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{"created":"2022-01-31T12:44:41.184401+00:00","id":"lit788","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 13: 1-105","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\nVon\nW. Wundt.\nZweiter Artikel.\nII. Der Einpiriokriticismus.\n1. Kurze Uebersieht des empiriokritisehen Systems, a. Allgemeine Vorbemerkung.\nIn dem Vorworte zu seiner \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab hat Richard Avenarius sein Unternehmen, \u00e4hnlich wie dereinst Kant das seinige, alsein kritisches bezeichnet, welches einem k\u00fcnftigen System erst den Weg bereiten solle1). Solche Versicherungen der Philosophen m\u00fcssen jedoch, wie bekannt, cum grano salis verstanden werden. Seitdem die metaphysischen Systeme in \u00dcbeln Ruf gekommen sind, sucht man das Wort System \u00fcberhaupt zu vermeiden. Je mehr aber die Systeme einem Misstrauen begegnen, das ja leider nicht selten gerechtfertigt ist, um so h\u00f6herer Sch\u00e4tzung pflegt sich das Wort \u00bbKritik\u00ab zu erfreuen. Es ist ein herrschendes Schlagwort geworden, \u00e4hnlich dem \u00bbRealismus\u00ab 2). Wie es heute kaum noch einen Philosophen gibt, der nicht den \u00bbrealen Bed\u00fcrfnissen der Erfahrung\u00ab gerecht zu werden sucht, so gibt es ganz gewiss gar keinen, der sich nicht dazu bekennt, ein \u00bbkritischer Philosoph\u00ab zu sein. In der That vereinigt das oben genannte Werk, das f\u00fcr diejenige Richtung des heutigen Denkens,\n1)\tKritik der reinen Erfahrung, I, 1888, Vorwort S. XI.\n2)\tVgl. den ersten Artikel, Phil. Stud. XII, S. 308.\nWundt, Philos. Studien XUI. tm.\ti","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nW. Wundt.\ndie sich die \u00bbempiriokritische\u00ab nennt, grandlegend geworden ist, schon in seinem Titel jene beiden Leitmotive der Zeit. Denn der einzige Sinn, der dem Ausdruck \u00bbreine Erfahrung\u00ab in dem Zusammenhang der Gedanken des Begr\u00fcnders dieser Richtung beigelegt werden kann, ist der, dass hier der reale Inhalt der Erfahrung, nicht irgend eine ideelle Umformung desselben, die Basis einer kritischen Er\u00f6rterung bilden soll. Mag darum auch Avenarius selbst \u2014 aus einer begreiflichen Abneigung gegen alles was auf \u00bbismus\u00ab endigt \u2014 den Ausdruck Realismus vermeiden, in der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab, in dem \u00bbnat\u00fcrlichen Weltbegriff\u00ab und in andern \u00e4hnlichen Ausdr\u00fccken hegt die Tendenz aller jener philosophischen Richtungen, die in dem fr\u00fcher1) erw\u00e4hnten Sinne auf den \u00bbnaiven Realismus\u00ab zur\u00fcckgehen wollen, um zu einem gel\u00e4uterten \u00bbkritischen Realismus\u00ab durchzudringen, deutlich ausgepr\u00e4gt. Dass aber nicht minder dieses \u00bbkritische\u00ab Hauptwerk nicht nur die Grundlinien eines philosophischen Systems, sondern auch, namentlich in dem zweiten Bande und in der erg\u00e4nzenden Schrift \u00fcber den \u00bbmenschlichen Weltbegriff\u00ab, manche Einzelausf\u00fchrungen zu einem solchen enth\u00e4lt, wird von denen, die den \u00bbempiriokritischen Standpunkt\u00ab zu dem ihrigen gemacht haben, gewiss nicht bestritten werden. Ich gehe freilich in dieser Beziehung noch weiter: ich bin der Meinung, dass die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab mehr noch System als Kritik, und dass sie, als System betrachtet, in erster Linie ein metaphysisches System ist, in welchem die Kritik eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig bescheidene Rolle spielt.\nEs wird eine Aufgabe der nachfolgenden Er\u00f6rterungen sein, den Nachweis f\u00fcr diesen Satz zu liefern. Einstweilen entnehme ich daraus das Recht, die folgende Uebersicht als die des empiriokritischen Systems zu bezeichnen. Wenn ich das Pr\u00e4dicat \u00bbempiriokritisch\u00ab beibehalte, obgleich ich es selbst weder \u00fcberhaupt noch insbesondere f\u00fcr dieses System w\u00e4hlen w\u00fcrde, so glaube ich damit hinreichend dem Anspruch gerecht zu werden, den jede Philosophie auf die Beachtung des Namens hat, den sie sich selbst beilegt. Dagegen werde ich mich in einer andern Beziehung einer solchen R\u00fccksichtnahme des \u00f6fteren entschlagen. Die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab hat eine F\u00fclle neuer Wortbildungen eingef\u00fchrt, die theils ihr eigen-\n1) Erster Art., a. a. O. S. 313.","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n3\nth\u00fcmliche, theils bereits bekannte Begriffe, unter allen Umst\u00e4nden aber solche bezeichnen, die ohne besondere Schwierigkeit in allgemein gel\u00e4ufigen Ausdr\u00fccken definirt werden k\u00f6nnen. Ich hoffe das Ver-st\u00e4ndniss zu erleichtern, wenn ich diese neue Terminologie nur da anwende, wo es mir zur Charakteristik des Systems und seiner Methode erforderlich scheint.\nWenn die im vorangegangenen Artikel versuchte Zusammenfassung der Anschauungen der \u00bbimmanenten Philosophie\u00ab dadurch etwas erschwert war, dass diese Richtung mehrere selbst\u00e4ndige Vertreter aufzuweisen hat, die keineswegs in allen einzelnen Anschauungen einig sind, so f\u00e4llt \u00fcbrigens diese Schwierigkeit bei dem \u00bbEmpirio-kriticismus\u00ab hinweg. So zweifellos es ist, dass auch er in allgemeiner verbreiteten geistigen Str\u00f6mungen seine Quelle hat, so verdankt er doch seine eigenth\u00fcmliche Gestaltung einzig und allein dem umfassenden Wissen und dem gro\u00dfen dialektischen Talent des Verfassers der \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab. Die sonstigen Anh\u00e4nger desselben haben sich uneingeschr\u00e4nkt zu den Ausf\u00fchrungen dieses Werkes bekannt und nur theils popul\u00e4re Erl\u00e4uterungen des Grundgedankens theils Ausf\u00fchrungen und Anwendungen nach \u00e9inzelnen Richtungen zu geben versucht1).\nb. Definition, allgemeine Voraussetzungen und Standpunkt des Empiriokriticismus.\nWas bedeutet das Wort empiriokritisch? Avenarius selbst hat es urspr\u00fcnglich immer nur in attributiven Verbindungen, wie\n1) Der folgenden Er\u00f6rterung sind darum haupts\u00e4chlich Avenarius\u2019 eigene Schriften zu Grunde gelegt, auf die Arbeiten seiner Sch\u00fcler ist nur gelegentlich, wo es zur Beleuchtung einzelner Seiten der empiriokritischen Weltanschauung oder von Folgerungen aus derselben dienlich schien, R\u00fccksicht genommen. Von Avenarius kommen, neben der \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab, 1. Bd. 1888, 2. Bd. 1890, namentlich der \u00bbmenschliche Weltbegriff\u00ab, 1891, und die \u00bbBemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie\u00ab, in der Vierteljahrsschr. f. wissenschaftliche Philosophie, XVIII, S. 137 {Art. I), 400 (Art. II), XIX, S. 1 {Art. III), 129 (Art. IV), in Betracht, au\u00dferdem f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss der Entwickelung des empiriokritischen Systems die \u00e4ltere Schrift: \u00bbPhilosophie als Denken der Welt nach dem Princip des kleinsten Kraftma\u00dfes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung\u00ab, 1876. Ich werde diese Arbeiten im Folgenden kurz als \u00bbKritik\u00ab, \u00bbWeltbegriff\u00ab, \u00bbBemerkungen\u00ab und \u00bbProlegomena\u00ab citiren.\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nW. Wundt.\n\u00bb empiriokritische Yorraussetzung \u00ab, \u00bb empiriokritischer Standpunkt \u00ab, \u00bb em-piriokritische Axiome\u00ab u. dergl. angewandt. Auch hat er keine bestimmte Eechenschaft dar\u00fcber gegeben, warum er jene Standpunkte, Voraussetzungen und Axiome empiriokritische nennt. Aus seinen Darlegungen im einzelnen sowie aus Andeutungen seiner Sch\u00fcler, die wohl auf eigene Aeu\u00dferungen zur\u00fcckf\u00fchren, l\u00e4sst sich jedoch entnehmen, dass darunter eine von der \u00bbnat\u00fcrlichen\u00ab, noch nicht durch mythologische oder philosophische Umdeutungen gef\u00e4lschten Erfahrung ausgehende Kritik aller m\u00f6glichen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Weltanschauungen verstanden werden solle, worauf dann auf Grund solcher Kritik die \u00bbreine Erfahrung\u00ab in kritisch gel\u00e4uterter Form wiedergewonnen werde, soweit sie f\u00fcr den zeitlich und \u00f6rtlich bestimmten und begrenzten Standpunkt des heutigen Menschen erreichbar sei1).\nDiese Definition d\u00fcrfte zugleich am ehesten der eigenth\u00fcmlichen, bisher noch nicht dagewesenen Verbindung entsprechen, in welche die beiden W\u00f6rter \u00bbempirisch\u00ab und \u00bbkritisch\u00ab in dem \u00bbEmpiriokriticis-mus\u00ab gebracht sind. Die Philosophie kennt bis dahin einen \u00bbEmpirismus\u00ab schlechthin, ebenso einen \u00bbKriticismus\u00ab, und endlich als Verbindung beider einen \u00bbkritischen Empirismus\u00ab. Die Umkehrung des letzteren, ein \u00bbempirischer Kriticismus\u00ab, fehlte noch; und da es in der Philosophie immer ein Verdienst ist, wenn vacante Stellen, die zwischen den bereits existirenden Systemen offen gebliehen sind, besetzt werden, so scheint jedenfalls dieses Verdienst, eine vorhandene L\u00fccke auszuf\u00fcllen, der neuen Philosophie zuzukommen. Hatte der einfache \u00bbEmpirismus\u00ab, wie er in der Philosophie Locke\u2019s und seiner\n1) In diesem Sinne bezeichnet z. B. R. Willy (Vierteljahrsschr. f. wissenschaftliche Philos. XX, S. 57) den Empiriokriticismus als die \u00bbbegrifflich ausge-/ weitete, gefestigte, gekl\u00e4rte und vervollst\u00e4ndigte nat\u00fcrliche Erfahrung\u00ab, wogegen alle \u00bbschulphilosophischen Weltbegrifle\u00ab principielle Variationen dieser nat\u00fcrlichen Erfahrung genannt werden. Dass dabei auch der \u00bbempiriokritische\u00ab Standpunkt ein zeitlich und \u00f6rtlich begrenzter, und in diesem Sinne ein relativer sei, hat Avenarius selbst mehrfach hervorgehoben. Dass trotzdem der \u00bbempiriokritische\u00ab Begriff der Erfahrung thats\u00e4chlich in den Arbeiten dieser Richtung den wissenschaftlichen und philosophischen \u00bbScheinbegriffen\u00ab gegen\u00fcber durchaus wiederum die Position eines absoluten Wissens einnimmt, zeigt \u00fcbrigens in drastischer Unbefangenheit die oben erw\u00e4hnte Abhandlung von R. Willy. Auch ist dies wohl, wie wir sp\u00e4ter sehen werden, eine Consequenz der eigenth\u00fcmlichen speculativen Methode des Systems. (Vgl- unten 3 b.)","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n5\nbesonders unter den Psychologen verbreiteten neueren Nachfolger vorliegt, neben dem ^tats\u00e4chlichen Inhalt der Erfahrung unter dem allzu umfassenden Titel der \u00bbzusammengesetzten Ideen\u00ab eine Menge beliebiger logischer Gedankenproducte, darunter die s\u00e4mmtlichen tra-ditonellen Begriffe der Schulphilosophie, unbeanstandet zugelassen, so suchte der \u00bbkritische Empirismus\u00ab, wie ihn vornehmlich David Hume begr\u00fcndet hat, den wirklichen Inhalt der Erfahrung von solchen ihr nachtr\u00e4glich untergeschobenen Begriffsbildungen kritisch zu reinigen und auf diese Weise die letzteren auf ihre eigentlichen empirischen Elemente zur\u00fcckzuf\u00fchren. Auf die Geltendmachung eines Standpunktes \u00bbreiner Erfahrung\u00ab d\u00fcrfte daher wohl mit gr\u00f6\u00dferem Hecht als eine der sp\u00e4teren Wandlungen empirischer und kritischer Denkweise dieser \u00bbkritische Empirismus\u00ab Anspruch erheben. Wenn dann ihm gegen\u00fcber der \u00bbKriticismus\u00ab schon im Namen das kritische Attribut zur Hauptsache machte und das empirische Gewand scheinbar ganz abstreifte, so geschah das bekanntlich, weil die kritische Philosophie sich nicht damit begn\u00fcgte, die empirischen und nicht-empirischen Bestandteile der gew\u00f6hnlichen Erfahrung von einander zu scheiden, sondern vorzugsweise bem\u00fcht war, a priori g\u00fcltige Formen des Er-kennens nachzuweisen, welche die wirkliche Erfahrung als \u00bbtranscen-dentale Bedingungen\u00ab erst m\u00f6glich machen sollen. Ist so in dem \u00bbKriticismus\u00ab die einseitig den Erfahrungselementen zugewandte Richtung des \u00bbkritischen Empirismus\u00ab aufgehoben, so wird f\u00fcglich der Umkehrung des letzteren, fdem \u00bbempirischen Kriticismus\u00ab, nichts anderes mehr \u00fcbrig bleiben, als dass er nicht, wie seine beiden kritischen Vorg\u00e4nger, mit Kritik der Erfahrung gegen\u00fcber tritt, sondern dass er umgekehrt die Erfahrung der Kritik aller philosophischen oder sonstigen wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Begriffe zu Grunde legt.\nHierdurch sind nun aber unvermeidlich Erfahrung und Kritik in einen eigenth\u00fcmlichen Gegensatz gebracht, wie ihn weder der \u00bbkritische Empirismus\u00ab noch der reine \u00bbKriticismus\u00ab gekannt hatte. Nur dann werden ja in] die zur Grundlage aller Kritik gemachte Erfahrung nicht unversehens unberechtigte Producte der Reflexion Eingang finden und auf die nachherige Kritik einen sch\u00e4dlichen Einfluss gewinnen, wenn jene grundlegende Erfahrung selbst sich jeder","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nW. Wundt.\nEeflexion, darum aber eigentlich auch aller Kritik ent\u00e4u\u00dfert. Rein empfangend, das unmittelbar Erfahrene v\u00f6llig unver\u00e4ndert beschreibend will sich also der \u00bbempirische Kritiker\u00ab der Erfahrung gegen\u00fcber verhalten. Eben darum hei\u00dft diese aller Kritik vorausgehende Erfahrung die \u00bbreine\u00ab oder auch die \u00bbnat\u00fcrliche\u00ab Erfahrung; und das Unternehmen der Kritik selbst ist auf eine Wiederherstellung dieser urspr\u00fcnglichen reinen Erfahrung gerichtet. Die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab w\u00fcrde sich daher vielleicht treffender eine \u00bbKritik der Begriffe vom Standpunkte der reinen (nat\u00fcrlichen) Erfahrung aus\u00ab nennen k\u00f6nnen. Denn die \u00bbreine Erfahrung\u00ab ist nicht sowohl Object als Voraussetzung der Kritik. Die haupts\u00e4chlichsten Objecte derselben sind dagegen die s\u00e4mmtlichen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Begriffe, aus denen sich jene Gedankenbildungen zusammensetzen, die uns als mythologische und philosophische Weltbegriffe entgegentreten.