Open Access
{"created":"2022-01-31T12:44:20.868811+00:00","id":"lit781","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 12: 307-408","fulltext":[{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\nVon\nW. Wundt.\nErster Artikel.\nEinleitung.\nSchlagw\u00f6rter, wie sie insonderheit in der Philosophie \u00fcblich sind, um bestimmte Richtungen des Denkens zu kennzeichnen, m\u00f6gen h\u00e4ufiger sch\u00e4dlich als n\u00fctzlich sein. Geschieht es doch allzu leicht, dass Anschauungen, die in Wirklichkeit weit auseinander liegen, zusammen geworfen oder verwechselt werden, blo\u00df weil sie zuf\u00e4llig von einem gewissen Gesichtspunkte aus unter die n\u00e4mliche Etikette gebracht werden k\u00f6nnen. Wenn nun vollends ein Begriff, wie der des \u00bbRealismus\u00ab, so ungeheuren Wandlungen unterworfen gewesen ist, dass die aristotelische Philosophie, die scholastische Theologie und die allerverschiedensten Systeme der modernen Philosophie von den Substanzlehren Descartes\u2019, Spinoza\u2019s und Herb art\u2019s an bis zu dem Materialismus sammt und sonders gelegentlich realistische Denkweisen genannt wurden, so liegt die' Frage nahe, ob es nicht besser w\u00e4re, ein Wort ganz zu vermeiden, das durch diese Vielheit der Bedeutungen nachgerade bedeutungslos geworden zu sein scheint.\nDennoch bleiben solche Schlagw\u00f6rter nicht blo\u00df in einem gewissen Ma\u00dfe unentbehrlich, sondern gerade in diesen ihren geschichtlichen Wandlungen sind sie zugleich bedeutsame Symptome der in einer bestimmten Periode vorherrschenden Denkrichtungen.\nWundt, Philos. Studien. XTT.\to-t","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nW. Wundt.\nSo ist es denn auch sicherlich nicht zuf\u00e4llig, dass gegenw\u00e4rtig auf so vielen Gebieten des Lehens der \u00bbRealismus\u00ab das herrschende Schlagwort geworden ist. In der Politik will man \u00bbRealpolitiker\u00ab sein, in der National\u00f6konomie sich, statt in abstracte Speculationen, in die realen geschichtlichen und socialen Factoren des wirtschaftlichen Lehens vertiefen; die Geschichte soll nicht blo\u00df erz\u00e4hlen, was unter dem unmittelbaren Einfluss einzelner Pers\u00f6nlichkeiten geschehen ist, sondern nachweisen, wie die realen Bedingungen der Wirtschaft, der Sitte, des Rechts und der allgemeinen Gesellschaftszust\u00e4nde gewirkt haben. In der Naturwissenschaft ist der n\u00e4mliche Zug der Zeit teils in der Sch\u00e4tzung dessen, was f\u00fcr reale technische Zwecke verwertbar ist, teils auch in der k\u00fchlen Skepsis zu bemerken, mit der vornehmlich auf den exacten Gebieten die Theorie ab-stracten Hypothesenhildungen gegen\u00fcbersteht. Man will die Erscheinungen genau so, Vie sie wirklich beschaffen sind, \u00bbbeschreiben\u00ab \u2014 nicht erkl\u00e4ren, denn1, hinter diesem Wort scheint sich die Vorstellung zu verbergen, es gebe irgend einen Schl\u00fcssel zu den Geheimnissen der Natur, der au\u00dferhalb der Natur selber gefunden werden k\u00f6nne. Vollends in der bildenden Kunst und sch\u00f6nen Literatur ist das Schlagwort des Realismus l\u00e4ngst auch solchen gel\u00e4ufig, denen es auf jenen andern Gebieten noch entgangen sein sollte. Begreiflich \u2014 nicht blo\u00df weil Kunst und Literatur zug\u00e4nglicher sind, sondern auch deshalb, weil das freie Schaffen des K\u00fcnstlers am wenigsten durch \u00e4u\u00dfere Hindernisse beengt wird, so dass hier neue geistige Richtungen in der Regel am fr\u00fchesten bemerkt werden k\u00f6nnen, freilich aber auch wohl am schnellsten ihren H\u00f6hepunkt wieder zu \u00fcberschreiten pflegen.\nDass sich die Philosophie diesem allgemeinen Geiste der Zeit nicht entziehen kann, ist selbstverst\u00e4ndlich. Und in der That, realistisch ist die heutige Philosophie durch und durch, \u2014 sie ist es so sehr, dass jene echten und rechten Idealisten, wie sie die Bl\u00fcthezeit der speculativen Philosophie im Anfang unseres Jahrhunderts gesehen hat, heute v\u00f6llig verschwunden zu sein scheinen. Mag es auch immer noch Einzelne geben, die sich selbst als Anh\u00e4nger oder Fortbildner des speculativen Idealismus ansehen, so ist doch dieser Idealismus selbst unversehens ein anderer geworden. In der That kann man sich heute eigentlich ebenso wenig mehr zur Fichte-","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n309\nsehen oder Hegel\u2019schen oder auch Kant\u2019sehen Philosophie bekennen, wie ein heutiger Poet noch im Stande ist, Geliert\u2019sehe Fabeln zu dichten. Was vorbei ist, ist vorbei, in der Wissenschaft so gut wie in der Kunst. Wenn man sich dieser trivialen Wahrheit in der Philosophie merkw\u00fcrdiger Weise nicht immer bewusst ist, so liegt der Grund wohl in der Meinung Mancher, die Philosophie f\u00fchre, verschieden von andern Gebieten des Lebens und Denkens, eine Art zeitloser Existenz, so dass sie sich um das, was um sie her vor sich geht, nicht zu k\u00fcmmern brauche. Aber diese beneidenswerthe Vorstellung erweist sich leider nicht als stichhaltig und, ohne dass sie es merken, selbst bei denen nicht, die ihr huldigen. Durch die Risse und Fugen der weltabgeschiedensten Klause dringen Licht und Ger\u00e4usch der Au\u00dfenwelt dennoch ein. Und dies tritt nicht selten da am deutlichsten zu Tage, wo sich die Richtungen einer entfernteren oder n\u00e4heren Vergangenheit scheinbar in ein neues Zeitalter fortsetzen, und wo nun dennoch die alten Formen von einem ver\u00e4nderten Inhalt erf\u00fcllt werden. Welche Wandlungen hat nicht der Platonismus in der Geschichte erlebt! In der Lehre seines Urhebers, in den gnostischen Systemen der hellenistischen Zeit, in der Renaissance, endlich in seinen letzten Nachwirkungen in der neueren Philosophie vom 17. Jahrhundert an ist er \u00fcberall derselbe und doch \u00fcberall ein anderer. Oder, um an ein n\u00e4heres Beispiel zu erinnern, was ist aus der Hegel\u2019schen Philosophie bei denjenigen ihrer Sch\u00fcler geworden, die sie wirklich selbst\u00e4ndig weiter zu bilden suchten, bei einem Ludwig Feuerbach oder gar bei einem Karl Marx? Die alt\u00e9n dialektischen Formen sind zum Theil erhalten geblieben, aber an die Stelle der alle Wirklichkeit aus sich hervorhringenden reinen Vernunft ist eine materialistische Weltanschauung getreten, welche die immanente Nothwendigkeit des Geschehens in Geschichte und Gesellschaft aus den sinnlichen Eigenschaften und Bed\u00fcrfnissen des Menschen ableitet.\nSo ist denn auch der Realismus vor allem in der Philosophie ein vieldeutiger Ausdruck. An sich l\u00e4sst er \u2014 man erinnere sich nur an die zwei weit entlegenen Begriffe des scholastischen und des Her-bart\u2019schen Realismus -r- den allerverschiedensten Denkweisen Raum. Will man wissen, welch\u2019 Geistes Kind ein bestimmter Realismus\n21*","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nW. Wundt.\nsei, so kommt es daher vor allem darauf an zu ermitteln, was von ihm f\u00fcr real gehalten wird. Hier kann nun hei dem philosophischen Realismus unserer Tage die Antwort nicht zweifelhaft sein. Man braucht sich nur nach den \u00fcbrigen Bestandtheilen der realistischen Geistesstr\u00f6mung in der Kunst und in den einzelnen Wissensgebieten umzusehen. Da will die realistische Kunst die Natur oder das menschliche Leben genau so wie sie sind, befreit von den aus \u00e4sthetischen oder sonstigen conventioneilen Regeln entsprungenen Verh\u00fcllungen und Ver\u00e4nderungen, wiedergehen. Das Gem\u00e4lde z. B., das eine Scene in freier Natur darstellt, soll die BeleuchtungsVerh\u00e4ltnisse zur Geltung bringen, die in der Natur selbst vorhanden sind, nicht andere, die man ihnen etwa aus R\u00fccksicht auf die in ged\u00e4mpfter Beleuchtung m\u00f6gliche feinere Vertheilung von Licht und Schatten substituirt hat. Die realistischen Geschichts-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften legen Werth auf die unverf\u00e4lschte Auffassung und Darstellung des Thats\u00e4chlichen und seiner empirisch gegebenen Zusammenh\u00e4nge, w\u00e4hrend sie jedem Versuch einer von allgemeinen Begriffen ausgehenden Construction ablehnend oder zweifelnd gegen\u00fcberstehen.\nDem entsprechend besteht auch der Realismus der heutigen Philosophie in erster Linie in der Hochsch\u00e4tzung der concreten Wirklichkeit und in dem damit eng verbundenen Gedanken, dass diese Wirklichkeit aus sich selbst, nicht aus irgend welchen ihr fremden, transcendenten Principien zu begreifen sei. Damit h\u00e4ngt zugleich das Streben zusammen, F\u00fchlung mit den einzelnen positiven Wissenschaften zu gewinnen; und wenn auch die im vollen Gegensatz zu dem vorangegangenen speculativen Idealismus stehende Idee, dass die Philosophie in den Einzelwissenschaften ihre Grundlage sehen m\u00fcsse, nicht umgekehrt diese in jener, bis jetzt nur in beschr\u00e4nktem Umfang Geltung erlangt hat, so ist doch jedenfalls die Ueberzeugung, dass die Philosophie nirgends in einen Widerspruch mit den gesicherten Ergebnissen der Einzelforschung ge-rathen d\u00fcrfe, ziemlich allgemein durchgedrungen. Dieser philosophische Realismus verbindet sich daher naturgem\u00e4\u00df mit einer hohen Werthsch\u00e4tzung der Erfahrung. Ist es doch die Erfahrung, die die concrete Wirklichkeit der Dinge zun\u00e4chst unserer Erkenntnis nahe bringt. Aber der Realismus ist darum noch keineswegs","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n311\nEmpirismus. Dieser will die Erkenntaiss grunds\u00e4tzlich auf den unmittelbaren Inhalt der Erfahrung einschr\u00e4nken; er lehnt darum, wenn er consequent ist, alle Hiilfsbegriffe ab, die nicht etwa, wie die Begriffe von Raum, Zeit, Zahl und Bewegung oder die empirischen Gattungsbegriffe, nur gewisse Formen oder Merkmale von Erfahrungsinhalten zusammenfassen. Der Realismus denkt im all- _ gemeinen anders. Obgleich auch ihm der Inhalt unseres Erkennens nur in der Erfahrung gegeben ist, so gibt er doch zu, dass die durch die Erfahrung geforderte logische Verkn\u00fcpfung der einzelnen Erfahrungsinhalte m\u00f6glicher Weise H\u00fclfsbegriffe n\u00f6thig macht, die selber durchaus nicht empirisch nachgewiesen werden k\u00f6nnen. So ist z. B. der heutige Realismus geneigt, den Naturforschern die Atome oder andere hypothetische H\u00fclfsgr\u00f6\u00dfen zu concediren, w\u00e4hrend der strenge Empirismus dieselben als metaphysische Annahmen bestreitet. Noch weniger hat der heutige Realismus nothwendig etwas mit dem Materialismus zu thun, obgleich dieser selbst geneigt ist sich seiner realistischen Denkweise zu r\u00fchmen. Der Materialismus ist eine metaphysische Richtung, die jene Bestandtheile der concreten Wirklichkeit, die an die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der K\u00f6rperwelt gebunden sind, willk\u00fcrlich vor andern bevorzugt, indem er die geistige Seite der Dinge aus der materiellen zu erkl\u00e4ren sucht. Der Realismus kann daher m\u00f6glicher Weise in den Materialismus Umschl\u00e4gen; aber er muss es durchaus nicht. Im Gegentheil, dem unbefangenen Realisten wird eine Denkweise widerstreben, die zur Interpretation der Wirklichkeit auch da hypo-fhetische H\u00fclfsbegriffe an wendet, wo diese weder durch die Er-tahrung gefordert sind noch f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss derselben etwas leisten. Jene fr\u00fcheren Bedeutungen des Begriffs Realismus endlich, wie sie in der Scholastik oder auch noch in Herb art\u2019s Metaphysik eine Rolle gespielt haben, sind uns heute so fremd geworden, dass wir uns erst in eine v\u00f6llig andere Ideenwelt versetzt denken m\u00fcssen, um sie verst\u00e4ndlich zu finden. Das Wirkliche zu begreifen -ist eben zu jeder Zeit das Ziel der Philosophie gewesen. In diesem Sinne konnte sich schlie\u00dflich jede Philosophie, sofern sie nicht etwa die Erreichbarkeit eines solchen Zieles \u00fcberhaupt bezweifelte, den Namen Realismus beilegen. In dieser weitesten Bedeutung hat daher das Wort nur noch den Zweck, Anschauungen, die an","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nW. Wundt.\nirgend einem positiven Wissensinhalte festhalten, von skeptischen Denkweisen zu unterscheiden. So trennt sich der Realismus der Scholastik durch seinen Glauben an die reale Existenz einer trans-scendenten Ideenwelt von dem diese selbst oder mindestens ihre Erkennbarkeit bestreitenden Nominalismus, so der Realismus Her-bart\u2019s durch seine Lehre von der unver\u00e4nderlichen Realit\u00e4t der letzten Elemente des Seienden von dem alles Sein in einen unendlichen dialektischen Process aufl\u00f6senden Idealismus der gleichen Zeit.\nWas ist nun aber dem heutigen philosophischen Realismus das Reale? Und welche Denkweise schreibt er verm\u00f6ge seiner Ansicht von Realit\u00e4t sich selbst zu? Ich meine, man kann in zureichender Uebereinstimmung mit den s\u00e4mmtlichen Richtungen dieses Realismus, so weit si\u00e8 auch sonst auseinandergehen m\u00f6gen, diese Fragen dahin beantworten: \u00bbAls real gilt das in der Erfahrung enthaltene einzelne Sein oder Geschehen nebst den Beziehungen, durch die es mit der Gesammtheit alles Realen verbunden ist. Als Realismus gilt daher die unverf\u00e4lschte, durch keinerlei Vorurtheile und willk\u00fcrliche Constructionen getr\u00fcbte Erkenntniss der in der Erfahrungswelt enthaltenen concreten Wirklichkeit.\u00ab\nDies ist nun allerdings ein Programm, dem schon \u00e4ltere Bestrebungen da und dort nahe kommen. Aber in dieser ausgepr\u00e4gten Form, mit seiner schroffen Abwehr nicht nur aller transcendenten Bem\u00fchungen, sondern auch jener skeptischen Richtungen, von denen fr\u00fcher der Kampf gegen das Transcendente ausschlie\u00dflich gef\u00fchrt worden war, mit einem Wort in dieser Form der Umkehrung des alten Skepticismus in eine durch und durch positive Denkweise ist dieser philosophische Realismus zweifellos eigenartig und neu, ebenso wie der sonstige Realismus in Kunst und Wissenschaft, trotz so vieler Ankl\u00e4nge an fr\u00fchere Culturperioden, eigenartig und neu ist. Weiterhin liegt es aber in der Natur der Sache, dass der Gesammtcharakter einer in vielen einzelnen Erscheinungen hervortretenden Anschauung in ihrer philosophischen Auspr\u00e4gung in mancher Beziehung klarer zu erkennen ist als in ihren sonstigen Wirkungen. Denn nur der philosophischen Betrachtung pflegt jene Selbstbesinnung \u00fcber Motive und Zwecke eigen zu sein,","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n313\nwi\u00e9 sie dem auf andern Gebieten mehr instinctiven Thun der Menschen in der Regel nicht zukommt. Dies ist es zugleich, was dem philosophischen Realismus, wie \u00fcberhaupt den philosophischen Gedankenstr\u00f6mungen, auch in culturgeschichtlicher Hinsicht ein erh\u00f6htes Interesse verleiht, ein Interesse welches selbst dann noch andauert, wenn die philosophischen L\u00f6sungsversuche der allgemeinen Erkenntnissprobleme an sich l\u00e4ngst f\u00fcr uns ihre Bedeutung verloren haben. Innerhalb der Philosophie steht dann aber hier die Erkenntnisstheorie wieder in erster Linie. Ist doch sie es, die jene Selbstbesinnung des Denkens \u00fcber sein eigenes Thun eigentlich zu ihrer specifischen Aufgabe hat. Demnach werden sich die folgenden Er\u00f6rterungen auf die neuere realistische Erkenntnisstheorie beschr\u00e4nken und auf andere philosophische Gebiete nur gelegentliche Seitenblicke werfen.\nSo weit nun die einzelnen Versuche realistischer Erkenntniss-theorien heute auseinandergehen m\u00f6gen, in einem Punkte herrscht erfreuliche Uebereinstimmung. Dieser Punkt ist zugleich f\u00fcr die moderne realistische Gedankenstr\u00f6mung auf allen Gebieten kennzeichnend. Um eine sichere Grundlage zu gewinnen, soll sich das Denken, so verlangt man, auf die Stufe des urspr\u00fcnglichen Er-kennens, einer durch keinerlei Reflexion ver\u00e4nderten Auffassung\n'\t\u00ee\nder Dinge, zur\u00fcckversetzen. Man fordert mit andern Worten zu-1 n\u00e4chst eine strenge Selbstbesinnung auf die aller Wissenschaft und Philosophie vorausgehenden Erkenntnissinhalte. Die so in dem\u2019 denkenden Bewusstsein absichtlich wiederhergestellte urspr\u00fcngliche Auffassungsweise bezeichnet man auch als die des naiven Realismus. Aber ebenso allgemein ist man wohl dar\u00fcber einig, dass dieser Standpunkt nicht als ein endg\u00fcltiger betrachtet werden d\u00fcrfe, sondern dass, nachdem jener erste Erkenntnissinhalt festgestellt sei, nunmehr eine kritische Sonderung seiner Bestandtheile vorgenommen werden m\u00fcsse, damit auf Grund der Pr\u00fcfung aller einzelnen hinsichtlich ihres Ursprungs und ihrer Bedeutung der Erkenntnisswerth derselben bestimmt werden k\u00f6nne. Der naive Realismus soll also nur der Ausgangspunkt sein, von dem aus man allm\u00e4hlich zu einem nicht blo\u00df das naive Gem\u00fcth, sondern auch die gereifte Reflexion befriedigenden kritischen Realismus","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nW. Wundt.\ngelangen m\u00f6chte. Auch diese letzte Absicht des philosophischen Realismus ist zweifellos vorbildlich f\u00fcr den Realismus auf allen andern Gebieten, obgleich man das nicht immer eingestehen will, sondern namentlich in der Kunst gerne die Miene annimmt, als sei mit dem naiven Realismus alles zu Ende und die Reflexion ein f\u00fcr allemal abgethan. In Wahrheit ist das nur \u00e4u\u00dferer Schein. Vielmehr, je urw\u00fcchsig naiver ein Kunstwerk aussieht, um so raffinirter pflegen die Reflexion und die Kritik zu sein, die sich hinter ihm verbergen. Dasselbe l\u00e4sst sich auch wiederum auf die Philosophie anwenden. Die Philosophen, die ihren eigenen Standpunkt ganz und gar als den des naiven Realismus bezeichnen, operiren nicht am wenigsten mit logischen Ahstractionen und Reflexionen. Man h\u00e4lt f\u00fcr naiv, was am weitesten entfernt ist es zu sein. So kann es kommen, dass der angebliche naive Realismus in die reinste Begriffsdialektik umspringt, oder dass gar diese von vornherein sich f\u00fcr jenen ausgibt. Nichts ist ja leichter als urspr\u00fcngliche Naivit\u00e4t. Nichts aber ist schwerer als wiedergewonnene Naivit\u00e4t, nichts schwerer als aus dem Zustand einer von Reflexion und Kritik \u00fcberladenen Cultur wieder in einen davon v\u00f6llig freien Naturzustand sich hineinzudenken. Wer das vollbringen will, der hat eben in ganz besonderem Grade Reflexion und Kritik n\u00f6thig. Und nicht blo\u00df ein ungew\u00f6hnliches Ma\u00df, sondern auch eine ungew\u00f6hnliche Art derselben. Die Reflexion muss ihn in den Stand setzen, die Dinge selbst von der Reflexion \u00fcber sie immer und \u00fcberall sicher zu unterscheiden. Und das ist eine Eigenschaft, an deren Zerst\u00f6rung die gew\u00f6hnliche Art zu reflectiren unabl\u00e4ssig arbeitet. Darum gibt man sich meist schon \u00fcber das was zu thun sei, um jenen Weg vom naiven zum kritischen Realismus zur\u00fcckzulegen, einer verh\u00e4ngnissvollen T\u00e4uschung hin. Den Standpunkt des naiven Realismus zu gewinnen, das, meint man, sei \u00fcberaus leicht, denn dazu sei es nur n\u00f6thig, sich f\u00fcr einen Augenblick in das harmlose Bewusstsein eines gew\u00f6hnlichen, nicht von philosophischer Kritik angekr\u00e4nkelten Sterblichen zu versetzen. Aber an dem so ermittelten naiven Erkenntnissinhalt die erforderliche Kritik zu \u00fcben, das gilt dann f\u00fcr eine um so schwierigere Aufgabe, zu deren L\u00f6sung alle H\u00fclfsmittel der Abstraction und der Reflexion in Bewegung gesetzt werden m\u00fcssten. Ich glaube, dass sich die","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n315\nSache nahezu umgekehrt verh\u00e4lt. Welches der wirkliche Inhalt des naiven Erkennens sei, das ist eine Frage, bei deren Beantwortung man sehr leicht irren kann, weil der reflectirende Mensch in Wirklichkeit \u00fcberhaupt nicht mehr im Stande ist, sich in den Zustand des naiven Bewusstseins zu versetzen. Und wollte man sich etwa bei einem wirklich naiven Menschen erkundigen, wie er sich eigentlich die Dinge denkt, so w\u00fcrde das wiederum nur zu Irrth\u00fcmern verleiten, weil jede solche Frage die bedenkliche Eigenschaft hat, eben den Zustand, den man erkennen will, zu beseitigen. Hat man sich aber erst einmal \u00fcber das, was wirklich der Inhalt des naiven Denkens ist, in Irrth\u00fcmer verwickelt, so ist auch der Weg zum kritischen Realismus, wenigstens zu einer haltbaren Form desselben, nicht mehr zu finden. Was man f\u00fcr den naiven Zustand h\u00e4lt, das pflegt nun erst recht ein Product \u00fcbers\u00e4ttigter Reflexion zu sein; und die Kritik, die hier beginnen soll, arbeitet von Anfang an mit den Schattenbildern der Dinge, statt mit den Dingen selber. Scharfsinn und dialektische Gewandtheit k\u00f6nnen sich bei solchem Bem\u00fchen gl\u00e4nzend beth\u00e4tigen, doch ein Erfolg ist von vornherein unm\u00f6glich.\nSo undenkbar es aber auch in unserer \u00fcber und \u00fcber von Reflexion erf\u00fcllten Zeit f\u00fcr den Einzelnen sein mag, zu den gl\u00fccklichen Urzust\u00e4nden einer absolut voraussetzungslosen Naivit\u00e4t zur\u00fcckzukehren, so glaube ich dennoch, dass es ein H\u00fclfsmittel gibt, dieses Ziel oder, wenn nicht das Ziel selbst, so doch eine hinreichend genaue' Vorstellung davon zu erreichen. Ich finde, dass dieses H\u00fclfsmittel von den Vertretern des modernen philosophischen Realismus so gut wie gar nicht benutzt worden ist, obgleich es, wie man denken sollte, nahe genug liegt. Dasselbe ist nicht etwa die Psychologie, wenigstens nicht jede beliebige Psychologie. Psychologische Ueberlegungen pflegen sogar nicht zum wenigsten die Irrth\u00fcmer, denen man sich in Bezug auf den Zustand des urspr\u00fcnglichen Erkennens hingibt, mit zu verschulden. Denn hier gerade, wo es an den zu psychologischen Schl\u00fcssen erforderlichen Thatsachen g\u00e4nzlich gebricht, hat jene falsche Psychologie, die auch sonst noch verbreitet .genug ist, und die logische Reflexionen \u00fcber oberfl\u00e4chlich gebildete Begriffe f\u00fcr Thatsachen psychologischer Erfahrung h\u00e4lt, den weitesten Spielraum. Das H\u00fclfsmittel, das ich meine, ist die","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nW. Wundt.\n-r Geschichte der Wissenschaft. Ihre Anfangszust\u00e4nde spiegeln uns nicht die allerersten, aber doch relativ fr\u00fche und im Verh\u00e4lt-niss zu unserer eigenen Auffassungsweise urspr\u00fcngliche und naive Anschauungen. Auch hier liegen die Resultate freilich nicht auf der Oberfl\u00e4che. Um sie richtig zu verstehen, um aus den gegebenen Daten auf das zur\u00fcckzuschlie\u00dfen, was selbst einer primitiven Reflexion schon vorausging, dazu bedarf es in der That der psychologischen Vertiefung. Nur hat diese erst dann einen festeren Boden unter sich, wenn sie sich auf die Zeugnisse der Ueberlieferung st\u00fctzt; und sie entgeht so dem nothwendig missgl\u00fcckenden Versuch, unvermittelt aus einem Stadium verwickeltster Reflexion heraus auf eine primitive Bewusstseinsstufe aur\u00fcckkehren zu sollen. Zudem ist es die Wissenschaftsgeschichte, die zugleich \u00fcber diejenigen Motive des Denkens, die von der Stufe des naiven zu der des kritischen Realismus \u00fcberf\u00fchren, die zuverl\u00e4ssigste Rechenschaft gibt. Freilich scheint es noch immer eine weit verbreitete Meinung zu sein, die Philosophie habe zwar an thats\u00e4chlichem Inhalt des Erkennens dankbar entgegenzunehmen, was ihr die positiven Einzelwissenschaften \u00fcberliefern, doch wo es sich um die allgemeinen Methoden und Principien handle, da habe sie selbstherrlich ihre eigenen Wege zu gehen und umgekehrt den Einzelgebieten ihre Gesetze vorzuschreihen. Aber Inhalt und Form des Erkennens sind nun einmal nicht von einander zu trennen; und wer die Resultate einer Wissenschaft anerkennt, der muss sich wohl oder \u00fcbel auch mit den Wegen befreunden, die zu diesen Resultaten gef\u00fchrt haben. Der philosophischen Erkenntnistheorie bleibt genug zu thun, wenn sie \u00fcber die von der Wissenschaft zumeist mehr aus instinctivem Takt als unter der F\u00fchrung fester logischer Motive befolgten Erkenntnissweisen klare Rechenschaft gibt, sie auf die in ihnen zum Ausdruck gelangten Principien zur\u00fcckf\u00fchrt und endlich den meist von der Einzelforschung selbst nicht zureichend durchschauten Zusammenhang dieser Principien aufzeigt. Angesichts dieser gro\u00dfen und fruchtbaren Aufgabe darf sie auf den Wahn verzichten, die menschliche Erkenntniss aus nichts oder, was davon thats\u00e4chlich nicht viel verschieden ist, aus der gew\u00f6hnlichen, durch nichts controlirbaren Selbstbeobachtung begreifen zu wollen. Hier lebt auch noch in den realistischen Erkenntnisstheorien unserer","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber naiven und kritischen Realismus.\n317\nZeit, die sich anscheinend bescheiden mit der Feststellung allgemeiner Grundlagen begn\u00fcgen wollen, etwas von jenem Geiste selbstherrlicher Begriffsconstruction, durch den sich einst das Hegel\u2019sche System zu einem fr\u00fchen Untergang verurtheilte. Den positiven Wissenschaften aber fehlt es keineswegs an den zureichenden allgemeinen Antworten auf die Fragen der Erkenntnisstheorie. Nur liegen diese Antworten in der Regel nicht an der Oberfl\u00e4che, sondern sie m\u00fcssen erst gehoben, aus einzelnen Anwendungen erschlossen werden. Nicht erfinden, sondern auffinden soll die Erkenntnisstheorie die Principien der Erkenntniss. Der richtige Weg dazu ist daher nicht der, dass sich der Philosoph auf sein eigenes Bewusstsein zur\u00fcckzieht, sondern der, dass er die Arbeit menschlichen Denkens, die ihm die Wissenschaft zur Verf\u00fcgung stellt, zur Grundlage seiner Selbstbesinnung nimmt. Wenn es nun einmal nicht anders geht, als dass man die meisten Dinge nur von einer gewissen Ferne aus in Augenschein nehmen kann, so soll wenigstens der gew\u00e4hlte Standpunkt lieber die Vogel- als die Maulwurfsperspective sein. Jenen Weg vom naiven zum kritischen Realismus, den man ganz richtig als den einzig gangbaren f\u00fcr die Erkenntnisstheorie zu begreifen angefangen hat \u2014 die Wissenschaft selbst hat ihn in ihrer Geschichte zur\u00fcckgelegt. Allerdings nicht ohne mannigfache Umwege. Immerhin sind diese jedenfalls ungef\u00e4hrlicher als die m\u00f6glichen Irrungen der subjectiven Selbstbesinnung, da die Geschichte an ihnen bereits eine nicht misszuverstehende Kritik ge\u00fcbt hat.\nIch habe es f\u00fcr n\u00fctzlich gehalten, diese Bemerkungen den folgenden kritischen Er\u00f6rterungen \u00fcber einige Gestaltungen des neueren philosophischen Realismus vorauszuschicken, um von vornherein den allgemeinen Standpunkt anzudeuten, den diese Er\u00f6rterungen einnehmen werden. Wenn die Ergebnisse, zu denen ich dabei gelange, in der Regel ablehnende sind, weil mir die Wege, die die hier zu behandelnden Theorien einschlagen, zumeist als Irrwege erscheinen, so m\u00f6chte ich aber nicht unterlassen hervorzuheben, dass ich gleichwohl jene Erkenntnisstheorien selbst f\u00fcr scharfsinnige und verdienstliche Leistungen halte. F\u00fcr verdienstlich deshalb, weil es eben nun einmal die Bestimmung der Philosophie ist, dass sie auch da, wo bestimmte, irgendwie geschichtlich motivirte Bedingungen des Denkens zu Irrth\u00fcmern verf\u00fchren, die Folgerungen","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nW. Wundt.\nmit r\u00fccksichtsloser Consequenz ziehe, um damit indirect wieder der Wahrheit zu dienen. Bei der Auswahl der zu besprechenden Fragen hin ich \u00fcbrigens nicht blo\u00df von dem Wunsche geleitet worden, Ansichten, die mir irrig scheinen, zu widerlegen, sondern mehr noch von dem andern, eigene Anschauungen da und dort klarer, als es bisher geschehen ist, zu entwickeln und Missverst\u00e4ndnisse, denen sie begegnet sind, zu beseitigen.\nI. Die immanente Philosophie.\n1. Allgemeiner Standpunkt.\nIndem ich eine der bemerkenswerthesten Gestaltungen des neueren Realismus als die der \u00bbimmanenten Philosophie\u00ab bezeichne, erfreue ich mich zugleich des Vortheils einen Namen zu w\u00e4hlen, den einige der Hauptvertreter dieser Richtung selbst ihr beigelegt haben1). Hierbei wird der Standpunkt in dem Sinne ein \u00bbimmanenter\u00ab genannt, dass man die M\u00f6glichkeit irgend w\u00f6lcher \u00bbtrans-scendenter\u00ab Erkenntnissinhalte grunds\u00e4tzlich leugnet. Abgesehen von diesem allgemeinen Grundgedanken und den an ihn gekn\u00fcpften n\u00e4chsten Folgerungen sind dann freilich die Anh\u00e4nger der imma-nennten Erkenntnisslehre keineswegs in allen einzelnen Ueberzeu-gungen einig; und je mehr die Probleme namentlich die specielleren Gebiete der Naturphilosophie und Psychologie ber\u00fchren, um so weniger fehlt es an Meinungsunterschieden. Doch scheinen diese von den Bekennern der Immanenzphilosophie selbst nicht f\u00fcr erheblich angesehen zu werden. Die allgemeine Grundanschauung glaube ich in folgende S\u00e4tze zusammenfassen zu k\u00f6nnen:\n\u00bbAlle Erkenntniss, ob sie sich auf unser eigenes Sein oder auf die Welt au\u00dfer uns beziehe, ist Bewusstseinsinhalt. Als\n1) So in den j\u00fcngst erschienenen zwei ersten Heften der \u00bbZeitschrift f\u00fcr immanente Philosophie unter Mitwirkung von W. Schuppe und R. v. Schubert-Soldern herausgegeben von M. R. Kauffmann. Berlin 1895\u00ab. Abgesehen von diesem Titel des neuen Organs spielt aber auch sonst die Hervorhebung des Princips der Immanenz eine hervorragende Rolle in den Schriften der Erkennt-nisstheoretiker dieser Richtung. Als Vertreter derselben sind au\u00dfer Schuppe, und v. Schubert-Soldern namentlich noch A. v. Leclair und J. Rehmke\nzu nennen.","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"319\nUeber naiven und kritischen Realismus.