundt.\nhiermit wird der grunds\u00e4tzliche Unterschied des von mir vertretenen, von der psychologischen Erfahrung ausgehenden und auf der planm\u00e4\u00dfigen Aufeinanderfolge eines \u00bbindividuellen\u00ab und \u00bbuniversellen Regressus \u00ab beruhenden metaphysischen Voluntarismus von der Willensmetaphysik Schopenhauer\u2019s vollst\u00e4ndig ignorirt. So ergibt sich denn als Resultat, dass zuerst Schopenhauer\u2019sehe Willensmetaphysik und Voluntarismus identisch gesetzt, und dass dann an diese Metaphysik der Ma\u00dfstab einer psychologischen Theorie angelegt wird. Ich betone nochmals, ich halte diese doppelte Confusion der Begriffe nicht f\u00fcr eine absichtliche, sondern f\u00fcr das Ergebniss eines redlichen, wenn auch freilich vergeblichen und allzu sehr an der Oberfl\u00e4che der Dinge haftenden Bem\u00fchens. Um so bezeichnender scheint sie mir aber f\u00fcr den sch\u00e4dlichen Einfluss metaphysischer Leitmotive zu sein. Die Willensmetaphysik Schopenhauer\u2019s und der Missbrauch transcendenter metaphysischer Begriffe zu psychologischen Erkl\u00e4rungszwecken sind nun einmal bekannte und gel\u00e4ufige Dinge. So wird denn trotz entgegengesetzter Ausf\u00fchrungen und ausdr\u00fccklicher Verwahrungen jeder Voluntarismus im Lichte des Schopenhauer\u2019schen Weltwillens gesehen, und jeden beliebigen metaphysischen Grenzbegriff behandelt man als eine psychologische Theorie.\nSchlie\u00dflich d\u00fcrfte es nicht ohne Interesse sein, auch die der soeben er\u00f6rterten Kritik beigef\u00fcgten Gegenvorschl\u00e4ge noch etwas n\u00e4her zu pr\u00fcfen. Zun\u00e4chst soll hiernach die Einheit der Pers\u00f6nlichkeit nicht nur keine einfache Thatsache, sondern eigentlich \u00fcberhaupt keine Thatsache, sondern eine \u00bbReflexion \u00fcber die Thatsachen\u00ab, ja eine \u00bbAnnahme\u00ab sein. Gewiss, wenn der logische Begriff der Pers\u00f6nlichkeit gemeint ist, so beruht dieser auf Reflexion, obgleich er deshalb noch keineswegs eine \u00bbAnnahme\u00ab ist, sondern eben ein Begriff, zu dessen Bildung der Thatbestand der Erfahrung den Anlass bietet. Aber die psychologische Entwicklung der Einheit der Pers\u00f6nlichkeit und die Entwicklung des logischen Begriffs derselben sind zweierlei Dinge. Was die Psychologie nachzuweisen hat, ist lediglich der Zusammenhang der Erfahrungstatsachen, aus dem jener Begriff hervorgeht. Denn die Psychologie hat es zu allererst mit der Wirklichkeit zu thun, nicht mit Reflexionen \u00fcber diese Wirklichkeit.","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Definition der Psychologie.\n65\nJene \u00bbAnnahme der Einheit unserer Pers\u00f6nlichkeit\u00ab soll nun aber weiterhin beruhen: 1) auf der durch die Association der Vorstellungen vermittelten Wahrnehmung eines durchg\u00e4ngigen Zusammenhangs der psychischen Acte, 2) auf der Stetigkeit unserer Entwicklung, 3) auf der \u00bbConstanz der k\u00f6rperlichen Form, mit der wir uns umgeben wissen,\u00ab d. h. allgemeinverst\u00e4ndlich ausgedr\u00fcckt unseres eigenen Leibes. Dass die Association der Vorstellungen zur Erkl\u00e4rung nicht zureicht, wird hier anscheinend zugestanden, indem ihr noch die Stetigkeit der Entwicklung und die Constanz der k\u00f6rperlichen Form beigef\u00fcgt ist. Nun ist aber nicht einzusehen, wie die Stetigkeit der Entwicklung anders zum Inhalte unserer psychologischen Erfahrung werden kann als vermittelst der Association der Vorstellungen. Um einen gegebenen Moment der Entwicklung als stetig aus einem fr\u00fcherem hervorgehend aufzufassen, bedarf man der Association ; und wenn \u00bbWillensvorg\u00e4nge\u00ab und was mit ihnen zusammenh\u00e4ngt in ihrer Bedeutung f\u00fcr diese Entwicklung negirt werden, so bedarf es dazu sogar nur der Association. Was aber die \u00bbConstanz der k\u00f6rperlichen Form\u00ab betrifft, so hat der \u00bbVoluntarismus\u00ab wahrlich nicht verabs\u00e4umt, auf die Bedeutung dieser relativ \u00bb constanten Vorstellungsgruppe\u00ab hinzu weisen, nur freilich dass er dabei zugleich noch ein weiteres Moment betonte, n\u00e4mlich den unmittelbaren Zusammenhang bestimmter Ver\u00e4nderungen dieser Vorstellungsgruppe mit den Willens Vorg\u00e4ngen. Ab-strahirt man aber von diesem Moment, beschr\u00e4nkt man sich, wie es hier geschieht, auf die \u00bbConstanz der k\u00f6rperlichen Form, mit der wir uns umgeben wissen\u00ab, so kann die Vorstellung dieser Constanz psychologisch auch nur wieder ein Produet der Vorstellungs-\u00bb association sein, durch die wir das fr\u00fcher und das sp\u00e4ter Vorgestellte verbinden. Die zur Erg\u00e4nzung der Association angef\u00fchrten Einfl\u00fcsse, die Stetigkeit der Entwicklung und die Constanz der k\u00f6rperlichen Form, erweisen sich demnach, so wie sie hier angef\u00fchrt sind, als Specialf\u00e4lle der Association, und der Vorschlag geht also dahin, die Einheit der Pers\u00f6nlichkeit ausschlie\u00dflich aus der Vorstellungsassociation zu erkl\u00e4ren.\nDas ist nun kein neuer Gedanke. Aber ich glaube nicht, dass sich dieser Gedanke, so oft er auch ausgesprochen wurde, als durchf\u00fchrbar erwiesen hat. Die Umwandlung aller psychischen\nWundt, Philos. Studien. XU.\t5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\tW. Wundt. Ueber die Definition der Psychologie.\nInhalte in Vorstellungen, auf der er beruht, widerspricht der Erfahrung; und wie aus dem Zusammenhang des Bewusstseins eine Einheit hervorgeht, wei\u00df er im allgemeinen nur unter Zuh\u00fclfe-nahme nicht analysirter psychologischer H\u00fclfsbegriffe deutlich zu machen. So auch im vorliegenden Beispiel. Das Selbstbewusstsein soll das Product einer \u00bbReflexion\u00ab sein, \u2014 der psychologische Inhalt dieses der Vulg\u00e4rpsychologie entnommenen complexen Begriffs der Reflexion bleibt aber v\u00f6llig dahingestellt.","page":66}],"identifier":"lit780","issued":"1896","language":"de","pages":"1-66","startpages":"1","title":"\u00dcber die Definition der Psychologie","type":"Journal Article","volume":"12"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:47:44.108352+00:00"}