\nAber auch noch ein [anderer Karne w\u00fcrde f\u00fcr die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab zutreffen. Das ist der einer \u00bbTheorie der reinen Erfahrung\u00ab. In Wahrheit verfolgt das Werk diese beiden Ziele: zuerst will es eine Theorie dessen geben, was als \u00bbreine Erfahrung\u00ab definirt wird, der grundlegenden Bedingungen, auf denen die urspr\u00fcngliche und unverf\u00e4lschte Erfahrung beruht; und dann will es zeigen, wie von dieser Grundlage aus die mannigfachen Begriffsbildungen zu deuten sind, die das theoretische und praktische Interesse des Menschen auf den verschiedenen Stufen seiner Entwickelung hervorgebracht hat.\n0 Was die Erkenntniss dieser Aufgabe des Hauptwerkes der empiriokritischen Richtung einigerma\u00dfen verdunkelt, ist der ungew\u00f6hnliche, von dem \u00fcblichen philosophischen Gebrauch ziemlich weit abliegende Sinn, der hier mit dem Begriff \u00bbrein\u00ab in dem Ausdruck \u00bbreine Erfahrung\u00ab verbunden wird. 0 Unter dieser pflegt man sonst diejenige Erfahrung zu verstehen, die alle nicht-empirischen Bestandtheile, also insbesondere alle Reflexionsmomente und Denkbestimmungen, ausschlie\u00dft, und die daher erst) durch eine kritische Untersuchung und Berichtigung der gew\u00f6hnlichen, urspr\u00fcnglichen Erfahrung gewonnen werden kann. 0 So ist es aber hier mit dem Begriff der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab nicht gemeint. Indem derselbe vielmehr, wie ' oben bemerkt, mit dem der \u00bbgew\u00f6hnlichen\u00ab oder \u00bburspr\u00fcnglichen\u00ab","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Geber naiven und kritischen Realismus.\n7\nErfahrung identisch gesetzt wird, besteht er in dem \u00bbsich selbst \u00fcberlassenen nat\u00fcrlichen und unbefangenen Erkennen, aus welchem sich das wissenschaftliche entwickelte\u00ab *). In der That bezieht sich daher der Ausdruck \u00bbrein\u00ab innerhalb des empiriokritischen Gedankenkreises nicht sowohl auf die Erfahrung selbst als auf jenen Standpunkt v\u00f6llig interesseloser, rein objectiver Betrachtung, der, wie wir unten sehen werden, f\u00fcr die Feststellung des eigentlichen Inhaltes der Erfahrung gefordert wird1 2).\nDiese Eigenth\u00fcmlichkeit kann es jedoch nicht rechtfertigen, dem empiriokritischen System den Namen einer \u00bbTheorie\u00ab zu versagen. Wenn das Bem\u00fchen der herk\u00f6mmlichen Erkenntnisstheorien darauf gerichtet zu sein pflegt, den Inhalt der gew\u00f6hnlichen Erfahrung auf Grund gewisser logischer und psychologischer Voraussetzungen begreiflich zu machen, so ist der Versuch, den Spie\u00df auch einmal umzukehren, die gew\u00f6hnliche Erfahrung als das urspr\u00fcnglich Gegebene, die Erkenntnisstheorien und die sonstigen wissenschaftlichen Probleml\u00f6sungen als das zu Erkl\u00e4rende anzusehen, sicherlich ein origineller: den Charakter einer Theorie tr\u00e4gt er aber ebenso gut wie jene andern Erkenntnisstheorien an sich, die den entgegengesetzten Weg einschlagen.\nIn dem Vorwort zu seinem Hauptwerk bezeichnet nun Avena-rius selbst sein ganzes Unternehmen als entsprungen aus einer Aufgabe und aus zwei als evident vorausgesetzten Axiomen. Die Aufgabe bestehe darin, \u00bballes theoretische Verhalten \u00fcberhaupt \u2014 an sich und in seiner Beziehung zum praktischen, sowie im allgemeinen auch dieses selbst \u2014 als Folgen einer einzigen einfachen Voraussetzung aufzufassen\u00ab. Von den zwei Axiomen aber sta-tuirt das erste, das Axiom der Erkenntnissinhalte, dass jedes menschliche Individuum \u00bbsich gegen\u00fcber eine Umgebung mit mannigfaltigen Bestandtheilen, andere menschliche Individuen mit mannigfachen Aussagen und das Ausgesagte in irgend welcher Abh\u00e4ngigkeit von der Umgebung\u00ab wahrnimmt. Nach dem zweiten, dem Axiom der Erkenntnissformen, sind \u00bballe speciellen wissenschaftlichen Erkenntniss-Formen oder -Mittel Ausbildungen vorwissenschaf t-\n1)\tKritik, I, Vorwort, S. IX.\n2)\tKritik, I, S. 10.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nW. Wundt.\nlicher\u00ab1). Von diesen beiden Axiomen ist offenbar das erste ma\u00dfgebend f\u00fcr die Grundlegung des Systems, also f\u00fcr das was oben die empiriokritische Theorie genannt wurde, das zweite f\u00fcr die Anwendungen der Theorie oder die vom Standpunkte derselben unternommene Kritik der Begriffe.\nDemnach ist nun aber auch der Inhalt des ersten der beiden Axiome als diejenige \u00bbempiriokritische Voraussetzung\u00ab zu betrachten, die in der zuvor formulirten Aufgabe als die \u00bbeinzige\u00ab bezeichnet ist, aus der \u00bballes theoretische und praktische Verhalten\u00ab abgeleitet werden soll. Diese Voraussetzung wird daher auch der urspr\u00fcngliche \u00bbempiriokritische Befund\u00ab oder, wegen der in ihr ausgedr\u00fcckten Beziehung des Individuums zu seiner Umgebung, die \u00bbempiriokritische Principalcoordination\u00ab genannt2), und es wird hervorgehoben, dass sich mit dem in dieser Voraussetzung enthaltenen thats\u00e4chlichen Befund sofort eine Hypothese verbinde, die aber wegen ihrer hohen Wahrscheinlichkeit zum Behuf der weiteren Entwickelungen der Theorie unbeanstandet zugelassen werden k\u00f6nne: die Hypothese n\u00e4mlich, dass den Bewegungen der als Umgebungsbestand-theile des Individuums Vorgefundenen Mitmenschen dieselbe Bedeutung zukomme wie den eigene.\u00bb Bewegungen, dass also ins-besondere auch die Aussage\u00bb der Mitmenschen auf einen Inhalt hinweisen, der dem von dem Individuum selbst auf solche Aussagen bezogenen Inhalte analog sei3).\nF\u00fcr den Weg, den die Analyse der Erfahrung und der aus ihr durch mannigfache Variation hervorgegangenen Begriffsbildungen einschl\u00e4gt, ist jedoch au\u00dfer dieser urspr\u00fcnglichen Voraussetzung\u00ae noch der Standpunkt ma\u00dfgebend, von dem aus die Analyse gef\u00fchrt wird. Dieser Standpunkt kann an sich ein verschiedener sein. Der Empiriokriticismus w\u00e4hlt den der v\u00f6llig objectiven Betrachtung, die affect- und interesselos die Thatsachen entgegennimmt und in ihren wechselseitigen Beziehungen zu beschreiben sucht. Diesen Zweck glaubt er dadurch zu erreichen, dass er der Wahrnehmung der eigenen subjectiven Erlebnisse die Aussagen der Mitmenschen \u00fcber das von\n1)\tKritik, I, Vorwort S. V, VII.\n2)\tBemerkungen, Art. I, S. 144, 146.\n3)\tWeltbegriff, S. 7. Bemerkungen, S. 146 f.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n9\nihnen Erlebte, ihre Gef\u00fchls-, Erkenntniss- und sonstigen Werth-urtheile substituirt1).\nc. Die empiriokritische Theorie.\nAuf der Grundlage der gedachten Voraussetzung und bestimmt durch den zuletzt erw\u00e4hnten Standpunkt erhebt sich nun das was wir die \u00bbempiriokritische Theorie\u00ab nennen k\u00f6nnen. Ich werde mich hier auf eine Uebersicht der Grundgedanken dieser Theorie beschr\u00e4nken, auf einige charakteristische Einzelausf\u00fchrungen aber weiter unten, bei der kritischen Er\u00f6rterung ihrer Hauptmomente noch zur\u00fcckkommen.\nIndem, der allgemeinen \u00bbempiriokritischen Voraussetzung\u00ab gem\u00e4\u00df, das Individuum und eine aus mannigfachen Bestandteilen, darunter auch Mitmenschen, bestehende Umgebung als das urspr\u00fcnglich Gegebene angesehen wird, k\u00f6nnte es zun\u00e4chst scheinen, als w\u00e4re es, um dieses Gegebene in seinem ganzen Umfange zu umfassen, das angemessenste, den \u00bbUmgebungsbestandtheilen\u00ab das n\u00e4chste der \u00bbals Ich bezeichneten\u00ab Individuen, n\u00e4mlich das \u00bbeigene Ich\u00ab, gegen\u00fcberzustellen. Die Kritik der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab schl\u00e4gt aber nicht diesen Weg ein, sondern, gest\u00fctzt auf die, wie oben bemerkt, \u00bbsehr wahrscheinliche\u00ab Hypothese, dass die \u00bbAussagen\u00ab der Mitmenschen eine den eigenen Aussagen analoge Bedeutung haben, substituirt sie dem \u00bbals Ich bezeichneten\u00ab Individuum einen beliebigen Mitmenschen. Dies vorausgesetzt zerf\u00e4llt dann die Summe aller Erfahrungen in Umgebungsbestandtheile, in Aussagen \u00fcber solche Umgebungsbestand-theile|, und in weitere Aussagen, die ein \u00bbaffectionales\u00ab Verhalten (Lust, Unlust, Zustimmung, Wissen, Glauben u. dergl.) jenen gegen\u00fcber ausdr\u00fccken2). o Ueber den Grund dieser Substitution des \u00bbMitmenschen\u00ab wird keine Bechenschaft gegeben.!. Innerhalb des empiriokritischen Gedankenkreises d\u00fcrften aber wohl zwei Motive hierf\u00fcr aufzufinden sein. Erstens: da] der Mitmensch und seine Aussagen ebenfalls zu den Umgebungsbestandtheilen des Individuums geh\u00f6ren, so wird dadurch die Betrachtungsweise vereinfacht; die Erfahrung umfasst nunmehr nur noch Umgebungsbestandtheile verschiedener\n1)\tKritik, s. 10 ff.\n2)\tKritik, I, S. 13. Weltbegriff, S. 9.","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nW. Wundt.\nArt, solche, denen wir eine blo\u00df mechanische Bedeutung, und solche, denen wir au\u00dferdem noch, \u00bbtheoriefrei\u00ab ausgedr\u00fcckt, eine \u00bbamechanische Bedeutung\u00ab beilegen1). Zweitens: dem \u00bbMitmenschen\u00ab gegen\u00fcber wird sich wohl das beobachtende Individuum leichter als gegen\u00fcber dem von ihm seihst \u00bbals Ich bezeichneten\u00ab in jene Stimmung rein objectiver, von Leidenschaften und Interessen unbeeinflusster Betrachtung hineinfinden, den der gew\u00e4hlte Standpunkt fordert.\n\u00b0 Die in den \u00bbAussagen\u00ab eines Mitmenschen gegebenen und der \u00bbBeschreibung\u00ab zug\u00e4nglichen Werthe \u2014 sie werden allgemein als A-Werthe bezeichnet \u2014 sind nun von doppelter Art. Sie beziehen sich: 1) auf \u00bbUmgehungshestandtheile\u00ab, wie z. B. gr\u00fcn, blau, kalt u. dergl., \u2014 diese E-Werthe werden \u00bbElemente\u00ab genannt, und 2) auf ein \u00bbaffectionales\u00ab Verhalten, wie angenehm, unangenehm, wahr, unwahr, bekannt, unbekannt u. s. w., \u2014 sie werden \u00bbCharaktere\u00ab genannt.\nBezeichnet man dann weiterhin die Umgehungshestandtheile seihst, die den A-Werthen der ersten Art dieser Aussagen entsprechen, als R, so ist im allgemeinen jeder beliebige Ei-Werth als abh\u00e4ngig von einem bestimmten R-Werthe zu betrachten, und einer Reihe von A-Werthen, R, R', R\" . .. R(n) wird eine Reihe von A-Werthen E, E't E\" ... E (n), als abh\u00e4ngige Variable zuzuordnen sein. Doch ist damit nicht gesagt, dass diese Zuordnung eine eindeutige sei. Vielmehr werden m\u00f6glicher Weise zu verschiedenen Zeiten und hei verschiedenen Individuen dem n\u00e4mlichen R-Werth verschiedene A-Werthe entsprechen k\u00f6nnen, so dass die Anzahl der von einem bestimmten R abh\u00e4ngigen A-Werthe \u00bbder Denkharkeit nach eine unbestimmt gro\u00dfe ist und in der Wirklichkeit stets eine Auswahl unter denselben vorgenommen werden muss, um die Abh\u00e4ngigkeit in einem bestimmten Fall auszudr\u00fccken\u00ab2). In dieser Allgemeinheit erstreckt sich aber die Functionsheziehung zwischen A und R nicht blo\u00df auf diejenigen Aussagewerthe, die oben als \u00bbElemente\u00ab bezeichnet wurden, sondern auch auf die \u00bbCharaktere\u00ab, da ja durch diese nur \u00bbElemente\u00ab charakterisirt werden, so dass sie von den letzteren in \u00e4hnlicher\n1)\tBemerkungen, Art. I, S. 147.\n2)\tKritik, I, S. 14 ff.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n11\n\nWeise abh\u00e4ngen wie das \u00bbErinnerungsbild\u00ab von der Wahrnehmung oder der \u00bbGedanke\u00ab von der \u00bbgedachten Sache\u00ab1 2 3).\nDie so statuirte Functionsbeziehung zwischen E und 11 schlie\u00dft nun die Voraussetzung ein, dass beide als \u00bbVer\u00e4nderliche\u00ab gedacht werden, und zwar bildet jede Functionsbeziehung ein \u00bbSystem\u00ab zweier Ver\u00e4nderlicher Vt und V2, von denen die eine, Vt, als die \u00bbbedingende\u00ab, die andere, F2, als die \u00bbabh\u00e4ngige\u00ab angesehen wird. Die zwischen zwei gegebenen Zeitpunkten erfolgende Aenderung eines solchen Systems kann aber stets als eine quantitative, sei es positive oder negative, betrachtet werden, durch welche die Ver\u00e4nderliche V in einen Endzustand V + JV \u00fcbergeht. F\u00fcr eine gegebene Aenderung einer Ver\u00e4nderlichen ist ferner stets eine Summe von Aen-derungsbedingungen anzunehmen, wobei f\u00fcr die stattfindende Aenderung der Satz gilt, dass die Gr\u00f6\u00dfe derselben gleich ist der Gesammtheit ihrer Bedingungen^). Gleichwohl sind f\u00fcr den wirklichen Eintritt der Aenderung nicht alle Bedingungen gleichwerthig, sondern jener erfolgt erst, wenn eine bestimmte Bedingung, die \u00bbCom-plement\u00e4rbedingung\u00ab, zu den \u00fcbrigen hinzutritt1*).\nWendet man diese allgemeinen Gesichtspunkte auf das Verh\u00e4ltniss von E und R,l d. h. der Aussageinhalte eines Menschen zu seinen Um-gebungsbestandtheilen an, so ist zwar stets E von R abh\u00e4ngig; aber nahe liegende Erfahrungen, wie z. B. die Folgen der Durchschneidung der Empfindungsnerven, der Zerst\u00f6rung der peripherischen Sinnesorgane, zeigen, dass E nicht unmittelbar, sondern mittelbar von R abh\u00e4ngt, und die physiologischen Versuche an den nerv\u00f6sen Centralorganen lehren sogar, dass auch zwischen vielen Theilen dieser und den E-Werthen kein Verh\u00e4ltniss unmittelbarer Abh\u00e4ngigkeit besteht. Es muss daher schlie\u00dflich ein \u00bbnerv\u00f6ses Theil-system\u00ab angenommen werden, \u00bbwelches die von der Peripherie ausgehenden Aenderungen in sich sammelt und die an die Peripherie abzugebenden Aenderungen vertheilt\u00ab, derart dass zwischen seinen Aenderungen und den s\u00e4mmtlichen A-W*erthen des zugeh\u00f6rigen Individuums ein Verh\u00e4ltniss unmittelbarer Abh\u00e4ngigkeit stattfindet. Dieses\n1)\tBemerkungen, Art. I, S. 148 f.\n2)\tKritik, I, S. 52.\n3)\tKritik, I. S. 25 ff.","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nW. Wundt.\nTheilsystem wird als das \u00bbSystem C\u00ab bezeichnet. Seine Lage, Structur, Faserverbindungen n. dgl. festzustellen bleibt der anatomisch-physiologischen Untersuchung \u00fcberlassen. Als Grundlage der empiriokriti-schen Theorie gen\u00fcgt die allgemeine Voraussetzung der Existenz eines solchen Systems.\nDies zugestanden, ergibt sich nun als empiriokritische Aufgabe die Feststellung des Abh\u00e4ngigkeits Verh\u00e4ltnisses aller m\u00f6glichen A-Werthe von den Aenderungen und Aenderungsbedingungen des Systems C, d. h. in gew\u00f6hnlicher Sprache ausgedr\u00fcckt: alle Erfahrungen oder aus Erfahrungen entstandenen sogenannten Erkenntnissinhalte oder praktischen Verhaltungsweisen, welche irgendwie Inhalte menschlicher Aussage sein k\u00f6nnen, sind unmittelbar abzuleiten aus den Zust\u00e4nden und Zustands\u00e4nderungen des auf Grund physiologischer Beobachtungen anzunehmenden centralsten Theiles des nerv\u00f6sen Centralorgans1).