\nsolcher enth\u00e4lt sie einerseits das denkende Ich als Subject, anderseits Empfindungsinhalte als Objecte. Diese beiden Bestandteile bedingen sich gegenseitig : ohne Subject gibt es keine Objecte, ohne Objecte kein Subject. Das Subject ist nun zun\u00e4chst als individuelles Ich, gebunden zugleich an den eigenen Leib, gegeben. Das individuelle setzt aber ein allgemeines oder gattungsm\u00e4\u00dfiges Ich voraus. Dies ergibt sich auf doppelte Weise: erstens empirisch, als das Resultat der die Entwicklung des Ichbegriffs bestimmenden Bedingungen, und zweitens logisch, als eine die Denkbarkeit des individuellen Ich \u00fcberhaupt erst erm\u00f6glichende logische Forderung. Empirisch gehen n\u00e4mlich in den individuellen Bewusstseinsinhalt neben andern Objecten insbesondere auch die Wahrnehmungen fremder Leiber ein. Sie gewinnen dadurch eine besondere Bedeutung, dass sie auf die Existenz fremder Ichs zu schlie\u00dfen n\u00f6thigen, zu denen in vielen Beziehungen dem des eigenen Ich gleiche, in andern Beziehungen von ihm verschiedene individuelle Bewusstseinsinhalte geh\u00f6ren. Logisch aber verliert das individuelle Ich, sobald wir von den Objecten abstrahiren, vollst\u00e4ndig seinen individuellen Charakter: es geht also in Folge dieser Abstraction in das allgemeine Ich \u00fcber. Auf beiden Wegen, dem empirischen und logischen, ergibt sich demnach, dass das gattungsm\u00e4\u00dfige Ich die Bedingung f\u00fcr die Existenz des individuellen Ich ist. Durch die Unterscheidung beider ist ferner ein Kriterium gegeben, mittelst dessen sich allgemeing\u00fcltige Erkenntnisse von individuell ver\u00e4nderlichen sondern lassen. Allgemeing\u00fcltig ist n\u00e4mlich, was in unserem Bewusstsein dem gattungsm\u00e4\u00dfigen Ich angeh\u00f6rt. Das Allgemeing\u00fcltige ist wahr, das individuell Ver\u00e4nderliche ist Gegenstand der blo\u00dfen Meinung, und wenn es f\u00fcr allgemeing\u00fcltig gehalten wird, so veranlasst es den Irrthum. Analog diesem Ver-h\u00e4ltniss ist nun \u00fcberhaupt das der Gattung zur Species oder zum Einzelnen zu denken: die Gattung kann durch Abstraction nur gefunden werden, weil sie selbst schon im Individuellen enthalten ist. Das Individuum aber muss sich, damit es einer Gattung sub-sumirt werden k\u00f6nne, in Relationen zu andern Individuen befinden. Da jedes Einzelne diesen gattungsm\u00e4\u00dfigen Charakter besitzt, so kann es demnach \u00fcberall nur relativ bestimmt werden: so die Empfindung Roth z. B. durch ihr Verh\u00e4ltniss zu andern Farben, so","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"ein Ort im Raum durch sein Verh\u00e4ltniss zu andern Oertern u. s. w. Darum beruht alle Pr\u00e4dication im Urtheil auf der Zusammengeh\u00f6rigkeit von Erscheinungselementen. Die allgemeinsten dieser Erscheinungselemente sind die des Raumes, der Zeit, der Zahl. Sie sind so wenig ableitbar wie die Empfindungsinhalte und geh\u00f6ren wie diese zum objectiven Bewusstseinsinhalt, nicht zum ab-stracten Subject, welches an sich unr\u00e4umlich und unzeitlich ist. Die Beziehungen, in die das denkende Subject alle diese ihm gegebenen Bewusstseinsinhalte in seinen Urtheilen bringt, ordnen sich aber zwei Gesetzen unter, dem der Identit\u00e4t und der Causalit\u00e4t. Nach dem Identit\u00e4tsgesetz, welches zugleich die Unterscheidung und die Verneinung einschlie\u00dft, vergleichen wir Erfahrungsinhalte mit einander und leiten aus gegebenen Urtheilen, in denen solche Vergleichungen ausgedr\u00fcckt sind, andere Urtheile mit Nothwendig-keit ab. Auf dem Identit\u00e4tsgesetz beruht daher nicht blo\u00df das Urtheil, sondern auch der Schluss, der kein neuer Denkact ist, sondern in dem sich nur die schon im einzelnen Urtheil vorhandene Denkth\u00e4tigkeit \u00fcber mehrere Urtheile erstreckt. Nach dem Causalit\u00e4tsgesetz bringen wir dagegen Sinnesdata in ein Verh\u00e4ltniss zu einander, die nicht unmittelbar durch' Gleichheit und Unterschied in einem solchen stehen, sondern die sich erst dadurch, dass wir sie in ihrem Aufeinanderfolgen oder Zugleichsein zu einem Ganzen verbinden, dem Zusammenhang unserer Erfahrung als Glieder einordnen. Da Bewusstsein ohne eine solche Verbindung des Gleichzeitigen und Aufeinanderfolgenden nicht m\u00f6glich w\u00e4re, so ergibt sich daraus auch die Gausalit\u00e4t f\u00fcr die Erfahrungswelt, die das Object des Bewusstseins ist, als nothwendige Forderung, w\u00e4hrend es keinen Sinn haben w\u00fcrde, f\u00fcr eine au\u00dfer dem Bewusstsein existirende Welt einen solchen Causalzusammenhang vorauszusetzen. Sowohl die Naturwissenschaft wie die Psychologie bedienen sich nur in diesem Sinne des Causalit\u00e4tsgesetzes zur Verkn\u00fcpfung der Erfahrungen. Indem hierbei die Naturwissenschaft die Relationen der Objecte im Raum und ihre Ver\u00e4nderungen in der Zeit untersucht, muss sie aber diesen Objecten, da sie Bewusst-seinsdata sind, nothwendig auch die Eigenschaften beilegen, die den Bewusstseinsinhalten \u00fcberhaupt zukommen, also nicht blo\u00df r\u00e4umliche Figur und Gr\u00f6\u00dfe, sondern auch Empfindungsqualit\u00e4ten,","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n321\nwie die Farbe. Wenn daher die Naturwissenschaft, was ihr nicht verwehrt werden kann, Atome als H\u00fclfsgr\u00f6\u00dfen anwendet, so muss sie dieselben nothwendig als kleine wi||jjj&be; K\u00f6rper denken. Indem dagegen die Psychologie das Subject oder das Ich zu ihrem Gegenst\u00e4nde hat, kann sie dieses, das f\u00fcr sich allein gedacht ein vollkommen abstracter Begriff istj' nur mittelst der Determinationen bestimmen, die das abstracte Ich im individuellen Bewusstsein erf\u00e4hrt. Diese Determinationen oder die individuellen Bewusstseinsvorg\u00e4nge interessiren jedoch die Psychologie wesentlich nur insofern, als sie zum gattungsm\u00e4\u00dfigen Charakter des Ich oder zur \u00bbNatur des Menschen\u00ab geh\u00f6ren, also in ihrer allgemeing\u00fcltigen Beschaffenheit. Da diese' Begriffsbestimmungen der Naturwissenschaft und der Psychologie auf die Feststellung des logischen Verh\u00e4ltnisses zwischen Subject und Object \u00fcberhaupt gegr\u00fcndet sind, so setzen \u00fcbrigens bhide Wissenschaften die Erkenntnisstheorie als ihre Grundlage voraus.\u00ab \u2014\nIch muss nat\u00fcrlich zugeben, dass es mir vielleicht nicht v\u00f6llig gelungen ist, in diesen S\u00e4tzen die Anschauungen der Vertreter der Immanenzphilosophie so wiederzugeben, wie sie selbst es tliun w\u00fcrd\u00e9n. Doch glaube ich wenigstens die Hauptpunkte richtig getroffen zu haben. Mehr w\u00fcrde schon deshalb unm\u00f6glich sein, weil die einzelnen Anh\u00e4nger der immanenten Erkenntnisstheorie in manchen Punkten auseinandergehen. So wird z. B. in einer der wichtigsten Fragen, in der Bestimmung des Verh\u00e4ltnisses zwischen dem individuellen und dem gattungsm\u00e4\u00dfigen Iclybald auf die logische Correlation beider bald auf die empirische Entwicklung der Vorstellung des \u00bbfremden Ich\u00ab der Hauptwerth gelegt. Ich habe dem nur dadurch Rechnung tragen k\u00f6nnen, dass ich oben beide Arten der Begr\u00fcndung, die logische und die empirische, einander coor-dinirte. Ich behalte mir vor, auf diese wie \u00fcberhaupt auf solche Punkte, die in den obigen S\u00e4tzen nicht zureichend ausgef\u00fchrt werden konnten, bei der kritischen Er\u00f6rterung der Hauptbegriffe noch n\u00e4her einzugehen.","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nW. Wundt.\n2. Immanenz und Transcendenz. a. Doppelte Bedeutung der Transcendenz.\nDen Angelpunkt der ganzen immanenten Philosophie bildet der Begriff der Immanenz. Dieser Begriff erh\u00e4lt aber seine Bedeutung erst durch den Sinn, der mit dem ihm gegen\u00fcberstehenden Begriff der Transcendenz verbunden wird. Transcendent ist nach der Auffassung der Immanenzphilosophie erstens alles was seinem Begriff nach die Grenzen unserer Erfahrung \u00fcberschreitet, und zweitens alles was als ein au\u00dferhalb des Bewusstseins existirender Gegenstand angenommen wird. Das erste ist das Transcendente im gew\u00f6hnlichen Sinne des Wortes, das zweite enth\u00e4lt den Begriff in einer neuen Bedeutung, und diese ist es zugleich, zu welcher der Standpunkt der \u00bbImmanenz\u00ab den Gegensatz bildet. Jener Gedanke eines au\u00dferhalb des Bewusstseins existirenden Gegenstandes wird ein Ungedanke genannt, der sich seihst aufhebe, weil er die Forderung in sich schlie\u00dfe, ein Ding gleichzeitig zu denken und au\u00dferhalb des Denkens vorauszusetzen, also nicht zu denken1). Man erkl\u00e4rt daher auch diese Vorstellungsweise f\u00fcr eine absurde Verdoppelung eines und desselben Bewusstseinsinhaltes, der gleichzeitig als im Bewusstsein und als unabh\u00e4ngig vom Bewusstsein vorhanden angenommen werde, wobei aber diese letztere Voraussetzung offenbar nur auf einer unzul\u00e4ssigen Abstraction vom Bewusstsein beruhe2).\nDass diese Uebertragung des Transcendenzbegriffs von dem Ding jenseits aller Erfahrung auf das Ding jenseits des eigenen Bewusstseins schon in der Kantischen Erkenntnisstheorie vorbereitet wird, ist leicht zu erkennen. Kant betont ja bereits, dass uns Gegenst\u00e4nde nur als \u00bbErscheinungen\u00ab, das hei\u00dft in der Sprache der Immanenzphilosophie ausgedr\u00fcckt als \u00bbBewusstseinsdata\u00ab gegeben sein k\u00f6nnen. Darum hat bei ihm der Begriff der \u00bbDinge an sich\u00ab die doppelte Bedeutung, dass er erstens Ideen wie Seele,\n1)\tSchuppe, Erkenntnisstheoretische Logik. 1878. S. 34.\n2)\tv. Schubert-Soldern, Ueber Transcendenz des Objects und Subjects. 1882. S. 141. Schuppe, Grundriss der Erkenntnisstheorie u. Logik. 1894. S. 28.","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\t323\nGott, absolute Causalit\u00e4t bezeichnet, die g\u00e4nzlich jenseits aller Erfahrung liegen, und dass er zweitens auf die Idee eines empirischen Gegenstandes bezogen wird, insofern wir denselben als einen unabh\u00e4ngig von unserem Denken existirenden voraussetzen. Hier blieb freilich Kant bei der Ansicht stehen, dass ein solcher Gegenstand anzunehmen sei, wenngleich er uns nur als \u00bbErscheinung\u00ab gegeben werde. Die Immanenzphilosophie dagegen hebt die Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich ganz auf, weil sie nur \u00bbBewusstseinsinhalte\u00ab, also Erscheinungen im Sinne Kant\u2019s als existirend anerkennt. Damit f\u00e4llt die Unterscheidung dieser und der Dinge an sich von selbst weg, weil nun den Dingen eine Existenz au\u00dferhalb des Bewusstseins \u00fcberhaupt nicht mehr zugestanden wird.\nMan kann wohl anerkennen, dass, nachdem einmal Kant den Begriff der Dinge an sich in dieser Anwendung auf die Gegenst\u00e4nde der Erfahrung eingef\u00fchrt hatte, der Versuch der Beseitigung eines solchen halb transcendenten halb empirischen Grenzbegriffs durch die Umwandlung aller Erfahrungsgegenst\u00e4nde in Erscheinungen oder Bewusstseinsdata gerechtfertigt ist. Eine andere Frage aber ist es, ob nicht eben jener zweite Transcendenzbegriff Kant\u2019s, auf dem dieses ganze Unternehmen ruht, selbst schon ein verfehlter sei. In der That tritt die g\u00e4nzliche Verschiedenheit dieser zweiten von der ersten oder gew\u00f6hnlichen Form der Transcendenz gerade in der Immanenzphilosophie h\u00f6chst augenf\u00e4llig zu Tage, nachdem diese den f\u00fcr Kant ma\u00dfgebenden Grund zur Anwendung des Begriffs, den Gegensatz zur \u00bbErscheinung\u00ab, hat fallen lassen und gleichwohl den Begriff selber beibeh\u00e4lt. Denn bei Kant war ja die zweite immer noch insofern auf die erste Form der Transcendenz zur\u00fcckzuf\u00fchren, als ihm das nicht als Erscheinung gedachte Ding jenseits aller Erfahrung lag. F\u00fcr die Immanenzphilosophie dagegen ist das nicht als \u00bbBewusstseinsinhalt\u00ab gedachte Ding lediglich deshalb transcendent, weil es als unabh\u00e4ngig vom Ich existirend vorausgesetzt wird. Wenn wir aber auf das was jenseits unseres Erkennens \u00fcberhaupt liegt, und auf das was jenseits unseres Ich liegt gleichzeitig den Begriff des Transcendenten anwenden, so ist hier das \u00bbtranscendere\u00ab beidemal in einem ganz verschiedenen Sinne genommen. Denn es sind zwei verschiedene\nWundt, Philos. Studien. XII.\t;'\t22","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nW. Wundt.\nGrenzen, die in beiden F\u00e4llen \u00fcberschritten werden: dort die Grenze der Erfahrung \u00fcberhaupt, hier die Grenze der auf die eigenen Bewusstseinsvorg\u00e4nge bezogenen subjectiven Erfahrung.\nb. Die Transcendenz des Objectes und der naive Realismus.\nNun macht allerdings die immanente Philosophie geltend, diese zweifache Bedeutung der Transcendenz stelle sich bei n\u00e4herem Zusehen als eine \u00fcbereinstimmende heraus, weil Erfahrung \u00fcberhaupt und subjective Erfahrung der eigenen Bewusstseinsdaten schlie\u00dflich eins und dasselbe seien. In der That will man gerade in dieser Beziehung dem Standpunkte des \u00bbnaiven Realismus\u00ab wieder zu seinem Rechte verholfen haben, indem man die mancherlei falschen Correcturen, welche die verschiedenen philosophischen Systeme an diesem vorgenommen, beseitigt und ihm nur die nicht zu entbehrende Erg\u00e4nzung beigef\u00fcgt habe, dass die Gegenst\u00e4nde der Erfahrung immer zugleich als Bewusstseinsinhalte zu denken seien. Dem naiven Realismus gelte es als selbstverst\u00e4ndlich, dass wir uns in einer wirklichen r\u00e4umlich ausgedehnten Welt befinden; und die immanente Philosophie verlasse diesen naiven Standpunkt nur insofern, als sie sich darauf besinne, dass die K\u00f6rperwelt blo\u00df als Object von Bewusstsein m\u00f6glich sei, ebenso wie ja auch das Ich nicht ohne Objecte existiren k\u00f6nne1). Dieses Argument wird, wie es scheint, f\u00fcr absolut \u00fcberzeugend gehalten. Nichts desto weniger glaube ich, dass sich gerade in diesem Punkte die immanente Philosophie einer Selbstt\u00e4uschung hingibt, die f\u00fcr die ganze weitere Entwicklung ihrer Erkenntnisstheorie verh\u00e4ngnisvoll wird.\nStellen wir uns wirklich einmal auf den Standpunkt jenes \u00bbnaiven Realisten\u00ab, der bis dahin sich selbst mit seinem Leibe als ein Object im Raume neben andern von ihm unabh\u00e4ngigen Objecten angesehen habe, und nehmen wir an, ein immanenter Philosoph trete ihm mit der Behauptung entgegen, dass diese Welt f\u00fcr ihn offenbar nicht existirte, wenn sie nicht in seinem Bewusstsein vorhanden w\u00e4re, und dass sie demnach \u00fcberhaupt ohne ihn oder wenigstens ohne ein vorstellendes Bewusstsein nicht existiren\n1) Schuppe, Die nat\u00fcrliche Weltansicht, Philos. Monatshefte, Bd. 30. 1894. S. 1 ff.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n325\nw\u00fcrde, ebenso wenig wie ein Bewusstsein ohne vorstellbare Welt existiren k\u00f6nnte \u2014 w\u00fcrde der naive Realist diesen Beweis wohl f\u00fcr zwingend halten? Er w\u00fcrde es vielleicht thun, wenn er, wie der immanente Philosoph selbst, durch das Studium Kant\u2019s, des kritischen Empirismus und anderer \u00e4hnlicher Theorien auf diese subjective Gedankenrichtung zureichend vorbereitet w\u00e4re. Aber ohne eine solche l\u00e4ngst vorangegangene Umgew\u00f6hnung seines Denkens w\u00fcrde er es, wie ich glaube, nicht thun, sondern etwa sagen: \u00bbEs ist richtig, die Objecte w\u00fcrden f\u00fcr mich nicht existiren, wenn ich selbst nicht existirte, und sie w\u00fcrden f\u00fcr kein Bewusstsein vorhanden sein, wenn nicht menschliches oder menschen\u00e4hnliches Bewusstsein vorhanden w\u00e4re. Aber daraus folgt nicht im mindesten, dass sie \u00fcberhaupt nur als Bewusstseinsinhalte da sind. Vielmehr sch\u00f6pfe ich eben daraus, dass ich die Gegenst\u00e4nde als unabh\u00e4ngig von mir seiende auffasse, die Ueberzeugung, dass sie das auch wirklich sind, und in dieser Ueberzeugung werde ich mich so lange nicht beirren lassen, als mich nicht zwingende Gr\u00fcnde eines Irrthums \u00fcberf\u00fchren.\u00ab\nWenn die Immanenzphilosophie diesen Standpunkt dadurch zu ersch\u00fcttern meint, dass sie behauptet, es sei ein Widerspruch, ein Ding zu denken und zugleich zu sagen, dass es unabh\u00e4ngig vom Denken existire, so w\u00fcrde der naive Realist einen solchen Widerspruch nicht anerkennen, sondern entgegnen, dieser angebliche Widerspruch sei vielmehr ein blo\u00dfes Sophisma, das mit den ber\u00fchmten Zenonischen Beweisen gegen die Vielheit des Seienden und \u00e4hnlichen dialektischen Kunstst\u00fccken eine auffallende Aehn-lichkeit habe. Der Gedanke eines Dings k\u00f6nne freilich niemals unabh\u00e4ngig vom Denken sein, und insofern ein gegebenes Ding mir nur im Denken gegeben sein kann, existire es ,f\u00fci_ mich siclier-lich nicht, au\u00dfer indem ich es denke. Daraus folge aber nicht im mindesten, dass das Ding erst durch mein Denken existire. Denn f\u00fcr mein Denken existiren und durch mein Denken existiren sei'\" zweierlei. Sollte ich beides als eins annehmen, so m\u00fcsste das Ding selbst Merkmale haben, die die Abh\u00e4ngigkeit seiner Existenz von meinem Denken oder von dem Denken \u00fcberhaupt beweisen. Ohne solche Beweise eine Einheit von Sein und Denken anzunehmen, sei der Form nach eine Umkehrung der alten ontologischen Denkweise,\n22*","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nW. Wundt.\nund der Sache nach eine Erneuerung derselben. Der Form nach eine Umkehrung: denn w\u00e4hrend der alte Ontologismus, wie er in dem bekannten ontologischen Gottesbeweis ausgedr\u00fcckt ist, aus dem Denken ein von dem Denken unabh\u00e4ngiges Sein beweist, so schlie\u00dft dieser neue umgekehrt aus dem Denken des Seins, dass alles Sein Denken sei. Der Sache nach eine Erneuerung: denn es ist klar, dass in beiden F\u00e4llen dem Denken die Macht beigelegt wird, das Sein zu erzeugen. Oh sich diese Macht auf \u00fcbersinnliche Ideen oder auf gemeine \u00bbBewusstseinsdata\u00ab der sinnlichen Wahrnehmung erstreckt, ist angesichts dieser allgemeinen Uehereinstimmung des Grundgedankens ein unerheblicher Unterschied. Solchen Onto-logismen gegen\u00fcber darf sich daheT der naive in den kritischen Realisten verwandeln und sagen: \u00bbZun\u00e4chst sind! mir die Dinge als mir unabh\u00e4ngig gegen\u00fcberstehende Objecte g\u00e8geben, deren Existenz weder von mir noch von irgend einem andern Denkenden abh\u00e4ngt. Ich werde demnach an der Annahme, dass diese meine unmittelbare Auffassung richtig sei, so lange und insoweit festhalten, als sich dieselbe nicht durch positive, in dem Zusammenhang der Erfahrung selbst mir aufsto\u00dfende Gr\u00fcnde als undurchf\u00fchrbar erweist.\u00ab\nc. Das Argument von der Verdoppelung der Objecte.\nEinen Grund der soeben angedeuteten Art sieht nun die immanente Philosophie darin, dass unter der Voraussetzung der Richtigkeit des naiven Standpunktes jedes Ding als doppelt oder eigentlich sogar als unbestimmt vielfach gegeben vorausgesetzt werden m\u00fcsste, einmal n\u00e4mlich unabh\u00e4ngig vom Denken und dann in jedem einzelnen denkenden Bewusstsein.\nEinen logischen Widerspruch enth\u00e4lt nun aber offenbar diese angebliche Doppelheit der Objecte nicht. Denn es ist nicht einzusehen, gegen welche allgemeinen logischen Denkgesetze die Annahme einer vom Denken unabh\u00e4ngigen und gleichwohl demselben in der Form von Vorstellungen oder Begriffen gegebenen Realit\u00e4t versto\u00dfen sollte. Dagegen ist allerdings anzuerkennen, dass jene Voraussetzung einen Widerspruch mit der Erfahrung, mindestens mit der des \u00bbnaiven\u00ab Bewusstseins, insofern einschlie\u00dft, als die \u00bbnat\u00fcrliche Weltansicht\u00ab von einer solchen Doppelheit des Objects,","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n327\ndes real existirenden und des gedachten, nichts wei\u00df, da f\u00fcr die-selbe der gedachte und der wirkliche Gegenstand deshalb nur ein Gegenstand sind, weil \u00fcberhaupt nur an den wirklichen Gegenstand, an das Denken desselben aber gar nicht gedacht wird. In der That gesteht nun auch die immanente Philosophie zu, dass, so lange dieser Standpunkt des naiven Realismus andauere, der Widerspruch nicht vorhanden sei. Dieser soll aber sofort entstehen, wenn das Denken sich, was es nothwendig mit der Zeit thun muss, darauf besinnt, dass der Gegenstand ein gedachter sei, also, da er nur einmal existire, auch blo\u00df ein gedachter sein k\u00f6nne. Ich will nicht leugnen, dass dieses Motiv einer Beseitigung der unabh\u00e4ngigen Realit\u00e4t des Objectes schon einer sehr fr\u00fchen Reflexion aufgesto\u00dfen ist, ja gerade ihjf bei noch mangelnder Ausbildung einer von der Untersuchung der Objecte selbst geleiteten stufenweisen Kritik jedenfalls nahe lag. Darum reicht die Subjectivirung der Objecte bekanntlich fast bis in die Anf\u00e4nge der Philosophie zur\u00fcck. Mag der Subjectivismus der Sophisten auch sonst ganz andere Wege gewandelt sein, in dieser radicalen Correctur des \u00bbnaiven Realismus\u00ab ist er jedenfalls mit der immanenten Philosophie einverstanden. Doch die Geschichte der Wissenschaft ist \u00fcber diese Correctur der Sophisten und der nach ihnen noch energischer mit der Annahme der \u00bbDoppelheit des Objects\u00ab aufr\u00e4umenden pyrrhoneischen Skeptiker zur Tagesordnung \u00fcbergegangen. Denn seitdem hat in den Erfahrungswissenschaften eine andere, aus der Vertiefung in die concreten Aufgaben der Erkenntniss sich ergebende und darum vorsichtiger und allm\u00e4hlicher vorschreitende Correctur jenes urspr\u00fcnglichen Realismus den Sieg davongetragen. Sie geht von dem Princip aus, jeden Inhalt der naiven Erfahrung so lange als gegeben anzuerkennen, als er nicht durch nachweisbare Widerspr\u00fcche, zu denen dies f\u00fchrt, als ein blo\u00dfer Schein nachgewiesen sei. An die Stelle der pl\u00f6tzlichen Revolution, welche die subjectivistische Erkenntnistheorie der Skeptiker forderte, beschritt so die in den positiven Wissenschaften zum Ausdruck kommende Erkenntnisslehre den Weg allm\u00e4hlicher Reform. Dabei ergab sich nun das merkw\u00fcrdige Resultat, dass die g\u00e4nzliche Capitulation des Objects, seine v\u00f6llige Unterwerfung unter das Subject, die jene Revolution beinahe ohne Schwertstreich herbei-","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nW. Wundt.\ngef\u00fchrt hatte, hier nicht eintrat, dass vielmehr, so viele Elemente der Objectsvorstellungen sich mit der Zeit auch als subjectiver Schein erwiesen, das Object selbst in seiner Unabh\u00e4ngigkeit bestehen blieb. Dagegen entstand als ein Erfolg dieser langsamen Reform ein anderes Ergebniss, das sich wiederum jener skeptischen Revolution und den ihr folgenden \u00e4hnlichen Unternehmungen entzogen hatte. Dieses Ergebniss war die f\u00fcr die theoretische Betrachtung sich immer zwingender durchsetzende Anschauung, dass der Gegenstand selbst und seine Wahrnehmung oder Vorstellung toto genere von einander verschieden seien, indem die Wahrnehmung in der unmittelbar in dem Bewusstsein anschaulich gegebenen Vorstellung, der Gegenstand aber in dem begrifflichen Endresultat der an diesem Wahrnehmungssubstrat vorgenommenen wissenschaftlichen Bearbeitung bestehe.\nIn diesem Sinne existirt daher f\u00fcr die Stufe der reflectirenden Wissenschaft die angebliche Absurdit\u00e4t des doppelten Gegenstandes \u00fcberhaupt nicht. Denn der Gegenstand und seine Wahrnehmung sind in Wirklichkeit keineswegs dasselbe, sondern beide sind absolut verschiedene Gebilde, jener ein erst durch mannigfache Denkoperationen gewonnener logischer Begriff, diese ein unmittelbar gegebener psychologischer Vorgang. Das alte Gleichniss von dem Gegenstand und seinem Spiegelbild passt auf diese beiden Gebilde nicht mehr. F\u00fcr die theoretische Weltbetrachtung der positiven Wissenschaften existirt der objective Gegenstand keineswegs als Wiederholung seines subjektiven Vorstellungsbildes, sondern als derjenige-Begriff, der nach Abzug aller der Elemente zur\u00fcckbleibt, die sich durch die allm\u00e4hliche Correctur der wissenschaftlichen Forschung als subjective herausgestellt haben. Eben weil der objective Gegenstand der naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung keine Verdoppelung der subjectiven Wahrnehmung, vielmehr ein direct gar nicht vorstellbares, sondern nur im Denken gewonnenes begriffliches Erzeugniss ist, deshalb ist und bleibt nun aber auch das Object \u00fcberall nur eines: f\u00fcr die praktische Weltbetrachtung das urspr\u00fcngliche Vorstellungsobject des \u00bbnaiven Realismus\u00ab, f\u00fcr die wissenschaftliche Untersuchung der unter dem Einfluss bestimmter und zwingender objectiver Motive logisch construirte Begriff, dem gegen\u00fcber die \" unmittelbar im Bewusstsein enthaltene","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n329\nsubjective Vorstellung nur die Bedeutung eines Zeichens besitzt, das auf ihn hinweiVt, ihn eben darum auch gelegentlich f\u00fcr den Denkgebrauch vertreten, aber niemals f\u00fcr ein einfaches Ebenbild desselben gelten kann. Denn die objective Wissenschaft stellt sich ja die Aufgabe, aus der urspr\u00fcnglichen Wahrnehmungswelt eine Begriffswelt zu construiren, die einen widerspruchslosen Zusammenhang der Erfahrung herstellt. Diese Aufgabe, die von dem Augenblick an wirksam zu werden begann, wo die Stufe des naiven Realismus bei der theoretischen Betrachtung der Au\u00dfenwelt aus objectiv zwingenden Gr\u00fcnden verlassen werden musste, schlie\u00dft zugleich stillschweigend oder ausdr\u00fccklich die Voraussetzung ein, dass die uns unmittelbar gegebene Wahrnehmungswelt und die im Denken zu findende Begriffswelt die Endpunkte einer unendlichen Reihe bilden.\nDie positive Wissenschaft pflegt diese Voraussetzung durch die Formel auszudr\u00fccken, dass das Denken der Uebereinstimmung seiner Begriffe mit den wirklichen Objecten \u00bbins unendliche zustrebe\u00ab. F\u00fcr das richtige Verst\u00e4ndniss dieser Formel ist es aber wesentlich, dass dabei unter den \u00bbwirklichen Objecten\u00ab nicht transcendente \u00bbDinge an sich\u00ab verstanden werden, sondern diejenigen objectiven Erfahrungsinhalte, die sich nach vollst\u00e4ndiger Elimination der als subjectiv erkannten Elemente und nach vollst\u00e4ndig ausgef\u00fchrter logischer Ordnung der zur\u00fcckgebliebenen Bestandtheile ergeben. Dass diese Aufgabe jemals vollendbar sei, ist, abgesehen von dem nie auszumessenden Umfang menschlicher Erfahrung, schon dadurch : ausgeschlossen, dass gerade jene nothwendig werdende Elimination,' subjectiver Elemente die Einf\u00fchrung hypothetischer H\u00fclfsbegriffe erfordert, die, so zweckm\u00e4\u00dfig sie auch gew\u00e4hlt sein\u00bb.m\u00f6gen, doch immer noch eine bessere Wahl denkbar erscheinen lassen.\nDie immanente Philosophie w\u00ebndet nun, so weit sie sich \u00fcberhaupt auf eine Auseinandersetzung mit der Erkenntnisstheorie der positiven Wissenschaften einl\u00e4sst, gegen diese Betrachtungsweise zweierlei ein. Erstens setze dieselbe an die Stelle einer unmittelbaren Bestimmung des allgemeing\u00fcltigen oder \u00bbgattungsm\u00e4\u00dfigen\u00ab Wesens der Wahrheit eine unendliche Aufgabe, bei deren L\u00f6sung sich das Denken offenbar immer nur auf dem Weg zum Erkennen befinde, niemals aber dieses selber erreiche. Zweitens beruhe","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nW. Wundt.\n1 diese Betrachtungsweise auf einem Dualismus zwischen Subject und Object, zwischen Denken und Erkennen, der nur als eine unzul\u00e4ssige Correctur jenes \u00bbnaiven Realismus\u00ab, dem ein solcher Dualismus durchaus fernliege, anzusehen sei1). Der erste dieser beiden Einw\u00e4nde fordert eine vergleichende Er\u00f6rterung des von der immanenten Philosophie einerseits und von den positiven Erfahrungswissenschaften anderseits aufgestellten Wahrheitsbegriffs; der zweite macht eine Pr\u00fcfung des den letzteren vorgeworfenen \u00bbDualismus\u00ab nothwendig.\nd. Der Begriff der Wahrheit.\nDen ersten der obigen Vorw\u00fcrfe muss ich gelten lassen, nur dass ich in ihm keinen Vorwurf sehe. In der That halte ich es vielmehr f\u00fcr einen Irrthum philosophischer Erkenntnisstheorien, wenn sie den Begriff der Wahrheit mittelst eines a priori ersorinenen Merkmals ein f\u00fcr allemal feststellen wollen, ohne sich im geringsten darum zu k\u00fcmmern, welches die Merkmale seien, deren sich die positiven Wissenschaften, namentlich die bei diesen Er\u00f6rterungen \u00fcber das Verh\u00e4ltniss des Subjects zur Au\u00dfenwelt in erster Linie hetheiligten Naturwissenschaften, stets bedient haben und noch heute bedienen. So lange es nun noch keiner Erkenntniss-theorie gelungen ist, mit \u00fcberzeugenden Gr\u00fcnden nachzuweisen, dass in der bisherigen logischen Gedankenarbeit der Naturwissenschaften schwere bis dahin \u00fcbersehene logische Fehler mit untergelaufen sind, so kann es auch der allgemeinen Erkenntnisstheorie nicht gestattet sein, ihre eigenen, von der Richtung aller einzelnen Wissenschaftern abweichenden Wege zu gehen.\nMan unterl\u00e4sst es aber nicht nur, jenen Beweis beizuhringen, sondern man nimmt sich augenscheinlich nicht einmal die M\u00fche, die wirkliche Beschaffenheit der Erkenntnisstheorie, die man beseitigen will, kennen zu lernen. Die immanente Philosophie gr\u00fcndet vielmehr ihr Geb\u00e4ude, gerade so gut wie dereinst die HegePsche Philosophie das ihre, auf abstracte Ueberlegungen von zeitloser\nAllgemeinheit, denen h\u00f6chstens nachtr\u00e4glich die Bemerkung beigef\u00fcgt\n1\n1) Schuppe, G\u00f6tt. gel. Anz. 1894. Nr. 3. S. 178ff.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n331\nwird, die hypothetischen H\u00fclfsbegriffe der modernen Naturwissenschaft wolle man insoweit gelten lassen, als sie nicht etwa den zuvor gewonnenen Principien widerstreiten. Aber von einer Untersuchung dar\u00fcber, welches denn die logischen Motive waren, die zu fiesen H\u00fclfsbegriffen gef\u00fchrt haben, und welches \u00fcberhaupt f\u00fcr die Naturwissenschaft die Kriterien objectiver Wahrheit sind, davon ist keine Rede. Wollte man sich diese Merkmale unbefangen vergegenw\u00e4rtigen, so w\u00fcrde man freilich erkennen, dass jener abstracte Wahrheitsbegriff schon deshalb au\u00dferhalb der wirklichen Wissenschaft steht, weil in dieser die Kriterien der Wahrheit nie anders als in der Form von Forderungen gegeben sind, in deren fortschreitender Erf\u00fcllung das Denken begriffen ist, ohne doch damit jemals an ein absolutes Ende zu gelangen. Die Wissenschaft kann darum aber auch nie mehr vollbringen als eine Nachbildung der Wirklichkeit durch den Begriff; sie ist nicht im Stande die Wirk- f lichkeit selbst im Denken hervorzubringen. Das klare Bewusstsein dieser Unm\u00f6glichkeit, das den nie aufh\u00f6renden Antrieb zur Erweiterung und Vertiefung der gewonnenen Erkenntnisse mit sich f\u00fchrt, bildet zugleich den charakteristischen Unterschied zwischen dem kritischen Realismus der positiven Wissenschaft und dem dieser Wissenschaft vorausgehenden naiven Realismus. Wenn der abstracte Erkenntnisstheoretiker behauptet, dass ein solcher Versuch einer Nachbildung der Wirklichkeit, der sich noch dazu niemals Gen\u00fcge leiste, in sich widersprechend sei, weil irgend ein Erkennt-nissinhalt an sich nur entweder wahr oder nicht wahr, nicht aber ein drittes sein k\u00f6nne, so hat er daher von seinem Standpunkte; aus Recht. Denn das Eigenth\u00fcmliche dieses Standpunktes besteht eben darin, dass er \u00fcber ein allezeit fertiges Kriterium verf\u00fcgt, welches, wenn es auch keiner einzigen wirklichen Wahrheit auf die Spur hilft, doch in der Welt der leeren Begriffe ausreicht. Am Ma\u00dfstab der positiven Wissenschaften gemessen hat er aber nicht Recht. Denn diesen steht ein Kriterium, das sie sofort in den Besitz der vollen Wahrheit zu versetzen verm\u00f6chte, nicht zu Gebote, sondern sie m\u00fcssen sich mit einer Menge einzelner Merkmale behelfen, die sich ihnen allm\u00e4hlich und in niemals v\u00f6llig zu ersch\u00f6pfender Weise ergeben.\nSucht man aus der wirklichen Entwicklung der Wissenschaften","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nW. Wundt.\ndiejenigen Merkmale zu abstrahiren, die in den verschiedenen Untersuchungsgebieten f\u00fcr die Feststellung objectiver Wahrheit ma\u00dfgebend sind, so lassen sich diese eben augenscheinlich nicht in ein fest abgeschlossenes logisches System bringen. Dies begreift sich zum Theil freilich auch schon daraus, dass sie durchg\u00e4ngig nur innerhalb ihrer concreten Anwendungen gefunden und nicht abgesondert von diesen formulirt worden sind. Auch dann aber, wenn man die thats\u00e4chlich in den einzelnen naturwissenschaftlichen Untersuchungen befolgten Leitmaximen aufsucht, gelangt man zu blo\u00df formalen Kriterien, die \u00fcber den Inhalt der objectiven Wahrheit gar nichts aussagen. Hierher geh\u00f6ren S\u00e4tze wie die folgenden: \u00bbJeder ob-jectiv gegebene Erfahrungsinhalt hat so lange als real zu gelten, als diese Voraussetzung nicht zu einem Widerspruch mit andern Erfahrungsinhalten f\u00fchrt, deren objective Realit\u00e4t bereits sichergestellt ist,\u00ab oder: \u00bbAlle Wahrnehmungsobjecte sind insoweit f\u00fcr reale Objecte zu halten, als ihre Eigenschaften nicht Merkmale aufweisen, verm\u00f6ge deren sie als blo\u00df subjective anzusehen sind\u00ab, u. a. *) Alle diese Principien, so verschieden sie lauten und von so verschiedenem Werthe sie in der Anwendung sein m\u00f6gen, lassen sich nun schlie\u00dflich zwei Regeln unterordnen, die wir folgenderma\u00dfen formuliren k\u00f6nnen. Erstens: \u00bbKein Datum der Erfahrung darf grundlos negirt werden.\u00ab Zweitens: \u00bbAlle realen Inhalte der objectiven Erfahrung m\u00fcssen in einen widerspruchslosen, nach allgemeing\u00fcltigen Gesetzen geordneten Zusammenhang gebracht werden.\u00ab Aus dieser zweiten Regel ergibt sich sodann noch zur Erg\u00e4nzung der ersten der Corol-larsatz: \u00bbDie Gr\u00fcnde zu einer Verneinung der objectiven Realit\u00e4t von Erfahrungsdaten sind stets nur aus der Forderung des widerspruchslosen Zusammenhangs abzuleiten.