\nWendet man auf die so formulirte Aufgabe die oben im allgemeinen festgestellten Beziehungen zwischen bedingenden und abh\u00e4ngigen Ver\u00e4nderlichen, V, und F2, \u00fcberhaupt an, so l\u00e4sst sich demnach jeder Werth A als eine abh\u00e4ngige Ver\u00e4nderliche betrachten, die durch den Uebergang von C in einen Endzustand C + J C unmittelbar, durch irgend welche Umgebungsbestandtheile R aber mittelbar bedingt ist, wobei au\u00dferdem, um eine im allgemeinen als m\u00f6glich angenommene Aenderung JC zu einer wirklichen zu machen, zu dem System R ein specielles Rx als Complement\u00e4rhedingung hinzutreten muss, wodurch dann das im allgemeinen ebenfalls nur als m\u00f6glich gedachte E einen bestimmten Werth Ex annimmt. Da nun aber, nach einer fr\u00fcher (S. 10) hervorgehohenen allgemeinen empiriokriti-schen Voraussetzung, einem bestimmten R im allgemeinen sehr verschiedene A-Wcrthe entsprechen k\u00f6nnen, von denen doch nur ein fest bestimmter einem bestimmten Zustande C + J C zuzuordnen ist, so ist weiterhin vorauszusetzen, dass die Kategorien des blo\u00df \u00bbDenkbaren\u00ab, des \u00bbM\u00f6glichen\u00ab und des \u00bbWirklichen\u00ab auch auf die Com-plement\u00e4rbedingung Rx Anwendung finden, w\u00e4hrend andererseits C selbst in sich Bedingungen enth\u00e4lt, in Folge deren es sich im Laufe der Zeit unter dem Einfl\u00fcsse seiner unmittelbaren Umgebungsbestandtheile \u00e4ndern kann. Insbesondere werden solche Aenderungen, als\n1) Kritik, I, S. 33 ff.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven nnd kritischen Realismus.\n13\n>pr\u00e4paratorische Aenderungen\u00ab, es bewirken k\u00f6nnen, dass eine urspr\u00fcnglich blo\u00df m\u00f6gliche Complement\u00e4rbedingung Rx zur wirklichen werde. Solche pr\u00e4paratorische Aenderungen sind theils pathologische (Anomalien des Systems C), theils physiologische, wobei die letzteren theils wieder von Uebungseinfl\u00fcssen, theils von typischen Entwicklungen abh\u00e4ngen. Indem nun die empiriokritische Theorie ebensowohl von den pathologischen Aenderungen wie von den typischen Entwicklungen des Systems C abstrahirt, also im allgemeinen einen normalen und relativ station\u00e4ren Zustand desselben annimmt, sind es wesentlich die Uebungseinfl\u00fcsse, die als Aenderungshedingungen in Betracht gezogen werden1).\nHiernach l\u00e4sst sich das Yerh\u00e4ltniss der Umgehung R zu dem System C auch als ein System wechselseitiger Beziehungen der Abh\u00e4ngigkeit auffassen, indem R die Bedeutung einer Complement\u00e4rbedingung f\u00fcr C, und G die Bedeutung systematischer Vorbedingungen (8) f\u00fcr R besitzt, wobei unter der Wirkung dieser Bedingungen das Individuum und folgeweise auch das System C sich den \u00e4ndernden Bedingungen gegen\u00fcber zu behaupten strebt. Betrachtet man nun die volle Erhaltung oder das \u00bbvitale Erhaltungsmaximum\u00ab des Systems C, den diese Erhaltung bedrohenden Einfl\u00fcssen der Umgehung gegen\u00fcber, als einen \u00bbidealen\u00ab Zustand desselben, so wird als eine, freilich nur als Fiction m\u00f6gliche, \u00bbideale Umgebung\u00ab eine solche zu betrachten sein, die keine der vitalen Erhaltung ung\u00fcnstigen Momente enth\u00e4lt; alle realen Umgehungen sind aber nach ihrer Entfernung von diesem (am n\u00e4chsten vielleicht im \u00bbSanctuarium des Mutterscho\u00dfes\u00ab verwirklichten) Ideal zu beurtheilen. Die Aenderungen des Systems C seihst werden daher als Verminderungen oder Behauptungen des vitalen Erhaltungswerthes des Systems C betrachtet werden k\u00f6nnen, so zwar dass, wenn man die Verminderungen als positive Gr\u00f6\u00dfen annimmt, die Behauptungen als negative Gr\u00f6\u00dfen derselben Art in Rechnung zu bringen sind.\nAls fundamentale Erhaltungshedingungen des Systems C k\u00f6nnen nun angenommen werden: 1) die Uebung, die, insofern sie\n1) Kritik, I, S. 43ff. Die hier sich anschlie\u00dfende systematische Uebersicht der Arten der Uebung (ebend. S. 50ff.) kann, als f\u00fcr unsem Zweck unwesentlich, \u00fcbergangen werden.","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nW. Wundt.\nvon der Umgebung R ausgeht, in ihren Folgen f\u00fcr C als Function von R oder f[R) bezeichnet wird; 2) systematische, in C selbst enthaltene Vorbedingungen, die unter dem Symbol f(S) zusammengefasst, und unter denen im allgemeinen Stoffwechselvorg\u00e4nge innerhalb des centralen Nervensystems verstanden werden. Nun bedingt jeder Uebungsvorgang einen Stoffverbrauch: die beiden Aenderungen f(R) und f(S) m\u00fcssen also als entgegengesetzte gedacht werden, und zwar bann sowohl die Uebung f(R) als Erhaltungs- und der Stoffwechsel f(S) als Vernichtungsbedingung wie auch umgekehrt f[R) als Ver-nichtungs- und f S) als Erhaltungsbedingung in Betracht kommen, da die centralen Elemente einerseits, wo die Uebungseinfl\u00fcsse fehlen, degeneriren, anderseits aber, wo der mit der Uebung verbundenen Arbeit kein zureichender Stoffwechselersatz gegen\u00fcbersteht, ersch\u00f6pft werden. Der gr\u00f6\u00dfte vitale Erhaltungswerth wird daher dann vorhanden sein, wenn beide Einfl\u00fcsse einander genau compensiren, was, mit R\u00fcck-sicht auf das oben \u00fcber die Vorzeichen der die Verminderung und die Behauptung des vitalen Erhaltungswerthes ausdr\u00fcckenden Gr\u00f6\u00dfen Bemerkte, durch die Gleichung f [R) = \u2014 f[S) oder auch, da f (R) und f(S) entgegengesetzte Gr\u00f6\u00dfen sind, durch die andere f(R) + f \\\u00df) = 0 ausgedr\u00fcckt werden kann. Da das System C aus einer gro\u00dfen Menge von Partialsystemen, in letzter Instanz aus den einzelnen centralen Zellen besteht, f\u00fcr deren jede eine solche Gleichgewichtsbedingung gilt, so kann diese endlich f\u00fcr das ganze System C ausgedr\u00fcckt werden durch die Summationsgleichung 2f(R) + 2f(S) \u2014 0. Bezeichnet man die rechte Seite dieser Gleichung als die \u00bbVitaldifferenz\u00ab, so entspricht demnach die Vitaldifferenz Null dem vitalen Erhaltungsmaximum, jede Abweichung von Null aber bezeichnet eine Systemschwankung, und zwar eine positive, wenn das System in Folge der relativen Zunahme eines der beiden Factoren, eine negative, wenn es in Folge der relativen Abnahme eines solchen vom Ruhezust\u00e4nde abweicht1).\nDiese \u00bbSystemschwankungen\u00ab gewinnen nun eine besondere Bedeutung f\u00fcr den Ablauf der Aenderungen des \u00bbSystems C\u00ab und damit f\u00fcr die gesammten Lebensschicksale des Individuums durch den Einfluss der Uebung auf dieselben. Indem sich in Folge der Uebung\n1) Kritik, I. S. 64 ff., 72.","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naben und kritischen Realismus.\n15\nbestimmte Schwankungen fixiren, entstehen \u00bbeinge\u00fcbte Schwankungen \u00ab, die dann ihrerseits wieder die Grundlagen weiterer Aenderungen oder \u00bb Schwankungsvariationen \u00ab werden. Denn was wir im concreten Fall einen UebungsVorgang nennen, das ist zun\u00e4chst nichts anderes als die Variation einer bereits einge\u00fcbten Schwankung, welche Variation dann ihrerseits sich ein\u00fcbt. Hierbei kann wieder die Entfernung von der bereits einge\u00fcbten Form einen positiven oder negativen Werth haben (\u00bbpositive oder negative Transexercition\u00ab), und zugleich vollziehen sich solche Uebungsvariationen stets in bestimmten Zusammenh\u00e4ngen, indem eine bestimmte Variation andere Variationen nach sich zieht (\u00bbSchwankungsarticulation\u00ab), die bald der Bich tun g jener gleich, bald ihr entgegengesetzt sind (\u00bbSchwankungsopposition\u00ab). Indem aber auf solche Weise durch Uebung entstandene Schwankungen durch weitere Uebungseinfl\u00fcsse variirt werden, worauf sich an diese n\u00e4chsten Variationen abermals Variationen anschlie\u00dfen k\u00f6nnen u. s. f., lassen sich Schwankungen 1., 2., 3.. . Ordnung und, wenn man den durch die Vitaldifferenz Hull angezeigten Ausgangspunkt hinzunimmt, auch \u00bbSchwankungen Oter Ordnung\u00ab unterscheiden1).\nAuf die Begriffe der \u00bbSchwankung\u00ab und der \u00bbBehauptung\u00ab des Systems C gegen\u00fcber den eintretenden Schwankungsbedingungen durch gr\u00f6\u00dfere oder geringere Ann\u00e4herung der \u00bb Vitaldifferenz\u00ab an den Werth Null gr\u00fcnden sich nun alle weiteren Entwicklungen der Theorie. Die Behauptung des \u00bbvitalen Erhaltungswerthes\u00ab schlie\u00dft die Annahme einer gleichzeitigen positiven und negativen Schwankung des Systems C ein, die sich beide entsprechen, d. h. einer durch Uebungseinfl\u00fcsse der Umgebung und damit verbundene Arbeit gesetzten Verminderung des Erhaltungswerthes und einer durch selbst\u00e4ndige Aenderungen (Stoffwechseleinfl\u00fcsse) gesetzten gleichgro\u00dfen Vermehrung desselben. Der unter diesen beiden Bedingungen, also unter ausschlie\u00dflicher Ber\u00fccksichtigung der in der allgemeinen Erhaltungsgleichung f(B) + f(S) = 0 enthaltenen Gr\u00f6\u00dfen Ti und 8, unter Abstraction' von den weiterhin mit B mittelbar und mit den Aenderungen von C unmittelbar zusammenh\u00e4ngenden E-Wertlicn, betrachtete Verlauf der Schwankungen des Systems C wird eine \u00bb unabh\u00e4ngige Vitalreihe\u00ab genannt2). Der Verlauf dieser wird in\n1) Kritik, I, S. 75 ff. 2) Kritik, I, S. 85 ff.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nW. Wundt.\ndrei Abschnitte, einen Initial-, Medial- und Finalabschnitt, unterschieden, von denen der erste durch das Entstehen einer positiv zunehmenden Schwankung, der zweite durch die allm\u00e4hlichen Aende-rungen, der dritte aber durch die endlich eintretende vollst\u00e4ndige Aufhebung derselben begrifflich bestimmt wird. Es werden sodann f\u00fcr jeden dieser drei Abschnitte die formalen Verh\u00e4ltnisse der Schwankungen unter den haupts\u00e4chlichsten Lebensbedingungen untersucht. Dabei wird ausgegangen von dem Zustand im Mutterleibe, wo\u00a3> wegen der constanten Umgebung' f{R) jedenfalls ann\u00e4hernd constant, f{8) aber mannigfachen Aenderungen unterworfen ist. Hierauf wird zu dem Fall einer positiven und zugleich positiv zunehmenden Em\u00e4h-rungsschwankung \u00fcbergegangen, welche, im Schlafe wahrscheinlich allein gegeben, w\u00e4hrend des Wachseins durch eine mit ihr zusammentreffende gleichm\u00e4\u00dfige Arbeitsvermehrung aufgehoben werde. Daran schlie\u00dft sich als ein besonders auszuzeichnender Fall derjenige, wo die Em\u00e4hrungsvermehruug des Systems C, die auch das \u00bbpartialsystematische Moment\u00ab genannt wird, und die Arbeitsvermehrung oder das \u00bbComoment\u00ab desselben beide gleichm\u00e4\u00dfig sind, ein Fall, von dem aus die weiteren F\u00e4lle relativ zu- und abnehmender Arbeits\u00e4nderung (positiver und negativer \u00bb Coinom entirung \u00ab ) zu beurtheilen sind1). In der St\u00f6rung des in jenem ausgezeichneten Fall vorhandenen Gleichgewichtszustandes ist n\u00e4mlich der Anlass zur Entstehung von Vitaldifferenzen verschiedener Ordnung gegeben, indem zu einer gegebenen ersten Differenz eine zweite hinzutreten kann, u. s. w. Hierbei wird vorausgesetzt, dass die Momente und Oomomente, auch da wo sie etwa zun\u00e4chst als qualitative Abweichungen erscheinen sollten, s\u00e4mmtlich auf einen quantitativen Ausdruck gebracht werden k\u00f6nnen, da die Aenderungsform eines Systems C durch Uebungsein-fl\u00fcsse der Umgebung bestimmt werde, die nur eine Zu- oder Abnahme der schon vorhandenen Function veranlassen k\u00f6nnen2).\nDie weiteren Betrachtungen \u00fcber m\u00f6gliche Vitalreihen verschiedener Ordnung, sowie \u00fcber die drei oben erw\u00e4hnten Abschnitte der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab k\u00f6nnen hier \u00fcbergangen werden: sie sind Folgerungen aus den entwickelten Voraussetzungen f\u00fcr die haupt-\n1} Kritik, I, S. 93 f.\n2) Kritik, I, S. 89 ff.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n17\ns\u00e4chlichsten denkbaren F\u00e4lle. Bemerkenswerth ist aber noch die Aufstellung des Begriffs von \u00bbSystemen C h\u00f6herer Ordnung\u00ab, welche durch die \u00bbCongregation\u00ab mehrerer Individuen zu Stande kommen und sich zu dem individuellen System C \u00e4hnlich verhalten sollen wie dieses zu den untergeordneten Partialsystemen des individuellen Nervensystems. F\u00fcr die Erhaltung und die Variationen der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab solcher \u00bbCongregalsysteme\u00ab, die symbolisch als 2C zu bezeichnen sind, werden dann analoge S\u00e4tze entwickelt wie f\u00fcr das einzelne System C, wobei nat\u00fcrlich, \u00e4hnlich wie hei diesem die bekannten physiologischen Eigenschaften des centralen Nervensystems, so bei jenen gel\u00e4ufige sociologische Erfahrungen die Fundamente der Theorie abgeben, w\u00e4hrend zugleich, der hervorgehobenen Analogie gem\u00e4\u00df, die n\u00e4mlichen Begriffe der Vitaldifferenz, Schwankung, Initial-, Medial- und Final\u00e4nderung, wie sie zur Darstellung der Erhaltung des Systems C dienten, auch hier benutzt werden1).\nIndem die \u00bbunabh\u00e4ngige Vitalreihe\u00ab das \u00bbeigentliche Leben des Systems U\u00ab in einem angemessenen System von Begriffen nach seinen verschiedenen formalen Bedingungen festzustellen sucht, bleiben nun bei ihrer Betrachtung zun\u00e4chst diejenigen Thatsachen noch unber\u00fccksichtigt, die f\u00fcr die vom Standpunkt der \u00bbreinen\u00ab Erfahrung aus unternommene Kritik von \u00fcberwiegendem Werthe sind, n\u00e4mlich die \u00bbE-Werthe\u00ab, die Aussagen des im Eingang der Untersuchung vorausgesetzten \u00bbMitmenschen\u00ab \u00fcber Wahrgenommenes, Gedachtes und Gef\u00fchltes. Diese Aussagen sind es, \u00bbwelche den unabh\u00e4ngigen Vitalreihen als Abh\u00e4ngige zugeh\u00f6ren und somit die abh\u00e4ngigen Vitalreihen zusammensetzen\u00ab2). Hiernach umfasst die Theorie der abh\u00e4ngigen Vitalreihen eigentlich Alles was gew\u00f6hnliche und wissenschaftliche Erfahrung, Meinen und Wissen, Glaube und Aberglaube \u00fcber die Welt, den Menschen und die Dinge \u00fcberhaupt jemals zu Tage gef\u00f6rdert haben. Die Aufgabe der Theorie ist es, die Gesetze dieser \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihen\u00ab auf die der \u00bbunabh\u00e4ngigen\u00ab zur\u00fcckzuf\u00fchren, d. h. in gew\u00f6hnlicher Sprache ausgedr\u00fcckt: den gesammten Inhalt des wissenschaftlichen wie des vorwissenschaftlichen Denkens, des theoretischen wie des praktischen Verhaltens aus den Zust\u00e4nden und Zustands\u00e4nderungen des centralen Nervensystems abzuleiten, wobei\n1) Kritik, I, S. 153 ff. 2) Kritik, II, S. 5.