\u00ab Da nun nicht nur der Zusammenhang der objectiven Erfahrung, sondern auch das System allgemeiner Gesetze, dem er sich unteroxdnet, von vornherein ganz und gar unbekannt sind, indem alles dies eben erst durch die wissenschaftliche Forschung gefunden werden soll, eine Aufgabe die wegen des nie zu ersch\u00f6pfenden Umfangs der Erfahrung und der fortan wachsenden H\u00fclfsmittel des menschlichen Denkens selbst-\n1) Vergl. \u00fcber solche und andere aus der naturwissenschaftlichen Forschung zu abstrahirende Wahrheitskriterien meine Logik, I. 2. Aufl. S. 422 ff.","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n333\nverst\u00e4ndlich unvollendbar ist, so ist es einleuchtend, dass die positive Wissenschaft auf ein absolutes Kriterium der Wahrheit, wie es die abstracte Erkenntnisstheorie verlangt oder zu besitzen glaubt, verzichten muss. Damit tritt aber auch von selbst an die Stelle jener Identit\u00e4t des Denkens und Seins, das mit der gl\u00fccklichen einmaligen Besitzergreifung der Wahrheit vermacht ist, der bescheidenere Versuch einer Nachbildung der Wirklichkeit, die sich zugleich mit der Ueberzeugung verbindet, dass sie niemals zur Identit\u00e4t werden kann, weil eben dies die Vollendung eines an sich nie vollendbaren Processes bedeuten w\u00fcrde. Dass hierbei der Ausdruck \u00bbNachbildung\u00ab nicht in dem Sinne der Erzeugung eines zweiten Gegenstandes genommen werden darf, der dem ersten \u00e4hnlich oder gar mit ihm identisch sei, versteht sich \u00fcbrigens nach dem oben Gesagten von selbst. Eine Nachbildung in dieser urspr\u00fcnglichen Bedeutung des Wortes erscheint nur auf dem Standpunkt des naiven Realismus als m\u00f6glich, oder vielmehr, da bei diesem selbst noch Bild und Wirklichkeit in ein Object zusammenfallen, sie entspricht jener beginnenden Reflexion, die in der Vorstellung ein Ebenbild des Gegenstandes sieht. Der Begriff der objectiven Wirklichkeit dagegen, den die Wissenschaft zu gewinnen sucht, kann immer nur eine Nachbildung in dem Sinne sein, dass bei ihm alle die Forderungen erf\u00fcllt sind, welche die Regel des widerspruchslosen Zusammenhangs der gesammten Erfahrungsinhalte an unsere beziehende und vergleichende Denkth\u00e4tigkeit stellt.\nNun kann freilich die immanente Philosophie, die auf ihrer Suche nach den Kennzeichen der Wahrheit der Beih\u00fclfe der wirklichen Forschung entrathen zu k\u00f6nnen meint, zu mehr als zu einem formalen Kriterium auch nicht gelangen. Aber diesem wird von ihr doch der Vorzug zugeschrieben, dass es nicht auf eine unendliche erst noch zu erledigende Aufgabe hinweise, sondern dass es mit einem Male in den Besitz der Wahrheit bringe, so dass, wer sich der F\u00fchrung dieser abstracten Theorie anvertraut, anscheinend gar nicht erst in die Tiefe deT empirischen Forschung hinabzusteigen braucht. Denn ohne von irgend einer einzelnen Wahrheit oder von dem was daf\u00fcr gehalten wird Notiz zu nehmen, wei\u00df sie im allgemeinen ganz genau und ein f\u00fcr allemal, was die Wahrheit ist.\nGleichwohl wird sich auch ein allgemeines Wahrheitskriterium","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nW. Wandt.\nsolcher Art dem Anspr\u00fcche nicht entziehen k\u00f6nnen, dass es sich an jeder besonderen Wahrheit als richtig bew\u00e4hre. Diese Probe zu bestehen ist aber der immanenten Philosophie so wenig wie irgend einer andern abstracten Erkenntnisstheori\u00e8 gelungen. Wenn n\u00e4mlich jene durch das eine Merkmal des \u00bbgattungsm\u00e4\u00dfigen\u00ab menschlichen Bewusstseins die allgemeinen Forderungen der wissenschaftlichen Er-kenntniss mit der sich aus ihnen ergebenden unendlichen Reihe positiver Wahrheitskriterien'\u00fcberfl\u00fcssig zu machen glaubt, so erweist sich dieses Merkmal weder als zureichend noch als stichhaltig. Dehn es ist nicht blo\u00df seinem Inhalte nach so unbestimmt, dass sich unm\u00f6glich sagen l\u00e4sst, wie im einzelnen Fall ein fruchtbarer Gebrauch von ihm gemacht werden sollte, sondern,' was schlimmer ist, es ist falsch. Und dass dieses Merkmal des ^gattungsm\u00e4\u00dfigen Wissens\u00ab falsch sei, dies ist jedenfalls eines der unzweifelhaftesten Ergebnisse, zu denen die von der immanenten Philosophie vernachl\u00e4ssigte Erkenntnistheorie der positiven Wissenschaften gef\u00fchrt hat. Der n\u00e4here Nachweis hiervon soll unten, bei der Er\u00f6rterung der Wechselbegriffe Subject und Object, erbracht werden. Hier bleibt uns nur noch ein Wort \u00fcber den Vorwurf des \u00bbDualismus\u00ab zu sagen \u00fcbrig.\ne. Der angebliche Dualismus der positiven Wissenschaften.\nInsoweit es mit dem Versuch, den Standpunkt der wissenschaftlichen Erkenntnissentwicklung in der philosophischen Erkenntnistheorie zur Geltung zu bringen, von selbst vermacht ist, dass man den in den positiven Erfahrungswissenschaften geltenden Verschiedenheiten der Standpunkte Rechnung trage, muss man sich den Vorwurf des Dualismus oder allenfalls sogar des \u00bbPluralismus\u00ab gefallen lassen. Wer zwei Gr\u00fcnde annimmt, wo ein einziger ausreicht, w\u00fcrde allerdings besser thun, \u00bbMonist\u00ab zu bleiben. Aber wo der \u00e8ine nicht ausreicht, da sind zwei immerhin besser als gar keiner. Dass aller und jeder so genannte Dualismus ein logisches oder metaphysisches Verbrechen sei, steht daher, wie ich meine, nicht in den Sternen geschrieben. Aber abgesehen davon', mit dem Dualismus hat es in diesem Fall seine eigene Bewandtniss. Bei n\u00e4herer Betrachtung stellt es sich\nn\u00e4mlich heraus, dass es sich um einen solchen \u00fcberhaupt nicht\n*","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\t335\nhandelt, sondern lediglich um eine in der Natur unserer Erkenntaiss begr\u00fcndete doppelte Betrachtungsweise einer und derselben Sache. Dem naiven Realismus gilt das Vorgestellte schlechthin als das \u25a0Object. Der kritisch gewordene Realismus unterscheidet zwischen \u2022der Vorstellung und dem Object. Aber beide sind ihm darum doch keineswegs Doppelbilder von \u00fcbereinstimmender Beschaffenheit, sondern das Object ist ein von der Vorstellung verschiedenes Gebilde, nicht deshalb, weil es an sich selbst einen verschiedenen Inhalt hat, sondern weil es ein aus einer besonderen logischen Bearbeitung hervorgegangenes Product eines und desselben Erkenntnissinhaltes ist. Die Vorstellung enth\u00e4lt das Object in seiner unmittelbaren Beschaffenheit,... dem kritischen Realismus der Naturwissenschaft dagegen ist es das in der Wahrnehmung Gegebene nach Abzug aller Elemente, welche die wissenschaftliche Pr\u00fcfung als Folgen der subjectiven Auffassung erwiesen hat. Das Object, das nach dieser Sonderung zur\u00fcckbleibt, ist daher ein Product begrifflicher Bearbeitung der urspr\u00fcnglichen Wahrnehmung, bei der das Ding selbst, das der Gegenstand dieser Bearbeitung ist, nat\u00fcrlich dasselbe einheitliche Ding bleibt. Nennt man die Wahrnehmung des Dings und diese begriffliche Bearbeitung derselben eine Verdoppelung, so ist das also ungef\u00e4hr dasselbe, als wenn man die analytische Formel, in welcher der Geometer das Gesetz einer Curve entwickelt, eine wiederholte Construction der Curve selbst nennen wollte.\nDie Gr\u00fcnde, aus denen die immanente Philosophie diese einfache Sachlage verkennt; sind augenf\u00e4llig. Jene Bearbeitung, die der Objectbegriff in den Erfahrungswissenschaften erfahren hat, ist eben f\u00fcr sie nicht vorhanden. Die Objecte der urspr\u00fcnglichen Wahrnehmung und die Objecte der naturwissenschaftlichen Betrachtung gelten ihr beide als unmittelbar gegebene Wahrnehmungsobjecte, nur mit dem Unterschied, dass die urspr\u00fcngliche Wahrnehmung diese Objecte als subjective Vorstellungen anerkennen, der naturwissenschaftliche Realismus aber dieselben als unabh\u00e4ngig gegebene Dinge betrachten soll. Dabei wird aber \u00fcbersehen, dass die Naturwissenschaft die Berechtigung zu ihrer ausschlie\u00dflich objectiven Auffassung lediglich dem Umstande entnimmt, dass sie von allen den Elementen, in denen der Einfluss des Sub-jectes auf die Vorstellung zum Ausdruck kommt, zuvor abstrahirt","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nW.Wub4U\nhat. Wenn sie nun am Ende dieser Bearbeitung in dem einen Punkte bei der Auffassung des naiven Realismus stehen bleibt^, dass sie, sofern sich nicht- im einzelnen . Fall besondere Gegeninst\u00e4nzen ergeben, das Object als unabh\u00e4ngig vom Subjecte voratis.setzt, so st\u00fctzt sie $ich dabei auf zwei Rechtsgr\u00fcnde: ^erstens\u2019 auf die That-sache , dass das urspr\u00fcngliche Vorstellungsobject zweifellos . .-in der Wahrnehmung als ein unabh\u00e4ngig vom wahmehmen-den Subject existirendes gegeben ist, und zweitens auf die allgemeine Regel der positiven Erkenntnistheorie ; dass Thatsachen der Erfahrung nur insoweit negirt oder a\u00fcf subjective VorStellungselemeixte. bezogen werden, d\u00fcrfen, als sich daf\u00fcr innerhalb des Zusammenhangs der Erfahrung selbst positive Gr\u00fcnde -ergehen.. Selche sind nun im vorliegenden Fall gar keine vorhanden. Denn adie angebliohe Verdoppelung des Objects erweist sich als-hinf\u00e4lligesie:ahf \u00e8hier Verkennung des thats\u00e4chlichen Standpunktes. der Erfahrungswissenschaften beruht. (Vgl. oben S. 328.) Die Unterscheidung .des Vor-stellungsobjectes in das Object und die Vorstellung als zwei .einander gleiche Erkenntnissinhalte, gegen die jener Vorwurfi sich richtet, geh\u00f6rt in der That weder dem urspr\u00fcnglichen \u00bbnaiven Realismus\u00ab an, f\u00fcr den die Vorstellung ganz in dem Objecte aufgeht, noch dem kritischen Realismus der Wissenschaft, dem das Object lediglich das Resultat einer begrifflichen Bearbeitung ist,v aderen Gegenstand v vollst\u00e4ndig mit dem der Vorstellung zusammenf\u00e4llt, sondern er findet sich h\u00f6chstens w\u00e4hrend eines gewissen Durchgangsstadiums von jener ersten zu dieser zweiten Stufe derj Be-trachtung. Diesem Stadium ist daher auch ausschlie\u00dflich jene skeptische Stimmung eigen, die-der gef\u00fcrchteten Verdoppelung zu entgehen sucht, indem sie das Object ganz in der subjectiven Vorstellung aufgehen l\u00e4sst.\n\u2022 Dieses Durchgangsstadium ist nun aber auch der Standpunkt der immanenten Philosophie, wie er durch die Goncessionen, die man gewissen naturwissenschaftlichen Hypothesen macht, nur unerheblich modificirt wird, weil bei diesen Concessionen die logischen Motive jener Hypothesen beinahe ganz au\u00dfer R\u00fccksicht bleiben. Der Versuch, dieses skeptische Durchgangsstadium in der Erkenntnisstheorie zu verewigen, l\u00e4sst sich nat\u00fcrlich, wie alle fr\u00fcheren Versuche \u00e4hnlicher Art, nur durchf\u00fchren, wenn man sich entschlie\u00dft,","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n337\nein der Erfahrung urspr\u00fcnglich immanentes und, abgesehen von den einzelnen. F\u00e4llen einer unerl\u00e4sslich werdenden Cori-\u00e9ctur, der kritischen Bearbeitung Stand haltendes Merkmal der Erfahrung, n\u00e4mlich die den; Objecten von Anfang an zukommende Unabh\u00e4ngigkeit vom; dem \u201cSubject, willk\u00fcrlich zu beseitigen.; Das geschieht nun in der Immanenzphilosophie dadurch, dass sie behauptet, jenes .Merkmal Sei in Wahrheit nicht der Erfahrung immanent, sondern transcendant .\"Diese Behauptung ist aber absolut hinf\u00e4llig, wenn man den Begriff des \u00bbImmanenten\u00ab in seinem eigentlichen Sinne nimmt, iru welchem er eben nichts anderes als den unmittelbaren Erfahrungsinhalt xselbst, .-im Unterschied von allen Voraussetzungen bedeutet, die sieh auf irgend eine jenseits desselben gelegene Bealit\u00e4t beziehen. Darum-vnimmt hier die Immanenzphilosophie mit dem Begriff des Immanenten jene verh\u00e4ngnisvolle Umwandlung vor, nach der er nicht das der Erfahrung Immanente, sondern das dem Bewusstsein Immanente bedeuten soll. Dann kann es nat\u00fcrlich geschehen,, dass, was im ersten Sinne immanent, im zweiten transcendent ist. Es kann aber auch das Umgekehrte sich ereignen. Irgend ein Erfahrungsinhalt kann als ein dem Bewusstsein immanenter betrachtet werden, der uns. von Anfang an und durch alle kritischen Pr\u00fcfungen hindurch als ein unabh\u00e4ngig von dem Bewusstsein vorhandenes Object gegeben isj. In diesem Fall ist das dem Bewusstsein, oder dem denkenden Subject angeblich Immanente f\u00fcr die Erfahrung transcendent. In der That trifft gerade dies bei der \u00bbimmanenten Philosophie\u00ab zu. Indem sie das Immanenzprincip in Bezug auf das Bewusstsein r\u00fccksichtslos durchf\u00fchrt, werden ihre Behauptungen im empirischen Sinne \u00bbtranscendent\u00ab : sie \u00fcberschreiten die Grenzen dessen was in aller Erfahrung gegeben ist. Diese Transcendenz ist das vollkommene Gegenbild jener Platonischen Transcendenz einer jenseits aller Erfahrung liegenden Ideenwelt, von der nur getr\u00fcbte Abbilder in das Bewusstsein fallen: sie ist eine ausschlie\u00dflich im Bewusstsein ruhende Ideenwelt, die sich in der Erfahrung als der tr\u00fcgerische Schein einer au\u00dferhalb des denkenden Ich gelegenen Welt darstellt. Aber gleichwohl, diese Extreme ber\u00fchren sich, weil sie nicht blo\u00dfe Gegens\u00e4tze, sondern \u25a0weil sie durch das beiden gemeinsame Merkmal der empirischen Transcendenz mit einander verwandt sind.","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nW. Wundt.\n3. Die Lehre von der Subjectivit\u00e4t der Empfindungen, a. Der Standpunkt der immanenten Philosophie.\nDen deutlichsten Beleg f\u00fcr die Verschiedenheit jener Standpunkte, welche die immanente Erkenntnisstheorie auf der einen und die Erkenntnisstheorie der positiven Wissenschaften auf der andern Seite einnehmen, bildet die Lehre von der Subjectivit\u00e4t der Empfindungen. Zugleich ist sie dasjenige Gebiet, das in der augenf\u00e4lligsten Weise zeigt, wie die immanente Philosophie an dem wirklichen Inhalt jener positiven Erkenntnisstheorie nichtachtend vor\u00fcbergeht oder, vielleicht richtiger ausgedr\u00fcckt, wie sehr es ihr der von Anfang an eingenommene Standpunkt unm\u00f6glich macht, den Inhalt und die Bedeutung derselben zu w\u00fcrdigen.\nUnter Empfindung verstehe ich hier, gem\u00e4\u00df dem Sprachgebrauch der neueren Psychologie, die nicht weiter zerlegbaren Sinnesqualit\u00e4ten, unter Abstraction von den Verbindungen, in denen sie sich regelm\u00e4\u00dfig befinden, und von den Gef\u00fchlen und den ans Gef\u00fchlen zusammengesetzten subjectiven Vorg\u00e4ngen1). Die Empfindung in diesem der heutigen Psychologie gel\u00e4ufigen Sinne ist lediglich ein Product der psychologischen Analyse und Abstraction. Bei ihrem wirklichen Vorkommen im Bewusstsein ist die Empfindung stets ein Bestandtheil einer Wahrnehmung oder Vorstellung, die aus zahlreichen Empfindungselementen unter Vermittelung pro-ductiver synthetischer Processe zusammengesetzt ist. In diesem\n1) Die Vertreter der immanenten Philosophie gebrauchen den Begriff der Empfindung nicht durchg\u00e4ngig in diesem Sinne. Theils werfen sie ihn, wie dies auch in der Vulg\u00e4rpsychologie h\u00e4ufig geschieht, mit der Wahrnehmung zusammen, theils unterscheiden sie wohl auch nicht bestimmt zwischen Empfindung und Gef\u00fchl. Da dieser Punkt f\u00fcr die vorliegende Frage nicht wesentlich ist, so gehe ich auf ihn nicht n\u00e4her ein. Aus demselben Grunde lasse ich die von der Immanenzphilosophie gegen den Begriff der \u00bbreinen Empfindung\u00ab erhobenen Einw\u00e4nde hier unber\u00fchrt. In letzterer Beziehung mag es gen\u00fcgen, zu bemerken dass diese Polemik durchg\u00e4ngig auf der missverst\u00e4ndlichen Meinung beruht, die \u00bbreine Empfindung\u00ab werde als ein f\u00fcr sich im Bewusstsein existirender Zustand vorausgesetzt, und dass die empirischen Gr\u00fcnde, die zur Annahme einer Ent-1 stehung der zusammengesetzten Wahrnehmungen aus elementaren, aber isolirt nat\u00fcrlich niemals direct gegebenen Processen f\u00fchren, dabei g\u00e4nzlich ignorirt werden.","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n339\nihrem wirklichen Vorkommen wird nun die Empfindung stets auf ein Object der Au\u00dfenwelt, also auf einen Ort oder eine Richtung im Raume bezogen, wobei unser eigener K\u00f6rper selbstverst\u00e4ndlich ebenfalls zu dieser Au\u00dfenwelt zu rechnen ist und \u00fcbrigens jene r\u00e4umliche Beziehung entweder unmittelbar den Empfindungen zukommt, wie bei dem Tast- und Gesichtssinn, oder aber erst von diesen r\u00e4umlichen Sinnen auf sie \u00fcbertragen wird, wie z. B. bei dem Geh\u00f6rssinn. Es ist hier nicht der Ort auf die psychologischen Hypothesen einzugehen, die hinsichtlich der Uebertragung der r\u00e4umlichen Eigenschaften von einem Sinnesgebiet auf das andere sowie der r\u00e4umlichen Ordnung der Empfindungen \u00fcberhaupt aufgestellt worden sind. Nicht minder lasse ich die von der immanenten Philosophie gegen solche Hypothesen erhobenen Einw\u00e4nde auf sich beruhen 1 * * 4j. F\u00fcr die erkenntnisstheoretische Frage k\u00f6nnen alle diese Dinge au\u00dfer Betracht bleiben. Hier gen\u00fcgt es von der anerkannten Thatsache auszugehen, dass die Empfindungsqualit\u00e4ten der Farben, der T\u00f6ne, der Tastempfindungen u. s. w. nicht nur urspr\u00fcnglich als Eigenschaften au\u00dfer uns existirender Objecte aufgefasst werden, sondern dass diese Auffassung f\u00fcr das praktische Leben im wesentlichen auch heute noch gilt. Die Frage ist nun: wie stellt sich die immanente Philosophie, und wie verh\u00e4lt sich die Erkenntniss-theorie der positiven Wissenschaften zu dieser Auffassung? Ferner, wenn etwa die Standpunkte beider mit einander in Streit.\u25a0gerathen \u2014 und wir werden sehen, dass dies der Fall ist \u2014 wer hat Recht?\nDie immanente Philosophie r\u00fchmt sich des Vorzugs, dapv.sie nicht nur mit der Auffassung des urspr\u00fcnglichen naiven Realismus, sondern auch mit der fortan bestehen bleibenden \u00bbnat\u00fcrlichen Weltansicht\u00ab des gew\u00f6hnlichen Bewusstseins \u00fcbereinstimme. Insofern . der Begriff der Empfindung nur die allgemeine Gattung zu jedem einzelnen Bewusstseinsinhalt sei, den \u00bbGattungsbegriff aller einzelnen Sinnesdata und die Art ihrer Existenz\u00ab bezeichne, erkl\u00e4rt sie nicht blo\u00df die Frage, wie Empfindungen im Bewusstsein entstehen, sondern auch die andere, warum wir dieselben auf Objecte au\u00dferhalb\n1) Beil\u00e4ufig sei nur bemerkt, dass diese Entw\u00e4nde theils auf das in\nder vorigen Anmerkung erw\u00e4hnte Missverst\u00e4ndnis, theils aber auf die Ver-\nmengung des erkenntnisstheoretischen mit dem psychologischen Standpunkt zur\u00fcckzuf\u00fchren sind.\nWundt, Philoa. Studien. XII.\n23","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nW. Wundt.\ndes Bewusstseins beziehen, f\u00fcr eine nicht aufzuweifende und daher nicht zu beantwortende. Denn Subject und Object seien blo\u00dfe Reflexionsmomente an dem einen an sich untheilbaren Bewusstseinsinhalte1). Abstrahiren wir von dem Subject, so bleiben nach ihr die Empfindungen mit ihren r\u00e4umlichen und zeitlichen Eigenschaften allein \u00fcbrig. Sie seien ein Gegebenes, gerade so wie Raum und Zeit ein Gegebenes seien, und objectiv wie diese2). Auch die Naturwissenschaft m\u00fcsse daher die Empfindungsqualit\u00e4ten im selben Sinne als objectiv gegeben voraussetzen, in dem sie \u00fcberhaupt eine objective Welt annehme. Selbst wenn sie hypothetische Hiilfsbegriffe anwende, wie die der Atome, so m\u00fcsse sie diesen ebenso gut bestimmte qualitative Empfindungsinhalte wie r\u00e4umliche Eigenschaften zuschreiben. Ueber die Ausdehnung freilich, in der die Objecte mit den verschiedenen Sinnesqualit\u00e4ten ausgestattet werden sollen, sind die einzelnen Vertreter der immanenten Philosophie nicht ganz einig. Bald wird die Eigenschaft einer dem Raum gleichwerthigen objectiven Realit\u00e4t f\u00fcr alle Qualit\u00e4ten, Farbe, H\u00e4rte, Ton u. s. w., in gleicher Weise in Anspruch genommen3), bald r\u00e4umt man den Qualit\u00e4ten des Gesichtssinns einen Vorzug ein: die Objecte sollen sichtbar, nicht aber tast-, h\u00f6rbar u. s. w. gedacht werden4).\nNachdem man einmal zu dieser Unterscheidung der Sinnesqualit\u00e4ten in solche, die objectiv und subjectiv zugleich, und in andere, die blo\u00df subjectiv sein sollen, gelangt ist, liegt nun noch ein weiterer Schritt nicht mehr ferne. Allen Ernstes wird n\u00e4mlich der Vorschlag erwogen, ob nicht die Naturwissenschaft die Vorstellung transcendenter Atome nur als einen \u00bbfig\u00fcrlichen Ausdruck\u00ab f\u00fcr qualitative Verh\u00e4ltnisse von Empfindungen betrachten k\u00f6nne, worauf dann die Mannigfaltigkeit der objectiven Empfindungen m\u00f6glicher Weise aus einer einzigen \u00bbGrundempfindung\u00ab abzuleiten\n1)\tSchuppe, Erkenntnisstheoret. Logik, S. 64 ff. Grundriss, 23 f. Vergl. auch v. Schubert-Soldern, Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 12 f., und Rehmke, Die Weit als Wahrnehmung und Begriff, S. 64 ff.\n2)\tSchuppe, Grundriss, S. 34. v. Schubert-Soldern, Ursprung und Element der Empfindung, Zeitschr. f\u00fcr immanente Philosophie, Bd. I, S. 25.\n3)\tv. Schubert-Soldern, Grundlagen, der Erkenntnisstheorie, S. 57.\n4)\tRehmke, Die Welt als Wahrnehmung und Begriff, S. 187.","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\t341\nw\u00e4re1). So seltsam dieser Vorschlag klingen mag: wenn man die Pr\u00e4missen der immanenten Philosophie zugibt, so wird sich die Folgerichtigkeit desselben nicht bestreiten lassen. Sind die Sinnesqualit\u00e4ten erst als objectiv reale Eigenschaften anerkannt, so wird das Einheitsbed\u00fcrfniss unserer Vernunft nicht ruhen, bis sie alle auf eine m\u00f6glichst kleine Anzahl von Grundempfindungen, sei es auf eine einzige, sei es, wenn dies nicht ausreichen sollte, vielleicht auf eine f\u00fcr jedes Sinnesgebiet, zur\u00fcckgef\u00fchrt hat. Man sieht, wir sind nahe daran die Errungenschaften der physikalischen Optik in den Wind schlagen zu sollen, um die alte aristotelische Farbenlehre f\u00fcr sie einzutauschen. Denn was hier verlangt wird, das hat Aristoteles ungef\u00e4hr geleistet: er hat alle Lichterscheinungen zwar nicht auf eine, aber doch auf zwei Empfindungen, das Helle und das Dunkle, zur\u00fcckgef\u00fchrt. Diese merkw\u00fcrdige Uebereinstimmung ist in der That keine zuf\u00e4llige. Wer den erkenntnisstheoretischen Standpunkt der Naturwissenschaften als einen fehlerhaften ansieht, um den \u00bbnaiven Realismus\u00ab der alten Naturphilosophie an seine Stelle zu setzen, der wird wohl oder \u00fcbel auch im einzelnen zu den Anschauungen jener alten Naturphilosophie zur\u00fcckkehren m\u00fcssen.\nIb. Der naturwissenschaftliche Standpunkt.\nWie verh\u00e4lt sich nun zu dieser Erkenntnistheorie der immanenten Philosophie die allm\u00e4hlich in der neueren Naturwissenschaft zur Entwicklung gelangte Anschauung ? Diese Frage zu beantworten ist um so nothwendiger, als die immanente Philosophie dies entweder gar nicht gethan oder, wo sie es zu thun versuchte, der Naturwissenschaft Anschauungen untergeschoben hat, die ihr nicht oder h\u00f6chstens zuf\u00e4llig in einzelnen ihrer Vertreter eigen sind, w\u00e4hrend sie in der positiven Wissenschaft selbst gar keine Rolle spielen.\nZuv\u00f6rderst ist nun hier anzuerkennen, dass die Ausgangspunkte der beiden zu so scharfen Gegens\u00e4tzen entwickelten Erkenntniss-theorien nahezu \u00fcbereinstimmende zu sein scheinen. Beide >\n1) v. Schubert-Soldern, Transcendenz und Immanenz, S. 67.\n23*","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nW. Wundt.\nbeginnen n\u00e4mlich mit dem \u00bbnaiven Realismus\u00ab. In einer wesentlichen Beziehung ist aber der naive Realismus der Naturwissenschaften ein anderer als derjenige der immanenten Philosophie. Dieser betont n\u00e4mlich mit einer geflissentlichen, kaum mehr naiv zu nennenden Entschiedenheit, dass jeder Bewusstseinsinhalt von Anfang an als ein dem wahrnehmenden Subject gegebener, also gleichzeitig als ein subjectiver und als ein objectiver aufgefasst werde. Hier hat nun augenscheinlich die oben geltend gemachte Schwierigkeit, aus dem Stande der Reflexion ohne weiteres durch einen freien Entschluss zur Stufe wirklicher Naivit\u00e4t zur\u00fcckzukehren, ihre Rolle gespielt. Wenigstens wenn wir den objectiven Zeugnissen primitiven Nachdenkens glauben, wie sie in der Geschichte der Anf\u00e4nge des menschlichen Denkens, selbst des wissenschaftlichen, vorliegen, und wenn wir uns auf eine unbefangene psychologische Beobachtung des gew\u00f6hnlichen Bewusstseins verlassen wollen, so verh\u00e4lt sich die Sache anders. Die psychologische Beobachtung findet allerdings, das ist nicht zu bestreiten, Momente genug vor, wo wir uns deutlich bewusst sind, nicht nur dass Objecte gegeben, sondern auch dass sie dem denkenden und wahrnehmenden Subjecte gegeben sind. Der Gedanke, dass Objecte nicht wahrgenommen werden k\u00f6nnen ohne ein Subject, das sie wahrnimmt, entwickelt sich darum gewiss sehr fr\u00fche. Aber es ist doch ebenso gewiss, dass in sehr vielen Momenten von einer solchen Reflexion auf das Ich schon in der gew\u00f6hnlichen praktischen Lebenserfahrung durchaus nicht die Rede ist. Psychologisch betrachtet ist es vielmehr unter normalen Verh\u00e4ltnissen der gew\u00f6hnliche Zustand, dass einfach Objecte als Objecte gegeben sind, ohne dass an das vorstellende und empfindende Subject \u00fcberhaupt gedacht wird. Wenn sich also der Satz: \u00bbObjecte k\u00f6nnen immer nur einem Sub-j jecte gegeben sein\u00ab f\u00fcr das Resultat einer erkenntnisstheoretischen Reflexion ausgibt, so stimme ich ihm nat\u00fcrlich zu. Wenn er aber behauptet, urspr\u00fcnglicher Inhalt des Bewusstseins und demnach \u25a0 unmittelbare und nie aufzuhebende Erfahrung zu sein, so stimme ich ihm nicht zu. Man pflegt Momente, in denen gegen\u00fcber der Vorstellung der Objecte die Beziehung auf das Subject ganz verschwindet, Momente der \u00bbSelbstvergessenheit\u00ab des Subjectes zu nennen. Dieser Ausdruck ist nicht zu beanstanden, wenn er nur","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n343\nf\u00fcr das entwickelte Bewusstsein die jederzeit vorhandene M\u00f6glichkeit ausdr\u00fccken soll, zur Reflexion auf das Subject zur\u00fcckzukehren; er ist aber irref\u00fchrend, insofern er schon von der Neigung eingegeben ist, die Beziehung zum Subject als den normalen oder gar als den urspr\u00fcnglichen Zustand zu betrachten. Der urspr\u00fcngliche ist er mindestens bei der Auffassung \u00e4u\u00dferer Objecte durchaus nicht, sondern diese sind nicht nur urspr\u00fcnglich ohne Beziehung auf das Ich gegeben, sondern selbst im entwickelten Bewusstsein bildet dieses Verhalten die Regel. Nun kann man allerdings sagen, die psychologische Beobachtung sei hier nicht ohne weiteres zwingend f\u00fcr die erkenntnisstheoretische Beurtheilung der Sache. Aber dieser Ein wand ist doch nur insoweit im Rechte, als er sich auf Elemente des Bewusstseins berufen kann, die, wie die Gef\u00fchle, als eine Geltendmachung des Subjects gedeutet werden m\u00fcssen, weil sich aus ihnen das Selbstbewusstsein sammt der von ihm ausgehenden Beziehung der Objecte auf das Subject entwickelt. Wenn also jener Einwand nur sagen will, dass die Objecte nicht fr\u00fcher sind als das Subject, so hat er, da alle Bewusstseinselemente, die auf das Subject bezogenen und die Objecte, gleich urspr\u00fcnglich sind, recht. Wenn aber die Meinung die ist, dass mit jedem Object immer das Subject mitgedacht werde, so ist dies nicht nur f\u00fcr das urspr\u00fcngliche, sondern in den meisten F\u00e4llen auch noch f\u00fcr das entwickelte Bewusstsein falsch. Ist es ein psychologisches Factum, dass Objecte gedacht werden k\u00f6nnen, ohne dass dabei das denkende Subject sich selbst denkt, so kann zwar die sp\u00e4ter kommende logische Reflexion gleichwohl zu dem Ergebnisse kommen, dass auch auf der primitivsten Stufe des Erkennens ein denkendes Subject erforderlich sei, wenn Objecte gedacht werden sollen, und sie kann dieses Ergebniss allen Zweifeln gegen\u00fcber als ein unbestreitbares festhalten. Aber damit ist keineswegs die Behauptung gerechtfertigt, dass das Object urspr\u00fcnglich schon nicht blo\u00df als Object, sondern dass es auch als Wahrnehmung des Subjectes gedacht werde. Der Grundsatz des naiven Realismus lautet daher nicht: \u00bbObjecte sind mir, dem Subject, gegeben\u00ab, sondern: \u00bbObjecte sind gegeben\u00ab. Dieser Unterschied ist nun keineswegs bedeutungslos. Wenn wir n\u00e4mlich die oben erw\u00e4hnte Regel der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie, dass der unmittelbare Inhalt der Erfahrung bis","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nW. Wundt.\nzur Auffindung positiver Gegeninstanzen als real anzusehen sei, auf den zweiten dieser S\u00e4tze anwenden, so ergibt sich daraus als der bis auf etwaige Widerlegung festzuhaltende Standpunkt die Anerkennung der Unabh\u00e4ngigkeit der Objecte vom Subject. Wenn wir aber die n\u00e4mliche Hegel auf den ersten Satz anwenden, so liegt es nahe, hieraus umgekehrt auf die Subjectivit\u00e4t aller objectiven Er-kenntnissinhalte zu schlie\u00dfen. Jenes ist in der That der Standpunkt der positiven Wissenschaften, dieses derjenige der subjectivistischen Erkenntnisstheorien.\nc. Geschichtliche Zeugnisse f\u00fcr die Anschauungen des naiven Realismus.\nMit dem von der Erkenntnisstheorie der positiven Wissenschaften eingenommenen Standpunkte stimmt es nun vollkommen \u00fcberein, dass geschichtlich die Auffassung, von der die Wissenschaft ausgegangen ist, nicht dem naiven Realismus der Immanenzphilosophie, sondern dem der psychologischen Beobachtung entspricht. Darum gelten diesem naiven Realismus die Objecte in ihrer von dem Subject unabh\u00e4ngigen Beschaffenheit als leuchtend, dunkel, farbig, t\u00f6nend, s\u00fc\u00df, bitter, warm, kalt, hart u. s. w. Zwar hatte schon in der \u00e4lteren Naturphilosophie der Griechen die Unterscheidung dieser Sinnesqualit\u00e4ten in Eigenschaften der Objecte und in Wirkungen dieser Eigenschaften auf das Subject sich ausgebildet. Bei den T\u00f6nen war man sogar schon dazu getrieben worden, die objective Eigenschaft als etwas von der Sinnesempfindung verschiedenes zu betrachten. Aber zu einem deutlichen Bewusstsein war diese Unterscheidung noch nicht erwacht. Das zeigt namentlich die Art, wie man sich die Entstehung der Lichtempfindungen durch materielle Bilder dachte, die von dem Object sich losl\u00f6sen und in das Sehorgan eindringen sollten. Hier war man sich zwar dar\u00fcber klar geworden, dass das Object durch seine objective Existenz noch keineswegs f\u00fcr den Wahrnehmenden vorhanden, sondern dass dazu au\u00dferdem eine subjective Auffassung desselben erforderlich sei. Aber noch entschloss man sich nicht, deshalb die Objectivit\u00e4t der Sinnesqualit\u00e4t zu opfern, sondern man lie\u00df diese fortbestehen und suchte dem neu entstandenen Bed\u00fcrfniss dadurch nachzukommen,","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n345\ndass man das Object zwar, wenn nicht selbst, so doch durch ein seine Sinnesqualit\u00e4t treu wiedergebendes Ebenbild auf das Subject einwirken lie\u00df. Der Tastsinn, bei dem das Object in directer Ber\u00fchrung mit dem Sinnesorgan steht, mag dabei zum Vorbild gedient haben. Auch war dem n\u00e4chsten Bed\u00fcrfniss durch diese naive Hypothese gen\u00fcgt, ohne dass dabei im eigentlichen Sinne eine psychologische Verdoppelung des \u00e4u\u00dferen Objectes stattgefunden h\u00e4tte. Vielmehr bewegte sich die ganze Vorstellung immer noch auf dem Gebiet physikalischer Annahmen. Die Abl\u00f6sung des Bildes vom Object war ja ein physikalischer Vorgang, und so war es, wenn auch nicht wie heim Tastsinn, das Object selbst, so doch ein physischer Stellvertreter des Objects, der unmittelbar empfunden wurde. Da die Sinnesqualit\u00e4t sowohl dem Object wie diesem von ihm losgel\u00f6sten physikalischen Abbild zugeschrieben wurde, so hielt man dabei immer noch die Objectivit\u00e4t der Sinnesqualit\u00e4ten fest. Ja diese waren ebenso wie auf der Stufe des urspr\u00fcnglichen naiven Realismus nur objective Eigenschaften geblieben, w\u00e4hrend die subjective Auffassung als eine unmittelbar und von selbst gegebene Folge der Existenz der Objecte erschien. Dass zur Wahrnehmung des Objectes die Auffassung desselben erforderlich sei, hatte man zwar erkannt. Aber von dem Gedanken, dass die Sinnesqualit\u00e4ten erst durch diese Auffassung entstehen k\u00f6nnten, war noch keine Rede. Darum war trotz der Unterscheidung des Objectes und seiner Auffassung der Standpunkt des naiven Realismus noch nicht verlassen: der wahrgenommene und der objectiv existirende > Gegenstand waren identisch, und der Act der Wahrnehmung bestand entweder in der unmittelbaren Anwesenheit des Objects oder in der Existenz eines ihm gleichenden, ebenfalls objectiven Bildchens, das sich von dem Object losl\u00f6sen sollte.\nDer wichtige Schritt, den die neuere Naturwissenschaft \u00fcber den Standpunkt der \u00e4lteren Naturphilosophie endg\u00fcltig und auf allen Sinnesgebieten gethan hat, ist nun der, dass sie diese naive, Annahme einer Identit\u00e4t der Eigenschaften des Objects mit den in den Empfindungsqualit\u00e4ten gegebenen Eigenschaften der Vorstellung als unzul\u00e4ssig erkannte. Dabei sind aber zwei Entwicklungen streng von einander zu scheiden, die in der Ausbildung dieser Lehre von der Subjectivit\u00e4t der Sinnesqualit\u00e4ten einander","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nW. Wundt.\nparallel gehen und in einander eingreifen, gleichwohl jedoch wesentlich verschiedenen Gedankenkreisen angeh\u00f6ren. Die eine dieser Entwicklungen ist in der Erkenntnisstheorie der exacten Naturwissenschaft enthalten, die andere in den von der Philosophie hinzugebrachten metaphysischen Hypothesen, die durch jene angeregt worden sind.\nd. Die naturwissenschaftliche Erkenntnisstheorie seit Galilei.\nDie naturwissenschaftliche Erkenntnisstheorie, die nicht in irgend einem philosophischen System, sondern in den Ergebnissen der physikalischen Forschung niedergelegt ist, hat sich in mannigfachen vereinzelten Anf\u00e4ngen von fr\u00fche an vorbereitet. Fragmente derselben sind daher, wie oben bemerkt, schon in der \u00e4lteren Naturphilosophie vermengt mit den Vorstellungen des naiven Realismus zu finden. Ihren entscheidenden Ausdruck hat sie aber erst in der Naturlehre Galilei\u2019s gefunden. Freilich ist sie auch hier nicht frei von philosophischen Conceptionen, die den positiven Ergebnissen vorauseilen. Aber diese haben hier doch insofern ein von den bald nachher auftretenden metaphysischen Lehren abweichendes Gepr\u00e4ge, als sie zumeist den Charakter vorl\u00e4ufiger Hypothesen besitzen, deren sp\u00e4tere Best\u00e4tigung durch die Erfahrung nicht nur im allgemeinen m\u00f6glich war, sondern auch thats\u00e4chlich innerhalb der weiteren Entwicklung der neueren Naturwissenschaft eingetreten ist. Das Gesammtergebniss dieser in der Physik Galilei\u2019s und seiner Nachfolger enthaltenen Erkenntnisstheorie besteht in der aus dem Zusammenhang der Naturerscheinungen mit zwingender Nothwendig-keit entspringenden Forderung, dass die Sinnesqualit\u00e4ten auf objective,\n1 von den Sinnesqualit\u00e4ten selbst verschiedene Eigenschaften und Vorg\u00e4nge zur\u00fcckzuf\u00fchren seien. \u00bbDie Materie oder die k\u00f6rperliche Substanz \u00ab, sagt Galilei, \u00bb ist begrenzt und irgendwie gestaltet, im V erh\u00e4ltniss zu andern K\u00f6rpern gro\u00df oder klein, irgendwo im Raum und irgendwann in der Zeit, in Bewegung oder Ruhe, ber\u00fchrt einen anderen K\u00f6rper oder ber\u00fchrt ihn nicht, sie ist eins oder vieles, und sie kann niemals in der Vorstellung ohne diese Eigenschaften gedacht werden. Dagegen sind Geschmack, Geruch, Farbe u. s. w. nur die Wirkungen","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n347\ndieser Eigenschaften auf einen empfindenden K\u00f6rper\u00ab1). Diese Worte lassen ganz dahingestellt, was die Empfindungen als psychologische Zust\u00e4nde oder was sie im metaphysischen Sinne sind. Sie beschr\u00e4nken sich streng auf den naturwissenschaftlichen Standpunkt, der sich nur mit den objectiven Vorg\u00e4ngen besch\u00e4ftigt, als deren Wirkungen die Empfindungen im Sinne der physikalischen Betrachtung erscheinen, so dass sie eben deshalb als subjective Zeichen angesehen werden k\u00f6nnen, die auf jene aus den rein physischen Eigenschaften der K\u00f6rper abzuleitenden Ursachen hinweisen.\nDass Galilei in dieser Definition den Begriff der k\u00f6rperlichen Substanz auf die r\u00e4umlichen und zeitlichen Eigenschaften der Objecte beschr\u00e4nkt, ist eine unmittelbare Folge der seine gesammte Physik beherrschenden mechanischen Naturanschauung, nach welcher alle Naturerscheinungen auf die Grundbegriffe und Gesetze der Mechanik zur\u00fcckzuf\u00fchren sind. Unter diesen Grundbegriffen gibt es allerdings einen, der nicht unmittelbar auf die von Galilei aufgez\u00e4hlten r\u00e4umlichen und zeitlichen Bestimmungen reducirt werden kann, das ist der von Galilei als \u00bbimpetus\u00ab bezeichnete und in der unmittelbaren Wahrnehmung durch die Empfindung der Anstrengung sich verrathende Kraftantrieb. Aber indem derselbe seiner Gr\u00f6\u00dfe nach objectiv nur bestimmt werden kann, wenn er eine Beschleunigung einer Masse hervorbringt, ebenso wie die Masse wiederum nur an ihrem verz\u00f6gernden Einfluss auf einen Kraftantrieb zu messen ist, bleiben doch die r\u00e4umlich-zeitlichen Eigenschaften als die einzigen \u00fcbrig, die bei der physikalischen Untersuchung der Erscheinungen in Betracht kommen. Diese Erscheinungen selbst zerfallen aber hiernach in zwei Classen: in solche, die unmittelbar als r\u00e4umlich-zeitliche Ver\u00e4nderungen gegeben sind \u2014 das Gebiet der eigentlichen Mechanik \u2014, und in solche, die auf unmittelbar nicht wahrzunehmende Bewegungen der kleinsten Theilchen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden m\u00fcssen \u2014 das Gebiet der mechanischen Molecularphysik. Von diesen beiden Gebieten ist selbstverst\u00e4ndlich nur das erste ein Ergebniss directer Induction und Abstraction aus der Beobachtung. Das zweite dagegen beruht auf einer hypothetischen Uebertragung, hei der \u00fcberdies zumeist\n1) Galilei, II saggiatore, No. 48. Op\u00e9r\u00e9, ed. Alberi. IV, S. 333.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nW. Wundt.\nden in Wechselwirkungen stehenden kleinsten Theilchen andere Eigenschaften zugeschriehen worden sind, als sie den wirklich zu beobachtenden K\u00f6rpern zukommen. In diesem Sinne ist daher die mechanische Naturanschauung eine Hypothese. Aber diese Hypothese hat sich gerade in ihrer Anwendung auf die Lehre von der Subjectivit\u00e4t der Sinnesqualit\u00e4ten als eine \u00fcberaus fruchtbare Conception erwiesen, sodass alle folgenden Untersuchungen die auf Grund derselben von Galilei gemachte Voraussage best\u00e4tigten. Das hat sich vor allem in der weiteren Entwicklung der Optik bew\u00e4hrt. Galilei\u2019s Behauptung, dass die Farben blo\u00df subjectiv existirten, hatte zweifellos in den ihm zu Gebote stehenden optischen Thatsachen noch keine zureichende St\u00fctze: sie war zun\u00e4chst nur eine Voraussage auf Grund der mechanischen Naturanschauung. Aber die ganze folgende Entwicklung der Optik hat diese Voraussage auf das gl\u00e4nzendste best\u00e4tigt, so dass heute der Satz von der Subjectivit\u00e4t der Farben, gerade so wie schon l\u00e4ngst der von der Subjectivit\u00e4t der T\u00f6ne, nicht mehr Hypothese, sondern nothwendige Folgerung aus den Beobachtungen ist. Ja diese Folgerung ist so zwingend, dass selbst dann, wenn man irgend einmal im Gebiete der Molecularphysik die Voraussetzungen der mechanischen Naturanschauung verlassen oder durch irgend welche H\u00fclfshypothesen ver\u00e4ndern sollte, dadurch an der Auffassung der Sinnesqualit\u00e4ten nichts wesentliches ge\u00e4ndert werden k\u00f6nnte. Wir wissen z. B. ganz bestimmt, dass dem Licht objective Eigenschaften zukommen, die wir nicht empfinden, aber auf objectivem Wege nachweisen k\u00f6nnen; und wir wissen ebenso bestimmt, dass das Licht, ehe es auf irgend welche Nervenapparate, deren Erregung von Licht- und Farbenempfindungen begleitet ist, einwirkt, Transformationen erf\u00e4hrt, in Folge deren es Licht im physikalischen Sinne nicht mehr genannt werden kann. Wenn wir aber dann weiterhin diese Transformationen untersuchen, so sind sie Vorg\u00e4nge, die sich f\u00fcr die objective Analyse in chemische Processe aufl\u00f6sen, deren physische Beschaffenheit wir wiederum aus der Empfindung nicht zu erkennen verm\u00f6gen, ebensowenig wie wir umgekehrt, wenn uns nur diese photochemischen Processe in ihrer objectiven Beschaffenheit gegeben w\u00e4ren, daraus jemals auf die entsprechende Sinnesqualit\u00e4t zur\u00fcckschlie\u00dfen k\u00f6nnten. Darum ist nun aber auch heute ein etwaiger Zweifel an der Richtigkeit","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Heber naiven und kritischen Realismus.\n349\nder mechanischen Naturanschauung nicht mehr in dem Sinne m\u00f6glich, dass man von ihr aus etwa zur aristotelischen Farbenlehre zur\u00fcckkehren oder zu irgend einer andern Auffassung \u00fcbergehen k\u00f6nnte, welche die Sinnesqualit\u00e4ten wieder zu objectiviren untern\u00e4hme; sondern h\u00f6chstens in dem Sinne ist eine Ver\u00e4nderung der physikalischen Anschauungen denkbar, dass man die aus der Bewegung der Massen abgeleiteten Principien nicht f\u00fcr \u00fcbertragbar h\u00e4lt auf die Bewegungen der kleinsten Theilchen.\nHiernach ist es klar, dass die Voraussetzungen der mechanischen Naturanschauung \u00fcberhaupt in zw ei Bestandtheile von verschiedenem Erkenntnisswerth zerfallen: in das in der oben citirten Stelle Galilei\u2019s ausgesprochene Postulat der ausschlie\u00dflich r\u00e4umlichzeitlichen Beschaffenheit aller Naturvorg\u00e4nge, und in die Annahme, dass die f\u00fcr die Bewegungen der Massen gefundenen mechanischen Principien unver\u00e4ndert auf die Molecularphysik \u00fcbertragbar seien. Die zweite dieser Voraussetzungen bildet nur eine hypothetische Erg\u00e4nzung der ersten. Der Satz von der Subjectivit\u00e4t der Sinnesqualit\u00e4ten ist jedoch von dieser speciellen Gestaltung der mechanischen Naturanschauung nicht derart abh\u00e4ngig, dass er mit der Aufhebung der letzteren selber beseitigt w\u00fcrde. Vielmehr ist das Verh\u00e4ltnis das umgekehrte: die mechanische Naturanschauung fordert die Subjectivit\u00e4t der Sinnesempfindungen, diese w\u00fcrde aber auch noch mit andern Naturanschauungen m\u00f6glicher Weise vereinbar sein. Sie kann daher unm\u00f6glich in jener ihren letzten Grund haben. In der That sind es augenscheinlich die specifischen Erkenntnisseigen-schaften von Raum und Zeit, die unaufhebbare Constanz, in denen sich aller sonstige variable Erfahrungsinhalt in diesen Anschauungsformen darbietet, worin jener Grund zu suchen ist. Mehr als ein erster Antrieb darf aber in diesen Eigenschaften von Raum und Zeit nicht gesehen werden. Die entscheidenden Beweise ergeben sich erst aus der physikalischen Forschung selbst, die mit jedem weitern Schritt ebenso sehr die Unaufhebbarkeit der r\u00e4umlichen und zeitlichen Eigenschaften der Objecte wie die Unm\u00f6glichkeit der Objecti virung der Sinnesqualit\u00e4ten erkannte. So f\u00fchrt hier, wie in allen den F\u00e4llen, wo wir geneigt sind den Ergebnissen eine besondere Evidenz zuzuschreiben, die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Erkenntniss schlie\u00dflich auf zwei Quellen zur\u00fcck: auf","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nW. Wundt.\neine durch die abstracten Raum- und Zeitbegriffe bestimmte hypothetische Anticipation der objectiven Erfahrungsinhalte, und auf eine dieser nachfolgende empirische Beweisf\u00fchrung. In diesem Sinne kann man daher sagen, dass sich die fundamentalen Prin-cipien der Naturwissenschaft in der Regel aus einem apriorischen und einem empirischen Factor zusammensetzen, die beide in dem Verh\u00e4ltnisse zu einander stehen, dass der apriorische Factor ohne den empirischen keine Geltung haben w\u00fcrde, dass aber der empirische erst durch den apriorischen den Charakter einer den blo\u00dfen Erfahrungsthatsachen \u00fcberlegenen Evidenz empf\u00e4ngt.\nIndem sich der Satz von der Subjectivit\u00e4t der Sinnesqualit\u00e4ten nur auf die physikalische Seite der Erfahrung bezieht, l\u00e4sst er nun die Frage, was die Sinnesqualit\u00e4ten selbst seien, abgesehen davon, dass er sie eben dem Subjecte zurechnet, ganz dahingestellt. Auch Galilei, wenn er die Sinnesqualit\u00e4ten als \u00bbWirkungen der objectiven Eigenschaften auf einen empfindenden K\u00f6rper\u00ab bezeichnet, l\u00e4sst daher die Frage offen, was diese subjectiven Empfindungswirkungen selbst seien: sie liegen ihm als subjective Wirkungen an und f\u00fcr sich au\u00dferhalb des Gebietes der Physik, die es nur mit den objectiven Eigenschaften der K\u00f6rper zu thun hat. Damit vollzieht Galilei jene Abstraction von dem Subject, durch die seitdem klar und unzweideutig der Standpunkt der exacten Naturwissenschaft bei der Untersuchung der Naturerscheinungen gekennzeichnet ist. Indem dieser Standpunkt die Frage, was das Subject sei, von dem bei der physikalischen Untersuchung abstrahirt wird, geflissentlich als eine nicht vor das Forum der Naturlehre geh\u00f6rige unbeantwortet l\u00e4sst, bleibt der Psychologie f\u00fcr ihre Untersuchung der subjectiven Vorg\u00e4nge freier Spielraum, w\u00e4hrend zugleich das Problem der Beziehungen zwischen der von der Naturwissenschaft angenommenen objectiven Welt und dem Subjecte als ein metaphysisches g\u00e4nzlich aus dem Gebiet der empirischen Untersuchung ausgeschlossen bleibt !).\n1) Vergl. hierzu meine Abhandlung \u00fcber die Definition der Psychologie. Phil. Stud. XII, S. Iff.","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n351\ne. Die materialistische Hypothese.\nDie von der mechanischen Naturanschauung Galilei\u2019s beeinflusste Philosophie hat nun aber freilich die vorsichtige Zur\u00fcckhaltung nicht mehr gewahrt, die der Begr\u00fcnder derselben und seine naturwissenschaftlichen Nachfolger sich auferlegten. Indem die Philosophie die mechanische Naturanschauung zum metaphysischen System erhob, nahm sie einer zuk\u00fcnftigen Psychologie die Untersuchung jener von der Physik mit Fug und Recht unerledigt gelassenen subjectiven Seite der Erfahrung vorweg. Die nach mechanischen Gesetzen bewegte Materie galt nun nicht mehr blo\u00df als das hypothetische Substrat der objectiven Naturerscheinungen, sondern als das allgemeine Wesen der Dinge. Aus subjectiven Wirkungen der objectiven Bewegungen auf das Subject, die wegen der f\u00fcr die Physik transcendenten Natur des letzteren au\u00dferhalb der Grenzen der Untersuchung des Physikers bleiben, wandelten sich so die Empfindungen\u00ab selbst in mechanische Formen der Bewegung der Materie um. Auf die Frage aber, was die Sinnesqualit\u00e4ten seien, blieb von diesem Standpunkte aus nat\u00fcrlich nur noch die Antwort \u00fcbrig, sie seien eigentlich nichts wirkliches, sondern T\u00e4uschungen, ungenaue oder illusorische Auffassungen der . im Gehirn und in den Nerven vor sich gehenden Bewegungsvorg\u00e4nge.\nDer erste Vertreter dieser materialistischen Folgerungen aus der mechanischen Naturanschauung Galilei\u2019s ist Hobbes. Wenn er die Empfindungen als \u00bbPhantasmen\u00ab bezeichnet, welche durch die Bewegungen im Sinnesorgan erzeugt w\u00fcrden, so hat er damit den f\u00fcr den modernen Materialismus charakteristischen Grundgedanken zum ersten Mal entschieden ausgesprochen. Unter wechselnden Benennungen ist das derselbe Gedanke, durch den sich bis in die neueste Zeit die materialistische Metaphysik mit den Empfindungsqualit\u00e4ten abzufinden sucht, falls sie nicht den andern Ausweg einschl\u00e4gt, dass sie die Empfindung unmittelbar als eine allgemeine Eigenschaft der Materie betrachtet \u2014 ein Ausweg, der aber eigentlich schon kein folgerichtiger Materialismus mehr ist1).\n1) Hobbes, Elementa philosophiae, Sect. I De corpore, Pars IV. cap. 25, 2.","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nW. Wundt.\nWenn nun die Vertreter der immanenten Philosophie gegen diese materialistische Hypothese geltend machen, dass die Empfindung ein urspr\u00fcngliches Datum des Bewusstseins sei und als solches weder definirt noch irgendwie aus andern Daten abgeleitet werden k\u00f6nne* 1), so habe ich selbstverst\u00e4ndlich dagegen nichts einzuwenden. Auch glaube ich nicht, dass es heute noch irgend welche in philosophischer Beziehung ernsthaft zu nehmende Physiker und Physio-logen gibt, die dem nicht zustimmen werden. Gleichwohl beruht diese Polemik auf einem Missverst\u00e4ndnisse, wenn sich mit ihr die Meinung verbindet, es gr\u00fcnde sich die auch noch von der heutigen Physik festgehaltene Voraussetzung, dass die Empfindungen subjective, aber auf ein von dem Subject unabh\u00e4ngiges Object hinweisende Vorg\u00e4nge seien, auf jene materialistische Hypothese, und mit der Beseitigung dieser sei darum auch jene Voraussetzung widerlegt. Der wahre Sachverhalt ist vielmehr der, dass sich zun\u00e4chst bei der physikalischen Untersuchung der Naturerscheinungen die Annahme einer objectiven Realit\u00e4t der Empfindungsqualit\u00e4ten unhaltbar erwies, und dass dann erst zur Erkl\u00e4rung dieses Verh\u00e4ltnisses die materialistische Hypothese ersonnen wurde. Aher wie schon in den Anf\u00e4ngen der neueren Naturwissenschaft jenes physikalische Motiv dieser philosophischen Hypothese voranging, so ist \u00fcberhaupt nur das erstere, nicht im geringsten aber die letztere ein wirklicher Bestandtheil der naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie, d. h. ein solcher, der in der Natur erkl\u00e4r ung selbst eine Rolle spielt. Darum wird aber auch durch die heute beinahe allerseits anerkannte Unhaltbarkeit der materialistischen Hypothese die Annahme der naturwissenschaftlichen Erkenntnisstheorie, dass v die Empfindung ein subjectives Zeichen f\u00fcr einen objectiv nach bestimmten begrifflichen Forderungen zu construirenden Vorgang sei, nicht im geringsten ersch\u00fcttert. Denn nicht irgend welchen philosophischen oder nervenphysiologischen Theorien zu Liebe, wie\nOpera philos, quae latine seripsit. Amsterdam 1868. S. 194. In seinen fr\u00fcheren Schriften, wie z. B. in den \u00bbElements of Law\u00ab, n\u00e4hert sich die Anschauung von Hobbes noch etwas mehr der rein naturwissenschaftlichen des Galilei, obgleich auch hier mit entschieden materialistischer F\u00e4rbung. Vergl. Elements of Law natural and politic, ed. by Ferd. T\u00f6nnies. Chap. 2, 3. S. 3 ff.\n1) v. Schubert-Soldern, Zeitschr. f\u00fcr immanente Philosophie. I, S. 11 ff.","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n353\nman zu glauben scheint, nimmt die Physik an, dass nicht die T\u00f6ne und Farben, die wir empfinden, sondern dass bestimmte Bewegungsvorg\u00e4nge, die zu diesen Ton- und Farbenempfindungen in fest geregelten Beziehungen stehen, au\u00dfer uns und unabh\u00e4ngig von uns existiren. Vielmehr ist diese Annahme das unvermeidliche Ergebniss der physikalischen Analyse der Schall-, Licht- und sonstigen uns in der Sinneswahrnehmung gegebenen Erscheinungen. Bei dieser Untersuchung ist man urspr\u00fcnglich im wesentlichen von der Voraussetzung des \u00bbnaiven Realismus\u00ab ausgegangen, dass die Empfindungsqualit\u00e4ten Eigenschaften der Objecte selbst seien. Diese Voraussetzung ist aber dann Schritt f\u00fcr Schritt verlassen worden, weil sie sich als undurchf\u00fchrbar erwies. So ist die Annahme der Objectivit\u00e4t der Empfindungsqualit\u00e4ten sehr fr\u00fche schon in der Physik des Schalls, viel sp\u00e4ter in der des Lichtes gefallen, hier eigentlich erst mit entscheidendem Erfolg seit der Begr\u00fcndung der Undulationstheorie. Wenn darum Galilei in der oben angef\u00fchrten Stelle auch die Farben als blo\u00df subjective Zust\u00e4nde bezeichnete, so war das eine jener k\u00fchnen, aus der Verallgemeinerung beschr\u00e4nkter Ergebnisse hervorgegangenen Anticipationen, wie sie so oft der wissenschaftlichen Erkenntniss den Weg bereiten. Das logische Princip, auf das man sich hierbei fortw\u00e4hrend st\u00fctzte, ohne es doch jemals eigentlich theoretisch zu formuliren, war aber die Forderung des widerspruchslosen Zusammenhangs der einzelnen Erfahrungstatsachen.\nDer Weg, den die naturwissenschaftliche Erkenntnisstheorie zur\u00fcckgelegt hat, ist also, wie ich meine, in der Geschichte der Wissenschaft in unumst\u00f6\u00dflichen Zeugnissen niedergelegt, in Zeug-niss\u00f6n zugleich, die vor so manchen in der Luft schwebenden philosophischen Speculationen die B\u00fcrgschaft des praktischen Erfolgs voraushaben. Jener Weg bestand aber darin, dass der in der naiven Erfahrung gegebene Thatbestand zun\u00e4chst als Wirklichkeit angenommen und dann nach den aus der vergleichenden Analyse der einzelnen Erfahrungen sich ergebenden Forderungen allm\u00e4hlich berichtigt wurde. Das Endresultat, zu dem die aus diesen Motiven hervorgegangenen Correcturen gef\u00fchrt haben, liegt in der allm\u00e4hlich zur Herrschaft gelangten naturwissenschaftlichen Auffassung der objectiven Wirklichkeit klar ausgesprochen. Die schon in der","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nW. Wundt.\nnaiven Erfahrung vorhandene objective Realit\u00e4t der Naturgegenst\u00e4nde ist bei allem sonstigen Wandel der Anschauungen bestehen geblieben. Aber diejenigen Eigenschaften der Naturgegenst\u00e4nde, die uns als Empfindungsinhalt gegeben sind, haben der objectiven Analyse nicht Stand gehalten : sie k\u00f6nnen physikalisch nur in dem Sinne verwerthet werden, dass man sie als subjective Vorg\u00e4nge be-' trachtet, die zu bestimmten begrifflich zu construirenden objectiven Vorg\u00e4ngen in gesetzm\u00e4\u00dfigen Beziehungen stehen. Wollte man beweisen, dass diese Auffassung falsch ist, so m\u00fcsste daher gezeigt werden, dass die Kette naturwissenschaftlicher Folgerungen unrichtig sei, die zu ihr gef\u00fchrt haben. Man kann jedoch diesen Beweis nicht dadurch ersetzen, dass eine der metaphysischen Hypothesen, die auf Grund jener naturwissenschaftlichen Anschauung m\u00f6glich, durch diese aber nicht im mindesten zwingend gefordert ist, f\u00fcr unhaltbar erkl\u00e4rt wird.\nf. Die Anschauungsformen und der Empfindungsinhalt.\nNur wenn man den hier allein zul\u00e4ssigen Weg der kritischen Pr\u00fcfung der naturwissenschaftlichen Voraussetzungen selbst einschl\u00e4gt, l\u00e4sst sich nun auch \u00fcber die Gr\u00fcnde Rechenschaft geben, aus denen Raum und Zeit nicht in \u00e4hnlichem Sinne wie der qualitative Empfindungsinhalt subjectivirt worden sind. Die besondere Bedeutung, welche jene Anschauungsformen f\u00fcr die Con-stituirung unserer objectiven Gegenstandsbegriffe besitzen, dr\u00e4ngt sich nat\u00fcrlich so unmittelbar der Aufmerksamkeit auf, dass sie auch der immanenten Philosophie nicht entgehen konnte. Aber die Bemerkung, dass dem Raum und der Zeit keine begrifflich noth-wendige, sondern lediglich eine empirische, dabei aber durchaus constante und gesetzm\u00e4\u00dfige Nothwendigkeit innewohne1), ist nicht zureichend, um die besondere Stellung zu erkl\u00e4ren, die ihnen in unserer wissenschaftlichen Erkenntniss der Au\u00dfenwelt einger\u00e4umt werden muss. Ueber diese Stellung gibt dagegen die in der Entwicklung der Naturwissenschaft zum Ausdruck gelangte Erkenntnisstheorie vollkommen zureichende Rechenschaft, indem\n1) Schuppe, Grundz\u00fcge, S. 117. Erk. Logik, S. 452fif.","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n355\nsie zeigt, dass alle jene Versuche, die zur Subjectivirung des Em-pfindungsinhaltes gen\u00f6thigt haben, den Anschauungsformen nichts anhahen konnten, dass vielmehr Raum und Zeit, abgesehen von einzelnen subjectiven, im allgemeinen leicht zu eliminirenden T\u00e4uschungen, sich in aller Erfahrung als obj ectiv gegeben bew\u00e4hrten. Neben der Feststellung dieses der Geschichte der Wissenschaft leicht zu entnehmenden Resultates muss es nun als eine Aufgabe der allgemeinen Erkenntnisstheorie angesehen werden, die logischen Motive nachzuweisen, die der Unterscheidung jener Anschauungsformen von einander und von dem Empfindungsinhalt zu Grunde liegen. So lange man aber, wie es die immanente Philosophie thut, Raum und Zeit nur im selben Sinne als empirisch gegeben auffasst, in welchem es alle sonstigen \u00bbBewusstseinsdata\u00ab auch sind, so kann ihnen f\u00fcr die Erkenntniss der Objecte keine andere Bedeutung beigelegt werden als die, die auch den Empfindungsqualit\u00e4ten zukommt. Man muss also entweder jene f\u00fcr ebenso subjectiv erkl\u00e4ren wie diese oder umgekehrt diese f\u00fcr ebenso ob-jectiv wie jene. In der That ist das, wie wir schon oben (S. 340) gesehen haben, der Standpunkt der \\ immanenten Philosophie. Sie bekennt sich in allen ihren Richtungen zu der Ueberzeugung, dass jedem Gegenstand ebenso gut irgend ein Empfindungsinhalt wie r\u00e4umliche Figur und Begrenzung zukommen m\u00fcsse1). Von einzelnen ihrer Vertreter wird freilich in dieser Beziehung den verschiedenen Sinnesqualit\u00e4ten ein verschiedener Werth einger\u00e4umt: H\u00e4rte, Ton u. s. w. sollen z. B. \u00bbWahrnehmungen als solche\u00ab sein, \u00bbdie wir als durch etwas Anderes bewirkt erkennen\u00ab ; die Farbe dagegen werde auf das Ding selbst bezogen, daher dieses als farbig anerkannt werden m\u00fcsse2). Wenn nun, wie hier angenommen wird, die Lichtqualit\u00e4ten nicht blo\u00df unserer Wahrnehmung des Lichtes, sondern den leuchtenden Objecten seihst zukommen, dann * ist offenbar die Arbeit der physikalischen Optik vergeblich gethan. Wir sehen uns dann von neuem vor die Aufgabe gestellt zuzusehen, wie sich etwa die Naturerscheinungen aus Licht- und sonstigen\n1)\tSchuppe, Grundriss, S. 15. v. Schubert-Soldern, Grundlagen der Erkenntnisstheorie, S. 58.\n2)\tRehmke, Die Welt als Wahrnehmung und Begriff, S. 187.\nWundt, Philos. Studien. XII.\n24","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nW. Wundt.\nSinnesqualit\u00e4ten zusammensetzen lassen. In der That fehlt es in der immanenten Philosophie nicht an Andeutungen, dass man ein solches Ziel ernstlich ins Auge fasst. So, wenn es als eine denkbare Aufgabe bezeichnet wird, die Vielheit der Sinnesqualit\u00e4ten auf eine einzige \u00bbGrundempfindung\u00ab zur\u00fcckzufiihren, und wenn daran der \u00bbvielleicht heuristisch vielversprechende Gedanke\u00ab gekn\u00fcpft wird, es m\u00f6ge, indem man die Annahme einer Transcendenz der Atome fallen l\u00e4sst, die Bewegung und Schwingung derselben nur als ein \u00bbfig\u00fcrlicher Ausdruck f\u00fcr die in verschiedener Weise auf einander folgenden Momente der Grundempfindung\u00ab betrachtet werden *).\nDiese Vorschl\u00e4ge sind, wenn man die Vorders\u00e4tze der immanenten Erkenntnisstheorie zugibt, in der That durchaus folgerichtige Entwicklungen, falls nur auch die andere Forderung anerkannt wird, die so gewonnene Anschauung habe in \u00e4hnlichem Sinne, nur freilich auf v\u00f6llig anderer Grundlage als die Naturwissenschaft, dem Bed\u00fcrfniss nach einer Subsumtion der mannigfaltigen Erfahrungsinhalte unter einheitliche Begriffe nachzukommen. Gegen ein solches Unternehmen m\u00f6chte vielleicht nichts zu erinnern sein. Sein Fehler besteht nur darin, dass man sich nicht darauf besinnt, wie sehr dieser Einheitstrieb der Vernunft thats\u00e4chlich die Entwicklung der Wissenschaft von Anfang an bis zum heutigen Tage beherrscht hat, und wie daher der Versuch die n\u00e4mliche Arbeit von neuem anzufangen auch unvermeidlich wieder auf einen primitiven Standpunkt zur\u00fcckf\u00fchrt, mag dieser noch so sehr durch Verkleidungen, die der modernsten Phase abstracter Erkenntnisstheorie angeh\u00f6ren, unkenntlich gemacht sein. Als Zeugnisse f\u00fcr das unbesiegbare Bed\u00fcrfniss nach Herstellung eines begrifflichen Zusammenhangs der Naturerkenntniss sind darum jene Vorschl\u00e4ge einer auf Grund der unmittelbaren Empfindungsqualit\u00e4ten vorzunehmenden Naturerkl\u00e4rung immerhin interessant. Aber indem die Philosophie dieses Bed\u00fcrfniss von sich aus befriedigen will, ohne danach zu fragen, welche Gesichtspunkte die mit den H\u00fclfsmitteln\n1) Vergl. oben S. 340 f. Der Urheber dieses Gedankens ist, wie es scheint, Avenarius, Philosophie als Denken der Welt gem\u00e4\u00df dem Princip des kleinsten Kraftma\u00dfes. 1876. S. 59 ff.","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n357\nder vergleichenden und experimentellen Beobachtung arbeitende naturwissenschaftliche Analyse der Erfahrung an die Hand gibt, bleibt es bei der Aufstellung inhaltsleerer Allgemeinbegriffe, wie sie sich aus der gew\u00f6hnlichen, nicht wissenschaftlich analysirten Erfahrung gewinnen lassen. So ist jene Urempfindung, die sich zu der Mannigfaltigkeit der einzelnen Empfindungsqualit\u00e4ten diffe-renzirt haben soll, offenbar nichts anderes als der in eine Ursache umgewandelte unbestimmte Gattungsbegriff der Empfindung seihst. Das ist aber, wie die Geschichte lehrt, \u00fcberall das Merkmal einer primitiven Beth\u00e4tigung des logischen Einheitsbed\u00fcrfnisses, dass man oberfl\u00e4chlich abstrahirten Gattungsbegriffen eine causale Bedeutung beilegt.\n4. Subject und Object..\nDie immanente Philosophie legt im allgemeinen gro\u00dfen Werth darauf, dass sie nicht mit dem reinen Suhjectivismus oder Solipsismus verwechselt werde. Mag sie sich auch in einzelnen ihrer Anh\u00e4nger dieser Denkweise n\u00e4hern oder ganz in sie \u00fcbergehen1), ihre Hauptvertreter sind ernstlich bem\u00fcht darzuthun, dass sich von ihrem Standpunkte aus ebenso sichere Merkmale f\u00fcr die Unterscheidung objectiver Erkenntnisse von subjectiven Vorstellungen gewinnen lassen, wie auf der Grundlage irgend einer \u00bbtranscen-denten\u00ab Erkenntnisstheorie. Die in dieser Beziehung ins Feld gef\u00fchrten entscheidenden Merkmale sind aber von doppelter Art. Die einen ergeben sich unmittelbar aus gewissen Thatsachen der \u00e4u\u00dferen Wahrnehmung: wir k\u00f6nnen sie demnach die empirischen Merkmale nennen. Die andern ergeben sich erst aus der Zergliederung des Ichbegriffs oder aus der klaren Vergegenw\u00e4rtigung der diesem Begriff zukommenden Eigenschaften: es mag daher gestattet sein, sie als die logischen Merkmale zu bezeichnen. Selbstverst\u00e4ndlich treten nun bei manchen Philosophen der immanenten Richtung die Merkmale der ersten, bei andern die der zweiten Art mehr m den Vordergrund. Dennoch pflegen \u00fcberall beide in irgend\n1) So bezeichnet M. Kauffmann in der Zeitschr. f\u00fcr immanente Philosophie (I, 2. S. 257) den Solipsismus als die \u00bbeinzig richtige wenn auch paradoxe L\u00f6sung\u00bb der Schwierigkeiten der immanenten Erkenntnisstheorie.\n24*","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nW. Wundt.\neiner Weise verbunden zu sein. Nur wird, wenn man auf die empirische Seite das Hauptgewicht legt, das logische Moment als eine unmittelbare Folge aus der Erfahrung behandelt. Wo dagegen dieses bevorzugt ist, da treten die empirischen Merkmale in die Rolle blo\u00dfer Gelegenheitsursachen zur\u00fcck, durch die uns ein begriffliches Verh\u00e4ltniss, das an sich als ein urspr\u00fcnglich gegebenes anzusehen sei, zum Bewusstsein kommen soll. F\u00fcr die kritische W\u00fcrdigung der immanenten Erkenntnisstheorie ist jedoch dieser Unterschied ohne wesentliche Bedeutung. Hier kommt es vor allem darauf an zu pr\u00fcfen, inwiefern jenen beiden Gruppen von Merk-' malen, den empirischen und den begrifflichen, einzeln betrachtet eine Bedeutung f\u00fcr die Feststellung objectiver Wahrheit und Allgemeing\u00fcltigkeit zukommt. Sollte auch nur ein Merkmal eine solche Bedeutung in Anspruch nehmen k\u00f6nnen, so w\u00fcrde damit immerhin, selbst wenn die \u00fcbrigen Argumente versagten, eine Art von Beweis geliefert sein. Sollten sich dagegen beide Merkmalgruppen als unzutreffend herausstellen, so kann nat\u00fcrlich auch aus ihrer Verbindung kein triftiges Argument gewonnen werden.