\nWundt, PMlos. Studien XIH.\n2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nW. Wundt.\nf\u00fcr diese Zust\u00e4nde und Zustands\u00e4nderungen einerseits die yon der Umgebung ausgehenden Uebungseinfl\u00fcsse, anderseits die in der Constitution des Organismus begr\u00fcndeten, schlie\u00dflich aber ebenfalls auf \u00bbUmgebungsbestandtheile\u00ab zur\u00fcckf\u00fchrenden Stoffwechseleinfl\u00fcsse als die Hauptbedingungen zu betrachten sind. Die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab verbindet bei dieser Untersuchung mit der Darstellung der als Bedingungen vorausgesetzten Zustands\u00e4nderungen des Systems C stets zugleich die Er\u00f6rterung der davon als abh\u00e4ngig angenommenen \u00bbGrundwerthe\u00ab, also der Meinungen, Ueberzeugungen, wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen \u00bbErfahrungen\u00ab, \u00bbTheorien\u00ab und \u00bbSysteme\u00ab, die uns in Gegenwart und Geschichte als menschliche Aussagen (A-Werthe) begegnen. Ich werde mir im Folgenden der Ueber-sichtlichkeit wegen die Abweichung erlauben, dass ich zun\u00e4chst nur die allgemeinen begrifflichen Feststellungen, wie sie unmittelbar an die vorausgesetzten Zustands\u00e4nderungen des Systems C gekn\u00fcpft werden, hervorhebe, um dann unten einige speciellere Belege aus den verschiedenen Gebieten \u00bbmitmenschlicher\u00ab Aussagen als Anwendungen der Theorie mitzutheilen.\nAls eine selbstverst\u00e4ndliche Voraussetzung der Untersuchung der \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihen\u00ab wird nun die an die Spitze gestellt, dass, wenn sich das \u00bbSystem C* im \u00bbvitalen Erhaltungsmaximum\u00ab befindet, niemals Arbeitsausl\u00f6sungen, also auch keine \u00bbAussagen\u00ab, A-Werthe, erfolgen k\u00f6nnen. Daraus folgt, dass die Glieder einer \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab nur bei gleichzeitiger Verminderung des vitalen Erhaltungswerthes als Functionen der unabh\u00e4ngigen Vitalreihe des Systems C gedacht werden k\u00f6nnen, d. h. nur dann, wenn in der Gleichung f[R) + f[S) \u2014 0 entweder ein R- oder ein V-Werth oder auch beide zugleich, .aber dann selbstverst\u00e4ndlich in ungleicher Gr\u00f6\u00dfe, als positive oder negative Zuw\u00fcchse zu f(R) und zu f(S) hinzutreten. Kurz: die Entstehung von E-Werthen ist an die Entstehung von \u00bbVitaldifferenzen\u00ab und \u00bbSchwankungen\u00ab gebunden, wie sie bei der Schilderung der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab entwickelt worden sind, und derjenige R- oder S.-Werth, der einen bestimmten A-Werth ausl\u00f6st, spielt hierbei die Rolle einer \u00bbwirklichen Complement\u00e4rbedingung\u00ab in dem oben (S. 11) bezeichneten Sinne1). Die s\u00e4mmtlichen A-Werthe, die uns auf diese\n1) Kritik, II, S. 5 ff.","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n19\nWeise als Functionen der \u00bbSchwankungen\u00ab des Systems G entgegentreten, lassen sich aber in gewisse Grundformen, die \u00bbabh\u00e4ngigen Grundwerthe\u00ab, scheiden, die dann wieder unter Hinzutritt besonderer Bedingungen verschiedene \u00bbModificationen\u00ab darhieten. Die haupts\u00e4chlichsten dieser \u00bbabh\u00e4ngigen Grundwerthe\u00ab sind von der Form und Gr\u00f6\u00dfe der Schwankungen, von der Richtung, dem Uebergreifen derselben, der Schwankungsge\u00fcbtheit, dem Zusammenhang mit andern, durch Mit\u00fcbung herbeigef\u00fchrten Schwankungen u. s. w. abh\u00e4ngig1).\nEntsprechend der gro\u00dfen Bedeutung, die innerhalb der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab dem Moment der Uebung zukommt, spielt nun auch unter den abh\u00e4ngigen /?-Wer then die \u00bbSchwankungsge\u00fcbtheit\u00ab eine besonders wichtige Rolle. Sie ist es, die den mitmenschlichen Aussagen den Charakter der \u00bbHeimhaftigkeit\u00ab oder auch, wenn die Aenderungsbedingungen des Systems C einen dem bisherigen entgegengesetzten Charakter annehmen, den der \u00bbUnheimlichkeit\u00ab, oder endlich hei wachsender Ge\u00fcbtheit den der \u00bbWirklichkeit\u00ab, \u00bbSicherheit\u00ab, \u00bbBekanntheit\u00ab verleihen2). Die zuletzt genannten drei E-Werthe werden als das \u00bbExistenzial\u00ab, \u00bbSecural\u00ab und \u00bbNotal\u00ab, die Bekanntheit [im allgemeinen als das \u00bbFidential\u00ab bezeichnet.\nModificationen der allgemeinen Grundwerthe von E k\u00f6nnen in \u00bbrein nat\u00fcrlicher\u00ab Weise entstehen, wenn verschiedene sich st\u00f6rende centrale Schwankungen Zusammentreffen (\u00bbrelative Additionen\u00ab), wodurch \u00bbVerworrenheit\u00ab, \u00bbSchwindel\u00ab und begleitende affectionale St\u00f6rungen auftreten, oder wenn peripherisch und central bedingte Aenderungen des Systems C gleichzeitig sich einstellen, wo im ersten Fall der E-Wertli die specifische Form der \u00bbSachhaftigkeit\u00ab, im zweiten den des \u00bbGedankenhaften\u00ab annimmt, zwischen welchen beiden Grenzwerthen sich das \u00bbNachbild\u00ab, das \u00bbErinnerungsbild\u00ab und das \u00bbGed\u00e4chtnissbild\u00ab als Zwischenstufen einschieben u. s. w.3)\nWichtiger noch sind die \u00bbsprachlich mithedingten allgemeinen Modificationen\u00ab. Sie sind zwar nur Wiederholungen der ohne Zuthun der Sprache entstandenen \u00bbnat\u00fcrlichen Modificationen\u00ab. Aber indem \u00bbdurch die) systematische Verbindung mit motorischen Partialsystemen dem E-Werth ein mehr oder minder bestimmter Laut functioneil zugeordnet wird, welcher innerhalb der menschlichen Gesellschaft\n1) Kritik, II, S. 16f.\t2) Kritik, II, S. 30ff. 3) Kritik, II, S. 63ff\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nW. Wundt.\ndie Bedeutung eines Wortes, einer sprachlichen Bezeichnung annimmt\u00ab, gelangen erst \u00bbdie mit affectiven und coaffectiven Gef\u00fchlen charakterisirten Aenderungen des jeweiligen Standes der E-Werthe\u00ab zum Ausdruck\u201d). Hierbei nimmt Avenarius an, \u00bbdass es con-trastirende \u00c6J-Werthe waren, welche des Vorzugs sprachlicher Bezeichnung theilhaftig wurden\u00ab1 2). Dadurch soll dann erst das \u00bbPr\u00e4valente\u00ab zur \u00bbmaterialen und formalen Abhebung\u00ab gelangen, auf welchem Wege sich die durch die \u00bbnat\u00fcrlichen Modificationen\u00ab entstandenen Unterschiede vervollst\u00e4ndigen. So f\u00fcgt sich z. B. an die oben erw\u00e4hnte Reihe der \u00bbSetzungsformen\u00ab: \u00bbSache, Nachbild, Gedanke\u00ab durch die Mith\u00fclfe der Sprache noch das weitere Glied \u00bbNachgedanke\u00ab an, das sich ebenso zum Gedanken wie dieser (das \u00bbNach-Nachhild\u00ab) zum Nachbild verh\u00e4lt. Diesen zur Classe der Elemente geh\u00f6rigen \u00bbSetzungsformen\u00ab entspricht dann die Reihe der \u00bbpositionalen Charaktere\u00ab : \u00bbWahrnehmung, Nachwahmehmung, Vorstellung, F\u00fchlung\u00ab. Zugleich erhalten durch den sprachlichen Austausch die FJ-Werthe eine nicht mehr blo\u00df individuelle, sondern \u00bbmehr oder minder inter-individuelle oder sociale Charakteristik\u00ab, d. h. es geht theils \u00bbdie unmittelbare Lust oder Unlust, die das Selbsterlebte an sich tr\u00e4gt, in die Modificationen eines (mehr oder minder) \u00e4sthetischen Gefallens oder Missfallens \u00fcber\u00ab, theils gewinnen die \u00bbeinfachen adaptiven Charaktere\u00ab (d. h. die durch die Entwicklung und Anpassung des Systems C an seine Umgebung entstandenen Gef\u00fchlsund Beurtheilungswerthe) einen durch den Gedankenaustausch der Redenden und die Beziehungen ihrer Handlungen bedingten Charakter (einen \u00bbdialektischen und ethischen Epicharakter\u00ab)3).\nHiermit sind bereits die Gesichtspunkte angedeutet, die bei der Betrachtung der den allgemeinen gegen\u00fcbergestellten \u00bbspeciellen Modificationen der abh\u00e4ngigen Grundwerthe\u00ab obwalten. Die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab beschr\u00e4nkt sich hier auf die Analyse ausgew\u00e4hlter Formen. In erster Linie wird der Einfluss von Lust und Unlust und von solchen \u00bbCharakteren\u00ab, die sich in Folge \u00bb\u00fcber-\n1)\tKritik, II, S. 73.\n2)\tOb sich diese Abnahme auf C. Abel\u2019s bekannte Theorie des \u00bbGegensinns der Urworte\u00ab gr\u00fcndet, muss ich dahingestellt lassen. (Yergl. C. Abel, Sprachwissenschaftliche Abhandlungen, 1885, S. 311 ff.)\n3)\tKritik, II, S. 73 ff.","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n21\ngreifender Schwankungen\u00ab mit ihnen verbinden, des \u00bbAffectionals\u00ab und \u00bbCoaffectionals\u00ab er\u00f6rtert. So wird z. B. der E-Werth \u00bbDruck\u00ab durch \u00bbhinzutretende Coaffectionaldifferenzen\u00ab zu den Modificationen des \u00bbDr\u00fcckens\u00ab und \u00bbGedr\u00fccktwerdens\u00ab und dann, durch Hinzunahme \u00e4hnlicher, wie des \u00bbBewegens\u00ab und \u00bbBewegtwerdens\u00ab, zu den allgemeineren der \u00bbActivit\u00e4t\u00ab und \u00bbPassivit\u00e4t\u00ab, des \u00bbThuns\u00ab und \u00bbLeidens\u00ab u. s. w. Die K-Werthe der \u00bbSachen\u00ab ergeben durch die coaffec-tionalen Werthe des Widerstandsgef\u00fchls die Modification \u00bbK\u00f6rper\u00ab. Eine besondere Modification dieses Werthes \u00bbK\u00f6rper\u00ab ist das die Complement\u00e4rbedingung zu dem \u00bbSystem C\u00ab bildende \u00bbIndividuum\u00ab; das letztere ist vor anderen K\u00f6rpern nur ausgezeichnet durch die Constanz seiner \u00bbGegenwart und Wirklichkeit\u00ab, durch sein \u00bbzweiseitig bestimmtes Tastgef\u00fchl\u00ab (Tastendes und Betastetes haben jedes je ein Tastgef\u00fchl) und durch die gr\u00f6\u00dfere F\u00fclle und \u00bbSachhaftigkeit\u00ab der affectiven Werthe ').\nEine weitere Classe specieller Modificationen entsteht dadurch, dass in dem System C eine bestimmte Schwankung aufgehoben werden kann, wodurch ganz oder ann\u00e4hernd der vorher da gewesene Zustand wieder Platz greift, oder, in der empiriokritischen Terminologie ausgedr\u00fcckt: die von der \u00bbpositiven Schwankungstransexercition\u00ab abh\u00e4ngige \u00bbHeterote\u00ab geht \u00fcber in die von der \u00bbnegativen Schwankungstransexercition\u00ab abh\u00e4ngige \u00bbTautote\u00ab2). Die Charakteristik dieses so eintretenden \u00bbtautotischen\u00ab Zustandes wird das \u00bbIdential\u00ab genannt (der neue Zustand wird als gleich oder identisch mit dem fr\u00fcheren charakterisirt), und die hierdurch bedingten Modificationen der A-Wer the werden daher auch als solche des Identials bezeichnet. Hierher geh\u00f6ren z. B., je nach dem Vorwiegen der \u00bbTautote\u00ab oder \u00bbHeterote\u00ab, solche Ausdrucksweisen wie \u00bbdasselbe, ein wenig anders, vorwiegend anders, ganz anders\u00ab u. dgl., Modificationen, bei denen \u00fcbrigens noch die besondere Beschaffenheit der \u00bbHeterote\u00ab zu beachten ist, verm\u00f6ge deren sie eine \u00bbnumerative, temporale, locale, materiale, variative\u00ab u. s. w. sein kann.3) Aehnliche Unterschiede der Charakteristik, die als \u00bbcomplicirte Modificationen der Grundwerthe\u00ab bezeichnet, im allgemeinen aber auf gr\u00f6\u00dfere oder geringere \u00bbSchwankungsge\u00fcbtheit\u00ab des Systems C zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, sind die des \u00bbDenkbaren\u00ab und\n1) Ebend. S. 89 f.\n2) Ebend. S. 28 .\t3) Ebend. S. 94 ff.","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nW. Wundt.\n\u00bbWirklichen\u00ab, des \u00bbIdealen\u00ab und \u00bbRealen\u00ab, des \u00bbRegelm\u00e4\u00dfigen\u00ab und \u00bbUnregelm\u00e4\u00dfigen\u00ab, des \u00bbZuf\u00e4lligen\u00ab und \u00bbNothwendigen\u00ab (welches letztere wieder in die \u00bbvielverzweigte tautotische Familie\u00ab geh\u00f6rt) u. v. a. Analoge complicirte Modificationen, wie sie hier unmittelbare Einfl\u00fcsse der Umgebung auf das individuelle System C hervorbringen, k\u00f6nnen nun auch in Folge der Mittheilung durch die Rede erzeugt werden. So entstehen Charaktere, die sich auf die sprachliche Mittheilung von andern Individuen erlebter Gef\u00fchle gr\u00fcnden, oder \u00bbdialektische Epicharaktere\u00ab, an die sich dann naturgem\u00e4\u00df auch \u00bbEpheteroten\u00ab und \u00bbEpitautoten\u00ab anschlie\u00dfen. Gerathen diese Epicharaktere mit den einfachen Charakteren in Conflict, so entstehen \u00bbVerwirrung\u00ab, \u00bbVerdunkelung\u00ab, \u00bbpeinliches Gef\u00fchl\u00ab, \u00bbZweifel\u00ab u. s. w., oder umgekehrt hei Uebereinstinunung beider \u00bbSicherheit\u00ab, \u00bbGewissheit\u00ab, \u00bbWahrheit\u00ab. Eine blo\u00dfe \u00bbAbschw\u00e4chung des Wissenscharakters\u00ab ist das \u00bbGlauben\u00ab : es ist, wie das Wissen, \u00bbAusdruck der Uebertragung des Fidentials auf ein Bekanntgegehenes\u00ab, unterscheidet sich aber von dem Wissen \u00bbdurch eine eigenth\u00fcmliche Minderwerthigkeit, welche nicht dem charakterisirten \u00c6-Werth, sondern dem charakterisirenden anhaftet\u00ab (d. h. in gew\u00f6hnlicher Redeweise ausgedr\u00fcckt, der Unterschied beruht nicht auf dem Wahrnehmungs- oder Gedankeninhalt des Gewussten oder Geglaubten, sondern auf dem damit verbundenen Gef\u00fchls-' werth). Endlich werden zu den Epicharakteren auch das \u00bbBegriffene\u00ab, das \u00bbVerstandene\u00ab und \u00bbUnverstandene\u00ab und \u00e4hnliches gerechnet1).\nEine eingehende Er\u00f6rterung erfahren unter diesen speciellen Modificationen der Grundwerthe besonders die des \u00bbaffectiven Verhaltens\u00ab. Die Untersuchung will sich hier wegen der ungeheuren Complication der sich darbietenden Formen darauf beschr\u00e4nken, die sch\u00e4rfere Auseinanderlegung derselben nicht als \u00bbeinzige Denkbarkeit nachzuweisen\u00ab, sondern \u00bbals Ann\u00e4herungswerthe \u00fcberhaupt nur denkbar zu machen\u00ab2). Es wird gen\u00fcgen, einige charakteristische Beispiele herauszugreifen. Beim Kinde ist die Setzung der Nahrung als \u00bbSache\u00ab sowohl von Lust wie von Bewegungen begleitet; die Bewegungen werden aber so lange ausgel\u00f6st, bis die Nahrung gl\u00fccklich zum Munde gef\u00fchrt ist \u00bbund die anf\u00e4ngliche der , Sache 1 sich beigesellende ,Lust\u2018 in die ,Lust an der Nahrungsaufnahme selbst1 aufgeht\u00ab:\n1) Kritik, II, S. 129 ff. 2) a. a. O. S. 151.