\na. Der empirische Beweis f\u00fcr eine objective Wirklichkeit.\nDieser Beweis beruht auf der Wahrnehmung eines fremden, dem eigenen gleichartigen Ich, welchem mit diesem ein bestimmter Theil der Wahrnehmungswelt gemeinsam sei. Dieser gemeinsam existirende Theil aller Wahrnehmungen soll dann als der objectiv existirende anerkannt werden. Indem wir an fremden, dem unsern \u00e4hnlichen Leibern Handlungen, darunter namentlich Sprach\u00e4u\u00dferungen wahrnehmen, m\u00fcssen wir \u2014 so argumentirt man \u2014 schlie\u00dfen, dass einem solchen fremden Leibe ein fremdes, aber dem unserigen \u00e4hnliches Ich entspricht, und dass diesem fremden Ich gewisse Bewusstseinsdata ebenso gegeben sind wie uns selbst. Auf diese Weise entsteht eine \u00bbgemeinsame Wahrnehmungswelt, die als gemeinsam weder dem fremden noch dem eigenen Bewusstsein allein angeh\u00f6ren darf\u00ab1). Indem dann aber weiterhin zwischen den verschiedenen Wahrnehmungen der individuellen Bewusstseinseinheiten\n1) v. Schubert-Soldern, Grundlagen einer Erkenntnisstheorie, S. 27 f.","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n359\nneben den Uebereinstimmungen auch Differenzen entstehen, sondern sich die stabileren gemeinsamen Wahrnehmungsobjecte von den variableren, die dem Einzelbewusstsein allein angeh\u00f6ren. Nach dieser Entstehungsweise ist demnach die objective Welt nichts anderes als der gemeinsame Theil der subjectiven Bewusstseinsinhalte. Ihr Unterschied von diesen beruht nicht auf einer von dem Subject unabh\u00e4ngigen Realit\u00e4t, sondern auf ihrer aus der Ge- \u2018 meinsamkeit der Wahrnehmungen erschlossenen Constanz und Allgemeing\u00fcltigkeit i).\nAugenscheinlich l\u00e4sst sich diese Beweisf\u00fchrung in zwei Theile zerlegen: 1) Die fremden Leiber sollen durch ihre Aehnlichkeit mit dem eigenen Leibe besondere Merkmale darbieten, durch die sie sich von dem \u00fcbrigen subjectiven Bewusstseinsinhalte scheiden.\n2) Die Uebereinstimmung, in der sich gewisse unter unseren Wahrnehmungen mit den von uns erschlossenen Wahrnehmungen der jenen fremden Leibern angeh\u00f6renden \u00bbIche\u00ab befinden, soll diesem gemeinsamen Wahrnehmungsinhalt seine objective Realit\u00e4t sichern. Beide Argumente bed\u00fcrfen einer gesonderten Betrachtung.\n. 1) Unter den \u00bbfremden Leibern\u00ab, die sich vor allen andern Wahrnehmungsinhalten derart hervorthun sollen, dass sie sofort als dem unsern \u00e4hnliche, aber von uns verschiedene erkannt werden, sind, wie es scheint, ausschlie\u00dflich die Leiber anderer Menschen gemeint. Aber wie es m\u00f6glich sein soll, in dieser Beziehung zwischen ihnen und den Leibern sonstiger lebender und spontan bewegungsf\u00e4higer Gesch\u00f6pfe einen Wesensunterschied zu finden, ist nicht einzusehen. Es ist wahr, die Aehnlichkeit anderer Menschenleiber mit dem unsern ist gr\u00f6\u00dfer als die anderer Thierleiber. Aber wo ist hier eine sichere Grenze zu ziehen? Sollen etwa die Affen noch auf ein fremdes Bewusstsein schlie\u00dfen lassen und die niederen Thiere nicht mehr? Oder muss auch noch das Infusor, dessen Handlungen immerhin eine gewisse allgemeine Aehnlichkeit mit den unsern erkennen lassen, als ein fremdes \u00bbIch\u00ab anerkannt\n1) v. Schubert-Soldern, Ueber Transcendenz des Objects und Subjects, \u00ae. 86 ff. Grundlagen einer Erkenntnistheorie, S. 22 ff. Vergl. auch Schuppe, Erkenntnisstheoretische Logik, S. 76ff. Grundz\u00fcge der Erkenntnisstheorie und Logik, S. 32 f.","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nW. Wundt.\nwerden? Doch ich lasse diese Schwierigkeiten auf sich beruhen und beschr\u00e4nke mich auf die Frage: durch was soll denn den fremden Leibern die Kraft zukommen, aus dem Bewusstsein, das bis dahin alle Wahrnehmungsinhalte als seine eigenen subjectiven Erlebnisse auffasste, eine objective Welt herauszuzaubern? Was soll dieses subjective Bewusstsein daran hindern, die \u00bbfremden Leiber\u00ab ebenso wie alles andere fortan als blo\u00dfe subjective Erlebnisse zu betrachten? Ich kann nicht finden, dass die letztere Voraussetzung irgend einen logischen Widerspruch in sich schl\u00f6sse. Und wenn sie es th\u00e4te, so w\u00e4re hinwiederum unbegreiflich, dass es m\u00f6glich ist, sich redende und handelnde Personen, also \u00bbfremde Leiber\u00ab, als blo\u00dfe Phantasiebilder, mit dem deutlichen Bewusstsein, dass sie blo\u00df subjective Vorstellungen sind, zu denken. Es scheint mir vollkommen klar, dieser angebliche Schluss von dem fremden Leib auf das fremde Ich und durch die Vermittelung des letzteren auf eine objective Au\u00dfenwelt ist gar kein logischer Schluss, sondern ein durch nichts gerechtfertigter logischer Sprung. Alle jene Merkmale, aus denen hier auf die objective Realit\u00e4t eines andern Ich gefolgert werden soll, k\u00f6nnen dies erst rechtfertigen, wenn uns der Begriff einer objectiven Realit\u00e4t zuvor gegeben ist. Ist aber das der Fall, so bed\u00fcrfen wir der fremden Leiber mit ihren den unsern \u00e4hnlichen Bewegungen \u00fcberhaupt nicht mehr. Sie k\u00f6nnen uns jetzt allenfalls zu der Annahme verhelfen, dass in der Au\u00dfenwelt noch andere Menschen und Gesch\u00f6pfe existiren, die uns mehr oder weniger \u00e4hnlich sind. Niemals aber k\u00f6nnte uns umgekehrt die noch so deutliche Vorstellung jener Gesch\u00f6pfe veranlassen eine objective Au\u00dfenwelt anzunehmen, wenn wir nicht die Ueherzeugung von der Existenz derselben zuvor schon bes\u00e4\u00dfen. Und w\u00e4re wirklich der fremde, dem unsern \u00e4hnliche Leib das einzige St\u00fcck Au\u00dfenwelt, zu dessen Anerkennung wir gen\u00f6thigt werden, so bliebe die Uehertragung dieses Schlusses auf die \u00fcbrigen Objecte der Wahrnehmung immer nur eine sehr zweifelhafte Analogie; und es w\u00e4re nicht einzusehen, wie wir dazu kommen sollten, den Ergebnissen solcher Analogieschl\u00fcsse jene unmittelbare Gewissheit beizulegen, die unseren objectiven Wahrnehmungen thats\u00e4chlich zukommt.","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n361\n2) Nachdem uns die Wahrnehmung fremder Leiber zu der Ueberzeugung von der Existenz eines fremden Ich und dieses hinwiederum zu der einer objectiven Realit\u00e4t \u00fcberhaupt gef\u00fchrt hat, soll sich nun die Scheidung der letzteren von den s\u00fcb-jectiv bleibenden Bestandtheilen des Bewusstseins dadurch vollziehen, dass wir ausschlie\u00dflich die dem fremden Ich mit dem unsern gemeinsamen Wahrnehmungsinhalte als objectiv gegeben anerkennen.\nIch zweifle nicht, dass diese Annahme mit ziemlich weit verbreiteten Vorstellungen \u00fcbereinstimmt. Aber auch hier bew\u00e4hrt es sich wiederum, dass die Annahmen der vulg\u00e4ren Psychologie und Erkenntnisstheorie in der Regel falsch sind, weil sie sich nicht auf Beobachtung gr\u00fcnden, sondern auf Reflexionen dar\u00fcber, wie sich m\u00f6glicher Weise die Dinge f\u00fcr einen Beobachter verhalten k\u00f6nnten, dem die Aufgabe gestellt w\u00e4re, aus blo\u00dfen subjectiven Wahrnehmungen eine objective Realit\u00e4t zu erschlie\u00dfen. Ein solcher w\u00fcrde sich, so meint man, vor allen Dingen an seine Nebenmenschen wenden. Falls sie das n\u00e4mliche wie er selber beobachten, w\u00fcrde er diese \u00fcbereinstimmende Aussage auf eine objective Ursache zur\u00fcckf\u00fchren; wo sie dagegen seiner Wahrnehmung widerspr\u00e4chen, w\u00fcrde er eine subjective T\u00e4uschung voraussetzen. Ich will nicht bestreiten, dass sich die Dinge in irgend einer imagin\u00e4ren Welt so verhalten k\u00f6nnten. Aber gewiss ist, dass es in der wirklichen Welt nicht so ist. Hier wartet schon jene gemeine praktische Gewissheit, auf Grund deren wir handeln, nicht im allergeringsten auf die Best\u00e4tigung unserer Wahrnehmungen durch andere Menschen, sondern diese dient h\u00f6chstens als nachtr\u00e4gliche Bekr\u00e4ftigung von Ueberzeugungen, die wir zuvor schon aus unseren eigenen Wahrnehmungen gesch\u00f6pft haben; und wenn sich Widerspr\u00fcche zwischen diesen Wahrnehmungen und den Aussagen Anderer herausstellen, so sind wir daher regelm\u00e4\u00dfig geneigt, zun\u00e4chst diesen unseren Freunden und Nachbarn zu misstrauen, und dann erst, wenn wir gegen deren Majorit\u00e4t nicht mehr aufkommen k\u00f6nnen, allenfalls auch uns selber. Genau so verh\u00e4lt es sich da, wo irgend welche Fragen der objectiven Wirklichkeit der wissenschaftlichen Pr\u00fcfung anheimfallen. Auch hier ist das Kriterium der Uebereinstimmung","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nW. Wundt.\nverschiedener Wahrnehmenden unter einander dasjenige, dem an und f\u00fcr sich der allergeringste Werth zukommt1).\nDer Trugschluss, der zu dieser Uebersch\u00e4tzung der Zustimmung Anderer gef\u00fchrt hat, ist, wie ich glaube, ziemlich olfenkundig. Wenn wir uns von der objectiven Wahrheit solcher Ereignisse \u00fcberzeugen wollen, die wir selbst nicht erfahren haben, so setzen wir in die Angaben eines einzelnen Beobachters um so gr\u00f6\u00dferes Zutrauen, je mehr dieselben durch andere Beobachter best\u00e4tigt werden. Dieses Verfahren des Zeugen beweises \u00fcbertr\u00e4gt man nun, weil es wegen der OefFentlichkeit seiner Ausf\u00fchrung besonders augenf\u00e4llig ist, auf die Entstehung der objectiven Gewissheit \u00fcberhaupt. Eine solche Uebertragung der Kriterien des Glaubens an die Aussagen Anderer auf die Ueberzeugung durch eigene Erfahrung ist aber offenbar deshalb unerlaubt, weil jene Kriterien eben dadurch erst ihren Werth gewinnen, dass uns in den F\u00e4llen, wo wir sie als g\u00fcltig anerkennen, die eigene Erfahrung fehlt. Ist diese vorhanden, so geht sie stets der fremden Erfahrung vor. Die letztere kann uns zwar in der selbst erworbenen Ueberzeugung best\u00e4rken. Schon im Gebiet der praktischen Lebenserfahrung pr\u00fcfen j wir aber in der Regel zun\u00e4chst unsere eigenen Wahrnehmungen auf ihre Uebereinstimmungen unter einander und mit vorangegangenen Erfahrungen, ehe wir Andere fragen; und dem entsprechend entschlie\u00dfen wir uns auch zumeist erst dann fremdem Zeugniss vor der eigenen Beobachtung den Vorrang einzur\u00e4umen, wenn diese jenen Forderungen der subjectiven Uebereinstimmung nicht zureichend entspricht. Vollends in der Wissenschaft ist die Uebereinstimmung der Wahrnehmenden, falls diese sich auf den unmittelbaren, vor jeder exacten Analyse gegebenen Wahrnehmungsinhalt beschr\u00e4nkt, das allerunzuverl\u00e4ssigste und unvollkommenste H\u00fclfsmittel zur Pr\u00fcfung objectiver Realit\u00e4t. Wie h\u00e4tten das Copernikanische System, die neuere Akustik und Optik, ja die ganze heutige Astronomie und Physik jemals entstehen k\u00f6nnen, wenn dem Kriterium der Uebereinstimmung der wahrnehmenden Subjecte die ausschlie\u00dfliche oder \u00fcberhaupt nur die entscheidende Rolle in der Entwickelung unser wissenschaftlichen Erkenntnisse\n1) Vergl. meine Logik, I, 2. Aufl. S. 422 ff.","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n363\nzuk\u00e4me? Der einfachste Fall einer jener constanten optischen T\u00e4uschungen, denen die Sinne aller wahrnehmenden Subjecte unterworfen sind, gen\u00fcgt, um sich handgreiflich zu \u00fcberzeugen, dass nicht die Uehereinstimmung Aller oder Vieler, sondern die der Wahrnehmungen des einzelnen Subjectes unter einander, wie sie sich namentlich an der Hand der experimentellen Vergleichung und Variirung der Bedingungen herausstellt, das entscheidende Kriterium objectiver Realit\u00e4t ist. So sind z. B., so viel wir wissen, alle Menschen der T\u00e4uschung unterworfen, dass sie ein Quadrat wie ein aufrecht stehendes Rechteck sehen, weil die H\u00f6he des Quadrats nach dem Augenma\u00df etwas gr\u00f6\u00dfer ist als die Breite. Woraus sch\u00f6pfen wir nun die Ueberzeugung, dass die Figur trotz dieses widersprechenden Augenscheins ein Quadrat und kein Rechteck ist? Sicherlich nicht aus der Vergleichung der Wahrnehmungen verschiedener Menschen. Wir m\u00f6gen die Figur noch so oft von noch so vielen andern Beobachtern betrachten lassen: jeder sieht sie als Rechteck mit kleinerer Basis als H\u00f6he. In der That bed\u00fcrfen wir aber gar nicht dieser Contr\u00f4le durch Andere. Drehe ich die Figur um 90 Grad, so \u00fcberzeuge ich mich unmittelbar, dass es nicht die Eigenschaft des Objects, sondern die verschiedene Orientirung zum Auge ist, die den Unterschied hervorbringt; und messe ich mit einem Ma\u00dfstah die beiden ungleich erscheinenden Linien, so komme ich zu dem n\u00e4mlichen Resultat.\nDieses einfache Beispiel ist typisch f\u00fcr alle die F\u00e4lle, in denen wir durch die exacte Analyse der Erscheinungen gen\u00f6thigt werden, unsere unmittelbaren Wahrnehmungen zu berichtigen oder, was nur ein weiterer Schritt auf dem n\u00e4mlichen Wege ist, \u00fcber die objectiven Eigenschaften der Dinge hypothetische Voraussetzungen zu machen, die durch keinerlei Wahrnehmungen direct best\u00e4tigt werden k\u00f6nnen, aber als unentbehrliche H\u00fclfsmittel erscheinen, um bei der Interpretation der Erscheinungen verschiedene Wahrnehmungen widerspruchslos zu vereinigen. Haben auch an diesen in keiner Wahrnehmung direct gegebenen Voraussetzungen, wie z. B. das Copernika-nische System und die Wellenbewegung des Lichtes solche sind, selbstverst\u00e4ndlich immer viele Individuen gearbeitet, so ist das doch niemals in dem Sinne geschehen, dass die Beobachtungen des Einen f\u00fcr die Best\u00e4tigung der Resultate des Andern unerl\u00e4sslich","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nW. Wundt.\ngewesen w\u00e4ren, sondern nur in dem Sinne, dass der folgende Beobachter weiterf\u00fchrte, was der vorangehende begonnen hatte. Er-kenntnisstheoretisch ist daher in jedem dieser F\u00e4lle die M\u00f6glichkeit gegeben, dass ein einziger denkender Beobachter eine jener gro\u00dfen umw\u00e4lzenden Entdeckungen von Anfang bis zu Ende f\u00fcr sich allein durchgef\u00fchrt h\u00e4tte, wie ja denn wirklich in manchen F\u00e4llen wenigstens die entscheidende Conception die That eines Einzelnen gewesen ist. Wenn das nicht in noch viel gr\u00f6\u00dferem Umfange zu-trifft, so tr\u00e4gt daran nur die Beschr\u00e4nktheit menschlichen K\u00f6nnens und die K\u00fcrze des Lebens die Schuld, nicht im geringsten aber die Nothwendigkeit der Uebereinstimmung Vieler. Bleibt auch diese thats\u00e4chlich niemals aus, so ist sie es doch nicht, die das bis dahin Ungewisse erst gewiss macht; sondern die Ausbreitung einer neuen Ueberzeugung besteht immer nur darin, dass, was zun\u00e4chst f\u00fcr den Einen gewiss war, durch die Mittheilung der \u00fcberzeugenden Gr\u00fcnde auch f\u00fcr den Andern gewiss wird.\nNun ist die wissenschaftliche Erkenntniss kein von dem gew\u00f6hnlichen Erkennen wesensverschiedener ' Process, sondern sie besteht \u00fcberall nur in der Vervollkommnung des letzteren unter der planm\u00e4\u00dfigen Anwendung logischer Principien und technischer H\u00fclfsmittel. So wenig die Uebereinstimmung Vieler an und f\u00fcr sich zur Erzeugung wissenschaftlicher Gewissheit f\u00fchren kann, ebenso wenig vermag sie das f\u00fcr die gemeine Gewissheit zu leisten. Wenn das einzelne denkende Subject die Ueberzeugung von der Existenz realer Objecte nicht an und f\u00fcr sich schon bes\u00e4\u00dfe, so w\u00fcrden ihm alle Versicherungen anderer Menschen \u00fcber ihre \u00fcbereinstimmenden Wahrnehmungen nicht dazu verhelfen k\u00f6nnen. Wohl aber ist das Gegentheil m\u00f6glich. Wenn uns gewisse unter unseren scheinbar objectiven Erfahrungsinhalten fort und fort von andern zutrauensw\u00fcrdigen Menschen bestritten werden, so ergeben wir uns schlie\u00dflich darein, selbst an ihrer Objectivit\u00e4t zu zweifeln und sie f\u00fcr subjective T\u00e4uschungen zu halten. Auch das kann aber nur geschehen, weil wir schon durch eigene Reflexion darauf aufmerksam geworden sind, dass solche T\u00e4uschungen Vorkommen. Wenn wir also die Erfahrung nicht nach vorgefassten Ideen construiren, sondern selbst befragen, so verh\u00e4lt sich die Sache nahezu umgekehrt, als die immanente Erkenntnisstheorie annimmt.","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n365\n, Nicht die Gewissheit objectiver Realit\u00e4t gewinnen wir durch das Zeugniss unserer Nebenmenschen, sondern dieses ist h\u00f6chstens im Stande, namentlich wenn noch andere Widerspr\u00fcche hinzukommen, uns jene Gewissheit zu rauhen, nachdem wir zuvor sie besessen haben.\n,b. Die logische Begr\u00fcndung der objectiven Wirklichkeit.\nDie vorhin betrachtete empirische Begr\u00fcndung musste sich der Natur der Sache nach darauf beschr\u00e4nken, innerhalb der Wahrnehmungswelt Objecte aufzufinden, deren Merkmale die Existenz anderer, dem eigenen Ich \u00e4hnlicher Bewusstseinseinheiten mit zum Theil \u00fcbereinstimmenden Wahrnehmungsinhalten und dadurch indirect eine objective d. h. nicht dem individuellen Bewusstsein allein angeh\u00f6rige Wirklichkeit erweisen. Die logische Begr\u00fcndung sucht nun mittelst der Analyse der dem Begriff des Bewusstseins an und f\u00fcr sich inh\u00e4renten Merkmale nicht blo\u00df zu demselben Ergehniss zu gelangen, sondern zugleich das Yerh\u00e4ltniss von Subject und Object genauer zu bestimmen, indem sie nachweist, dass die als objectiv und allgemeing\u00fcltig anerkannte Wirklichkeit gleichzeitig als ein dem erkennenden Subject immanenter Bewusstseinsinhalt anzusehen sei. Der logische Gedankengang dieser Begr\u00fcndung ist im wesentlichen der folgende1).\nDenken wir uns das Ich nach Abstraction von jedem concreten Bewusstseinsinhalt, so ist einleuchtend, dass irgend ein individuelles Ich von einem andern individuellen Ich absolut nicht mehr unterschieden werden kann. Dieses Ich in abstracto ist unr\u00e4umlich; es\n1) Vergl. namentlich Schuppe, Grundriss der Erkenntnisstheorie und Logik, S. 18\u201434. Grundz\u00fcge der Ethik und Rechtsphilosophie, S. 131\u2014140. Die nat\u00fcrliche Weltansicht, Phil. Monatshefte, Bd. 30. S. Iff. Au\u00dferdem v. Schubert-Soldern, Grundlagen der Erkenntnisstheorie, S. 83 ff. Ueber Transcendenz des Objects und Subjects, S. 88 ff. Obgleich der Unterschied dieser beiden Hauptvertreter der immanenten Philosophie darin liegt, dass Schuppe mehr die logische, v. Schubert-Soldern die empirische Begr\u00fcndung der objectiven Wirklichkeit in den Vordergrund stellt, so fehlen doch ebenso wenig bei dem ersteren die empirischen wie bei dem letzteren die logischen oder, wie man in einem gewissen Sinne wohl auch sagen darf, die apriorischen Momente. Bei Schuppe sind \u00fcberdies in seinem \u00e4lteren Werk, der \u00bbErkenntnisstheoretischen Logik\u00ab, mehr als in seinen oben genannten sp\u00e4teren Schriften die empirischen Gr\u00fcnde betont.","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nW. Wundt.\nenth\u00e4lt demnach ebensowenig die Wahrnehmung des eigenen Leibes wie die anderer Objecte, und auch Gef\u00fchle, Willensregungen oder sonstige subjective Zust\u00e4nde sind in einem solchen abstracten Ich nicht mehr zu finden, weil sie schlechterdings an ein concretes, individuelles Ich gebunden sind. Nun kommt zwar dieses abstracte Ich ebensowenig jemals in der concreten Wirklichkeit vor, wie ein von dem Ich unabh\u00e4ngiges Object in ihr m\u00f6glich ist. Gleichwohl muss dies \u00bbGattungsm\u00e4\u00dfige des Bewusstseins \u00fcberhaupt\u00ab als die nothwendige Bedingung angesehen werden, ohne die niemals concretes oder individuelles Bewusstsein m\u00f6glich w\u00e4re, da jenes \u00bballen m\u00f6glichen specifischen und individuellen Unterschieden als Bedingung zu Grunde liegt\u00ab. Allerdings kann zu diesem \u00bbBewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab auch der Menschenleib hinzugedacht werden. Aber ebenso wie zu dem individuellen Bewusstsein der individuelle Leib geh\u00f6rt, ebenso ist zu dem gattungsm\u00e4\u00dfigen Bewusstsein nur das \u00bbgattungsm\u00e4\u00dfige Wesen des Menschenleibes\u00ab nach Abstraction von allen individuellen Unterschieden hinzuzudenken1). Das abstracte Moment des Ich ist demnach in jedem concreten Ich ebenso enthalten und wird ebenso in ihm unmittelbar mitgedacht, \u00bbwie das abstract Allgemeine der Rundheit oder der Dreieckigkeit in jedem einzelnen Kreise oder Dreieck in nicht weiter definirbarer Weise enthalten und mit (wenn auch nie f\u00fcr sich allein sondern in dem Concreten mit) wahrgenommen wird\u00bb2). Der Unterschied zwischen diesen F\u00e4llen und dem \u00bbGattungsm\u00e4\u00dfigen des Bewusstseins\u00ab beruht nur auf jener \u00bbEigenart des Ich\u00ab, welche sich aus dem Verh\u00e4ltniss des Ich in abstracto zu seinen concreten Gestaltungen ergibt. Diese Eigenart besteht n\u00e4mlich darin, dass das Ich bei jedem concreten Bewusstseinsinhalt ein anderes ist und sich doch dabei stets seiner Selbstidentit\u00e4t bewusst bleibt, eine Eigenschaft die in dem Satze ausgesprochen ist: \u00bbKein Wissen von anderem ohne Wissen von sieb, kein Wissen von sich ohne Wissen von anderem\u00ab3). Nach diesem Satze wird das abstracte Ich nicht nur in jedem concreten Bewusstseinsinhalt begrifflich mitgedacht, sondern es muss auch als das \u00bbGattungsm\u00e4\u00dfige des Bewusstseins\u00ab in demselben als real enthalten angenommen werden. Hierbei wird jedoch die Annahme eines\n1) Schuppe, Grundriss, S. 31.\t2) Ebenda, S. 19.\t3) Ebenda, S. 21.","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n367\nHervorgehens der einzelnen \u00bbBewusstseinsconcretionen\u00ab aus dem abstracten gattungsm\u00e4\u00dfigen Bewusstsein entschieden abgelehnt. \u00bbVon einem Deduciren aus diesem Begriff ist absolut keine Rede.\u00ab Nur dies soll durch jenes nothwendige Mitdenken des abstracten Ich mit jedem einzelnen Bewusstseinsinhalt erwiesen werden, dass \u00bbder gemeinschaftliche und in sich zusammenstimmende Theil der Bewusstseinsinhalte eben deshalb kl\u00e4rlich von den Individuen als als solchen unabh\u00e4ngig ist\u00ab. Welches dieser gemeinsame, an das \u2019 \u00bbgattungsm\u00e4\u00dfige Wesen\u00ab des Bewusstseins gekn\u00fcpfte, und welches der individuelle Theil des concreten Einzelbewusstseins sei, dies im einzelnen zu bestimmen bleibt der Erfahrung \u00fcberlassen. Aber das sei nunmehr \u00bbvollst\u00e4ndig klar, warum wir Uebereinstimmung der Wahrnehmenden und Zusammenstimmung ihrer Wahrnehmungen verlangen, wenn nicht die Sicherheit, dass vielleicht ein Irrthum untergelaufen ist, dass vielleicht unsere eigenen Wahrnehmungen die falschen waren, die Verwendung derselben zu weiteren Schl\u00fcssen unm\u00f6glich machen soll\u00ab1).\nNur in einer Beziehung scheint von vornherein in der Beschaffenheit der Bewusstseinsinhalte selbst eine Scheidung des Gattungsm\u00e4\u00dfigen und des blo\u00df Individuellen angedeutet zu sein. Unter den concreten Bestandtheilen unserer unmittelbaren Erfahrung sollen es n\u00e4mlich die> Empfindungsinhalte sein, denen jenes Gattungs- > m\u00e4\u00dfige anhaftet, im Unterschiede von den Erinnerungs- und Phantasiebildern, den Gef\u00fchlen der Lust und Unlust, den Willenserregungen, den abstracten Begriffen. Was es ist, das den Empfindungen (die hier augenscheinlich nicht im Sinne des der neueren Psychologie gel\u00e4ufigen Begriffs, sondern in dem der \u00bbSensation\u00ab in der Erkenntnisstheorie Locke\u2019s zu verstehen sind) dieses Merkmal des Gattungsm\u00e4\u00dfigen verleiht, dar\u00fcber wird nun freilich ebenso wenig Auskunft gegeben, wie \u00fcber die Unterscheidung der Erinnerungsund Phantasiebilder von ihnen, die bekanntlich in gewissen F\u00e4llen praktisch unm\u00f6glich ist. Doch wollen wir hier darauf kein Gewicht legen, da immerhin die Nothwendigkeit einer empirischen Pr\u00fcfung des Empfindungsinhaltes in Bezug auf das, was sich in ihm wirklich als das Gattungsm\u00e4\u00dfige erweist und was in Folge von \u00bbAnomalien\n1) Schuppe, Grundriss, S. 32.","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nW. Wundt.\nder Leibesorgane oder der psychischen Functionen\u00ab auszuscheiden sei, als erforderlich zugestanden wird1).\nDass diese logische Begr\u00fcndung trotz der Berufung auf die \u2022 Erfahrung, mit der sie schlie\u00dflich die Frage nach den entscheidenden Kriterien objectiver Allgemeing\u00fcltigkeit abschneidet, die wesentlichsten Z\u00fcge des platonischen Apriorismus an sich tr\u00e4gt, braucht wohl f\u00fcr denjenigen, der diese Denkweise in ihren mannigfachen Umgestaltungen und Verkleidungen durch die Geschichte der Philosophie verfolgt hat, kaum noch bemerkt zu werden. Aber es handelt sich, wie mir scheint, in diesem Falle nicht blo\u00df um eine allgemeine Verwandtschaft der Denkweise, sondern um eine \"Wiedererweckung der platonischen Ideenlehre in einer Gestalt, die von der urspr\u00fcnglichen so wenig abweicht, wie es in Anbetracht ( der ver\u00e4nderten Zeitbedingungen \u00fcberhaupt zu erwarten ist. Das Wesen der Ideenlehre Plato\u2019s besteht ja eben darin, dass in jeder concreten Erscheinung das \u00bbGattungsm\u00e4\u00dfige\u00ab als ihr letzter Realgrund enthalten sein soll, und dass demnach der Begriff eines concreten Gegenstandes nicht ein durch Aussonderung bestimmter Merkmale gewonnenes Gedankenproduct, sondern ein dem Gegenstand selbst Immanentes ist, das wir bei der Wahrnehmung des Gegenstandes unmittelbar mitdenken m\u00fcssen. Ob man dieses Mitdenken auf einen durch die sinnliche Wahrnehmung erregten Erinnerungsvorgang zur\u00fcckf\u00fchrt, wie es Plato gethan, oder ob man das begriffliche Moment als einen an und f\u00fcr sich jede Wahrnehmung begleitenden Bestandtheil auffasst, wie es die immanente Philosophie thut, ist f\u00fcr die Sache selbst unwesentlich. \u2022 Das Entscheidende bleibt die reale Bedeutung des begrifflichen Momentes einerseits und die unmittelbar in der Wahrnehmung selbst vorausgesetzte Wirksamkeit dieses begrifflichen Moments anderseits. Das sind zugleich die Punkte, in denen diese Denkweise als eine im Princip aprioristische Auffassung des Erkenntnissvorgangs der empirischen Erkl\u00e4rung des letzteren als eine grunds\u00e4tzlich verschiedene gegen\u00fcbertritt. Mag dabei auch noch so sehr anerkannt werden, dass es keine Begriffe ohne Anschauungen gibt, es bleibt doch dabei, dass die Anschau-\n1) Schuppe, Grundriss, S. 23, 32.","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naive\u00bb und kritischen Realismus.\n369\nungen eigentlich nur als die Gelegenheitsursachen gelten, durch die wir in den Besitz der an sich unabh\u00e4ngig existirenden Begriffe gelangen. Dieses Yerh\u00e4ltniss ist schlie\u00dflich dasselbe, ob es sich nun um platonische Wiedererinnerungen oder um den kantischen Schematismus des reinen Verstandes oder um das Gattungsm\u00e4\u00dfige der immanenten Philosophie handelt, das sich mit jeder concreten Wahrnehmung verbinden soll. Der Hauptunterschied zwischen diesen verschiedenen Ausdrucksformen eines und desselben Gedankens ist der, dass sich die kantische Fassung von metaphysischen Voraussetzungen freih\u00e4lt, w\u00e4hrend sowohl die platonische Ideenlehre wie die immanente Philosophie nicht nur im allgemeinen solche einschlie\u00dfen, sondern auch in der Beschaffenheit derselben im wesentlichen \u00fcbereinstimmen.\nAber freilich, das Alte erneuert sich nirgends v\u00f6llig unver\u00e4ndert. Jene phantasievolle Anschauung des alten Dichter-Philosophen, der in allen Dingen sinnliche Abbilder unverg\u00e4nglicher Ideen sah, hat in der immanenten Philosophie einer n\u00fcchterneren Betrachtung Platz gemacht. Schon f\u00fcr das begriffliche Denken wird ein Unterschied statuirt zwischen solchen Gattungsbegriffen, deren generisches Merkmal in jedem concreten Gegenstand, der zur Gattung geh\u00f6rt, wiedergefunden wird, wie das \u00bb Runds ein\u00ab im Kreis, das \u00bbDreieckigsein\u00ab im Dreieck, und jenen, die aus Gedankenbeziehungen zwischen Gegenst\u00e4nden entstehen, deren Merkmale durchg\u00e4ngig verschieden sein k\u00f6nnen, wie Ding, Substanz u. dergl. Nur bei den ersteren verbinde sich das begriffliche Moment unmittelbar mit der Anschauung jedes concreten Gegenstandes, der zur Gattung geh\u00f6rt, nicht aber bei den letzteren, die vielmehr erst aus einer Reflexion \u00fcber die Zusammenfassung der Pr\u00e4dicate eines Wahrnehmungsinhaltes hervorgehen, nicht in der Wahrnehmung als solcher enthalten sein sollen. Eben deshalb werden Begriffe der letzteren Art auch wohl als \u00bbuneigentliche Gattungen\u00ab bezeichnet1). Von allen diesen Gattungsbegriffen unterscheidet sich\n1) Schuppe, Grundriss, S. 148. Erkenntnisstheoretische Logik, S. 569. Mit dieser Lehre von dem unmittelbaren Enthaltensein der Art- und eigentlichen Gattungsmerkmale und dadurch der begrifflichen Momente selbst in den Wahrnehmungen h\u00e4ngt, wie mir scheint, die von einigen Vertretern der immanenten Philosophie sehr stark betonte Relativit\u00e4t aller Wahrnehmung\u00bb- und Empfindungs-","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nW. Wundt.\nnun aber das abstracte Ich durch die Eigenschaft, dass es nicht nur, wie das Kundsein im Kreis, ein begriffliches Moment ist, das zu jedem concreten Bewusstseinsinhalt hinzugedacht wird, sondern dass es zugleich die Bedeutung einer realen Wesensgemeinschaft aller der individuellen \u00bbIche\u00ab besitzt, in denen das n\u00e4mliche begriffliche Moment vorkommt. Erst bei dem Ich ist also die Uebereinstimmung mit der platonischen Idee eine vollst\u00e4ndige. Das abstracte Ich ist die allgemeine, an sich unr\u00e4umliche und zeitlose Bedingung aller individuellen Bewusstseinsconcretionen. Dergestalt wird der volle Begriff der platonischen Idee in diesem realen und causalen Sinne von der Immanenzphilosophie auf das gattungsm\u00e4\u00dfige Ich eingeschr\u00e4nkt. Hierin besteht nun immerhin eine nicht unerhebliche, durch die erkenntnisstheoretische Lehre von der Immanenz der eigentlichen Gattungsbegriffe in der einzelnen Wahrnehmung nur halbwegs ausgeglichene Abweichung von dem urspr\u00fcnglichen Platonismus, eine Abweichung die aber in dem sub-jectivistischen Ausgangspunkt der immanenten Philosophie ihre zureichende Erkl\u00e4rung findet. Dagegen tritt an dieser Stelle nicht \u00ab blo\u00df die logische, sondern auch die metaphysische Verwandtschaft beider zeitlich soweit von einander abliegender Weltanschauungen um so klarer zu Tage. Dies bewahrheitet sich auch in der Stellung zu einzelnen Fragen und in der Art, wie die zun\u00e4chst anscheinend auf empirisch-erkenntnisstheoretischem Wege gewonnenen Ergebnisse zur L\u00f6sung transcendenter metaphysischer Probleme verwendet werden. Aehnlich wie Plato aus der Constanz der Begriffe die Ewigkeit der Ideen \u00fcberhaupt folgert, so betrachtet z. B. die Immanenzphilosophie die raum- und zeitlose Natur des abstracten Ich als ein Zeugniss f\u00fcr dessen Pr\u00e4existenz und Unsterblichkeit1).\ninhalte zusammen. So meint v. Schubert-Soldern, man k\u00f6nne sich eigentlich keine Farbe denken, ohne die Beziehungen zur ganzen Farbenscala hinzuzudenken, da \u00bbBewusstseinsinhalt als solcher nur durch seine Beziehungen zu andern Bewusstseinsinhalten gegeben\u00ab sei. Ich glaube nicht, dass sieh ein derartiges Relativit\u00e4tsprincip empirisch best\u00e4tigen l\u00e4sst. Offenbar ist es also eine aus der hier gelehrten Immanenz des Begriffs in der Wahrnehmung hervorgeflossene aprioristische Annahme. (Vergl. v. Schubert-Soldern, Transcen-denz etc. S. 58.)\n1) \u00bbMan kann weder von der fernsten Vergangenheit noch von der fernsten Zukunft sprechen, ohne sein eigenes Ich in Kraft zu setzen. . . . Daher","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n371\nWenn es noch eines Beweises f\u00fcr die innere Verwandtschaft dieser Seite der immanenten Philosophie mit dem Platonismus bed\u00fcrfte, so w\u00fcrde er durch solche metaphysische Folgerungen geliefert werden. Freilich nimmt auch hier wieder das Alte eine neue Gestalt an. Plato konnte seine Ideenlehre nicht direct zu einem Unsterblichkeitsbeweise verwerthen, weil er die Seele, sowohl als Weltseele wie als individuelle Seele, nicht als Idee, sondern als das belebende und formende Princip auffasste, durch das die Ideen sinnliche Gestalten annehmen. F\u00fcr die Frage der Pr\u00e4existenz und der Fortdauer sind daher die Ideen bei ihm nur indirect von Bedeutung, insofern n\u00e4mlich als die subjectiven Abbilder der Ideen, die Begriffe, als Wiedererinnerungen an die Ideen und daher als Zeugnisse f\u00fcr eine Theilnahme der Seele an deren ewigem Sein gedeutet werden. Das ist nat\u00fcrlich anders in der immanenten Philosophie, die von dem alten Seelenhegriff nichts mehr wissen will und an seine Stelle das abstracte Ich mit seinen \u00bbBewusstseins-concretionen\u00ab treten l\u00e4sst. Zwar zerlegt auch sie diesen neuen Seelenbegriff wieder in einen sterblichen und in einen unsterblichen Seelentheil. Aber indem ihr das abstracte Ich im eminenten und ausschlie\u00dflichen Sinne zur platonischen Idee wird, f\u00e4llt ihr das zeit-\nist sowohl eine Pr\u00e4existenz des Ich vor Bestand des eigenen Leibes als eine Postexistenz nach demselben ein praktisches Postulat\u00ab, (v. Schubert-Soldern, Grundlagen einer Erkenntnisstheorie, S. 82.) \u00bbIn der Wahrnehmbarkeit f\u00fcr Andere zwar verschwindet das abstract allgemeine Moment des Bewusstseins, welches in einem Bewusstseinsconcretum sitzt, mit der r\u00e4umlich-zeitlichen Concretion desselben, aber der Begriff des Bewusstseins besteht ja nicht in der Wahrnehmbarkeit f\u00fcr Andere, seinem Begriff nach ist es also nicht an Entstehung und Untergang seiner Concretion gebunden, sondern die ganze Zeit (so wie auch der Raum) sind Inhalt desselben!\u00ab .... \u00bbTod und Geburt betreffen nur die Concretion des einen in allen identischen Bewusstseins \u00fcberhaupt, in einem Leibe an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Zeit. Concretes Bewusstsein besteht eben darin, dass das unr\u00e4umliche und unzeitliche Ich sich (sc. sich als Object) gerade in diesem oder jenem raum- und zeiterf\u00fcllenden Leibe in dieser r\u00e4umlich-zeitlichen Welt findet.Wenn dieser Theil des Bewusst-\nseinsinhaltes wegf\u00e4llt, so ist nur dasjenige mit ihm als weggefallen zu erachten, was gerade von ihm abhing. Das ist in erster Linie alle Unvollst\u00e4ndigkeit, Einseitigkeit und Unvollkommenheit des Weltbildes, die ganze eigen-th\u00fcmliche subjective F\u00e4rbung desselben, welche von den in der r\u00e4umlich-zeitlichen Concretion nothwendig enthaltenen Schranken bedingt ist.\u00ab (Schuppe, Grundz\u00fcge der Ethik und Rechtsphilosophie, S. 392, 395.)\nWundt, Philos. Studien. XII.\n25","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":", 372\nW. Wundt.\nund raumlose Sein der letzteren unmittelbar selbst mit der Unverg\u00e4nglichkeit des abstracten Ich, das von allen \u00bbin der r\u00e4umlichzeitlichen Concretion noth wendig enthaltenen Schranken\u00ab befreit ist, zusammen. Abgesehen von diesen unwesentlichen Ver\u00e4nderungen der metaphysischen Grundanschauung klingt aber auch hier in der Auffassung des concreten Bewusstseinsinhaltes als einer \u00bbSchranke\u00ab, einer gegen\u00fcber dem ewigen Wesen des \u00bbIch\u00ab verg\u00e4nglichen und unvollkommenen Erscheinung immer noch deutlich genug die platonische Verachtung der Sinnenwelt durch.\nVom Standpunkt der immanenten Erkenntnisstheorie aus betrachtet ist nun dieser R\u00fcckfall in den urspr\u00fcnglichsten Platonismus in gewissem Sinne ein tragisches Schicksal. Ist doch jene Erkenntnistheorie so sehr darauf bedacht gewesen, jede Spur von Transcendenz aus ihrem Gedankengang auszutilgen, dass sie selbst den Begriff eines unabh\u00e4ngig vom erkennenden Subjecte existiren-den Objects als transcendent verwarf. Und nun endet sie mit der transcendentesten aller transcendenten Ideen, mit der Idee der zeit-und raumlosen, also absolut \u00fcbersinnlichen Realit\u00e4t des Ich selbst. Das Subject, das ein transcendentes Object nach dem andern sich immanent gemacht hat, fasst hier mit einem Male den Entschluss selbst transcendent zu werden. Diese Katastrophe ist tragisch, denn der Held selbst wird hier von dem Verh\u00e4ngniss ereilt, gegen das er als Retter erstanden war, und es scheint unvermeidlich, dass er die gerettete Welt in seinen Untergang mit verstrickt. Denn ist erst das Subject selbst transcendent geworden, so ist es eigentlich selbstverst\u00e4ndlich, dass auch alles das, was zuvor als ihm immanent erwiesen war, nachtr\u00e4glich transcendent wird. In der That, offenbar fehlt es, um das zu vollbringen, nur noch an irgend einer metaphysischen Construction, die uns das Wunder begreiflich macht, wie es denn das abstracte Ich anf\u00e4ngt, um sich f\u00fcr einige Zeit mit seinen individuellen Bewusstseinsconcretionen zu umgehen.\nc. Die immanente Philosophie und der B erkeley\u2019s che\nIdealismus.\nDas Schicksal, dass eine streng \u00bbimmanente\u00ab Erkenntnistheorie in eine transcendente Metaphysik umschl\u00e4gt, ist nichts neues","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n373\nin der Geschichte. Zwar weist die neuere immanente Philosophie den Gedanken Berkeley\u2019s, die Allgemeing\u00fcltigkeit der ohjectiven Vorstellungswelt auf die Intervention Gottes zur\u00fcckzuf\u00fchren, als einen v\u00f6llig un vollziehbaren zur\u00fcck1); und daran kann ja in der That kein Zweifel sein, dass dieser Gedanke unserem heutigen, jeder Art \u00fcbernat\u00fcrlicher Assistenz widerstrebenden Denken nicht mehr conform ist. Doch \u00fcber der wandelbaren Form darf man den tieferen Gehalt der philosophischen Lehren nicht \u00fcbersehen. Das Problem, das beide, Berkeley und die immanente Philosophie, zu metaphysischen L\u00f6sungen f\u00fchrt, ist dasselbe: es besteht in der von ihnen beiden anerkannten Existenz vieler \u00bbBewusstseinsconcre-tionen\u00ab mit einem \u00fcbereinstimmenden Wahrnehmungsinhalt, und auch zwischen beider L\u00f6sungen dieses Problems scheint mir, wenn man sich nicht an Worte sondern an die Sache h\u00e4lt, der Unterschied nicht allzu gro\u00df zu sein. Berkeley nimmt an, dass ein Intellectus infinitus allen Individuen gemeinsam sei und in ihnen gewisse \u00fcbereinstimmende Bewusstseinsinhalte erzeuge, w\u00e4hrend andere solche Inhalte blo\u00df den Individuen subjectiv angeh\u00f6rten. Die immanente Philosophie nimmt an, dass das individuelle Bewusstsein die \u00bbConcretion* eines zeit- und raumlosen Ich sei, das eben deshalb, weil es in verschiedenen Individuen ein \u00fcbereinstimmendes, gattungsm\u00e4\u00dfiges sei, auch eine \u00fcbereinstimmende Wahrnehmungswelt m\u00f6glich mache. Ich kann nicht finden, dass zwischen diesen beiden Anschauungen ein anderer Unterschied besteht als der, den verschiedene Modificationen oder Entwicklungsformen derselben Lehre durchg\u00e4ngig darzubieten pflegen. Der Hauptunterschied scheint mir in der Hervorhebung der abstracten Natur des \u00bbgattungsm\u00e4\u00dfigen Ich\u00ab zu liegen. Hier bemerkt man nat\u00fcrlich die logische Bearbeitung des Ichbegriffs, die in der Philosophie seit Berkeley\u2019s Zeiten stattgefunden hat. Aber mag auch dieser Begriff den Uebergang zu der Idee eines zeit- und raumlosen Seins erleichtern, f\u00fcr die Erkl\u00e4rung des den Individuen gemeinsamen Theiles der Wahrnehmungswelt d\u00fcrfte er eher eine Erschwerung sein. Denn mag es wahr sein, dass das Ich und das Du eigentlich\n1) v. Schubert-Soldern, Ueber Transcendenz etc. S. 25. Schuppe, Grundriss, S. 31.\n25*","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nW. Wundt.\ndasselbe Ich sind, sobald man nur von jedem Bewusstseinsinhalt abstrahirt, so ist eben damit auch ausgesprochen, dass das Ich und das Du nicht mehr dasselbe Ich sind, sobald man diese Abstraction wieder auf hebt. Es bleibt daher dunkel, wie jener v\u00f6llig leere Begriff eines abstracten Ich es gleichwohl bewirken kann, dass in Folge der Ausf\u00fchrbarkeit dieser Abstraction nun doch auch das concrete Ich mit dem concreten Du wenigstens theilweise identisch sein soll. Dieser Schluss vom abstracten Ich auf das concrete wird eben wiederum nur dann verst\u00e4ndlich, wenn man sich das erstere als eine metaphysische Substanz denkt, die sich den einzelnen Erscheinungen gegen\u00fcber, \u00e4hnlich der platonischen Idee oder dem unendlichen Geist Berkeley\u2019s, als wirkende Kraft beth\u00e4tigt.\nNun-bin ich weit davon entfernt, Metaphysik immer und \u00fcberall wo sie sich blicken l\u00e4sst verwerfen zu wollen. Im Gegentheil, ich halte sie am richtigen Ort, und sofern sie in der richtigen Weise betrieben wird, f\u00fcr ebenso unvermeidlich wie unentbehrlich. Aber die Erkenntnisstheorie halte ich nicht f\u00fcr den richtigen Ort, und die Umwandlung logischer Abstractionen in reale Wesen halte ich nicht f\u00fcr die richtige Weise. Vielmehr meine ich umgekehrt, eine Erkenntnisstheorie, die zur L\u00f6sung ihrer Probleme die Metaphysik zu H\u00fclfe rufen muss, zeigt damit deutlich, dass sie als Erkenntnisstheorie auf dem falschen Wege ist. Das gilt f\u00fcr die Immanenzphilosophie gerade so wie f\u00fcr Berkeley. Und noch an einem andern Symptom h\u00e4tten beide bemerken sollen, dass sie trotz ihrer Berufung auf die unmittelbare Erfahrung auf falscher Spur seien. Dieses Symptom ist der Widerspruch, in den sie sich mit den Erfahrungswissenschaften verwickeln. Diesen Widerspruch hat dereinst Berkeley offen anerkannt. Er hat sich dar\u00fcber hinweggesetzt, weil er in seiner einseitig psychologischen Auffassung der Wirklichkeit f\u00fcr die Bed\u00fcrfnisse der Naturwissenschaft seiner Zeit im Grunde ebenso wenig Verst\u00e4ndniss besa\u00df wie f\u00fcr Newton\u2019s Fluxionenrechnung, die er bek\u00e4mpfte. Die Vertreter der immanenten Philosophie sind vorsichtiger geworden. Aber dass bei ihnen, die gelegentlich f\u00fcr die Atome Farben oder tastbare Eigenschaften fordern, in den Aetherwellen symbolische Vorstellungen f\u00fcr die Modificationen einer Urempfindung sehen u. dergl., im stillen der","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n375\nn\u00e4mliche Widerspruch und das n\u00e4mliche Missverst\u00e4ndnis eigentlich noch unvermindert fortbesteht, ist einleuchtend. Ihre Erkenntnistheorie steht, wie dereinst diejenige Berkeley\u2019s, lediglich auf dem Standpunkte der gemeinen Erfahrung und der subjectiven Reflexion \u00fcber diese Erfahrung. Die Begriffe der Naturwissenschaft, deren Bedeutung man nun einmal heute nicht mehr ganz ableugnen kann, werden widerwillig als H\u00fclfsbegriffe geduldet, im \u00fcbrigen aber, ebenso wenig wie die logischen Gr\u00fcnde, die zu ihnen gef\u00fchrt haben, in ihrer Bedeutung f\u00fcr die Erkenntnisstheorie gew\u00fcrdigt. So ist denn auch das Ergebniss hier wie dort schlie\u00dflich das n\u00e4mliche. Weil man die H\u00fclfe der positiven Wissenschaften verschm\u00e4ht, muss man Rettung bei einer transcendenten Metaphysik suchen.\n5. Aphoristische Elemente der immanenten Erkenntnisstheorie.\nDass ein solches Resultat nicht m\u00f6glich w\u00e4re, wenn sich nicht mannigfache aprioristische Elemente in der Erkenntnisstheorie der immanenten Philosophie vorf\u00e4hden, ist bei der nahen Verwandtschaft zwischen aphoristischer Speculation und transcendenter Metaphysik' beinahe selbstverst\u00e4ndlich. Ueher diese Elemente vollst\u00e4ndig Rechenschaft zu gehen, w\u00fcrde hier zu weit f\u00fchren. Ich muss mich darauf beschr\u00e4nken, zwei Punkte hervorzuheben, die f\u00fcr die oben behandelten Fragen von besonderer Bedeutung sind: solche sind die Theorie der Gattungsbegriffe und die Lehre von dem Ichbewusst-sein als der Bedingung alles Bewusstseins und Denkens \u00fcberhaupt.\na. Aprioristische Elemente der Begriffslehre.\nDie Art und Weise, wie die immanente Erkenntnisstheorie die logische Entwicklung der Begriffe schildert, erweckt auf den ersten Anblick die Vorstellung einer streng empirischen Analyse. Da wird vor allem hervorgehoben, dass nicht das Einzelding, sondern ein unmittelbarer und ungeschiedener Eindruck als das Substrat jeder Begriffsbildung gegeben sei, und dass diese Begriffsbildung seihst durch eine Denkarbeit zu Stande komme, die nach dem Satz der Identit\u00e4t Uebereinstimmendes gleich setze und Verschiedenes unterscheide und dann weiterhin nach dem Causalgesetz Bezie-","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nW. Wundt.\nhungen zwischen unabh\u00e4ngigen Daten herstelle1). Dieser Eindruck empirischer Analyse wird noch dadurch verst\u00e4rkt, dass besonders f\u00fcr die abstracten Beziehungsbegriffe, wie Ding, Eigenschaft, Zustand u. dergl., in denen der \u00e4ltere Apriorismus Begriffsformen sah, die entweder selbst die Bedeutung von Stammbegriffen des Verstandes bes\u00e4\u00dfen oder doch solchen kategorialen Einheitsfunctionen besonders nahe st\u00fcnden, hier durchg\u00e4ngig eine verwickelte logische Entstehungsweise angenommen wird. Man mag daher mit der Deduction der einzelnen Begriffe nicht einverstanden sein \u2014 wie ich es denn in der That sowohl im allgemeinen wie insbesondere mit der Deduction des Dingbegriffs nicht bin \u2014 so muss man doch anerkennen, dass hier von fertig in uns liegenden Begriffen oder auch nur von kategorialen Functionen etwa im Sinne der kan-tischen Transcendentalphilosophie nicht die Rede ist. Aber bei n\u00e4herem Zusehen begreift man, dass es f\u00fcr die Immanenzphilosophie bei der Eigenth\u00fcmlichkeit ihres Standpunktes nahe liegen muss, gerade diejenigen Begriffe, die der kantische Apriorismus, abgesehen von den in ihnen enthaltenen kategorialen Elementen, einfach als Producte der Erfahrung hinnahm, im gewissen Sinne als \u2022 apriorische Denkinhalte zu betrachten, insofern n\u00e4mlich der Erfahrungsinhalt und die Denkfunction eigentlich gar nicht von einander verschieden, sondern in einem und demselben Bewusstseinsinhalt gegeben seien. Dies wird nun gerade von den fundamentalsten Art-und Gattungsbegriffen behauptet, die zugleich als die Grundlagen aller zusammengesetzteren betrachtet werden, welche letzteren im allgemeinen erst aus einer logischen Verbindung jener fundamentaleren Begriffe mit dem Dingbegriff hervorgehen sollen. Solche eigentliche und urspr\u00fcngliche Art- und Gattungsbegriffe sind also z. B. die der Rundheit, Dreieckigkeit oder auch der Farbe, des Tones u. dergl. Diese gattungsm\u00e4\u00dfigen Bestimmungen sollen unmittelbar in dem Gegenstand selbst wahrgenommen werden. F\u00fcr sich allein sollen sie zwar keinen vorstellbaren Inhalt haben, aber gleichwohl wirklich im Wahrgenommenen enthalten, \u00bbmitwahr-genommen\u00ab sein2).\t\u00bbIm-Bewusstsein-Haben ist schon Denken,\n1)\tVergl. Schuppe, Erkenntnisstheoretische Logik, S. 142 ff. 555 ff.\n2)\tEbenda, S. 563. Grundriss, S. 90 f. Zu bemerken ist \u00fcbrigens auch hier","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n377\nfreilich Denken im allgemeinsten Sinne.\u00ab Das sich der einzelnen Bestimmungen des Gegebenen Bewusstwerden ist dann im Gegensatz zu dem urspr\u00fcnglich Gegebenen (den Empfindungen) das \u00bbDenken im engeren Sinne, das in diesem Gegensatz selbstverst\u00e4ndlich a priori ist\u00ab. Das Hervortreten jener Bestimmtheiten erfolge nach den Kategorien der Identit\u00e4t und der Causalit\u00e4t. Aber die kantische Annahme einer Subsumtion des Gegebenen unter diese Kategorien sei keine L\u00f6sung des Problems. Denn sie \u00bbexi-stiren von vornherein nur als Bestimmungen von Gegebenem, als etwas was da identisch oder verschieden ist, und mit anderem etwa causal verkn\u00fcpft ist.\u00ab Daher haben jene Kategorien \u00bbdieselbe Objectivit\u00e4t wie das Gegebene, ein subjectives Thun findet bei diesem Denken nicht statt\u00ab. \u00bbDenn ohne diese Bestimmungen gibt es keine Wirklichkeit des Gegebenen, kann \u00fcberhaupt nichts als Inhalt des Bewusstseins gedacht werden\u00ab. Deshalb f\u00fcgt auch das Urtheil \u00bbnicht zusammen was vorher getrennt war, sondern nennt die Art des Zusammenseins der Daten\u00ab* 1).\nAus diesen S\u00e4tzen ergibt sich der Standpunkt dieser Erkenntnistheorie hinreichend deutlich. Mit Kant und dem kritischen Empirismus steht sie darin auf gleichem Boden, dass ihr alle\u00df Denken an die concrete Anschauung gekn\u00fcpft ist. Von beiden trennt sie sich aber dadurch, dass sie das begriffliche, d. h. die Empfindungen nach Uebereinstimmungen, Unterschieden und Beziehungen ordnende Denken weder mit Kant als eine unmittelbare Subsumtion unter Kategorien noch mit dem Empirismus, als das Ergebniss einer besonderen, an dem Wahrnehmungsinhalt ausge- , f\u00fchrten Denkarbeit, sondern als eine immanente Eigenschaft des / Wahrnehmungsinhaltes selbst ansieht, so dass die Denkth\u00e4tigkeit und ihr Substrat \u00fcberhaupt zusammenfallen.\nNun ist diese Auffassung sicherlich insoweit im Rechte, als sie. der Annahme einer unabh\u00e4ngig und abgesondert von jedem con-creten Bewusstseinsinhalt existirenden \u00bbDenkth\u00e4tigkeit\u00ab und ebenso der Voraussetzung, dass alles Denken in einer Subsumtion unter\ndass, trotz der allgemeinen Uebereinstimmung in beiden Werken, in dem ersten die empirische, in dem sp\u00e4teren die \u00e4prioristische Seite der Theorie mehr hervortritt.\n1) Schuppe, Grundriss, S. 35ff.","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nW. Wundt.\nbereit liegende Allgemeinbegriffe bestehe, entgegentritt. Aber die Gebundenheit des Denkens an ein concretes Substrat beweist noch nicht, dass es auch umgekehrt keine sinnliche Wahrnehmung ohne begriffliche Unterscheidungen und Beziehungen gibt. Um wirklich darzuthun, dass \u00bbIm-Bewusstsein-Haben\u00ab und Denken zusammenfallen, m\u00fcsste man beweisen, dass es keine Bewusstseinsinhalte gebe, an denen nicht bereits jene \u00bbDenkarbeit\u00ab, die das Gegebene nach den Gesetzen der Identit\u00e4t und Causalit\u00e4t ordnet, vorgefunden w\u00fcrde. Dieser Beweis l\u00e4sst sich aber nicht nur nicht liefern, sondern wir finden thats\u00e4chlich fortan eine Menge von Wahrnehmungsinhalten, bei denen von einer solchen Ordnung keine Rede sein kann, es sei denn dass man den unmittelbaren psychologischen Thatbestand durch Reflexionen und Abstractionen f\u00e4lscht, die man ihm nachtr\u00e4glich unterschiebt. Eine solche Unterschiebung ist es nun, wenn behauptet wird, die Qualit\u00e4t, das Wo und das Wann seien die \u00bbBestimmtheiten\u00ab, in die sich ohne weiteres das Gegebene im Bewusstsein zerlege, so dass wir von Anfang an das R\u00e4umliche und das Zeitliche neben der Qualit\u00e4t als Bestimmungsst\u00fccke des Gegebenen \u00bbmitwahrnehmen\u00ab. Insofern damit eine Unterscheidung dieser Elemente im Sinne des Identit\u00e4tsgesetzes gemeint ist, widerspricht eine solche Annahme zweifellos dem psychologischen Thatbestand. Gerade so gut wie wir das Object unmittelbar au\u00dfer uns sehen, ohne erst, wie Schopenhauer meinte, nach dem Gesetz der Causalit\u00e4t unsere Wahrnehmung auf ein causal wirkendes Object zu beziehen, gerade so sind Sinnesqualit\u00e4t, Raum und Zeit nicht in dem Sinne Bestimmungsst\u00fccke des Eindrucks, dass dieser gar nicht im Bewusstsein sein k\u00f6nnte, ohne dass dieselben sofort unterschieden w\u00fcrden. Vielmehr ist solche Unterscheidung in dem naiven Bewusstsein \u00fcberhaupt noch nicht anzutreffen. Diesem sind die Farbe roth und die r\u00e4umliche Fl\u00e4che, an der sie wahrgenommen wird, zun\u00e4chst noch gar nicht verschiedene \u00bbBestimmungsst\u00fccke\u00ab der Wahrnehmung, sondern sie bilden eine untrennbare Wahrnehmung, deren Theile die verschiedenen Theile der rothen Fl\u00e4che, nicht aber der Raum und die Farbe roth sind. Diese beiden werden daher nicht, wie man annimmt, zuerst unterschieden, damit dann erst jedes in abstracto gedacht werde1), sondern Unterschei-\n1) Schuppe, Grundriss, S. 81.","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n379\ndung und Abstraction fallen hier in einen Act zusammen, weil eben in der concreten Erscheinung beide niemals gesondert Vorkommen k\u00f6nnen, jede Unterscheidung aber an die M\u00f6glichkeit, das zu Unterscheidende getrennt zu denken, gebunden ist. Die Ausf\u00fchrung dieser Abstraction setzt eine logische Arbeit voraus, die weder durch das \u00bbIm-Bewusstsein-Haben\u00ab an und f\u00fcr sich, noch auch durch die unmittelbare Unterscheidung der Wahrnehmungs-bestfindtheile geleistet wird. Eben wegen dieser von dem naiven Bewusstsein noch nicht zu leistenden Denkarbeit ist es nun aber auch noch nicht zureichend, wenn man die besondere Stellung, die Baum und Zeit als so genannte \u00bbFormen der Anschauung\u00ab den Sinnesqualit\u00e4ten gegen\u00fcber einnehmen, darin sieht, dass \u00bbdie r\u00e4umliche und zeitliche Bestimmtheit f\u00fcr alle Sinnesdaten, wie verschieden sie auch sein m\u00f6gen, die eine und selbe Grundbedingung ihres concreten Gegebenseins\u00ab seien, \u00bbw\u00e4hrend f\u00fcr die Wahrnehmbarkeit von Baum und Zeit eine gro\u00dfe Zahl von ganz verschiedenen Qualit\u00e4ten zur Verf\u00fcgung steht, von welchen eben nur im allgemeinen eine verlangt wird\u00ab1). Denn diese Ausf\u00fchrung l\u00e4sst dahingestellt, mittelst welcher Merkmale Baum und Zeit selbst von einander unterschieden werden, y Solche Merkmale anzugeben kann man aber nur dann f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig halten, wenn man der Ansicht ist, dass beide in der unmittelbaren Anschauung verschieden seien, etwa so wie die Farben roth und gelb, wenn man sie neben einander wahrnimmt. Nun zeigt die logische Analyse beider Begriffe, dass die r\u00e4umlichen und die zeitlichen Bestimmungen durch Merkmale ausgezeichnet sind, durch die sie sich nicht nur von dem Empfindungsinhalt, sondern auch von einander unterscheiden2). Die Auffassung dieser Formen der Ordnung unserer s\u00e4mmtlichen Empfindungen und Vorstellungen kann schon deshalb unm\u00f6glich auf \u00e4hnlichen, nicht weiter zu motivirenden Empfindungsunterschieden beruhen, wie ein solcher zwischen zwei verschiedenen Empfindungsqualit\u00e4ten stattfindet, weil Baum und Zeit mit den verschiedensten Empfindungsinhalten verbunden sein k\u00f6nnen und gleichwohl nur\n1)\tSchuppe, a. a. O. S. 86.\n2)\tYergl. \u00fcber diese logischen Merkmale mein System der Philosophie, \u00ae. 109, 127 ff., und \u00fcber die psychologischen Motive der entsprechenden Vorstellungsformen meinen Grundriss der Psychologie, S. 180 ff.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nW. Wundt.\nmittelst dieser Inhalte wahrnehmbar werden. Wegen dieser Eigenschaft hat sie ja schon Kant als Formen der Ordnung unserer Empfindungen bezeichnet. Wenn sie aber dies sind, so k\u00f6nnen sie nur durch Merkmale, die ihnen in ihren Beziehungen zu den Empfindungen zukommen, und in denen sie zugleich von einander abweichen, empirisch unterschieden werden. Umgekehrt f\u00fchrt daher die Annahme, dass wir sie unmittelbar und ohne solche Beziehungsmerkmale von einander und von dem Empfindungsinhalt trennen, nothwendig zu der Voraussetzung, dass sie entweder als a priori in uns bereit liegende Anschauungsformen oder doch als Bewusstseinselemente betrachtet werden, die unmittelbar zugleich Functionen des unterscheidenden Denkens sind.\n* Die letzten Motive dieses hinter einer streng empirischen Au\u00dfenseite verborgenen Apriorismus der immanenten Begriffslehre sind augenscheinlich doppelter Art. . Erstens verschm\u00e4ht man grunds\u00e4tzlich die H\u00fclfe der Psychologie, indem man der Ansicht ist, dass sich nicht die Erkenntnisstheorie auf Psychologie, sondern diese auf jene zu st\u00fctzen habe. In Folge dessen wird man dann durch keinerlei psychologische Erw\u00e4gungen gehindert, in das Bewusstsein von Anfang an irgend welche Denkfunctionen zu verlegen. Vielmehr wird durch eine solche der Psychologie vorausgehende Behandlung der Erkenntnisstheorie das ohnehin der Vulg\u00e4rpsychologie innewohnende Streben nach logischer Interpretation der Bewusst-seinsdata gewisserma\u00dfen wissenschaftlich legalisirt. , Zweitens ist es der Standpunkt der absoluten Immanenz des Objects im Subject, der zu jener Auffassung treibt. Sind Subject und Object schlechterdings nicht von einander zu sondern, so muss auch jede Behandlung der Erkenntnissprobleme vermieden werden, welche das Denken als eine, wenn auch nur in abstracto von dem objectiven Bewusstseinsinhalt zu trennende Function betrachtet. Nun ist diese Einheit des Denkens und seiner Objecte nur insoweit wahr, als damit die Unm\u00f6glichkeit gemeint ist, dass das Denken anders als an einem concreten Inhalt sich beth\u00e4tigen und daher anders als gebunden an einen solchen Inhalt von uns beobachtet werden k\u00f6nne. Sie ist aber falsch, insofern man dabei umgekehrt keinen Bewusstseinsinhalt anerkennt, der unabh\u00e4ngig von den logischen Functionen des Denkens Vorkommen k\u00f6nnte. Denn es gibt fortan zahlreiche","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Heber naiven und kritischen Realismus.\n381\nWahrnehmungen und Vorstellungen, an denen keinerlei Functionen der Unterscheidung, der Feststellung von Uebereinstimmungen und der bewussten causalen Beziehung zu andern Erfahrungen zu bemerken sind. Nur weil es thats\u00e4chlich solche sich v\u00f6llig reflexionslos uns darbietende Wahrnehmungsdata gibt, verm\u00f6gen wir die \u00bbDenkarbeit\u00ab in Wirklichkeit als ein zu dem Bewusstseinsinhalt hinzukommendes psychisches Geschehen aufzufassen, wobei allerdings diese Unterscheidung des Denkens von seinem Substrat psychologisch noch wesentlich durch begleitende Gef\u00fchle von charakteristischer Beschaffenheit erleichtert wird. Und nur weil solche besondere, an und f\u00fcr sich nicht jedem Bewusstseinsinhalt zukommende Merkmale des Denkens existiren, ist es \u00fcberhaupt begreiflich, dass wir das Denken und seine Objecte immerhin in abstracto von einander scheiden k\u00f6nnen. Es erkl\u00e4rt sich aber auch freilich, dass wir uns nachtr\u00e4glich jeden beliebigen Bewusstseinsinhalt als begleitet von den Functionen des Denkens vorzustellen verm\u00f6gen. Und diese Freiheit ist es nun, von der alle jene intel-lectualistischen Theorien, welche Eifahrungsinhalte in logische Denk-processe umdeuten, und von der die immanenten Erkenntnistheorien Gebrauch machen, wenn sie \u00bbIm-Bewusstsein-Haben\u00ab und Denken, und zwar Denken nach logischen Kategorien, identisch setzen. Da nun f\u00fcr diese Theorien au\u00dferdem auch \u00bbIm-Bewusstsein-Haben\u00ab und Sein identisch sind, so kommt auf diese Weise die immanente Philosophie zn einer Erneuerung der Lehre von der Identit\u00e4t des Denkens und Seins, hei der sie allerdings durch ihren empirischen Ausgangspunkt vor den speculativen Constructionen der vormaligen Identit\u00e4tsphilosophie einigerma\u00dfen bewahrt wird, daf\u00fcr aber auch um so unvermeidlicher der einzigen Rettung zusteuert, die einer Identit\u00e4tsphilosophie \u00fcbrig bleibt, die aus Respect vor dem Gegebenen auf solche Constructionen Verzicht leistet, dem Soli psismus. Das best\u00e4tigt vor allem auch derjenige Theil der immanenten Erkenntnisstheorie, in dem sie sich durch eine Art von metaphysischem Gewaltstreich die M\u00f6glichkeit zu verschaffen sucht, dem Solipsismus zu entgehen, die Lehre vom Ich.","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nW. Wundt.\nb. Die Apriorit\u00e4t des Ich.\nNachdem die Begriffslehre in dem Satze von der unmittelbaren Einheit der fundamentalen Denkbestimmungen der Bewusstseinsinhalte mit diesen Inhalten selbst die geeignete Grundlage geschaffen hat, vollendet sich der Apriorismus dieser Erkenntnisstheorie in der Lehre vom abstracten Ich. Diese Lehre l\u00e4sst sich in zwei Principien sondern, denen offenbar eine axiomatische, d. h. unmittelbar evidente Geltung zugeschrieben wird. Das erste Princip lautet: \u00bbOhne Subject kein Object, und ohne Object kein Subject. Wie in dem denkenden Subject stets Objecte gegeben sind, so lassen sich auch Objecte immer nur in Beziehung auf ein Subject denken\u00ab. Das zweite Princip behauptet: \u00bbIn jedem einzelnen Wahrnehmungs-oder Denkact wird der Begriff des reinen oder abstracten Ich stets mitgedacht\u00ab.\nEs mag gewagt erscheinen, S\u00e4tze, die nicht blo\u00df von der immanenten Philosophie, sondern auch von Philosophen der verschiedensten anderen Richtungen als absolut einleuchtend und unbestreitbar angesehen worden sind, zu bestreiten. Dennoch bestreite ich diese S\u00e4tze auf das entschiedenste, und ich behaupte, dass sich f\u00fcr die Wahrheit derselben auch nicht der Schatten eines logischen oder thats\u00e4ch-lichen Beweises beibringen l\u00e4sst.\n1) Der Satz \u00bbKein Subject ohne ein Object und kein Object ohne ein Subject\u00ab kann in einem doppelten Sinne verstanden werden. Entweder bedeutet er: \u00bbUeberall wo ich \u00fcber die Bedingungen reflectire, unter denen Objecte vorgestellt und gedacht werden, oder unter denen es vorstellende und denkende Subjecte gibt, finde ich beide, die Vorstellungen und das Subject, an einander gebunden\u00ab. Oder er kann auch bedeuten: \u00bbEs gibt keine Vorstellung von einem Object, in welcher nicht auch das vorstellende Subject unmittelbar mitgedacht w\u00fcrde, ebenso wie es kein Subject gibt, dem nicht irgend welche Vorstellungsobjecte gegeben w\u00e4ren\u00ab *). So\n1) Ich will nicht unterlassen zu bemerken, dass ich hier \u00fcberall das Wort \u00bbVorstellung\u00ab nicht in der bei den Vertretern der immanenten Erkenntnisstheorie \u00fcblichen Beschr\u00e4nkung auf die sogenannten reproducirten Vorstellungen verstehe, sondern in der allgemeinen in der neueren Psychologie \u00fcblichen Bedeutung, in der es auch die Wahrnehmungen umfasst.","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n383\nunzweifelhaft richtig nun der Satz in dem ersten Sinne ist, so unzweifelhaft falsch ist er in dem zweiten. Es ist unbestreitbar, so , oft ich \u00fcber die Bedingungen reflectire, unter denen vorgestellte f| Objecte Vorkommen, so oft finde ich ein vorstellendes Subject als die Hauptbedingung vor. Es ist aber f\u00fcr jeden, der die Thatsachen der unmittelbaren Erfahrung von der* Reflexion \u00fcber sie zu unterscheiden vermag, ebenso unbestreitbar, dass wir unz\u00e4hligemal Objecte als gegebene anerkennen, ohne \u00fcber sie zu reflectiren, und ohne also daran zu denken, dass sie einem Subjecte gegeben sind, oder dass ein Subject erforderlich ist, damit sie \u00fcberhaupt gegeben sein k\u00f6nnen. In jedem Moment, wo unser Bewusstsein ganz in der Anschauung der Objecte aufgeht \u2014 und dieser Momente gibt es wahrscheinlich mehr als derjenigen, wo wir hei der Wahrnehmung der Au\u00dfendinge zugleich auf das Subject reflectiren, \u2014 in jedem solchen Moment ist die Vorstellung der Objecte nicht von derjenigen des Subjectes begleitet: die Existenz der Vorstellungen ist zwar in diesen F\u00e4llen selbstverst\u00e4ndlich wie immer von der Existenz des / Subjects abh\u00e4ngig, aber wir werden uns dieser Existenz nicht he-/ \u201c wusst. So oft demnach auch die Behauptung, der Satz \u00bbich denke\u00ab begleite alle unsere Bewusstseinsvorg\u00e4nge, als eine ausgemachte Wahrheit verk\u00fcndet wurde, so ist derselbe doch thats\u00e4chlich falsch; und es ist nicht 'einzusehen, warum er etwa im Widerspruch mit der thats\u00e4chlichen Beobachtung aus logischen Gr\u00fcnden geglaubt werden m\u00fcsste. Denn di\u00e7. Thatsache, dass Objecte vorgestellt werden ohne unmittelbare Beziehung auf ein seiner seihst bewusstes Subject, enth\u00e4lt nicht den geringsten logischen Widerspruch in sich und kann keinen solchen enthalten, weil es sich hier \u00fcberhaupt nur um eine Frage der thats\u00e4chlichen Erfahrung handelt.