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n23\ndamit ist die \u00bbaffective Koike \u00ab abgeschlossen1). Diese Bedingungen werden variirt, indem Zufall oder fremde H\u00fclfe die Hand des Kindes gelegentlich zur Ber\u00fchrung mit der Nahrung brachten: dadurch entsteht dann die \u00bb Erfolgsbewegung \u00ab des \u00bbPackens und Zum-Munde-F\u00fchrens\u00ab, die, indem sie sich ein\u00fcbt, f\u00fcr das System C des Kindes die Bedeutung einer Complement\u00e4rbedingung gewinnt. So erweitert sich das urspr\u00fcnglich einfachere affective Verhalten zu einem com-plicirten \u00bbindividuellen Actionscomplex\u00ab, der sich begrifflich in das \u00bbVirtual\u00ab, eine Modification des allgemeinen Charakters \u00bbActivit\u00e4t\u00ab, die \u00bbBewegungsrichtung\u00ab, die \u00bbBewegungsform\u00ab und den \u00bbBewegungserfolg\u00ab zerlegen l\u00e4sst. Dieser \u00bbActionscomplex\u00ab hat zugleich, insofern er urspr\u00fcnglich peripherisch bedingt ist, zun\u00e4chst den Charakter der \u00bbSachhaftigkeit\u00ab ; nachtr\u00e4glich kann er dann aber auch, als Abh\u00e4ngige einer secund\u00e4ren Aenderung des kindlichen Systems C, den Charakter des \u00bbGedankens\u00ab gewinnen und als solcher der wirklichen Handlung vorausgehen2).\nWir erlassen uns die Wiedergabe der durchaus in einem \u00e4hnlichen Schematismus sich bewegenden begrifflichen Analyse der hier sich anschlie\u00dfenden speciellen Formen des \u00bbappetitiven Verhaltens\u00ab, um nur noch die letzte und verwickeltste Form desselben hervorzuheben, bei welcher der Begriff des \u00bbWillens\u00ab zur Entwickelung gelangt. Diese Form beruht zun\u00e4chst auf der \u00bbEinschaltung eines Hindernisses\u00ab, das eine andere Fortsetzung der affectiven Keihe bedingt, als wie sie ohne ein solches stattfinden w\u00fcrde. Dabei k\u00f6nnen aber wieder zwei F\u00e4lle eintreten: entweder ist das Hindemiss \u00bbder Setzung eines ,Nichtk\u00f6nnens\u2018\u00ab, oder es ist \u00bbder Setzung eines K\u00f6nnens*\u00ab g\u00fcnstig. Ist demnach zun\u00e4chst Lust oder Unlust zu \u00bbEtwas\u00ab, dann \u00bbein positives Virtual mit hinreichend bestimmter Kichtung\u00ab, dadurch ein \u00bbDr\u00e4ngen oder Streben nach Etwas\u00ab oder ein \u00bbAbscheu oder Widerstreben vor Etwas\u00ab gegeben, so folgt im ersten Fall, dem des \u00bbNicht-K\u00f6nnens\u00ab, die Stimmung: \u00bbman m\u00f6chte\u00ab, im zweiten, dem des K\u00f6nnens, die Stimmung: \u00bbman will\u00ab (\u00bbz. B. essen\u00ab). \u00bbJe mehr nun im ,K\u00f6nnen' das ,Freisein' und im ,Wollen' das ,K\u00f6nnen' hervortritt, um so mehr f\u00fchlt sich auch der ,Wollende' als ,Freier', bez. erscheint das ,Wollen' selbst als ein Freiseiendes'\u00ab3). Nach allem\n1) Ebend. S. 154 f. 2) Ebend. S. 156 ff. 3) Ebend. S. 205 ff.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nW. Wundt.\ndem erscheint das \u00bbWollen\u00ab gegen\u00fcber dem einfach \u00bbaffectiven Verhalten\u00ab (den Gef\u00fchlszust\u00e4nden) als eine affective Reihe, welche 1) durch Zuwachs eines appetitiven Momentes die \u00bbModification eines appeti-tiven Verhaltens erworben hat\u00ab, und 2) unter Einschaltung \u00bbeines oder mehrerer St\u00f6rungswerthe\u00ab verl\u00e4uft und demnach als \u00bbappetitive Reihe 2ter, 3ter . . . wter Ordnung\u00ab sich darstellt1). Damit bilden diese verwickeltsten Formen der affectiven Reihe zugleich einen angemessenen Uehergang zu den \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihen h\u00f6herer Ordnung\u00ab, mit denen sich die folgenden Capitel der Kritik der reinen Erfahrung besch\u00e4ftigen.\nGem\u00e4\u00df den oben (S. 15) gegebenen Begriffsbestimmungen entsteht eine Vitalreihe h\u00f6herer Ordnung dann, wenn eine bereits im Ablauf befindliche Schwankung des Systems C durch weitere variirende Bedingungen eine nochmalige Schwankung erf\u00e4hrt, diese eventuell wieder eine solche u. s. w. Da die abh\u00e4ngige Vitalreihe erster Ordnung \u00bbein v\u00f6llig gleichm\u00e4\u00dfiger Cyklus von E-Werthen relativ einfacher und einf\u00f6rmiger Formen niederer Entwicklung\u00ab ist, so ist sie f\u00fcr die allgemeine Erkenntnisstheorie von nur geringem Belang2). Alle irgendwie verwickelteren \u00bbErkenntnisse\u00ab, nicht minder alle auf das \u00bbWesen\u00ab der Dinge sich beziehenden vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Begriffsbildungen geh\u00f6ren daher diesem Gebiet der abh\u00e4ngigen Vitalreihen h\u00f6herer Ordnung an. Wir k\u00f6nnen uns hier, nachdem vorher in den einfacheren F\u00e4llen die Methode des empiriokritischen Systems hinreichend klargestellt sein d\u00fcrfte, mit der Hervorhebung einiger charakteristischer Beispiele begn\u00fcgen.\nBesitzt das System C die Endbeschaffenheit gr\u00f6\u00dfter Vorbereitung, d. h. befindet es sich im Zustand maximaler Ge\u00fcbtheit, so ist im allgemeinen als Abh\u00e4ngige dieser Endbeschaffenheit ein \u00bbSeiendes, Sicheres, Bekanntes\u00ab, d. h. ein \u00bbNotal\u00ab (S. 19) gesetzt. Tritt nun eine \u00bbSchwankungsvariation\u00ab ein, so wird durch diese zun\u00e4chst eine \u00bbEndbeschaffenheit minderen Uebungswerthes\u00ab und damit als \u00bbAbh\u00e4ngige\u00ab ein \u00bbminder Seiendes, minder Sicheres, minder Bekanntes\u00ab und schlie\u00dflich, hei hinreichender Variationsgr\u00f6\u00dfe, ein \u00bbNicht-Seiendes, Unsicheres, Unbekanntes\u00ab gesetzt werden, das, indem das System G in der neuen Richtung wieder die Endbeschaffenheit maximaler\n1) Ebend. S. 211.\t2) Ebend. S. 212.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n25\nGe\u00fcbtheit erreicht, nunmehr seinerseits, als \u00bbFinalglied der Vitalreihe\u00ab, wieder zu einem \u00bbSeienden, Sicheren, Bekannten\u00ab wird. So ergeben sich \u00bbErkennen\u00ab und \u00bbErkanntes\u00ab oder, wie beide zugleich auch benannt werden, die \u00bbErkenntniss\u00ab als \u00bbModificationen des Notals\u00ab, die aus dem Ablauf von \u00bbVitalreihen h\u00f6herer Ordnung\u00ab entspringen1). Je schneller und entschiedener die Final\u00e4nderung ein-tritt, um so mehr hat sie den Charakter des \u00bbKlaren\u00ab, des \u00bbBegl\u00fcckenden\u00ab, \u00bbErl\u00f6senden\u00ab u. s. w., und die Final\u00e4nderung selbst wird zugleich als \u00bbProbleml\u00f6sung\u00ab charakterisirt. Hiernach bewegt sich der Erkenntnissprocess im allgemeinen zwischen den Gegens\u00e4tzen der \u00bbProbl\u00e9matisation\u00ab und der \u00bbDeproblematisation\u00ab von E-Wer-then2). Zugleich besteht aber zwischen den so ablaufenden abh\u00e4ngigen Vitalreihen der wichtige Unterschied, dass die eintretenden Variationen der Schwankungen entweder innerhalb des System C selbst ablaufen oder aber in diesem zwar ihren Ausgangspunkt haben, jedoch au\u00dferhalb desselben sich vollziehen: jene \u00bbendosystematischen\u00ab Aenderungen liegen dem theoretischen, diese \u00bbektosystematischen\u00ab dem praktischen Verhalten zu Grunde3). Indem in dieses Verhalten innerhalb des \u00bbMedialabschnitts\u00ab der Vitalreihe (d. h. im mittleren Verlauf eines gegebenen Vorgangs) Bewegungen des Individuums eingreifen, diese aber stets auf einem \u00bbappetitiven Verhalten\u00ab beruhen, tritt nun das letztere zugleich mit den an ihm oben charak-terisirten Eigenschaften in den Verlauf der \u00bbVitalreihen h\u00f6herer Ordnung\u00ab ein, und es erscheint, je nachdem das \u00bbErkennen\u00ab oder \u00bbHandeln\u00ab als \u00bbZweck\u00ab des appetitiven Verhaltens charakterisirt ist, dieses selbst als ein theoretisches oder praktisches4). Aus allem dem ergibt sich, dass zwar jede \u00bbErkenntniss\u00ab auf einer \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihe h\u00f6herer Ordnung\u00ab beruht, dass aber nicht umgekehrt die letztere ohne weiteres als \u00bbErkenntniss\u00ab charakterisirt werden kann. Vielmehr darf dies nur geschehen, \u00bbsofern der durch die Beilie hindurch bewegte A-Werth vermittelst Abhebung seines Notais vor etwaigen andern A-W er then der Beihe ausgezeichnet ist5).\nHiermit ist nun zun\u00e4chst der Begriff der \u00bbErkenntniss\u00ab nur als E-Werth, also nur insofern bestimmt, als er aus der \u00bbabh\u00e4ngigen\n1) a. a. O. S. 222 ff.\t2) Ebend. S. 225.\t3) Ebend. S. 229.\n4) a. a. O. S. 230 f.\t\u00a7\u00a7 a. a. O. S. 234 f.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nW. Wundt.\nVitalreihe\u00ab sich ergibt. Seine ersch\u00f6pfende Definition ist aber erst m\u00f6glich, wenn die abh\u00e4ngige Vitalreihe h\u00f6herer Ordung selbst wieder auf die \u00bbunabh\u00e4ngige Vitalreihe\u00ab, d. h. die entsprechenden Aenderungen des \u00bbSystems (7\u00ab, zur\u00fcckgef\u00fchrt ist. Demgem\u00e4\u00df sucht nun die \u00bbKritik\u00ab in einem besonderen Abschnitt die durchg\u00e4ngige Beziehung der \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab zur \u00bbunabh\u00e4ngigen\u00ab sowohl in Bezug auf den Verlauf im Ganzen wie hinsichtlich seiner einzelnen Glieder nachzuweisen, wobei die erl\u00e4uternden Belege \u00bbabh\u00e4ngiger Vitalreihen\u00ab, die den Verlaufsgesetzen der \u00bbunabh\u00e4ngigen\u00ab entsprechen sollen, vorwiegend dem Gebiet der Erkenntnissprobleme und ihrer Geschichte entnommen werden. So kann die abh\u00e4ngige Vitalreihe, ebenso wie die unabh\u00e4ngige, nur dann als vollst\u00e4ndig gedacht werden, wenn sie bis zu ihrem \u00bbFinalabschnitt\u00ab, aber auch nicht weiter fortgesetzt wird *). So ist ferner in /1er abh\u00e4ngigen Vitalreihe, ebenso wie in der unabh\u00e4ngigen, jede Endbeschaffenheit durch die Art und Gr\u00f6\u00dfe der \u00bbpr\u00e4paratorischen Aenderungen\u00ab mitbestimmt, u. s. w.1 2). Die n\u00e4mlichen Gesichtspunkte gelten schlie\u00dflich auch f\u00fcr jene \u00bbSysteme C h\u00f6herer Ordnung\u00ab, wie sie dem gesellschaftlichen Zusammenleben der Individuen entsprechen. Ich \u00fcbergehe hier die f\u00fcr sie aufgestellten S\u00e4tze, ebenso die weiteren Er\u00f6rterungen \u00fcber die Variationen der \u00bbErkenntnissmenge\u00ab, da die Grundgedanken durch das Bisherige hinreichend klargestellt sein d\u00fcrften, und einige in diesen Abschnitten aufgestellte S\u00e4tze zweckm\u00e4\u00dfiger als Beispiele f\u00fcr die unten zu behandelnden Anwendungen der Theorie dienen k\u00f6nnen.\nNur auf den Abschluss des ganzen systematischen Geb\u00e4udes mag hier noch kurz hingewiesen werden. Er lenkt zur\u00fcck zu dem Ausgangspunkt. Hier waren zwei vorl\u00e4ufige Begriffe der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab als n\u00e4chste Oonsequenzen der \u00bbempiriokritischen Voraussetzung\u00ab aufgestellt worden: ein \u00bbanalytischer\u00ab, nach welchem ein _\u00bbAusgesagtes\u00ab, das in allen seinen Oomponenten Bestandtheile unserer Umgebung zu seiner Voraussetzung hat, auch in allen seinen Com-ponenten als Erfahrung anzusehen sei; und ein \u00bbsynthetischer\u00ab, nach welchem umgekehrt die Erfahrung selbst als ein Ausgesagtes definirt wird, welches in allen seinen Oomponenten nur Bestandtheile unserer\n1)\tKritik, II, S. 265, vgl. dazu I, S. 204.\n2)\tKritik, II, S. 266, vgl. I, S. 139 f.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n27\nUmgebung zu seiner Voraussetzung hat'). Sind beide Begriffe als zusammenfallend anzunehmen oder nicht? Mit anderen Worten: Sind nur Aussageinhalte \u00fcber unsere Umgebung als \u00bbErfahrung\u00ab zu bezeichnen, oder gibt es Aussageinhalte, die sich nicht auf \u00bbUmgebungs-bestandtheile\u00ab beziehen? Der weitere Gang der Kritik hat diese Frage und hat damit den Begriff der reinen Erfahrung selbst zur\u00fccktreten lassen, um zun\u00e4chst die denkbaren Aenderungen des \u00bbSystems C\u00ab, von denen alle Aussageinhalte abh\u00e4ngen, und dann die Aussageinhalte selbst, die A-Werth e, in ihrer Abh\u00e4ngigkeit von dem System C zu untersuchen. Dabei hatten sich alle m\u00f6glichen \u00bbErkenntniss-begriffe\u00ab, die zu dem Begriff der Erfahrung in irgend welchen Beziehungen stehen, ergeben. Durch diese Untersuchung der mannigfaltigsten Aussagewerthe und durch ihre Zur\u00fcckf\u00fchrung auf die \u00bbunabh\u00e4ngige Vitalreihe\u00ab des \u00bbSystems ,C\u00ab ist daher der Weg geebnet f\u00fcr die definitive Beantwortung jener Frage: was ist reine Erfahrung?\no Die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab behandelt diese Frage in einem ihrer Schlussabschnitte mit einem gro\u00dfen Aufwand dialektischen Scharfsinnes 3).o Das Ergebniss entspricht nicht ganz dem Umfang dieser Bem\u00fchungen, o Es l\u00e4sst sich in den Satz zusammenfassen : der Begriff der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab ist ein Doppelbegriff; er kann in einem weiteren und in einem engeren Sinne definirt werden. Im weiteren Sinne ist jeder Aussageinhalt, jeder A-Werth, ob er sich auf Wahrgenommenes oder Gedachtes, auf Gewisses oder Ungewisses, auf Sein oder Nicht-Sein u. s. w., beziehen m\u00f6ge, Erfahrungsinhalt. Im engeren Sinne dagegen sind als \u00bbreine Erfahrung\u00ab nur diejenigen A-Wertlie zu definiren, die \u00bbals ein Sachhaftes\u00ab, \u00bbWahrgenommenes\u00ab bestimmt, und die, als Glieder der unabh\u00e4ngigen Vitalreihe des Systems C, auf eine Affection der peripherischen Nerven bezogen werden 3).c Damit ist die im Eingang gestellte Frage nach dem Ver-h\u00e4ltniss der zwei Definitionen der Erfahrung zu einander entschieden: der \u00bbanalytische\u00ab f\u00e4llt mit dem \u00bbsynthetischen\u00ab Begriff der Erfahrung zusammen f\u00fcr den engeren Begriff oder f\u00fcr die Erfahrung im eigentlichen Sinne; beide fallen dagegen nicht zusammen f\u00fcr den weiteren Begriff, nach welchem jeder beliebige Aussageinhalt eine \u00bbErfahrung\u00ab genannt wird.\n1) Kritik, I, S. 4.\t2) Kritik, II, S. 340.\t3) Ebend. S. 363f.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nW. Wundt.\nMit H\u00fclfe dieses Begriffes der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab wird schlie\u00dflich die L\u00f6sung der letzten und umfassendsten Aufgabe unternommen, die eine \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab sich stellen kann, die Beantwortung der Frage n\u00e4mlich, unter welchen Bedingungen der Gesammt-inhalt der reinen Erfahrung als ein constanter, nicht weiter abzu\u00e4ndernder Werth, d. h. als Endbeschaffenheit sowohl des individuellen Systems C wie jedes beliebigen \u00bbcongregationalen\u00ab Systems C h\u00f6herer Ordnung zu denken ist, welche nicht mehr weiter \u00fcberschritten werden kann. Diese Endbeschaffenheit der Systeme C hat die Bedeutung einer \u00bbMultiponiblen denkbar h\u00f6chster Ordnung\u00ab, die von ihr abh\u00e4ngige Endbeschaffenheit der Aussagewerthe E oder die \u00bbabh\u00e4ngige Multiponible denkbar h\u00f6chster Ordnung\u00ab aber ist der Welthegriff oder der Begriff, der sich auf die \u00bbAllheit der Umgebungsbestand-theile\u00ab und demnach auch auf jeden einzelnen derselben bezieht. Da nun die geschichtlich entstandenen Welthegriffe jene Oonstanz nicht zeigen, die von dem wahren Weltbegriff als einem Begriff h\u00f6chster und letzter Setzung zu fordern ist, so muss angenommen werden, dass in ihnen jener Universalbegriff zun\u00e4chst nur zur \u00bbformalen Abhebung\u00ab gelangt ist, w\u00e4hrend sein realer Inhalt noch variable \u00bbBeibegriffe\u00ab enth\u00e4lt '). Den Universalbegriff von diesen Beibegriffen zu sondern und damit einen nach Form wie Inhalt constanten Weltbegriff zu entwickeln, ist daher die h\u00f6chste Aufgabe einer \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab; sie ist eine L\u00f6sung des \u00bbWeltr\u00e4thsels\u00ab insofern, als die individuellen und ver\u00e4nderlichen Weltbegriffe in der historischen Entwicklung sich abl\u00f6sen, wobei jedesmal das \u00bbBekannte\u00ab in ein \u00bbUnbekanntes\u00ab, der \u00bbWeltbegriff\u00ab in das \u00bbWeltr\u00e4thsel\u00ab \u00fcbergeht, wogegen mit der Umwandlung in einen nach Form und Inhalt constanten Universalbegriff dieser Wechsel nothwendig ein Ende haben muss. Mag nun auch die Mannigfaltigkeit der vor\u00fcbergehenden L\u00f6sungen des Weltr\u00e4thsels als eine unbeschr\u00e4nkt gro\u00dfe gedacht werden, eine definitive L\u00f6sung bleibt immer insofern m\u00f6glich, als, wenn nur hinreichend Zeit und Raum zur Variation zur Verf\u00fcgung steht, der Zustand eines beliebig zusammengesetzten Systems C h\u00f6herer Ordnung, wenn es nur als ein in sich abgeschlossenes gedacht wird, immer mehr der Oonstanz sich n\u00e4hern muss. Denn dieses Gesetz\n1) Kritik, II, S. 375ff.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n29\nfindet ja nothwendig auch auf die Abh\u00e4ngigen des Systems C, die A-Werthe, seine Anwendung: die Variationen des Welthegriffes m\u00fcssen sich also immer mehr dem \u00bbreinen Universalhegriffe\u00ab ann\u00e4hem1).\nVerfolgt man nun den allgemeinen Entwicklungsgang der that-s\u00e4chlich vorhanden gewesenen \u00bbWeltbegriffe\u00ab, so vollzieht sich derselbe wesentlich in der zwischen den Gegens\u00e4tzen des \u00bbSeienden\u00ab und \u00bbNicht-Seienden\u00ab sich bewegenden \u00bbCharakteristik\u00ab. Als Anfangspunkt ist dabei vorauszusetzen die positive, einheitliche Charakteristik aller Erfahrungsinhalte als \u00bbseiender\u00ab. In Folge der Unterscheidung des \u00bbWahrgenommenen\u00ab und des \u00bbGedachten\u00ab verwandelt sich dann aber ein Theil des ehemals \u00bbErfahrenen\u00ab in ein \u00bbNichterfahrenes\u00ab ; es schlie\u00dfen sich daran BegrifEe wie die eines \u00bbnicht-erfahrbaren Seienden\u00ab, einer \u00bbnicht-empirischen Erkenntniss\u00ab u. s. w., die in der historischen Entwicklung der Welthegriffe eine gro\u00dfe Rolle spielen und sich stetig in dem Sinne ver\u00e4ndern, dass sie zuerst positiv und dann allm\u00e4hlich mehr und mehr negativ charakterisirt werden: die \u00bbErkenntniss\u00ab geht zuerst in eine \u00bbSchein-Erkenntniss\u00ab und zuletzt in eine \u00bbNicht-Erkenntniss\u00ab \u00fcber. Der Endpunkt dieser Entwicklung ist sichtlich der, dass die Setzung \u00bb erfahrungsfreier Componenten\u00ab schlie\u00dflich ganz verschwindet, und dass also in diesem Sinne der \u00bbWeltbegriff\u00ab wieder zu seinem Ausgangspunkte zur\u00fcckkehrt. Aber freilich besteht zwischen jenem urspr\u00fcnglichen und diesem zuletzt erreichten, rein positiv bestimmten und von allen \u00bbBeibegriffen\u00ab gereinigten Welthegriffe der gro\u00dfe Unterschied, dass 'dort alle Aussagen, Wahrgenommenes wie Gedachtes, als \u00bbErfahrung\u00ab gelten, w\u00e4hrend hier nur das Wahrgenommene, \u00bbSachhafte\u00ab, das die peripherischen Sinnesnerven afficirt, als \u00bbreine Erfahrung\u00ab anerkannt wird. Die Entwicklung des \u00bbWelthegriffs\u00ab stellt sich daher schlie\u00dflich als eine solche dar, die sich zwischen den zwei oben bestimmten Erfahrungsbegriffen bewegt: mit dem weiteren beginnt sie, und mit dem engeien oder eigentlichen endet sie. Der Uebergang zwischen diesen beiden reinen Positionen wird aber durch Negationen vermittelt, welche letzteren in diesem Sinne daher auch als die logischen Triebfedern angesehen werden k\u00f6nnen, die die ganze Entwicklung zu Stande bringen2).\n1) Kritik, II, S. 388 f., vgl. dazu I, S. 197 ff.\n2) Kritik, II, S. 392 ff.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nW. Wundt.\nd. Anwendungen der empiriokritischen Theorie.\nDie empiriokritische Theorie ist, wie aus der vorangegangenen liebersicht hervorgeht, zu einem wesentlichen Theile auf gewisse Erfahrungen und Voraussetzungen \u00fcber die Functionsweise des Nervensystems gegr\u00fcndet. Trotzdem enthalten die von ihr entwickelten Folgerungen manches, wodurch auch bestimmte Fragen \u00fcber die Eigenschaften der Nervencentren seihst in einer bestimmten Richtung beantwortet werden. Oder, um in der Sprache der Theorie zu reden, schon die Gesetze der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab des Systems C sind zun\u00e4chst f\u00fcr dieses seihst, damit aber nat\u00fcrlich auch indirect f\u00fcr gewisse psychologische und psycho-physische Probleme von Belang. In dieser Beziehung ist namentlich der Satz hervorzuheben, dass \u00bballe Aenderungen des Menschen, durch welche er sich innerhalb einer nicht-idealen Umgehung erh\u00e4lt\u00ab, nur der physiologischen Functionsbedingungen des Systems C, nicht aber der weiteren Annahme eines \u00bbBewusstseins\u00ab bed\u00fcrfen1). Der Beweis f\u00fcr diese Elimination des \u00bbBewusstseins\u00ab und des \u00bbWillens\u00ab besteht haupts\u00e4chlich darin, dass sich zweckm\u00e4\u00dfige \u00bbErhaltungserscheinungen\u00ab \u00fcberhaupt ohne weiteres aus den f\u00fcr das System C angenommenen Voraussetzungen ergeben, nebenbei aber auch in der Bemerkung, dass in ziemlich allgemein anerkannter Weise niedere Nervencentren ohne stattfindendes \u00bbBewusstsein\u00ab auf Beize zweckm\u00e4\u00dfig reagiren. Da die letztere Thatsache bekanntlich mehrdeutig ist, indem z. B. angenommen werden kann, dass die Zweckm\u00e4\u00dfigkeit der s. g. Reflexe eine in individuell oder generell erworbenen Anlagen begr\u00fcndete Nachwirkung urspr\u00fcnglich zweckbewusster Bewegungen sei2), so liegt hier das Schwergewicht offenbar auf den angenommenen Eigenschaften des Systems C seihst. Insofern nach den Voraussetzungen der Theorie alle Erfahrungsinhalte auf die mechanischen Eigenschaften des Systems C zur\u00fcckzuf\u00fchren sind, k\u00f6nnen sich nun selbstverst\u00e4ndlich auch die Zweckhandlungen menschlicher oder thierischer Wesen dieser Forderung nicht entziehen.\nVon ungleich gr\u00f6\u00dferer Wichtigkeit sind die directen Anwen-\n1)\tKritik, I, S. 150 f., 202 ff.\n2)\tVgl. meine physiol. Psychologie 4. Auff, II, S. 591.","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n31\nd\u00fcngen der empiriokritischen Theorie im Gebiete der Psychologie und der Geisteswissenschaften. Nicht mit Unrecht ist im Hinblick hierauf das Hauptwerk von Avenarius eine \u00bbbiologische Grundlegung der so genannten Geisteswissenschaften\u00ab genannt worden1). In der That ist ja der das \u00bbSystem C* und seine \u00bbunabh\u00e4ngige Vitalreihe\u00ab behandelnde Theil nur dazu bestimmt, die Grundlagen zu liefern, auf denen die \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihen\u00ab, d. h. die mannigfachen Aussagen der Menschen \u00fcber das, was sie erleben, denken, f\u00fchlen u. s. w., beruhen. Hier kann es sich nat\u00fcrlich nicht darum handeln, \u00fcber diese Anwendungen der Theorie eine irgendwie ersch\u00f6pfende Uebersicht zu gehen. F\u00fcr die Kennzeichnung der Behandlungsweise der Probleme m\u00fcssen einige beliebig herausgegriffene Beispiele gen\u00fcgen. Ich werde dabei die S\u00e4tze, deren Anwendungen erl\u00e4utert werden sollen, m\u00f6glichst in den eigenen Worten des Verfassers anf\u00fchren, ihnen aber, wo es w\u00fcnschenswerth erscheint, eine Uebersetzung in die sonst \u00fcbliche Ausdrucksweise beif\u00fcgen. Die Anwendungen werde ich in der n\u00e4mlichen etwas bunten Mischung folgen lassen, in der sie die \u00bbKritik\u00ab zu gehen pflegt.\n\u00bbN\u00f6thigt man durch geeignete Variation der Aenderungsbedin-gungen dem System C eine Schwankung auf, deren Uehungswerth demjenigen nachsteht, welcher den einge\u00fcbten Schwankungen bis dahin eignete, so wird ein dem Fidential entgegengesetzter Charakter ausgesagt\u00ab2), und da \u00bbder allgemeine Charakter der Fidentialit\u00e4t in drei specielle Charaktere (das Existenzial, Secural und Notal) zerlegbar gedacht werden kann, so kann auch die Unabh\u00e4ngige als ein zusammengesetzter Aenderungsmodus des Systems C angenommen werden, dessen Componenten zwar urspr\u00fcnglich eine functionelle Einheit bilden, aber doch unter besonderen, g\u00fcnstigen Bedingungen einer relativen Unabh\u00e4ngigkeit von einander f\u00e4hig sind\u00ab3). (Die Aussagen, ob etwas ist, wirklich ist, bekannt ist, beruhen auf einer Ein\u00fcbung des Centralorgans in einer bestimmten Richtung, die entgegengesetzten auf einer Ein\u00fcbung in entgegengesetzter Richtung; da jene Aussagen oft vereint, oft aber auch getrennt Vorkommen, so ist\n1)\tC. Hauptmann, Die Metaphysik in der modernen Physiologie, 1893, Vorwort.\n2)\tKritik, II, S. 31.\t3) Ebend. S. 32.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nW. Wundt.\nanzunehmen, dass auch die entsprechenden Functionsweisen des Centralorgans relativ unabh\u00e4ngige Bestandteile einer einzigen zusammenh\u00e4ngenden Function sind.) Beispiele der Verbindung der drei Fidential-werthe: Der H\u00e4ndler, der Arzt, der Freund, die \u00bbtrauten\u00ab Berge der Heimath. Beispiele verschiedenen Uebungswerthes : 1) Ein Beisender erz\u00e4hlt nach seiner B\u00fcckkehr aus einem fernen Welttheil den Ortsgenossen seine Erlebnisse ; alles was der Umgebung der Zuh\u00f6rer \u00e4hnlich ist, wird als \u00bbseiend\u00ab charakterisirt, das \u00bbunerh\u00f6rte\u00ab wird bezweifelt. 2) Die Gegenwart wird stets mit einem gr\u00f6\u00dferen Existenzial-werth charakterisirt als Vergangenheit oder Zukunft, daher die Eleaten von ihrem Sein aussagten, dass es weder war noch sein wird, sondern ist. Analog verh\u00e4lt es sich mit dem r\u00e4umlich Nahen gegen\u00fcber dem Fernen, dem Schatten im Verh\u00e4ltniss zum K\u00f6rper u. dgl. 3) Dem Astronomen ist die Sonne stillstehend, die Erde bewegt, aber jene scheint bewegt, und diese scheint stillstehend, \u2014 F\u00e4lle, in denen eine Ausgleichung verschiedener Uebungswerthe eingetreten ist. 4) Der scholastischen Theosophie gilt Gott als das \u00bbh\u00f6chste Sein\u00ab, indess die Dinge \u00bbkaum sind\u00ab oder sogar die ganze Welt \u00bbnichts ist\u00ab. Bei den alten Philosophen wurde, nachdem das \u00bbVolle\u00ab zum \u00bbSeienden\u00ab geworden war, die \u00bbLeere\u00ab' zum \u00bbNicht-Seienden\u00ab u. s. w.\n\u00bbDer Charakter oder, besser, die Modification, welche als glauben' ausgesagt wird, hat mit dem ,Wissen\u201c gemein, dass es der Ausdruck der Uebertragung des Fidentials auf ein ,Bekanntgegebenes1 ist; aber es unterscheidet sich vom ,Wissen1 durch eine eigenth\u00fcm-liche Minderwerthigkeit, welche durchaus nicht dem charakterisirt en K-Werth, sondern dem charakteri sir en den anhaftet\u00ab. Beide sind \u00bbEpicharaktere, die im selben Sinn wie das ,Seiende1 von der Ge\u00fcbtheit abh\u00e4ngen\u00ab1). (Wissen und Glauben sind Ausdr\u00fccke des Vertrauens, die sich auf etwas beziehen, das als bekannt vorausgesetzt wird; der Glaube ist ein geringerer Grad dieses Vertrauens, der aber nicht einem bestimmten Inhalt als solchem, sondern nur der Auffassung dieses Inhaltes anhaftet; in Folge der Gew\u00f6hnung k\u00f6nnen daher diese Begriffe wechseln und in einander \u00fcbergehen.) Beispiele: 1) \u00bbDer Familienvater ,wei\u00df\u2018, dass er seine Kinder nach dem Spaziergange Wiedersehen wird; aber er ,gla\u00fcbt\u2018 an ein Wieder-\n1) Kritik, II, S. 142 ff.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n33\nsehen nach dem Tode. Hebt sich ihm aber der ,Gedanke' ab, dass so Mancher auch von einem Spaziergange nicht wieder heimkehrt, so sinkt das ,Wissen' des Wiedersehens auf das Niveau des ,blo\u00dfen Glaubens' herab\u00ab. 2) \u00bbEin Forscher, der bisher immer gefunden hat dass A = B sei, nimmt in einigen F\u00e4llen wahr, dass A \u2014 non B sei, und f\u00e4ngt an zu , glauben', A sei am Ende gar nicht \u00fc\u00ab. 3) \u00bbWie die Religion der niederen Culte ihren ,Himmelsgott' sieht, ,wei\u00df\u2018 sie auch, dass der Himmelsgott ist, die Religion der h\u00f6heren Culte, welche den ,Gott im Himmel' nicht mehr sieht, ,glaubt' an den Gott im Himmel\u00ab ; u. s. w.1).