\nHiernach sind es eigentlich zwei Quellen, auf die jenes falsche Princip von der immerw\u00e4hrenden Coexistenz der Vorstellungen von Subject und Object zur\u00fcckgef\u00fchrt werden kann. Die eine besteht in der Vermengung einer nachtr\u00e4glichen Reflexion \u00fcber die Thatsachen des Bewusstseins mit diesen Thatsachen selber, die hier aus den \u00fcblichen Betrachtungsweisen der Vulg\u00e4rpsychologie in die philosophische Erkenntnisstheorie hineinreicht. Die andere besteht in der Umwandlung einer einseitigen in eine doppelseitige Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung, zu der wiederum die Erkenntnisstheorien eine","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nW. Wundt.\nuralte Neigung bis heute bewahrt haben. Unbestreitbar k\u00f6nnen wir uns in concreto kein vorstellendes Subject denken ohne vorgestellte Objecte. Daraus wird nun ohne weiteres gefolgert, dass es ebenso unm\u00f6glich sei Objecte vorzustellen, ohne zugleich ein Subject mitzudenken. Nun beruht aber die Unvorstellbarkeit eines reinen Subjectes lediglich darauf, dass dieses ein abstracter Begriff ist, ab-stracte Begriffe aber \u00fcberhaupt nur in ihren concreten Verwirklichungen vorgestellt werden k\u00f6nnen. Die concrete Wirklichkeit des Subjects besteht nun immer in Vorstellungen und in Gef\u00fchlen, die diese Vorstellungen begleiten, sowie schlie\u00dflich in den aus Vorstellungen und Gef\u00fchlen hervorgehenden und selber wieder in solche zerlegbaren Willensacten. Dagegen ist ein concretes Object auch gesondert von irgend einem mitzudenkenden Subject kein abstracter Begriff, sondern es ist in irgend einer concreten Vorstellung wirklich gegeben. Ob mit einer solchen Vorstellung Elemente verbunden sind, an die unmittelbar unser Selbstbewusstsein gekn\u00fcpft ist, h\u00e4ngt von speciellen psychologischen Bedingungen ab, die keineswegs immer erf\u00fcllt sind, und die aus keinem irgendwie a priori anzugebenden Grunde immer erf\u00fcllt sein m\u00fcssen. Wieder ist es also nur eine Thatfrage, ob jene concreten Bewusstseinsinhalte, die wir Objecte nennen, ohne hinzugedachtes Subject Vorkommen oder nicht, und diese Frage wird durch die psychologische Erfahrung zweifellos im bejahenden Sinne entschieden. So erweist sich also der Satz \u00bbohne Subject kein Object\u00ab in jeder Beziehung, sofern mit demselben die Nothwendigkeit eines unmittelbaren Mitdenkens des Subjects zu jedem Bewusstseinsinhalt gemeint ist, als eine unbegr\u00fcndete und unhaltbare speculative Annahme.\n2) Das Subject soll nun aber nach der Annahme der Immanenzphilosophie nicht blo\u00df als eine concrete Vorstellung, sondern als abstracter Begriff, als \u00bbreines Ich\u00ab nicht nur die eigentlichen Denkhandlungen, sondern \u00fcberhaupt alle Bewusstseinsinhalte begleiten. In keinem Punkte verr\u00e4th sich so deutlich, wie in diesem, die Verwandtschaft dieser Richtung mit dem aprioristischen Idealismus vergangener Zeiten. Nur freilich dass nicht, wie dereinst bei Fichte, das reine inhaltsleere Ich durch eine Reihe ihm immanenter Denkhandlungen die Welt der Objecte als eine \u00bbSchranke\u00ab, \u00fcber die","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n385\nes fortw\u00e4hrend hinausstrebt, aus sich selber erzeugen, sondern dass es diese nur \u00fcberall als ein nothwendiger Begriff begleiten soll. Aber durch diese Concession an die Erfahrung ist die urspr\u00fcngliche Existenz des reinen Ich weder psychologisch noch logisch haltbarer geworden. Psychologisch widerspricht ihr nicht nur alles was wir von der Entwicklung des Bewusstseins wahrnehmen k\u00f6nnen, sondern auch der Thatbestand dieses Bewusstseins, wie er uns fortw\u00e4hrend gegeben ist. Denn dieser Thatbestand enth\u00e4lt jenes ab-stracte Ich nie und nirgends. Er enth\u00e4lt eine Anzahl von Gef\u00fchlen und Vorstellungen, unter denen die letzteren vor andern, ausschlie\u00dflich auf Objecte bezogenen Vorstellungen durch ihre enge Verbindung mit Gef\u00fchlen und au\u00dferdem noch durch ihre gr\u00f6\u00dfere Constanz sich auszeichnen. Aus diesen sinnlichen Elementen entwickelt sich dann der Begriff des abstracten Ich, analog wie sich jeder abstracte Begriff entwickelt, als eine logische Forderung, die wir an jene psychologischen Substrate kn\u00fcpfen, die aber in unserem Bewusstsein stets durch eben jene Substrate vertreten werden muss. Diese Forderung, die darin besteht, dass wir von allen fortw\u00e4hrend ver\u00e4nderlichen Bewusstseinsinhalten abstrahiren und blo\u00df auf die F\u00e4higkeit Objecte \u00fcberhaupt zu denken reflectiren, ist jedenfalls ein sehr sp\u00e4tes, erst durch den wissenschaftlichen Gebrauch des Denkens entstandenes Product desselben, und es besteht daher nicht der geringste psychologische Grund, der es rechtfertigen k\u00f6nnte, dieses Erzeugniss schon in den urspr\u00fcnglichen Inhalt des naiven Bewusstseins zu verlegen. Aber auch die logische Begr\u00fcndung, die man anzuf\u00fchren pflegt, ein solches abstractes Ich sei deshalb nothwendig, weil ohne dasselbe der Zusammenhang des Bewusstseins nicht erkl\u00e4rlich w\u00e4re, besteht nicht zu Recht. Vielmehr macht sich dieselbe einer offenbaren Umkehrung des Verh\u00e4ltnisses von Grund und Folge schuldig. Ohne den Zusammenhang unserer Bewusstseinsvorg\u00e4nge w\u00e4re es nicht denkbar, dass der Begriff des reinen Ich entst\u00fcnde. Denn dieser Begriff ist in Wahrheit nichts anderes als eben jener Zusammenhang in abstracto und losgel\u00f6st gedacht von allen wirklichen Verbindungen psychischer Vorg\u00e4nge und Zust\u00e4nde. Es ist die Verwechselung, die der Apriorismus \u00fcberall begeht: er ignorirt die wirkliche Arbeit der logischen Functionen und verlegt darum die Begriffe, die die Erzeugnisse dieser","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nW. Wundt.\nFunctionen sind, in die urspr\u00fcngliche Anschauung. Oh man annimmt, dass alle sinnlichen Erscheinungen sofort unter die Kategorien der Einheit, Vielheit, Realit\u00e4t, Substanz, Causalit\u00e4t u. s. w. subsumirt werden, oder ob man voraussetzt, dass wir unmittelbar in jeden Bewusstseinsinhalt ein ahstractes Ich hineindenken, macht hier keinen wesentlichen Unterschied. Beiden Auffassungen gegen\u00fcber ist wieder die Lehre Fichte\u2019s nicht die haltbarere, aber die folgerichtigere, weil sie, in reiner Umkehrung des empirischen That-hestandes, das abstracte Ich zum absoluten Anfangspunkt macht, aus dem sie den ganzen Bewusstseinsinhalt zu entwickeln sucht. Auch kommt dabei immerhin der Einfluss der Denkfunctionen, wenngleich ebenfalls in v\u00f6lligem Gegensatz zu ihrer wirklichen Richtung, zur Geltung.\nHier zeigt es sich nun aber auch, dass von allen verwandten Anschauungen gerade die immanente Philosophie dem Standpunkt Fichte\u2019s am n\u00e4chsten kommt, wie das ja nach der Rolle, die der Ichbegriff in ihr spielt, begreiflich ist. Nicht die ganze, aber ein Theil jener wunderbaren Zeugungskraft des Fichte\u2019schen Ich lebt in ihr wieder auf, so dass sie in dieser Beziehung eine Art Mittelstellung einnimmt zwischen Kant und seinem k\u00fchneren Nachfolger. Das Ich ist ihr n\u00e4mlich von Anfang an gleichzeitig ein concretes und ein ahstractes. Als concretes Ich bleibt es individuell, als ahstractes aber ist es, weil zeit-, raum- und \u00fcberhaupt bestimmungslos, das \u00bbgattungsm\u00e4\u00dfige Ich\u00ab. Und eben darin soll, wie wir oben gesehen haben, zugleich die B\u00fcrgschaft seiner objectiven Realit\u00e4t liegen.\nIn der That ein merkw\u00fcrdiger Schluss, wie man ihn auch betrachten m\u00f6ge. Dass das \u00bbreine Ich\u00ab durch irgend eine sich selbst beschr\u00e4nkende Th\u00e4tigkeit eine concrete Vorstellungswelt erzeuge, l\u00e4sst sich als metaphysische Hypothese, wenn man die H\u00fclfe der Phantasie nicht verschm\u00e4ht, allenfalls noch denken. Dass aber das abstracte Ich, weil es gaT keinen Inhalt hat, eben darum den allgemeing\u00fcltigen Inhalt aller gleichartigen \u00bbIche\u00ab in sich bergen soll, \u2014 dies ist mehr mystisch als phantastisch. Nach diesem Wunder braucht man sich eigentlich \u00fcber nichts mehr zu wundern, auch nicht dar\u00fcber, dass das abstracte Ich die Unsterblichkeit beweist, oder dass es einen \u00bbgattungsm\u00e4\u00dfigen Menschenleib\u00ab als 'seinen Tr\u00e4ger fordert. (Siehe oben S. 366, 370).","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n387\n6. Identit\u00e4t und Causalit\u00e4t.\nDie Ansicht, welche die immanente Philosophie \u00fcber die von ihr angewandten allgemeinsten Principien des Denkens, die der Identit\u00e4t und Causalit\u00e4t, zur Geltung bringt, ist nicht neu. Sie entspricht im allgemeinen denjenigen unter den \u00e4lteren Anschauungen, die das apriorische Denken und die empirische Betrachtung als grunds\u00e4tzlich verschiedene Gebiete behandelten. Der classische Zeuge hierf\u00fcr ist Leibniz, dem die beiden S\u00e4tze der Identit\u00e4t und des Widerspruchs diejenigen Denknormen waren, die f\u00fcr das logische Schlie\u00dfen sowie f\u00fcr alle demonstrativen Wissenschaften, z. B. die Mathematik, ma\u00dfgebend seien, w\u00e4hrend ihm das \u00bbPrincipium ra-tionis sufficientis\u00ab als das Grundgesetz f\u00fcr die Verkn\u00fcpfung empirischer Thatsachen galt1).\nGenau mit dieser Leihniz\u2019schen Unterscheidung stimmt nun die Stellung \u00fcberein, welche die immanente Philosophie der Identit\u00e4t und der Causalit\u00e4t anweist. Wenn sie hierbei die von Leibniz unterschiedenen S\u00e4tze der Identit\u00e4t und d\u00e8s Widerspruchs in ein Princip zusammenzieht, so ist vielleicht diese Vereinfachung schon von dem Bestreben eingegeben, das vergleichende und schlie\u00dfende Denken auf eine ebenso einheitliche Norm zur\u00fcckzuf\u00fchren wie die causale Verkn\u00fcpfung2). Denn wenn auch niemand zweifelt, dass Identificirungen und Unterscheidungen in unserem wirklichen Denken eng an einander gebunden sind, so kann man doch nicht behaupten, dass jede in abstracto denkbare Gleichsetzung auch schon eine Unterscheidung in sich schlie\u00dfe. Vielmehr ist die letztere jedenfalls eine besondere logische Function. Jene beiden S\u00e4tze sind daher Principien, die zwar in unseren wirklichen Denkfunctionen eng verflochten sind, die aber gleichwohl verschiedene Seiten dieser Functionen zum Ausdruck bringen und daher bei einer ab-stracten Formulirung der logischen Axiome von einander gesondert werden m\u00fcssen. Von gr\u00f6\u00dferem Belang als diese formale Frage ist jedoch der Umstand, dass im gleichen Ma\u00dfe, in welchem jene beiden Grundgesetze in Folge ihrer Zusammenfassung einander gen\u00e4hert\n1)\tLeibniz, Monadologie. 31\u201436. Edit. Erdmann, p. 707.\n2)\tSchuppe, Grundriss, S. 45. Erkenntnisstheoret. Logik, S. 375ff.\nWundt, Philos. Studien. XII.\t26","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nW. Wundt.\nwerden, das dritte Princip, das der Causalit\u00e4t, eine abgesonderte Stellung gewinnt. Dazu tr\u00e4gt auch noch die Bezeichnung \u00bbCausalit\u00e4t\u00ab das ihrige bei, da in Folge der Differenzirung der Begriffe Ratio und Causa, die seit Leibniz eingetreten ist, die Causa ausschlie\u00dflich f\u00fcr das empirische Yerh\u00e4ltniss der in eine gesetzm\u00e4\u00dfige Verbindung gebrachten Erscheinungen gebraucht zu werden pflegt.\nNun ist, wenn man auf die logische Wurzel des Causalgesetzes zur\u00fcckgeht, jedenfalls die v\u00f6llige Trennung der Begriffe Ursache und Grund ebenso unzul\u00e4ssig, wie es deren fr\u00fchere Gleichsetzung war. Denn der zwingende Charakter des Causalbegriffs wird uns ebenso wie die Bedeutung, die er im Zusammenhang der empirischen Wissenschaften spielt, nur verst\u00e4ndlich, wenn wir ihn als die unmittelbare Anwendung des logischen Princips der Beziehung von Grund und Folge auf die Verbindung empirischer Thatsachen betrachten. Nicht minder unzul\u00e4ssig ist es aber auch, wenn man gegen\u00fcber dem engen Zusammenhang von Identit\u00e4t und Unterschied dem Princip des Grundes eine abgesonderte Stellung gibt. Diese Trennung von den andern Denkgesetzen wird vor allem dadurch bewirkt, dass man als das Princip, welches im Schl\u00fcsse die Verbindung der Pr\u00e4missen mit der Conclusion erzeuge, das Identit\u00e4tsgesetz in jener seiner doppelten Bedeutung der Identi-ficirung und Unterscheidung betrachtet. Demnach beherrscht, wie die immanente Philosophie mit Leibniz annimmt, das Iden-tit\u00e4tsprincip \u00fcberhaupt weitaus den gr\u00f6\u00dften Umfang des logischen Denkens und seiner Anwendungen. Es liegt allen Urtheilen zu Grunde, in denen eine Identit\u00e4t oder Subsumtion ausgesprochen oder aufgehoben wird, und es bedingt \u00fcberall die F\u00e4higkeit des Schlie\u00dfens aus gegebenen Urtheilen auf andere. Dagegen findet das Causalprincip nur in einer beschr\u00e4nkten Anzahl von Urtheilen, in jenen n\u00e4mlich, die direct eine \u00e4u\u00dfere Verkn\u00fcpfung zwischen verschiedenen Bewusstseinsdaten enthalten, seine Stelle. Insbesondere ist es daher auch das Identit\u00e4tsgesetz, auf das der Begriff jener Nothwendigkeit zur\u00fcckgef\u00fchrt wird, der sich f\u00fcr uns \u00fcberall mit der Schlussfolgerung verbindet. Der Nothwendigkeit des Schlie\u00dfens gegen\u00fcber erscheint die Verbindung durch Causalit\u00e4t als eine zuf\u00e4llige, daher man, in offenbarem Anklang an Hume, der Analogie f\u00fcr die causale Verbindung verschiedener Bewusstseinsdaten","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n389\ndie entscheidende Bedeutung beilegt. Wenn dann gleichwohl auch der regelm\u00e4\u00dfigen Aufeinanderfolge eine gewisse Nothwendigkeit einger\u00e4umt wird, so soll demnach diese causale Nothwendigkeit, im Unterschied von derjenigen der Identit\u00e4t, nicht auf unmittelbarer Evidenz, sondern auf der Uebereinstimmung mit bereits anerkannten Zusammenh\u00e4ngen beruhen ').\nDiese Auffassung der Causalit\u00e4t ist, wie ich glaube, eine durchaus ungen\u00fcgende und f\u00fcr die wichtigsten Erkenntnissgebiete unzutreffende. Sie verkennt nicht nur die wahre Bedeutung derselben, sondern sie verkennt auch die enge Beziehung, in der sie, oder \u2014 wie wir sie eben in diesem allgemeinen Sinne angemessener nennen \u2014 in der das Princip von Grund und Folge zu den andern logischen Principien steht. Wenn ich den Durchmesser eines Kreises zunehmen lasse, so vermindert sich stetig und in regelm\u00e4\u00dfigem Verh\u00e4ltnisse die Kr\u00fcmmung des Kreises. Ist etwa diese Beziehung der zwei sich begleitenden Ver\u00e4nderungen zu einander eine Identit\u00e4t? Gewiss setzt sie, um entdeckt zu werden, die Constatirung von Uebereinstimmungen und Unterschieden voraus. Aber sie selbst besteht nicht im mindesten in diesen, sondern sie enth\u00e4lt ein neues logisches Verh\u00e4ltniss, das der Abh\u00e4ngigkeit, der Function. Dass ferner dieses Verh\u00e4ltniss in dem angef\u00fchrten Beispiel minder evident sei als z. B. die Gleichheit zweier congruenter Dreiecke, wird niemand behaupten; ebenso wenig, dass es erst durch die Analogie mit vorausgegangenen \u00e4hnlichen Thatsachen seine Nothwendigkeit empfange. Vielmehr ist die Beziehung von Grund und Folge hier eine so unmittelbare, dass eine einzige Beobachtung sie als eine evidente und nothwendige erkennen l\u00e4sst.\t<-\nNun sind derartige Verh\u00e4ltnisse einseitiger oder wechselseitiger Abh\u00e4ngigkeit ebenso gel\u00e4ufige und \u00fcberall vorkommende ' Inhalte der Erfahrung wie die Gleichheit und die Verschiedenheit. Die letzteren sind allerdings die einfacheren, da wir keine Abh\u00e4ngigkeit constatiren k\u00f6nnen, ohne uns dabei der Functionen der Vergleichung identischer und verschiedener Theile eines Ganzen zu bedienen. Aber das Einfache ist uns in der Regel in der wirklichen Erfahrung in Zusammensetzungen gegeben. So auch hier.\n1) Schuppe, Grundriss, S. 47 ff. 61 ff. v. Schubert-Soldern, Grundlagen der Erkenntnisstheorie, S. 238 ff.\n26*","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nW. Wundt.\nWenn es sich fragt, ob Anwendungen des Identit\u00e4ts- oder solche des Causalgesetzes \u2014 dieses wieder in der allgemeinen logischen Bedeutung als Princip des Grundes genommen \u2014 die h\u00e4ufigeren sind, so muss die Antwort zweifellos lauten: die der Causalit\u00e4t. Identit\u00e4ten und Unterschiede gewinnen wir zumeist erst vermittelst der Abstraction aus verwickelteren Relationen, die sich dem Princip von Grund und Folge unterordnen. Da man aber die einfachen F\u00e4lle fr\u00fcher entdeckt, so ist man geneigt, die Beziehung zum Zusammengesetzten zu \u00fcbersehen und so das relativ Einfache f\u00fcr eine selbst\u00e4ndig existirende Thatsache zu halten, die es nicht ist.\nDie augenf\u00e4lligsten Belege hierf\u00fcr bietet die Mathematik dar. Sie ist es stets gewesen, die der, Anschauung, dass das exacte logische Denken in allen seinen Anwendungen allein vom Identit\u00e4tsaxiom beherrscht sei, zur St\u00fctze gedient hat. Ist doch die mathematische Gleichung, in der jede genau bestimmbare Gr\u00f6\u00dfenrelation ihren Ausdruck findet, anscheinend immer nur eine mehr oder minder verwickelte Anwendung des Identit\u00e4tsaxioms. Alle mathematischen Schl\u00fcsse beruhen aber auf Substitutionen und Transformationen, in denen immer und immer wieder von jenem Axiom Gebrauch gemacht wird. Nichts desto weniger erweist sich diese Auffassung als irrig, sobald wir uns den Ursprung der Probleme, die in Gleichungen ihren Ausdruck finden, und die daraus sich ergebende allgemeine Bedeutung der Gleichungen selbst vergegenw\u00e4rtigen. Tritt uns eine Gleichung in der Form y \u2014 A entgegen, in der y eine zu bestimmende unbekannte Gr\u00f6\u00dfe und A irgend eine andere bekannte Gr\u00f6\u00dfe von gleicher Art bedeutet, so ist allerdings die in einer solchen Gleichung ausgedr\u00fcckte 'Relation ausschlie\u00dflich dem Identit\u00e4tsgesetz unterworfen. Aber die Beobachtung der Entstehung derartiger Gleichungen zeigt, dass dieselben in Wirklichkeit nur Grenzf\u00e4lle sind, die blo\u00df bei den allereinfachsten, noch nicht Objecte eigentlich mathematischer Berechnung bildenden Messungsaufgaben unmittelbar vorliegen. Im allgemeinen ist dagegen eine solche einfache Identit\u00e4t y = A zun\u00e4chst das Ergebniss einer zusammengesetzteren Gr\u00f6\u00dfenrelation y = (a, 5, c . . .), wo a, b, c . . . gegebene, f\u00fcr die vorliegende Aufgabe als constant anzusehende Gr\u00f6\u00dfen sind, w\u00e4hrend die Klammer irgend welche mehr oder weniger verwickelte arithmetische Relationen zwischen a, b, c","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n391\n. . . andeuten soll. Die Betrachtung solcher Gleichungen von der Form y = (a, b, c . . .) ergibt ferner, dass einer jeden derselben, abgesehen wieder von den einfachsten Grenzf\u00e4llen, im allgemeinen nicht blo\u00df eine einzige numerische Identit\u00e4t y = A, sondern eine Mehrheit solcher, y = A, y = B, y \u2014 C u. s. w., als L\u00f6sung entspricht, ein Resultat welches bereits zeigt, dass jene Gleichung y \u2014 [a, b, c ...) nicht mehr als eine ausschlie\u00dfliche Anwendung des Identit\u00e4tsgesetzes betrachtet werden kann. Denn um zu entscheiden, oh in einem gegebenen Fall irgend eine der L\u00f6sungen y = A, y = B u. s. w. vor den andern, die m\u00f6glich sind, den Vorzug verdiene, dazu bedarf es stets besonderer Erw\u00e4gungen, bei denen es erforderlich ist, von einer solchen vieldeutigen L\u00f6sung auf die allgemeine Form des\nProblems zur\u00fcckzugehen, aus welcher die Gleichung y \u2014 (a, b, c____)\nhervorgegangen ist. Ein solches Gr\u00f6\u00dfenproblem allgemeiner Art l\u00e4sst sich nun aber stets in eine Form wie y \u2014 f [x) oder y \u2014 f (x, z) u. s. w. bringen, wo x, z . . . ver\u00e4nderliche Gr\u00f6\u00dfen bedeuten, die noch irgendwie mit constanten Gr\u00f6\u00dfen verbunden sein k\u00f6nnen, und mit denen sich y im allgemeinen stetig ver\u00e4ndert. Auf, diese Weise f\u00fchrt jede mathematische Gleichung, insofern sie nicht Ausdruck eines unmittelbaren Messungsergebnisses ist, das \u00fcberhaupt kein mathematisches Problem mehr einschlie\u00dft, principiell zur\u00fcck auf eine Functionsgleichung. Jede Functionsgleichung ist aber Ausdruck der Abh\u00e4ngigkeit ver\u00e4nderlicher Gr\u00f6\u00dfen von einander. Das f\u00fcr sie zun\u00e4chst ma\u00dfgebende logische Princip ist das von Grund und Folge. Da nun die meisten und jedenfalls die wichtigsten mathematischen Probleme schlie\u00dflich auf Functionsprobleme zur\u00fcckzuf\u00fchren sind, so erhellt hieraus ohne weiteres, 1 dass das Princip des Grundes, nicht das der Identit\u00e4t, auch in der Mathematik das herrschende Princip ist. Freilich schlie\u00dft dasselbe das Identit\u00e4tsgesetz mit ein, und bei den einfachsten Gr\u00f6\u00dfenrelationen kommt schlie\u00dflich dieses allein zur Anwendung. Hierbei handelt es sich aber immer nur um die letzten einfachen Resultate von Erw\u00e4gungen, f\u00fcr die vor allem das Princip des Grundes ma\u00dfgebend gewesen ist. Wenn dieses Verh\u00e4ltniss, so einfach es ist, sogar einem Leibniz verborgen bleiben konnte, so erkl\u00e4rt sich dies theils aus dem Zustand der Mathematik, theils aus dem der Philosophie seiner Zeit. So m\u00e4chtig Leibniz als Mathematiker dem modernen","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nW. Wundt.\nFunctionsbegriff vorgearbeitet hat, wie ja eigentlich seine ganze Differenzialrechnung schon auf Functionsbetrachtungen ruht, so fehlte doch seiner Zeit eine hinreichend klare logische Erkenntniss des Wesens der Function. Auf der andern Seite lie\u00df die monadologische Metaphysik ihren Urheber begierig nach einem H\u00fclfsmittel suchen, welches die Erfahrungserkenntniss seinem System einf\u00fcge und doch ihren Wesensunterschied von der apriorischen, metaphysischen und mathematischen Erkenntnissweise geb\u00fchrend hervorhebe. Dieses H\u00fclfsmittel glaubte er in dem Princip des zureichenden Grundes gefunden zu haben, wobei das Pr\u00e4dicat \u00bbzureichend\u00ab ihn \u00fcberdies \u00fcber die Beziehungen der empirischen Causalit\u00e4t zum logischen Grund hinwegt\u00e4uschte. Was aber in einer Zeit, in der der Functionsbegriff noch im Werden begriffen und die Erkenntnisstheorie von der Metaphysik beherrscht war, sogar einem Leibniz entgehen konnte, das sollte heute von niemandem mehr \u00fcbersehen werden.\nDie mathematischen Anwendungen des Causalprincips machen es deutlich, dass dasselbe ebenso das Princip des begr\u00fcndenden Denkens ist, wie die S\u00e4tze der Identit\u00e4t und des Widerspruchs diejenigen des vergleichenden Denkens genannt werden k\u00f6nnen. Da Begr\u00fcndung ohne Vergleichung unm\u00f6glich ist, w\u00e4hrend diese sehr wohl in gewissen F\u00e4llen f\u00fcr sich allein stattfinden kann, so kommt hierin zugleich das logische Verh\u00e4ltniss dieser Principien zu einander zum Ausdruck. Au\u00dferdem ergibt sich aber aus diesem Gesichtspunkt ihre Bedeutung f\u00fcr den Schluss. Ohne Vergleichung, ohne Feststellung des Uebereinstimmenden und des Unterscheidenden k\u00f6nnen die Pr\u00e4missen nicht zu einander in Beziehung gesetzt werden. Aber die Ableitung der Conclusion l\u00e4sst sich aus solcher Vergleichung niemals vollst\u00e4ndig gewinnen. Sie setzt au\u00dferdem einen Act des begr\u00fcndenden Denkens voraus, der das neue Urtheil als eine Folge jener Vergleichung hinstellt. Je einfacher der Schluss, um so mehr verbirgt sich nat\u00fcrlich diese begr\u00fcndende hinter jener vergleichenden Function, je verwickelter, um so selbst\u00e4ndiger tritt sie hervor. Aber schon bei dem einfachen Identit\u00e4tsschluss A = B, B = C, A = C ist mit der Feststellung der zwei Identit\u00e4ten A = B, B = C noch keineswegs die dritte Identit\u00e4t A = C von selbst gegeben, sondern sie gr\u00fcndet sich auf die Erw\u00e4gung, dass in Folge jener ersten Identit\u00e4ten dem B sowohl A","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Deber naiven und kritischen Realismus.\n393\nwie auch C in allen Urtheilsverhindungen substituirt werden kann. Diese Substitution ist aber ein weiterer Act des Denkens, der zu der Vergleichung hinzukommt, und der, insofern er erst der Grund eines neuen Urtheils wird, dem Princip des begr\u00fcndenden Denkens untergeordet werden muss. Diese selbst\u00e4ndige Bedeutung der Begr\u00fcndung im Schl\u00fcsse tritt besonders dann klar hervor, wenn wir solche F\u00e4lle ins Auge fassen, in denen die in die Pr\u00e4missen eingehenden Urtheile bestimmte ausgezeichnete F\u00e4lle aus je einer ganzen Reihe m\u00f6glicher Urtheile bezeichnen. Wenn in dem ersten Urtheile A = B der Mittelbegriff B in den Variationen B, B', B\" ..., in dem zweiten B = C in den andern B, Bit B% ... vorkommt, so ist nur in dem einzigen Falle, wo die Identit\u00e4ten von A und G in dem Begriff B coincidiren, der Schluss A = C m\u00f6glich. Nun ist die starr und unver\u00e4nderlich gedachte Identit\u00e4t in Wirklichkeit auch hier nur ein Grenzfall. Denn die Denkohjecte sind Ver\u00e4nderungen unterworfen, verm\u00f6ge deren jedes auf Grund bestimmt gegebener Beziehungen erschlossene Begriffsverh\u00e4ltniss immer nur als ein bedingtes erscheint, das so lange gilt, als die Denkobjecte in den durch die Pr\u00e4missen ausgedr\u00fcckten Relationen verharren. Der Zusammenhang dieser Gesichtspunkte mit den f\u00fcr die mathematischen Gleichungen ma\u00dfgebenden springt in die Augen. In der That bringt der mathematische Functionsbegriff hier nur, wie das der exacte Ausdruck der Gr\u00f6\u00dfenrelationen erm\u00f6glicht, in besonders einleuchtender Weise die allgemeine Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit des logischen Denkens zum Ausdruck.\nWeist man so dem Causalprincip die ihm geb\u00fchrende Stellung innerhalb der allgemeinen logischen Normen des Denkens an, so wird damit nun aber auch jene Unterscheidung zwischen apriorischem und empirischem Denken hinf\u00e4llig, nach welcher beide v\u00f6llig verschiedenen Grunds\u00e4tzen folgen sollen. Das Causalprincip ist ebenso gut wie das Identit\u00e4tsgesetz empirisch und apriorisch zugleich: empirisch, insofern es in der Erfahrung gegebene Anschauungen voraussetzt, auf die es anwendbar ist, apriorisch, insofern dem Denken die Eigenschaft zukommen muss, das in der empirischen Anschauung Gegebene vergleichend und begr\u00fcndend zu verbinden.","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nW. Wundl.\n7. Die Aufsenwelt als Bewusstseinsinhalt.\nIndem die immanente Philosophie die Auffassung der Au\u00dfenwelt nicht von der Au\u00dfenwelt selbst unterscheidet, besteht ihr die wahre Realit\u00e4t derselben in Bewusstseinsvorg\u00e4ngen, die wir zugleich verm\u00f6ge der oben er\u00f6rterten Correlation von Subject und Object unmittelbar als solche wahmehmen sollen. Diese Annahme f\u00fchrt unvermeidlich zu der Frage, wie jene Bewusstseinsvorg\u00e4nge, die wir Au\u00dfenwelt nennen, sich von andern unterscheiden, denen wir blo\u00df eine subjective Bedeutung zuschreiben.\nAls das f\u00fcr diese Unterscheidung ma\u00dfgebende Merkmal betrachtet die immanente Philosophie, auf den Begriff des \u00bbgattungsm\u00e4\u00dfigen Ich\u00ab gest\u00fctzt, die Gemeinsamkeit der Wahrnehmungen. Insoweit die Wahrnehmung der K\u00f6rperwelt bei den verschiedenen Individuen eine \u00fcbereinstimmende sei, m\u00fcsse sie nothwendig als ein einmaliges Eigenthum des einen gattungsm\u00e4\u00dfigen'Ich betrachtet werden. Vielfach gegeben seien \u00bbnur die Modificationen des Gesehenen, welche von der Stellung des Sehenden und von Eigent\u00fcmlichkeiten seiner Organisation und seiner Auffassungsweise abh\u00e4ngen\u00ab. Und \u00bbso vielfach wie Objecte da sind, sind ferner die Erinnerungsbilder, die reproducirten Vorstellungen, welche trotz gl\u00fccklichster Verst\u00e4ndigung der Subjecte doch immer noch individuell verschieden sind\u00ab1). Das Verh\u00e4ltniss der Einheit der objec-tiven Welt zur Vielheit der Wahrnehmungen kann man sich also nach dieser Ansicht etwa durch eine Menge teilweise interferirender Kreise versinnlichen, die s\u00e4mmtlich einen gewissen Theil ihrer Fl\u00e4chen gemeinsam haben, w\u00e4hrend jeder au\u00dferdem seinen Theil f\u00fcr sich besitzt2).\nNun ist die Gemeinsamkeit der Wahrnehmungen offenbar kein unmittelbar gegebenes Merkmal, sondern nur eine allgemeine logische Forderung. Soll diese auf unsere Unterscheidung des Ich und der Au\u00dfenwelt einen wirklichen Einfluss aus\u00fcben, so m\u00fcssen daher notwendig in der Wahrnehmung selbst empirische Kennzeichen enthalten sein, mittelst derer wir entscheiden k\u00f6nnen, ob jene For-\n1)\tSchuppe, Die nat\u00fcrliche Weltansicht. Phil. Monatshefte, XXX. S. 13.\n2)\tVergl. dazu auch Schuppe, Grundriss, S. 30f.","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber naiven und kritischen Realismus.\n395\nderung erf\u00fcllt sei oder nicht. Es ist aber klar, dass, wenn unter diesen Kennzeichen Thatsachen verstanden werden, die eine absolute Erf\u00fcllung der angegebenen Forderung verb\u00fcrgen, solche Thatsachen \u00fcberhaupt nicht existiren, und dass daher eine gemeinsame Wahrnehmungswelt in absolutem Sinne nicht aufzufinden ist. Doch auch wenn man unter dieser blo\u00df das f\u00fcr eine beschr\u00e4nkte Anzahl von Individuen Gemeinsame verstehen sollte, bleibt die Auffindung brauchbarer empirischer Merkmale unerl\u00e4sslich, sobald an dem im ganzen \u00fcbereinstimmenden Wahrnehmungsinhalt wieder das wirklich Gemeinsame von den unendlich mannigfaltigen individuellen Variationen desselben gesondert werden soll. So nimmt denn auch die immanente Erkenntnisstheorie an, an der urspr\u00fcnglichen Wahrnehmung m\u00fcssten gewisse Berichtigungen vorgenommen werden, um aus derselben solche ver\u00e4nderliche Bestandtheile ajiszuscheiden. Wenn nun aber einmal diese Unterscheidungen zwischen dem, was zun\u00e4chst allgemeing\u00fcltig scheint, es aber in Wirklichkeit nicht ist, und dem, was sich endlich als wirklich allgemeing\u00fcltig bew\u00e4hrt, n\u00f6thig sind, warum soll dann gerade da Halt gemacht werden, wo jene Berichtigungen durch Sinnest\u00e4uschungen, individuelle Verschiedenheiten der Organisation und \u00e4hnliches nahe gelegt werden? Und warum soll man sie nicht vor allem auch auf diejenigen Eigenschaften der Wahrnehmung ausdehnen, bei denen sie durch die Bed\u00fcrfnisse der wissenschaftlichen Analyse gefordert werden? R\u00e4umt man das Recht dieser Forderung ein, dann wird aber der Standpunkt der immanenten Erkenntnisstheorie sofort hinf\u00e4llig, weil die naturwissenschaftliche Analyse der objectiven Erscheinungen dazu zwingt, \u00fcberhaupt die unmittelbaren Empfindungsinhalte als subjective Elemente der Erfahrung anzusehen, die zwar unter Umst\u00e4nden einer mehr oder minder gro\u00dfen Anzahl von Individuen gemeinsam sein k\u00f6nnen, als ein \u00bbgemeinsamer\u00ab Erfahrungsinhalt aber nicht gelten d\u00fcrfen, falls man diesen Begriff der Gemeinsamkeit in der Bedeutung versteht, in der er jetzt noch allein einen m\u00f6glichen Sinn hat, n\u00e4mlich in dem der Allgemeing\u00fcltigkeit f\u00fcr alle diejenigen, die sich im Besitz der zureichenden Erkenntniss-bedingungen dem Gegebenen gegen\u00fcber befinden. Der Mangel der Immanenzphilosophie besteht also darin, dass sie auf dem Boden der gew\u00f6hnlichen Erfahrung stehen bleibt, f\u00fcr diese aber Bedin-","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nW. Wundt.\ngungen der Allgemeingiiltigkeit aufstellt, die im strengsten Sinne \u00fcberhaupt nicht und mit einer gewissen Ann\u00e4herung nur in der wissenschaftlichen Bearbeitung der Erfahrung zu erf\u00fcllen sind.\nAuch diese Widerspr\u00fcche lehren wieder, dass nicht die Annahme einer Au\u00dfenwelt, deren Objecte von vielen erkennenden Suhjecten in mannigfacher, je nach Eigenart und Standpunkt theils \u00fcbereinstimmender theils verschiedener Weise wahrgenommen werden, sondern dass der metaphysische Satz \u00bbSein ist Bewusstsein\u00ab, auf Grund dessen man jene Annahme bestreitet, unhaltbar ist. W\u00e4re dieser Satz richtig, dann w\u00fcrde aber auch von vornherein die Auffassungsweise der Naturwissenschaft eine verfehlte sein, welche sich \u00fcberall gedr\u00e4ngt sieht H\u00fclfsbegriffe einzuf\u00fchren, die in Wahrheit darauf ausgehen, den Begriff eines von dem Bewusstsein verschiedene^ objectiven Seins festzustellen, sodass in Bezug auf dieses die Bewusstseinsvorg\u00e4nge nicht selbst als das Sein, sondern nuT als Zeichen betrachtet werden k\u00f6nnen, die auf dasselbe hin-weisen. L\u00e4sst man dagegen jenes tr\u00fcgerische Princip des Esse = Percipi fallen, so birgt die angebliche Vervielf\u00e4ltigung der objectiven Wirklichkeit in den auf sie bezogenen subjectiven Wahrnehmungen nicht den geringsten Widerspruch in sich. Demnach besteht denn auch die von der Erkenntnisstheorie der positiven Wissenschaften gemachte Voraussetzung darin, dass der unmittelbare Inhalt der'objectiven Erfahrung so lange als Wirklichkeit anzusehen sei, als die logische Bearbeitung desselben nicht dazu n\u00f6thigt, irgend welche Elemente als subjective zu eliminiren. Zu diesen subjectiven Elementen kann aber der Natur der Sache nach die Existenz einer von dem Subject unabh\u00e4ngigen Wirklichkeit selbst niemals geh\u00f6ren, weil eben diese Existenz die Voraussetzung ist, auf Grund deren erst alle jene den urspr\u00fcnglichen Wahrnehmungsinhalt berichtigenden Unterscheidungen zwischen subjectiven und objectiven Elementen m\u00f6glich werden. In der That gehen daher alle begrifflichen Bearbeitungen der Erfahrung nur darauf aus, in der Bestimmung der objectiven Wirklichkeit von denjenigen Eigenschaften des Subjects zu abstrahiren, die nicht zu den Erkenntnissfunctionen selbst geh\u00f6ren, und diese Erkenntnissfunctionen hinwiederum nur als H\u00fclfsmittel zur Erkenntniss der realen Erfahrungsinhalte, nicht selbst als Bestandtheile derselben anzusehen. Die M\u00f6glichkeit","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n397\ndieser Abstraction wurzelt aber in einer Thatsache, die von der immanenten Philosophie nur geleugnet wird, weil sie den urspr\u00fcnglichen Erfahrungsinhalt mit der Reflexion \u00fcber denselben vermengt, indem sie behauptet, dass wir nicht Objecte denken k\u00f6nnten, ohne stets das Subject mitzudenken. Dieser Satz von der nothwendigen Immanenz der Objecte im Subject steht jedoch nicht blo\u00df mit dem unmittelbaren Inhalt der naiven Erfahrung, sondern auch mit allen wissenschaftlichen L\u00f6sungsversuchen der Erkenntnissprobleme, die naturgem\u00e4\u00df jenen unmittelbaren Inhalt zur Grundlage ihrer kritischen Berichtigungen nehmen, im Widerstreit. Die Ursache dieses Missgeschicks liegt auch diesmal wieder, wie in allen andern \u00e4hnlichen F\u00e4llen, schlie\u00dflich darin, dass man die wissenschaftlichen Erkenntnissprincipien verwirft, weil man sich keine zureichende M\u00fche gibt ) sie kennen zu lernen. Dass das abstracte Ichbewusstsein die Grundlage sei, auf welcher alle objective Erfahrung ruhe, und dass darum keine Erfahrung anders denn als eine im Bewusstsein gegebene aufgefasst werden k\u00f6nne, das ist das TtQ\u00fcrov xpsvdog der verschiedensten Gestaltungen des Subjectivismus, m\u00f6gen sie nun subjectiver Idealismus, Solipsismus oder immanente Philosophie genannt werden. Die primitive Erfahrung ist aber nicht das im, sondern das au\u00dfer dem Bewusstsein gelegene Object. Dass dieses \u00e4u\u00dfere Object \u00fcberhaupt im Bewusstsein vorgestellt wird, ist eine erst auf Grund hinzutretender Reflexionen entstandene Erkennt-niss. Da sich nun diese Erkenntniss immer zugleich mit der weiteren verbindet, dass durch das Vor stellen des Objects im Bewusstsein subjective Ver\u00e4nderungen bewirkt werden, so kann sie den urspr\u00fcnglichen Thatbestand der Erfahrung nicht aufheben, sondern nur dahin erg\u00e4nzen, dass die Wahrnehmung ein auf das Object hinweisendes Symbol sei, aus dem sich das reale Object selbst ergebe, sobald man alle die Eigenschaften in Abzug bringe, die sich durch die Vergleichung der objectiven Erfahrungen als subjective heraussteilen. Diesen Weg, den schon die gew\u00f6hnliche praktische Welterkenntniss einschl\u00e4gt, verfolgt die Naturwissenschaft weiter, und indirect setzt ihn auch jede den unmittelbaren Erfahrungsthatsachen selbst zugewandte Psychologie als den wahren voraus, da eine solche Psychologie aus dem Bed\u00fcrfnisse entsteht, eben jenen Antheil des Sub-jectes an dem Inhalt der Erfahrung zu untersuchen, von dem die","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nW. Wundt.\nNaturwissenschaft geflissentlich abstrahirt hat. Auf diese Weise gew\u00e4hren dann freilich auch erst Psychologie und Naturwissenschaft zusammen eine volle Erkenntniss der Wirklichkeit. Denn es darf niemals \u00fcbersehen werden, dass die Betrachtungsweise der Naturwissenschaft, weil sie von den erkennenden Subjecten abstrahirt, eine einseitige und unvollst\u00e4ndige bleibt. Das Problem, wie diese zwei Betrachtungsweisen in einer sie beide umfassenden Weltauffassung zu vereinigen seien, wird dann stets die wichtigste Aufgabe der Philosophie bleiben. Man darf aber nicht meinen, dieses Problem dadurch l\u00f6sen zu k\u00f6nnen, dass man, wie es immer und immer wieder die philosophischen Erkenntnistheorien thun, die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise negirt oder ihr willk\u00fcrlich Motive unterschiebt, die ihr fremd sind. Das geschieht vor allem dann, wenn jene Theorien das Object nicht als ein gegebenes anerkennen, sondern wenn sie es mit aller Gewalt aus dem Subject hervorgehen lassen und ihm dann doch entweder eine Realit\u00e4t au\u00dferhalb des Subjectes oder eine solche in einem begrifflich po-stulirten Gattungsbewusstsein sichern wollen. Der erste dieser Wege f\u00fchrt nothwendig in irgend einer Weise auf das phantastische Verfahren der Erzeugung eines Nicht-Ich durch das Ich zur\u00fcck, ein Verfahren dem auch dadurch nicht aufzuhelfen ist, dass man die dialektische Construction Fichte\u2019s durch eigens zu diesem Zweck erfundene psychische Functionen, z. B. durch eine projicirende Th\u00e4tigkeit, ein Widerstandsgef\u00fchl u. dergl., ersetzt. Alle solche Deductionen setzen das voraus, was sie erkl\u00e4ren wollen, und dem Nicht-Ich k\u00f6nnen sie trotzdem zu keiner unabh\u00e4ngigen Realit\u00e4t verhelfen. Die Gleichsetzung dieser Realit\u00e4t mit dem gattungsm\u00e4\u00dfigen Ich aber scheitert an der leeren Scheinexistenz dieses Begriffs, als dessen einziger realer Rest das subjective und individuelle Ich zur\u00fcckbleibt, womit dann wiederum die Immanenzphilosophie nach allen ihren Irrfahrten beim Solipsismus angelangt ist.\nWas den Solipsismus betrifft, so hat bekanntlich Hume von ihm gesagt, er sei zwar theoretisch nicht zu widerlegen, werde aber fortw\u00e4hrend widerlegt durch das praktische Leben; und Schopenhauer meinte, er sei nicht zu widerlegen, aber er geh\u00f6re ins Irrenhaus. Doch da so manche Wahrheit anf\u00e4nglich f\u00fcr absurd gehalten wurde, so sind diese Argumente schwerlich \u00fcberzeugend.","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n399\nIn der That liegt aber die Sache so, dass die Erkenntnisstheorien Hume\u2019s und Schopenhauer\u2019s eigentlich im stillen an demselben Uebel kranken wie die immanente Philosophie und andere sub-jectivistische Erkenntnisstheorien, an dem Glauben, dass das Object urspr\u00fcnglich eine blo\u00df subjective \u00bbBewusstseinserscheinung\u00ab sei, die dann nachtr\u00e4glich durch Associationen, Reflexionen undCausa-lit\u00e4tsschl\u00fcsse zum \u00e4u\u00dferen Object werde. Darum sind denn auch witzige Bemerkungen das einzige, was sie gegen den Solipsismus vorzubringen wissen. Immerhin verbirgt sich hinter dem Hinweis auf das praktische Leben und auf die geistig Gesunden die Anerkennung, die von diesen Denkern nur noch nicht zureichend begr\u00fcndet wird, dass die wirkliche Entwicklung der Erkenntniss schon in der naiven Erfahrung und mehr noch in der Wissenschaft mit dem Solipsismus unvereinbar ist. Darum ist nun aber auch dieser nicht eine m\u00f6gliche, nur aus \u00e4u\u00dferen Gr\u00fcnden verwerfliche, sondern eine unm\u00f6gliche Denkweise. Und unm\u00f6glich ist diese nicht blo\u00df deshalb, weil sie praktisch unbrauchbar, sondern vor allem weil sie theoretisch grundlos ist.\t*\n8. Psychologie und Naturwissenschaft.\nWenn, wie die immanente Philosophie behauptet, Sein und, Bewusstsein identisch, wenn Naturereignisse und psychische Pro-cesse beide ihrer eigentlichen Bedeutung nach Bewusstseins Vorg\u00e4nge sind, so erhebt sich die Frage : wie lassen sich die Gegenst\u00e4nde der Naturwissenschaft und der Psychologie \u00fcberhaupt gegen einander abgrenzen?\nGewiss kann es der immanenten Philosophie nicht verargt werden, wenn sie die popul\u00e4re Unterscheidung, wonach es die Psychologie mit den Bewusstseinsvorg\u00e4ngen, die Naturwissenschaft mit den Erscheinungen au\u00dferhalb des Bewusstseins zu thun habe, nicht f\u00fcr zureichend h\u00e4lt. Werden wir doch durch eine naheliegende Reflexion belehrt, dass uns die Gegenst\u00e4nde und Vorg\u00e4nge der Au\u00dfenwelt ebenfalls nur durch Bewusstseinsvorg\u00e4nge bekannt sein k\u00f6nnen, weshalb sich ja auch die Nothwendigkeit herausstellt, dass die n\u00e4mlichen Gegenst\u00e4nde, mit denen sich die Naturwissenschaft besch\u00e4ftigt, unter einem andern Gesichtspunkte, n\u00e4mlich als Wahr-","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nW. Wundt.\nnehmungen, die wir auf Au\u00dfendinge beziehen, noch einmal in der Psychologie wiederkehren. Sobald man eine von dem Subject abh\u00e4ngige reale Welt anerkennt, so l\u00f6st sich nun diese Schwierigkeit durch die Voraussetzung, dass es nicht an sich verschiedene Erfahrungsinhalte, sondern verschiedene Gesichtspunkte der Betrachtung einer und derselben Erfahrung sind, die der Scheidung in Naturwissenschaft und Psychologie zu Grunde liegen, indem jene nur die Objecte der Erfahrung nach Abstraction von dem Subject, diese aber das Subject selbst sammt dem Einfluss, den es auf die unmittelbare Erfahrung und ihren Zusammenhang aus\u00fcht, ber\u00fccksichtigt1).\nAber dieser Weg ist f\u00fcr die immanente Philosophie ungangbar.\n^Behauptet sie doch, dass von dem Subject \u00fcberhaupt nie abstrahiTt werden k\u00f6nne. Eine Naturwissenschaft, die das unternimmt, exi-stirt also f\u00fcr sie nicht, und es bleibt so nichts anderes \u00fcbrig, als den Bewusstseinsinhalt selbst zwischen Naturwissenschaft und Psychologie angemessen zu vertheilen. Dass hierbei der auf die Naturwissenschaft fallende Antheil das \u00bbgattungsm\u00e4\u00dfige Bewusstsein\u00ab ist, versteht sich nach dem, was oben \u00fcber die Kriterien der objectiven Wirklichkeit ausgef\u00fchrt wurde, von selbst. Nicht so leicht l\u00e4sst sich jedoch die Aufgabe der Psychologie bestimmen. Dass man hierbei nicht einfach das Nicht-gattungsm\u00e4\u00dfige, also Individuelle der Psychologie zutheilen darf, ergibt sich daraus, dass die Psychologie doch ebenso gut wie die Naturwissenschaft allgemeing\u00fcltige, f\u00fcr jedes Bewusstsein richtige Thatsachen und Gesetze feststellen will. Demnach ist es schlie\u00dflich ebenfalls etwas \u00bbgattungsm\u00e4\u00dfiges\u00ab, nur ein solches anderer Art, mit dem sich die Psychologie besch\u00e4ftigen soll. Auch die individuellen Bewusstseinsantheile zeigen n\u00e4mlich wieder gewisse allgemeine Eigenschaften, die f\u00fcr die Individualit\u00e4t im allgemeinen charakteristisch seien. In diesem Sinne wird daher \u00bbPsychologie nicht die Wissenschaft von dem ganzen individuellen Bewusstsein mit seinem Inhalt, sondern von demjenigen, was darin zur Individualit\u00e4t geh\u00f6rt und diese ausmacht\u00ab, definirt. W\u00e4hrend sich also die Naturwissenschaft mit dem Gattungsm\u00e4\u00dfigen nach Abstraction von allem Individuellen besch\u00e4ftigt,\n1) Vergl. meinen Aufsatz \u00fcber die Definition der Psychologie in Bd. XII, Heft 1 dieser Studien, S. 1 ff.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n401\nsoll die Aufgabe der Psychologie in dem Individuellen in abstracto, d. h. in dem Begriff der Individualit\u00e4t nach Abstraction nicht blo\u00df von dem rein Gattungsm\u00e4\u00dfigen sondern auch von dem concret Individuellen bestehen ').\nDa diese abstracte Gebietsscheidung ziemlich schwer erkennen l\u00e4sst, wie denn eigentlich im einzelnen das was jedem der beiden gro\u00dfen Wissenschaftsgebiete zufalle zu bestimmen sei, so ist \u00fcbrigens von andern Vertretern der immanenten Philosophie der Versuch gemacht worden, unmittelbarere, deutlich erkennbare Merkmale aufzustellen. Dabei wird dann entweder der Unterschied von Naturwissenschaft und Psychologie mit dem von Sinneswahrnehmung und reproducirter Vorstellung identificirt, indem man der Naturwissenschaft die Untersuchung der ersteren, der Psychologie die der letzteren zuweist1 2). Oder es wird der Unterschied in den Bedingungen der Beobachtung gesehen, wie z. B. darin, dass die Objecte der Naturwissenschaft immer f\u00fcr mehrere Beobachter, die der Psychologie nur f\u00fcr einen einzigen vorhanden seien, sowie darin, dass der Gegenstand der Naturwissenschaft Mehreren unmittelbar, der Gegenstand der Psychologie nur Einem unmittelbar, allen andern aber mittelbar gegeben sei3). Welche dieser Definitionen sie.aber auch bevorzugen m\u00f6gen, immer bleiben die Vertreter der immanenten Philosophie darin einig, dass die Erkenntnisstheorie allen andern Wissenschaften vorausgehen m\u00fcsse, wie sich dies schon daraus ergebe, dass erst mit ihrer H\u00fclfe alle solche Grenzbestimmungen verschiedener Bewusstseinsinhalte m\u00f6glich seien.\n1)\tSchuppe, Begriff und Grenzen der Psychologie. Zeitschr. f. immanente Philosophie, I. S. 50. 64 f.\n2)\tv. Schubert-Soldern, Grundlagen der Erkenntnisstheorie, S. 337 ff.\n3)\tJ. Rehmke, Lehrbuch der allgemeinen Psychologie, S. 10. Neben diesen \u00e4u\u00dferen Merkmalen hebt \u00fcbrigens auch Rehmke in erster Linie das innere hervor, \u00bbdass das Seelenleben nichts anschaulich Gegebenes ist, w\u00e4hrend der Gegenstand der Naturwissenschaft im anschaulich Gegebenen liegt\u00ab. Man darf wohl vermuthen, dass dieses positive Merkmal im wesentlichen mit der Unterscheidung zwischen Sinneswahrnehmung und reproducirter Vorstellung zusammenf\u00e4llt, da hier das Wort \u00bbAnschauung\u00ab kaum anders als in dem Sinne der \u00e4u\u00dferen Sinneswahrnehmung, namentlich einer solchen durch den Gesichtssinn, gebraucht \u00aeein kann, eine Bedeutung die allerdings seit Kant selbst in der Philosophie kaum mehr die \u00fcbliche ist.","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nW. Wundt.\nVergleichen wir nun diese Definitions versuche mit den wirklich in der Entwicklung der Wissenschaft ma\u00dfgebend gewesenen Motiven der Gehietsahgrenzungen, so ist klar, dass jene mit diesen nicht Zusammentreffen. Aber es ergibt sich auch weiterhin, dass die bisherigen Aufgaben der Psychologie wie der Naturwissenschaft, an dem Ma\u00dfe dieser Definitionen gemessen, falsch sein w\u00fcrden, und dass also von diesem Standpunkte aus eine allgemeine Umkehrung der Wissenschaften gefordert werden m\u00fcsste.\nDie erste dieser Begriffsbestimmungen, die abstract logische, die der Naturwissenschaft das \u00bbGattungsm\u00e4\u00dfige \u00fcberhaupt\u00ab, der Psychologie die \u00bbIndividualit\u00e4t im allgemeinen\u00ab zuweist, begegnet zun\u00e4chst dem oben (S. 374) schon geltend gemachten Bedenken, dass in dem ahstracten Ich \u00fcberhaupt keine Empfindungsinhalte mehr anzutreffen sind, mit der L\u00f6sung von jedem concreten Bewusstseinsinhalt also der Naturwissenschaft \u00fcberhaupt ihr Inhalt verloren gehen w\u00fcrde. Dazu kommt dann die weitere Schwierigkeit, dass eine sichere Grenzbestimmung zwischen dem abstract Individuellen und dem abstract Gattungsm\u00e4ssigen unm\u00f6glich zu sein scheint. In der That pflegt man dieser Schwierigkeit lediglich dadurch zu begegnen, dass man einfach auf die herk\u00f6mmlich der Psychologie zugerechneten Bewusstseinsdata hinweist, die im allgemeinen jedem Individuum zukommen, ohne jedoch als objectiv geltende Normen angesehen zu werden1). Darum werden denn auch jenen ahstracten Grenzbestimmungen immer wieder concrete Unterscheidungsmerkmale substituirt, die dem ahstracten Ich an und f\u00fcr sich gar nicht, und die dem \u00bbgattungsm\u00e4\u00dfigen Bewusstsein\u00ab nur dann zukommen k\u00f6nnen, wenn man voraussetzt, es sei erlaubt, die Grenzen dieses letzteren Begriffs willk\u00fcrlich abzustecken. So besteht denn auch das Verfahren, durch welches die Immanenztheorie von dem Gattungsm\u00e4\u00dfigen zu den empirischen Objecten der Natur gelangt, eigentlich in einer doppelten Begriffsvertauschung. Zuerst wird an die Stelle des Gattungsm\u00e4\u00dfigen \u00fcberhaupt das gesetzt, was \u00bbunabh\u00e4ngig von den Individualit\u00e4ten\u00ab sei, und dann wird f\u00fcr die letztere Unabh\u00e4ngigkeit das empirische Merkmal darin gesehen, dass nicht nur \u00bbLaune und Willk\u00fcr den Sinnesdaten\n1) Schuppe, a. a. O. S. 50 f.","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n403\ngegen\u00fcber machtlos sind, sondern vor allem darin, dass in ihnen selbst, den Empfindungsinhalten, gleichviel wann und wo sie Objecte eines individuellen Bewusstseins werden m\u00f6gen, ein Gesetz ihres Zusammen und ihres Nacheinander entdeckbar ist. Der Gesichtseindruck der Flamme z. B. b\u00fcrgt f\u00fcr die Empfindung gesteigerter Temperatur, der des brennenden Hauses f\u00fcr nachfolgende Gesichtseindr\u00fccke, z. B. verkohlter Balken, eingest\u00fcrzter Mauern und dergl.\u00ab1). Hier f\u00fchrt nun das erste Merkmal, das der Unabh\u00e4ngigkeit von der Individualit\u00e4t, augenscheinlich wieder auf das oben schon besprochene Pr\u00fcfungsmittel objectiver Wirklichkeit, auf die Uebereinstimmung der'Wahrnehmenden, zur\u00fcck. Dass dasselbe bei der thats\u00e4chlichen Entwicklung der naturwissenschaftlichen Erkenntniss gar keine oder eine h\u00f6chst untergeordnete Rolle spielt, haben wir bereits gesehen (vgl. S. 361 ff.). Dass es \u00fcberdies, wenn es \u00fcberhaupt zur Idee eines abstract Gattungsm\u00e4\u00dfigen f\u00fchren soll, die Existenz dieser Idee schon voraussetzt, ist einleuchtend. Denn die Uebereinstimmung verschiedener Wahrnehmender kann immer nur die Vorstellung der Unabh\u00e4ngigkeit von dieser und jener einzelnen Individualit\u00e4t erwecken. Als ein Hinweis auf eine absolute Unabh\u00e4ngigkeit von der Individualit\u00e4t \u00fcberhaupt kann sie erst dann betrachtet werden, wenn 'die Idee der abstracten Gattung zuvor schon in uns liegt. Auch hier ist also die platonische Idee der latente Hintergedanke der immanenten Erkenntnisstheorie. Damit stimmt es \u00fcberein, dass zu den Empfindungen, \u00bbwelche sich zu einem System causaler Zusammenh\u00e4nge gestalten lassen\u00ab, wiederum der \u00bbGattungsbegriff Menschenleib\u00ab geh\u00f6ren soll2), ein Gedanke der nur verst\u00e4ndlich ist, wenn man die Naturerscheinungen als die concreten Gestaltungen allgemeiner Ideen auffasst, zu welchen letzteren dann auch der ideale Typus des Menschenleibes geh\u00f6ren mag. Ferner wird als ein besonderes H\u00fclfsmerkmal die regelm\u00e4\u00dfige Aufeinanderfolge der Empfindungen angef\u00fchrt, die uns zur Anwendung des Causalit\u00e4tsbegriffs n\u00f6thige. Das schlie\u00dft die Annahme ein, dass der Zusammenhang psychischer Vorg\u00e4nge ein v\u00f6llig unregelm\u00e4\u00dfiger sei, und wir daher auf ihn \u00fcberhaupt nicht den\n1)\tSchuppe, a. a. O. S. 68 f.\n2)\tEbenda, S. 69. Vergl. oben S. 366.\nWundt, Philos. Studien. XII.\n27","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nW. Wundt.\nCausalit\u00e4tsbegriff an wenden. Dass diese Annahme falsch ist, lehrt im Grunde schon die Existenz der Psychologie, die doch gar nicht m\u00f6glich w\u00e4re, wenn sich nicht das Bediirfniss regte, den Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge irgendwie causal zu verstehen. Nun mag zugegeben werden, dass sich in manchen F\u00e4llen \u2014 sicherlich nicht in allen, man denke z. B. an gewisse meteorologische Ph\u00e4nomene einerseits und an die logischen Denkprocesse andererseits \u2014 der regelm\u00e4\u00dfige Zusammenhang der Naturvorg\u00e4nge mehr unserer Auffassung aufdr\u00e4ngt, als derjenige der rein psychischen Processe, jedenfalls handelt es sich aber dabei nur um ein mehr oder minder. Das gibt auch diese Theorie selbst zu, wenn sie der Psychologie die Untersuchung der Individualit\u00e4t im allgemeinen nach Abzug aller Besonderheiten der einzelnen Individuen als Aufgabe zuweist. Denn wenn es nur unregelm\u00e4\u00dfige und inconstante psychische Vorg\u00e4nge g\u00e4be, so w\u00e4re nat\u00fcrlich auch der Begriff der Individualit\u00e4t in abstracto unm\u00f6glich, der ja eben das was an den individuellen Eigenschaften wieder allgemeing\u00fcltig ist ausmachen soll. So sieht man, dass dieser ganze Versuch, durch allgemeine Festlegung von Begriffen das abstract Gattungsm\u00e4\u00dfige von der abstracten Individualit\u00e4t und diese wieder von dem concreten Individuum zu scheiden, nothwendig misslingen muss, weil alles das, was dem Einzelnen und was der Individualit\u00e4t \u00fcberhaupt angeh\u00f6rt, und weil ebenso die Vorstellungen, die wir auf \u00e4u\u00dfere Objecte beziehen, und die, bei denen solches nicht der Fall ist, als \u00bbBewusstseinsvorg\u00e4nge\u00ab betrachtet zusammengeh\u00f6ren und darum als solche auch nicht mehr verschiedenen Wissenschaften zugewiesen werden k\u00f6nnen. Eine abstracte Individualit\u00e4t gibt es nicht. Wir k\u00f6nnen nur concrete Vorg\u00e4nge in concreten Individuen untersuchen, und da wo diese Vorg\u00e4nge zwischen verschiedenen Individuen abweichen, erfolgen sie gleichwohl ebenso gut nach allgemeing\u00fcltigen psychischen Gesetzen als da, wo sie \u00fcbereinstimmen. Die Naturvorg\u00e4nge aber lassen sich nur daran von den Bewusstseinsvorg\u00e4ngen unterscheiden, dass jene unmittelbar als au\u00dferhalb des Bewusstseins stattfindende aufgefasst werden. Nur auf Grund dieser von der Naturwissenschaft von Anfang an festgehaltenen Auffassung lassen sich dann auch die H\u00fclfsbegriffe, die dieselbe anwendet, und lassen sich die Motive verstehen, durch die sie \u00fcberhaupt zu einer begrifflichen Coj j traction","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n405\nder Wirklichkeit gen\u00f6thigt wird, die von dem unmittelbar gegebenen Inhalt der Sinneswahrnehmung wesentlich abweicht. Sobald man dagegen die Naturvorg\u00e4nge selbst als eine besondere Art von Bewusstseinsvorg\u00e4ngen betrachtet, m\u00fcssen alle solche Yerfahrungsweisen eigentlich als unerlaubte H\u00fclfsmittel erscheinen, da in diesem Fall die Wirklichkeit der Natur mit unserer unmittelbaren Sinneswahr-nehmung identisch ist.\nDoch nicht blo\u00df mit der Naturwissenschaft, sondern auch mit der Psychologie ger\u00e4th die immanente Erkenntnisslehre in einen unheilbaren Zwiespalt. Das zeigen vor allem die Versuche einer concreteren Unterscheidung zwischen den Gegenst\u00e4nden der Psychologie und der Naturforschung. Diese soll es mit den Sinneswahrnehmungen, jene mit den reproducirten Vorstellungen zu thun haben, denen dann wohl auch noch die Gef\u00fchle z\u00fcgerechnet werden. Nach dieser Begriffsbestimmung w\u00fcrde die Sinneswahrnehmung \u00fcberhaupt kein psychischer Vorgang sein, sondern das psychische Gebiet w\u00fcrde \u00fcberall erst mit den Erinnerungs- und Phantasiebildern beginnen. Dabei m\u00fcsste man offenbar annehmen, dass Sinneswahrnehmung und Phantasiebild an sich verschiedene und \u00fcberall durch sichere Merkmale zu unterscheidende Bewusstseinsvorg\u00e4nge seien. Eine solche Trennung auszuf\u00fchren ist aber unm\u00f6glich. Es gibt keine Sinneswahrnehmung, an der nicht reproductive Elemente betheiligt w\u00e4ren, und beide, Wahrnehmungen nnd Reproductionen, sind zusammengesetzte Bewusstseinsvorg\u00e4nge, die als solche eine psychologische Analyse erfordern. Diese Gebietsscheidung, die sich auf die heute v\u00f6llig \u00fcberwundene Theorie Hume\u2019s mit ihrer Trennung der Perceptionen in starke und schwache (impressions and ideas) st\u00fctzt, raubt also der Psychologie eines ihrer wichtigsten Gebiete. Der Naturwissenschaft hinwiederum kann durch die Zuweisung desselben nicht im entferntesten Gen\u00fcge geschehen. Denn in der Gestalt, in der sie sich unmittelbar unserer Beobachtung darbieten, sind eben die Wahrnehmungen \u00bbBewusstseinsVorg\u00e4nge\u00ab, nicht reale Objecte. Zur Sinneswahrnehmung geh\u00f6ren auch die normalen Sinnest\u00e4uschungen und die subjectiven Elemente des Eindrucks. Soll die Naturwissenschaft diese eliminiren, so tdeiben als ihre Objecte \u00fcberhaupt nicht mehr die Sinneswahrneh-E&ungen selbst \u00fcbrig, sondern diese gewinnen nur die Bedeutung\n27*","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nW. Wundt.\nvon Zeichen, die auf eine erst zu erschlie\u00dfende objective Realit\u00e4t hinweisen. Damit ist die Behauptung, dass auch die Naturwissenschaft blo\u00dfe Bewusstseinsvorg\u00e4nge zu ihren Objecten habe, hinf\u00e4llig. Die Sinneswahrnehmungen als Bewusstseinsvorg\u00e4nge bilden vielmehr nur die H\u00fclfsmittel, mit denen die Naturwissenschaft die Erforschung ihres eigentlichen Gegenstandes, der von dem wahrnehmenden Subject unabh\u00e4ngigen Wirklichkeit, unternimmt. Auch hier wieder zeigt es sich daher: der Standpunkt der Immanenzphilosophie beseitigt den Gegenstand der Naturwissenschaft, die objective Wirklichkeit, um an dessen Stelle die gew\u00f6hnliche, vorwissenschaftliche Erfahrung zu setzen.\nDass schlie\u00dflich jene \u00e4u\u00dferen Bedingungen der Beobachtung, ob ein Gegenstand gleichzeitig mehreren Beobachtern oder nur einem einzigen unmittelbar gegeben sei, zur Unterscheidung der Objecte der Naturforschung von denen der Psychologie nicht zureichen, bedarf kaum der n\u00e4heren Ausf\u00fchrung. Nimmt man den Ausdruck w\u00f6rtlich, so ist er zweifellos unrichtig. Ein Naturereignis wird dadurch, dass es nur von einem einzigen Beobachter wahrgenommen wird, noch nicht zu einem psychischen Vorgang. Gemeint kann also offenbar nur die allgemeine M\u00f6glichkeit sein, dass ein Object von Mehreren wahrgenommen werden k\u00f6nne. Dieses Merkmal ist dann aber sachlich wieder nichts anderes als eine der Sinneswahrnehmung zukommende Eigenschaft. Es f\u00e4llt also diese Unterscheidung mit der in Sinneswahrnehmungen und Erinnerungsbilder zusammen.\nIndem nun die Grenzen zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Erinnerungsvorg\u00e4ngen, sobald man beide als Bewusstseinsvorg\u00e4nge betrachtet, v\u00f6llig verwischt werden, f\u00fchrt die Consequenz des Standpunktes der immanenten Philosophie eigentlich dahin, die gesammte Naturwissenschaft der Psychologie einzuverleiben, und wenn diese Consequenz den Vertretern dieser Philosophie verborgen bleibt, so ist das nur dadurch m\u00f6glich, dass sie auf eine wirkliche psychologische Analyse der Bewusstseinsvorg\u00e4nge nicht eingehen. Darum zieht nun aber auch die Psychologie aus dieser ihr that-s\u00e4chlich einger\u00e4umten Herrschaft keinen Gewinn. Denn in der Psychologie ist die Tendenz der immanenten Philosophie lediglich auf die logische Unterscheidung jener allgemeinen Begriffe gerichtet,","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n407\nunter die sich die verschiedenen der \u00bbIndividualit\u00e4t \u00fcberhaupt\u00ab zugeh\u00f6rigen Inhalte ordnen lassen. An die Stelle einer wirklichen Untersuchung des concreten psychischen Geschehens tritt so ein Verfahren begrifflicher Unterscheidung und Subsumtion. Die \u2019 Gegenst\u00e4nde desselben bilden nicht die psychischen Vorg\u00e4nge selbst, sondern die aus ihnen abstrahirten Begriffe, in deren logischer Definition und Classification das eigentliche Gesch\u00e4ft der Psychologie aufgeht. Die letztere erscheint in dieser Beleuchtung als eine Art angewandter Logik.\nHieraus wird es zugleich verst\u00e4ndlich, dass die immanente Philosophie auf die Ueberordnung der Erkenntnistheorie \u00fcber alle andern Wissenschaften so gro\u00dfen Werth legt. Auch hierin stellt sie sich wieder auf gleiche Linie mit dem speculativen Apriorismus, speciell mit Fichte\u2019s Wissenschaftslehre, die ganz ebenso von ihrem Urheber als eine allgemeine Principienwissenschaft gedacht war, auf der alle positiven Wissenschaften weiterzubauen h\u00e4tten. Nun bedarf gewiss jede Einzel Wissenschaft der allgemeinen Denknormen und der Voraussetzung gewisser Principien der Erkenntniss. Aber in der wirklichen Entwicklung der Wissenschaften geschieht die Anwendung dieser Normen und Principien \u00fcberall zun\u00e4chst ohne eine vorausgehende Pr\u00fcfung, und ohne dass man sich \u00fcber ihren Ursprung und ihre Begr\u00fcndung Eechenschaft gibt. Dieses theils instinctive theils provisorische Verfahren empf\u00e4ngt seine Rechtfertigung daraus, dass eine genaue Rechenschaft \u00fcber solche Principien \u00fcberhaupt erst auf Grund bereits gesicherter wissenschaftlicher Resultate m\u00f6glich ist. So kommt es, dass die wissenschaftliche Erkenntnisstheorie nur allm\u00e4hlich und in Folge fortw\u00e4hrend hin-und hergehender Bewegungen zwischen specieller wissenschaftlicher Arbeit und allgemeiner Untersuchung entstehen kann. Da aber hier wie \u00fcberall das Allgemeine aus dem Einzelnen gewonnen werden muss, so ist trotz dieser unaufh\u00f6rlichen Wechselwirkungen, wenn wir auch nur an einen vorl\u00e4ufigen Abschluss der Gebiete denken, der Ausbau der speciellen Wissenschaften als das fr\u00fchere, derjenige der allgemeinen Erkenntnisstheorie als das sp\u00e4tere anzusehen. Dem entspricht es, dass die Erkenntnisstheorie ihre wichtigsten Anregungen wie ihre ma\u00dfgebenden Gesichtspunkte aus der Arbeit der einzelnen Wissenschaften gesch\u00f6pft hat, und dass sie","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nW. Wundt. Ueber naiven und kritischen Realismus.\nnur, insoweit sie das that, ihrerseits wieder f\u00f6rdernd und anregend auf diese zur\u00fcckzuwirken vermochte. Wenn die immanente Philosophie dieses Verh\u00e4ltniss umkehren will, so erneuert sie daher das schon so oft der Philosophie verderblich gewordene Bem\u00fchen, aus sich seihst heraus und au\u00dfer F\u00fchlung stehend mit dem wirklichen wissenschaftlichen Denken ein System zu errichten. Dass sich auch solche isolirte Systeme dem Strom der wissenschaftlichen Gedankenbewegung ihrer Zeit nicht ganz entziehen k\u00f6nnen, versteht sich von selbst; ja schon der Versuch einer solchen Systembildung ist wohl ein Zeichen der Zeit oder wenigstens ein Symptom einer der vielen in ihr mit einander k\u00e4mpfenden Tendenzen. Dem heutigen Menschen fehlt neben der Neigung zur objectiven, den geschichtlichen Bedingungen des Werdens nachgehenden Betrachtung auch nicht die gr\u00fcblerische Versenkung in das eigene Ich. Dass die immanente Philosophie diesen Zug energisch und mit einem anerkennenswerten Aufwand von Scharfsinn zur Geltung bringt, dies wird daher, auch wenn sich ihre eigenen Aufstellungen als unhaltbar erweisen, allezeit ein Verdienst der ausgezeichneten Vertreter dieser Denkweise bleiben.","page":408}],"identifier":"lit781","issued":"1896","language":"de","pages":"307-408","startpages":"307","title":"Ueber naiven und kritischen Realismus, Erster Artikel","type":"Journal Article","volume":"12"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:44:20.868817+00:00"}