\n\u00bbWie die speciellen systematischen Vorbedingungen (des Systems C) es denkbar machen, dass derselbe ,Inhalt' bei verschiedenen Individuen als gegriffenes' oder ,Nicht-Begriffenes' hez. ,Begreifliches' oder ,Unbegreifliches' charakterisirt ist, so machen sie es auch denkbar, dass der problematisirte ,Inhalt' hei den verschiedenen Individuen, hez. bei verschiedenen V\u00f6lkern oder zu verschiedenen geschichtlichen Perioden durch verschiedene Werthe seine Deproblematisation findet\u00ab2). (Wie unter Umst\u00e4nden die vorangegangenen Stoffwechselverh\u00e4ltnisse des centralen Nervensystems individuell entgegengesetzte Aussagen wie \u00bbbegreiflich\u00ab, \u00bbunbegreiflich\u00ab denkbar machen, so machen sie es auch denkbar, dass diese Aussagen bei verschiedenen Individuen, V\u00f6lkern und zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem und\nselbst entgegengesetztem Sinne angewandt werden.) Beispiele: 1) \u00bbDie Individuen pflegen die lebhafte Bewegung der B\u00e4ume im Winde als durch den Wind ,verursacht' zu erkl\u00e4ren; ein Kind erkl\u00e4rte den Wind als von den B\u00e4umen ,gemacht'\u00ab. \u00bbDie Einen ,erkl\u00e4ren' Erscheinungen wie Pflichtgef\u00fchl und Verantwortlichkeit durch , metaphysische Hypothesen'; den Andern werden sie dadurch ,um nichts begreiflicher'; u. s. w. 2) Beispiele von , Andersseit' bei gleichzeitiger ,Dasselbigkeit': \u00bbbei dem Werthpaare ,Gott\u2018 und ,Mensch' durch r en Gedanken, , Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen', oder umgekehrt durch die Annahme, ,der Mensch schaffe sic seinen Gott nach seinem Ebenbilde', \u2014 \u00bbbei dem Werthpaare , ensch und Affe' durch die Annahme, ,der Mensch habe sich aus dem Affen entwickelt ' oder umgekehrt, der, Affe stamme vom Menschen\n1) a. a. O. S. 143 f. 2) Kritik, II, S. 260.\nWundt, Philos. Studieu XILI.\n3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nW. Wundt.\nab\u2018 \u00ab; u. s. w. 3) Hierher geh\u00f6ren endlich die Beispiele ganz abweichender wissenschaftlicher Erkl\u00e4rungen derselben Sache, \u00bbmag es sich handeln um die Constitution der Materie, den Bau der Welt, den Ursprung der Bewegung oder der Organismen, um Staat oder Gesellschaft\u00ab, u. s. w. \u2019).\nDiese Beispiele k\u00f6nnen durchaus als typische betrachtet werden ; es w\u00fcrde aber \u00fcberfl\u00fcssig sein, ihre Anzahl zu h\u00e4ufen. Insbesondere ersieht man aus ihnen deuthch die \u00fcberaus charakteristische Behandlungsweise der Probleme. W\u00e4hrend auf der einen Seite die Begriffe und Lehrs\u00e4tze, die dem abstracten Zusammenhang der Theorie selbst angeh\u00f6ren, in m\u00f6glichst strenger logischer Ordnung entwickelt werden, scheint die \u00bbKritik\u00ab auf der andern Seite beinahe ebenso bem\u00fcht zu sein, in den Erl\u00e4uterungen der allgemeinen S\u00e4tze das sonst Verschiedenartigste zu vermischen.\ne. Die Theorie der Introjection.\nDie \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab beschr\u00e4nkt sich, abgesehen von den soeben erw\u00e4hnten Beispielen aus den verschiedensten Gebieten, auf die Entwicklung des logisch-systematischen Zusammenhangs der Begriffe, der sich aus den gemachten Voraussetzungen ergibt. Sie hat sich der Darlegung des geschichtlichen Verh\u00e4ltnisses, in welchem der Empiriokriticismus zu andern Weltanschauungen steht, offenbar geflissentlich enthalten. W\u00fcrde doch eine solche Darlegung nicht m\u00f6glich gewesen sein, ohne zugleich eine bestimmte Anschauung \u00fcber den historischen Process der Aufeinanderfolge der Weltanschauungen zu Grunde zu. legen. Zur Entwicklung einer solchen fand sich aber in dem logischen Zusammenhang des empiriokritischen Systems kein unmittelbarer Anlass vor, so sehr auch der Abschluss desselben, die Analyse des \u00bbWeltbegriffs\u00ab, bereits auf dieses Bed\u00fcrfniss hinweist und in gewisser Hinsicht sogar das allgemeine Ergebniss vorausnimmt. In die hier gebliebene L\u00fccke tritt nun die Theorie der \u00bbIntrojection\u00ab ein. Sie ist daher ein neuer Bestandtheil des Systems \u2014 nicht einmal der Name findet sich in der \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab \u2014 und in der That besitzt sie\n1) Ebend. S. 261.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n35\ngegen\u00fcber der wesentlich auf biologische und allgemein logische Gesichtspunkte gest\u00fctzten Theorie dieses Werkes schon dadurch einen eigenartigen Charakter, dass ihr eine psychologische Anschauung zu Grunde liegt.\nUnter der \u00bbIntrojection\u00ab versteht Avenarius die Thatsache, dass jeder Mensch zun\u00e4chst den ihn umgehenden Mitmenschen, dann aber auch andern \u00bbUmgebungsbestandtheilen\u00ab nicht nur \u00bbWahrnehmungen der von ihm Vorgefundenen Sachen\u00bb, sondern auch \u00bbDenken, Gef\u00fchl und Wille\u00ab und demnach \u00bbErfahrung und Erkenntniss \u00fcberhaupt\u00ab beilegt oder in sie hineinlegt1). Die Introjection macht in Folge dessen aus dem \u00bbVor mir\u00ab ein \u00bbIn mir\u00ab, aus dem \u00bbVorgefundenen\u00ab ein \u00bbVorgestelltes\u00ab, aus dem \u00bbBestandtheil der .(realen) Umgebung\u00ab einen \u00bbBestandtheil des (ideellen) Denkens\u00ab2). Es ist deutlich, dass auf die Bildung dieses Begriffs der Introjection das Studium des sogenannten \u00bbAnimismus\u00ab wilder V\u00f6lker und die schon des \u00f6ftem gemachte Bemerkung, dass die mannigfachsten philosophischen und wissenschaftlichen Anschauungen als hoch entwickelte Formen jenes primitiven Animismus betrachtet werden k\u00f6nnen, ihren Einfluss ausge\u00fcbt haben, o\nZum Zweck der n\u00e4heren Analyse der Introjection wird nun der n\u00e4mliche Weg objectiver Betrachtung eingeschlagen, wie er zur Ermittlung der Erfahrungsinhalte gedient hat. Es wird daher in diesem Fall nicht etwa von dem Verh\u00e4ltnis des \u00bbals Ich bezeichneten Individuums\u00ab zu einem Mitmenschen, sondern zweier Mitmenschen M und T zu einander ausgegangen. M legt den Bewegungen und Lauten von T theils, wie allen andern Bewegungen, eine mechanische, theils eine \u00bbmehr als mechanische\u00ab oder, kurz ausgedr\u00fcckt, ame-chanische Bedeutung bei3). Indem nun M dies thut, verlegt er in T Wamehmung, Denken, Gef\u00fchl, Wille u. s. w., und er unterscheidet 80 a^s Inhalte seiner \u00bbErfahrung\u00ab einerseits \u00bbSachen\u00ab, anderseits \u2019aber \u00bbWahrnehmungen von Sachen\u00ab. Irgend ein Umgebungsbestandtheil R, welchen T wahmimmt, tritt daher in zwei Bestandteile aus einan-er' ^as Object R und in die Wahrnehmung oder Vorstellung von R. Auf diese Weise f\u00fchrt die Introjection zu einer Verdoppelung\n\u00bb! ^ehbegriff, S. 27.\t2) Bemerkungen, Art. I, S. 154.\ne egriff, S. 26ff.. Bemerkungen, Art. I, S. 147 ff.\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nW. Wundt.\naller Umgebungsbestandjiteile. M schlie\u00dft, das Individuum T habe \u00bbeine \u00e4u\u00dfere Welt, die es wahrnimmt, und eine innere Welt, die aus seinen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erkenntnissen besteht\u00ab; und den n\u00e4mlichen Schluss vollzieht T in Bezug auf M. Auf niederen Stufen der Cultur wird diese Introjection auf alle Umgebungsbe-standtheile angewandt, auf den Baum, den Fluss, die Quelle u. s. w. Auf diese Weise wird jeder Mitmensch T oder jeder ihm \u00e4hnlich aufgefasste Umgebungsbestandtheil zu einem Doppelindividuum. Das erste Individuum hei\u00dft \u00bbK\u00f6rper\u00ab oder \u00bbLeib\u00ab, das zweite \u00bbGeist\u00ab oder \u00bbSeele\u00ab. Die Vorstellung entsteht, dass eine Seele \u00bbeingek\u00f6rpert\u00ab oder \u00bbentk\u00f6rpert\u00ab leben kann u. s. w. '). Auf einer sp\u00e4teren Culturstufe wird die Introjection abstracter gefasst: an die Stelle der Seele tritt die \u00bbinnere Erfahrung\u00ab und die Zerlegung derselben in abstracte Einzelheiten, die \u00bbEmpfindungen\u00ab1 2). Die Gegen\u00fcberstellung \u00bbSubject\u2014Object\u00ab ist ein Product der n\u00e4mlichen Introjection. Indem sie das Object zu einem im Subject Gegebenen macht, gibt sie zugleich dem Object den Charakter eines \u00bbunerfahrbaren Seins\u00ab3). In den philosophischen Weltanschauungen nimmt die Introjection nur verschiedene Gestaltungen an. So nicht blo\u00df in den dualistischen und idealistischen Systemen, sondern auch im Materialismus, wenn er behauptet, dass das Gehirn das Denken habe oder bewirke. Denn das Gehirn ist \u00bbkein Wohnort, Sitz, Erzeuger, kein Instrument des Denkens\u00ab, das Denken \u00bbkein Bewohner oder Befehlshaber, keine andere H\u00e4lfte oder Seite u. s. w., aber auch kein Product, ja nicht einmal eine physiologische Function oder nur ein Zustand \u00fcberhaupt des Gehirns\u00ab4).\nEinen so wichtigen Factor in der Entwicklung des \u00bbWeltbegriffs\u00ab nun aber auch die \u00bbIntrojection\u00ab bilden mag, so ist sie doch kein nothwendiger Bestandtheil dieses Begriffs. Bei dem urspr\u00fcnglichen \u00bbnat\u00fcrlichen Weltbegriff\u00ab, wie er der Stufe einer v\u00f6llig naiven Auffassung der Dinge entspricht, ist sie nicht vorhanden gewesen. Denn dieser nat\u00fcrliche Weltbegriff ist identisch mit der urspr\u00fcnglichen, noch nicht durch irgend welche Einlegungen oder Beibegriffe ver-\n1)\tWeltbegriff, S. 32 ff.\n2)\tWeltbegriff, S. 44ff., Bemerkungen, Art. I, S. 138 ff.\n3)\tWeltbegriff, S. 58 ff.\n4)\tWeltbegriff, S. 76.","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n37\n\u00e4nderten Erfahrung. Diese enth\u00e4lt Sachen und Gedanken, Elemente und Charaktere. Aussagen, welche die urspr\u00fcngliche Erfahrung unverf\u00e4lscht wiedergeben, k\u00f6nnen nur diese Erfahrungsinhalte beschreiben und etwa die regelm\u00e4\u00dfigen Relationen, die zwischen ihnen stattfinden, feststellen. Von einer Introjection, Verdoppelung, von der Aussage eines \u00bbVerursachens\u00ab oder \u00bbBewirkens\u00ab oder gar 4= von der Unterscheidung eines \u00bberfahrbaren\u00ab und eines \u00bbunerfahrbaren Seins\u00ab aber kann hei diesem aller Philosophie vorausgehenden nat\u00fcrlichen Weltbegriff nicht die Rede sein.\nDemnach sind nun alle sp\u00e4teren Weltbegriffe, die diesen Standpunkt einfach beschreibender Betrachtung verlassen haben, nothwen-dig \u00bbVariationen\u00ab jenes nat\u00fcrlichen Weltbegriffs, die durch den Vorgang der \u00bbIntrojection\u00ab entstanden sind. Da aber augenscheinlich zugleich durch diesen der Weltbegriff gef\u00e4lscht und mit v\u00f6llig unzul\u00e4ssigen hypothetischen Zugaben versehen worden ist, so besteht nunmehr die wissenschaftliche Aufgabe in der v\u00f6lligen Ausschaltung der Introjection und in der Restitution des nat\u00fcrlichen / Weltbegriffs. Beide Vorg\u00e4nge fallen zusammen. Denn wenn die Introjection beseitigt ist, so muss der nat\u00fcrliche \u00bbmenschliche Weltbegriff\u00ab von selbst wiederhergestellt sein1).\nFreilich ist jedoch unter dieser Wiederherstellung nicht eine solche verstanden, die den Standpunkt der urspr\u00fcnglichen reinen Erfahrung absolut unver\u00e4ndert l\u00e4sst, sondern eine solche, die zugleich durch die bei der Kritik der Introjection gewonnenen Ergebnisse gel\u00e4utert ist. Wiederhergestellt werden soll vor allem die \u00bbnat\u00fcrliche\u00ab Weltansicht durch die R\u00fcckkehr zu einem rein objectiv betrachtenden und beschreibenden Standpunkt. In diesem Sinne ist z. B. \u00bbnicht der Baum mir gegeben\u00ab, sondern das \u00bbIch-Bezeichnete ist im selben Sinne ein Gegebenes wie das als Baum Bezeichnete\u00ab. \u00bbDas Ich differirt von den Bestandteilen seiner Umgebung wohl durch eine gr\u00f6\u00dfere Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit (so z. B. durch eine r\u00e4umlich-zeiU liehe Beziehung zu Gedanken); aber es unterscheidet sich nicht ( urch die Art, wie die Bestandteile des Ich und die der Umgebung erfahren werden\u00ab. Indem nun das Ich und die Umgebung zu jeder ahrung geh\u00f6ren, bilden beide zusammen jene \u00bbempiriokritische\n1) Weltbegriff, S. 77 ff.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nW. Wundt.\nPrincipalcoordination\u00ab, von welcher die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab als urspr\u00fcnglichem \u00bbBefund\u00ab ausging. Damit ist dann zugleich jene Analyse gefordert, die die \u00bbKritik\u00ab auf Grund des gedachten Befundes ausf\u00fchrte: an die Stelle des \u00bbCentralgliedes\u00ab der Principalcoordination, des \u00bbals Ich Bezeichneten\u00ab oder, bei objectiver Betrachtung, des aussagenden Mitmenschen, hat das \u00bbSystem (7\u00ab zu treten: das ist die \u00bbempiriokritische Substitution\u00ab. Aber wenn nun auf bestimmte Aenderungsbedingungen der Umgebung die Aenderungen des Systems C, und wenn dann wieder auf die Schwankungen des Systems C alle mitmenschlichen Aussagen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, so soll man auch dabei nicht an ein \u00bbBewirken\u00ab oder \u00bbVerursachen\u00ab denken, sondern lediglich an Vorgefundene Verh\u00e4ltnisse der \u00bbAbh\u00e4ngigkeit\u00ab, wie sie rein beschreibend sich feststellen lassen1).\nMit der L\u00f6sung dieser Aufgabe ist augenscheinlich das Programm erf\u00fcllt, auf das die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab schlie\u00dflich hingewiesen hatte. Dort war als definitiver Welthegriff jener reine Universalhegriff bezeichnet worden, der, nach der Abstreifung aller \u00bbBeibegriffe\u00ab, als letztes, nicht mehr zu ver\u00e4nderndes Resultat der vorausgegangenen \u00bbVariationen\u00ab des \u00bbnat\u00fcrlichen Weltbegriffs\u00ab zur\u00fcckbleibe. (Siehe oben S. 28.) Die Theorie der Introjection hat gezeigt, dass alle jene Beihegriffe und Variationen Producte der Introjection sind, nach deren Ausschaltung so von selbst der \u00bbnat\u00fcrliche Weltbegriff\u00ab sich wiederherstellt. Freilich aber geschieht dies nicht unver\u00e4ndert \u2014 sonst w\u00fcrde sich ja aller Wahrscheinlichkeit nach der n\u00e4mliche Process der Variationen wiederholen m\u00fcssen \u2014\u25a0; sondern, indem gleichzeitig der urspr\u00fcngliche weitere in den engeren Begriff der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab \u00fchergegangen und, wie man wohl noch hinzuf\u00fcgen muss, indem das der reinen Erfahrung nat\u00fcrlich ganz unbekannte \u00bbSystem C\u00ab als das wahre Centralglied der in aller Erfahrung enthaltenen \u00bbPrincipalcoordination\u00ab erkannt ist, hat jener Weltbegriff ^zugleich einen definitiven Charakter, den einer \u00bbcon-stanten Multiponiheln h\u00f6chster Ordnung\u00ab angenommen.\nEine besonders wichtige Bedeutung hat die Theorie der Introjection f\u00fcr die Bestimmung des Gegenstandes und der Aufgabe der Psychologie. Dass der Begriff \u00bbSeele\u00bb, \u00bbinnere Erfahrung\u00ab, die\n1) Weltbegriff, S. 82 ff.","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n39\nUnterscheidung \u00bbPhysisches und Psychisches\u00ab '), der sogenannte \u00bbPa-rallelismus des Physischen und Psychischen\u00ab, sofern man diesen als metaphysisches Princip versteht1 2), lediglich Producte der Introjection sind, versteht sich nach den obigen Ausf\u00fchrungen von selbst. Die \u00bbAusschaltung\u00ab der Introjection ist demnach auch das Haupterforderniss einer wissenschaftlichen Psychologie. Zu diesem Zweck ist vor allem zur\u00fcckzugehen auf die \u00bbempiriokritische Principalcoordi-nation\u00ab. Nach ihr ist zu einer \u00bbvollen Erfahrung\u00ab immer ein menschliches Individuum, bez. das durch \u00bbempiriokritische Substitution\u00ab f\u00fcr dasselbe eingesetzte \u00bbSystem U\u00ab, und eine Umgebung erforderlich. Daraus erhellt, dass es innerhalb dieser vollen Erfahrung ein \u00bbPhysisches\u00ab, eine \u00bbMaterie\u00ab ebenso wenig wie ein \u00bbPsychisches\u00ab im absoluten Sinne geben kann. Die \u00bbMaterie\u00ab w\u00fcrde die Gesammt-heit der Gegenglieder unter Abstraction von dem Centralglied, das \u00bbPsychische\u00ab ein Centralglied unter Abstraction von den Gegengliedern sein. Da das \u00bbGedachte\u00ab nur ein \u00bbNach-Nacbbild\u00ab desjr\u00f6r-perlosen Gegenstandes, also von diesem abh\u00e4ngig ist, und da ebenso die \u00bbCharaktere\u00ab durchaus den sachlichen Elementen unserer Erfahrung anhaften, so gibt es aber auch keine von Umgebungsbestand-theilen getrennt denkbare Erfahrung. Ebenso verh\u00e4lt es sich mit dem Begriff des \u00bbMehr-als-Mechanischen\u00ab, da derselbe ohne den sich bewegenden Mitmenschen undenkbar ist3). Nicht minder ist es unstatthaft, etwa die \u00bbEmpfindung\u00ab (z. B. eines Nadelstichs) als unabh\u00e4ngiges Merkmal des Psychischen zu verwenden, da die Aussage, dass das Empfindungs- oder Leblose ein \u00bbblo\u00dfer Umgebungsbestand-theil\u00ab ohne Centralglied sei, vom \u00f6rtlichen Standpunkt des Aussagenden aus unzul\u00e4ssig ist. Vielmehr kann hier immer [nur die Abh\u00e4ngigkeit einer bestimmten partiellen Erfahrung, z. B. schmerzhafter\n1)\tBemerkungen, Art. I und II.\n2)\tBemerkungen, III, S. 14. Als empirisches Princip nimmt ihn auch Avenarius in dem Sinne an, dass \u00bbElemente und Charaktere\u00ab logische Abh\u00e4ngige des \u00bbSystems C\u00ab darstellen sollen, und sogar noch in dem andern, dass zwischen der \u00bbmechanischen\u00ab und der \u00bbamechanischen\u00ab Bedeutung menschlicher Bewegungen ein Parallelismus stattfinde. (Ebend. S. 14, 15.) Wie es aber scheint,\n\u00a3aU,,t ,.'^'Venar^U8\u2019 t*asa iu der gegenw\u00e4rtigen Psychologie der metaphysische iarallehsmus der herrschende sei.\n3)\tBemerkungen, Art. Ill, S. 2 ff.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nW. Wundt.\nStich, von einer andern partiellen Erfahrung, Vorhandensein eines Nervensystems, festgestellt werden1).\nIst demnach die \u00bbvolle Erfahrung erhaben \u00fcber den Dualismus von Physischem undfPsychischem\u00ab, so kann Gegenstand der Psychologie nur noch \u00bbdie Betrachtung der ,Erfahrungen \u2018 unter dem besonderen Gesichtspunkte ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Individuum (vom System C)\u00ab sein. Diese \u00bbpsychologischen Abh\u00e4ngigkeiten\u00ab stehen demnach, als solche der \u00bbElemente und Charaktere von den bestimmten Aenderungen des Systems C\u00ab, den \u00bbphysikalischen Abh\u00e4ngigkeiten\u00ab, die dem Gesetz der Erhaltung der Energie folgen, und den \u00bbmathematischen\u00ab, die sich auf das Verh\u00e4ltniss von Gr\u00f6\u00dfen beziehen, gegen\u00fcber. Alle drei k\u00f6nnen auch unter dem BegrifE der \u00bblogischen Abh\u00e4ngigkeit\u00ab vereinigt werden, insofern f\u00fcr diese stets das Merkmal gilt, dass, wenn sich von zwei Gliedern einer Functionalbeziehung das erste \u00e4ndert, auch das zweite sich \u00e4ndert2).\nDa das \u00bbSystem C\u00ab irgend eines Mitmenschen oder eines andern lebenden \"Wesens f\u00fcr das \u00bbIch bezeichnete Individuum\u00ab Gegenglied einer Principalcoordination ist, d. h. zu den Umgebungsbestandtheilen geh\u00f6rt, so ist es \u00fcbrigens klar, dass der Unterschied zwischen Oentral-glied und Gegenglied, zwischen dem System C und seiner Umgebung kein absoluter, sondern nur ein relativer sein kann. Eben hieraus geht aber auch hervor, dass wir berechtigt sind, in unserer Umgebung andere Individuen, d. h. andere Systeme C als unser eigenes, als Centralglieder zu betrachten. Dies wird augenscheinlich \u00fcberall da der Pall sein, wo wir ein centrales Nervensystem in ihnen vorfinden. Die Existenz des letzteren bildet daher auch das Kriterium, nach welchem die urspr\u00fcngliche \u00bbErkenntniss\u00ab der wilden Philosophie, dass alle Objecte Wesen wie ich seien, eingeschr\u00e4nkt werden muss3). Die Feststellung eines blo\u00df relativen Unterschiedes von Centralglied und Gegenglied legt ferner zwei Voraussetzungen nahe, von denen die eine f\u00fcr das Verh\u00e4ltniss des so genannten \u00bbUnbewussten\u00ab zum Bewusstsein, die andere f\u00fcr die gesammte Weltanschauung von Bedeutung ist. Erstens ist irgend ein individuelles System C nicht fortw\u00e4hrend als actuelles Centralglied zu jedem beliebigen Umgebungs-\n1) Ebend. S. 12 f. 2) Bemerkungen, Art. Ill, S. 17.\n3) Bemerkungen, Art. Ill, S. 130 ff.","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n41\nbestandtheil vorauszusetzen. Vielmehr kann ein bestimmter zuvor wahrgenommener Umgebungsbestandtheil in Folge einer bestimmten Aenderung des Systems C nicht mehr zur \u00bbAbhebung\u00ab gelangen. In solchem Falle kann man dann sagen, das System C sei in Bezug auf jenen Umgebungsbestandtheil aus einem actuellen zu einem potentiellen Centralglied geworden1).0 Zweitens kann das System C, so weit wir es auch in der Entwicklung zur\u00fcckverfolgen m\u00f6gen, niemals als absolutes Nichts gedacht werden, denn, sofern irgend welche Umgebungsbestandtheile als bef\u00e4higt angenommen werden m\u00fcssen, zu Systemen C werden zu k\u00f6nnen, d\u00fcrfen diese Gegenglieder auch in Bezug auf eine k\u00fcnftige individuelle Umgebung \u00bbals potentielle Centralglieder (wenn auch eventuell niederster Ordnung) angenommen werden\u00ab, und es werden dabei dieselben Vorg\u00e4nge als Bedingungen f\u00fcr den Uebergang lebloser Umgebungsbestandtheile in Centralglieder vorausgesetzt werden m\u00fcssen, durch welche auch bestimmte Aenderungen des bereits zur Entwicklung gelangten Systems C und dadurch bestimmte Elemente und Charaktere \u00bbverwirklicht werden\u00ab. Diese Betrachtungsweise soll zugleich dem Naturforscher die Berechtigung gehen, auch nach Zust\u00e4nden der Welt vor der Existenz des Menschen zu fragen, wobei freilich der Fragende niemals vermeiden k\u00f6nne sich selbst hinzuzudenken2). \u00b0 !\u2019J,\n2. Kritische Beleuchtung der empiriokritischen Voraussetzungen.\nAvenarius hat es als seine Absicht ausgesprochen, \u00bballes theoretische wie praktische Verhalten als eine Reihe von Folgen aus einer einzigen Voraussetzung\u00ab zu entwickeln (s. oben S. 7). Gleichwohl bilden schon die beiden Axiome, die er unmittelbar diesem Ausspruch folgen l\u00e4sst, zwei von einander unabh\u00e4ngige Voraussetzungen. Der Satz, dass alle wissenschaftlichen Erkenntnissformen Entwick-lungsproducte vorwissenschaftlicher seien, hat mit dem andern, dass sich jedes menschliche. Individuum in einer Umgebung vorfindet, und dass darum Individuum und Umgebung nicht getrennt von einander gedacht werden k\u00f6nnen, offenbar gar nichts gemein. Jener ist das Resultat einer historisch-psychologischen Abstraction, die erst sp\u00e4ter\n1) Ebend. S. 137.\n2) Ebend. S. 138 ff. und besonders 14i$ f.","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nW. Wundt.\nin der unabh\u00e4ngig entstandenen Theorie der \u00bbIntrojection\u00ab ihre n\u00e4here Ausf\u00fchrung gefunden hat. Dieser, der so genannte \u00bb empiriokritische Befund\u00ab oder die \u00bbPrincipalcoordination\u00ab, gibt sich selbst als das Product einer Selbstbesinnung \u00fcber das \u00bbwas ich vor allem Philo-sophiren in mir finde\u00ab *).\nAuch abgesehen von jenem Princip der Entwicklung der wissenschaftlichen Begriffe aus vorwissenschaftlichen ist nun aber der erw\u00e4hnte \u00bbBefund\u00ab keineswegs die einzige Voraussetzung des Empirio-kriticismus. In einem interessanten Sendschreiben an Avenarius hat W. Schuppe auf das \u00fcbereinstimmende Ergebniss der \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab und der \u00bbimmanentenPhilosophie\u00ab hingewiesen1 2). Gegen diese Ansicht ist allerdings von \u00bbempiriokritischer\u00ab Seite lebhaft protestirt worden3). Auch muss man zugeben, dass Schuppe wohl mit Unrecht von einem \u00fcbereinstimmenden \u00bbErgebniss\u00ab gesprochen hat. In ihren Ergebnissen gehen, wie mir scheint, beide Systeme so weit wie m\u00f6glich auseinander4). Aber h\u00e4tte Schuppe gesagt, die allgemeinste Voraussetzung der immanenten Philosophie und des Empiriokriticismus sei die n\u00e4mliche, so w\u00fcsste ich nicht, was sich dagegen einwenden lie\u00dfe. u Jene \u00bbPrincipalcoordination\u00ab, die Avenarius als den urspr\u00fcnglichen \u00bbempiriokritischen Befund\u00ab bezeichnet, aus dem sich alle seine weiteren Folgerungen im wesentlichen ergeben sollen, ist auch von den s\u00e4mmtlichen Vertretern der immanenten Philosophie klar und deutlich als ihre letzte Grundvoraussetzung betrachtet worden, und diese haben ebenso energisch wie die Empiriokritiker den Irrthum der \u00bbVerdoppelung\u00ab der urspr\u00fcnglich einheitlich gegebenen Erfahrung ger\u00fcgt und auf die Nothwendig-keit einer R\u00fcckkehr zu dem \u00bbnat\u00fcrlichen Weltbegriff\u00ab hingewiesen 5). Wenn die immanente Philosophie jene Verdoppelung auf die Gegen\u00fcberstellung von Object und Wahrnehmung oder Vorstellung, der Empiriokriticismus auf die von Leib und Seele, von \u00e4u\u00dferer und\n1) Weltbegriff, S. 4, Bemerkungen, Art. I, S. 144.\nI 2) Schuppe, Vierteljahrsschr. f. wissensch. Phil. XVII, S. 364ff.\n/ 3) R. Willy, ebend. XVIII, S. Iff.\n4)\tDer Leser, der die im vorigen Artikel enthaltene Zusammenfassung der Anschauungen der immanenten Philosophie (a. a. O. S. 318 ff.) mit der oben versuchten Uebersicht des empiriokritischen Systems vergleicht, wird das ohne weiteres best\u00e4tigen.\n5)\tVgl. den ersten Artikel, S. 326 ff.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n43\ninnerer Erfahrung u. dgl. bezieht, so trifft seihst dieser Unterschied mehr den Ausdruck als die Sache, o Denn als \u00bbSeele\u00ab, \u00bbBewusstsein\u00ab oder \u00bbinnere Erfahrung\u00ab gilt beiden im wesentlichen die Summe unserer Vorstellungen, der eigene K\u00f6rper aber als ein Object unter anderen Objecten. F\u00fcr den logischen Charakter der \u00bbPrincipal-coordination\u00ab ist es vollends ziemlich gleichg\u00fcltig, oh man als die beiden Glieder derselben die Umgehung und das \u00bbBewusstsein\u00ab annimmt, wie die immanente Philosophie thut, oder die Umgehung und das \u00bbSystem C\u00ab, wof\u00fcr sich der Empiriokriticismus entscheidet. In beiden F\u00e4llen handelt es sich um specielle \u00bbSubstitutionen\u00ab, die den allgemeinen Begriff unber\u00fchrt lassen, und die also in hinzutretenden weiteren Voraussetzungen ihren Grund haben m\u00fcssen.\nEhe wir nun an diese herantreten, wird es nicht unn\u00fctz sein daran zu erinnern, dass jene \u00bbPrincipalcoordination\u00ab in der Form, in der sie sowohl von dem Empiriokriticismus wie von der immanenten Philosophie aufgestellt und verwerthet wird, weder als psychologische Thatsache noch als Postulat der empirischen Wissenschaften aufrecht erhalten werden kann. Psychologisch ist es nicht richtig, dass das Individuum zu jedem Object sich selbst hinzudenke. Vielmehr ist der Satz, dass zu jedem Vorstellungsobject j ein vorstellendes Subject erforderlich sei, erst das Product einer er-kenntnisstheoretischen Reflexion. 4 Die Behauptung, dass wir das Ob- ' jeet \u00fcberhaupt nicht ohne das Subject denken k\u00f6nnen, ist daher, ob man sich nun der Ausdr\u00fccke \u00bbObject\u00ab und \u00bbSubject\u00ab direct bedienen oder dieses hinter dem als \u00bbIch bezeichneten Individuum\u00ab oder hinter dem \u00bbSystem C\u00ab verstecken mag, eines jener tr\u00fcgerischen Erzeugnisse der Reflexionspsychologie, welche dadurch entstehen, dass logische Ueberlegungen \u00fcber das thats\u00e4chlich Gegebene mit diesem selber verwechselt werden.\u00bb Die vollkommen berechtigte Zur\u00fcckweisung der in der Vulg\u00e4rpsychologie und in zahlreichen Erkenntnisstheorien \u00fcblichen Trennung des einheitlichen Vorstellungsobjects in zwei von Anfang an von einander verschiedene Dinge, in das Object und die Vorstellung, vermischen beide Denkweisen mit der ganz andern, psychologisch und erkenntnisstheoretisch [unhaltbaren Annahme, dass ei dem Object immer zugleich an den Vorstellenden gedacht werden m\u00fcsse, o Eben darum aber, weil uns thats\u00e4chlich in der Wahrnehmung jecte ohne hinzugedachte Subjecte gegeben sein k\u00f6nnen, ist nun","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nW. Wundt.\nauch dieses Hinzudenken kein von der Wissenschaft unvermeidlich zu erf\u00fcllendes Postulat. In der That abstrahirt die Naturwissenschaft von dem wahmehmenden Subject oder den ihm substituirten H\u00fclfs-begriffen, wie dem \u00bbBewusstsein\u00ab, dem als \u00bbSystem C\u00ab gedachten \u00bbCentralglied\u00ab u. s. w., vollst\u00e4ndig; und sie kann dies deshalb thun, weil in Wirklicheit die so genannte \u00bbPrincipalcoordination\u00ab seihst kein constanter Erfahrungsinhalt, sondern ein Product logischer Reflexion ist1).\u201c W\u00e4re sie wirklich ein jeder Erfahrung inh\u00e4renter Be-standtheil, so w\u00fcrden nicht nur zahlreiche Begriffsbildungen, die sich in der Naturwissenschaft mindestens als heuristische H\u00fclfsmittel bew\u00e4hrt haben, wie z. B. die Atome, sondern es w\u00fcrden eigentlich auch alle Probleme, die \u00fcber die Existenz des menschlichen Individuums hinausreichen, hinf\u00e4llig werden. Indem die Empiriokritiker in der That diese Folgerung ziehen, verwickeln sie sich daher, gerade so wie die Immanenzphilosophen, in einen unl\u00f6sbaren Widerspruch mit dem Standpunkt der positiven Naturwissenschaft, einen Widerspruch, den sie vergeblich durch Ausfl\u00fcchte und H\u00fclfsannahmen aufzul\u00f6sen bem\u00fcht sind2).\nJener weiteren Voraussetzungen, die das empiriokritische System zu dem angeblich urspr\u00fcnglichen Befund der \u00bbPrincipalcoordination\u00ab im Laufe der Untersuchung theils ausdr\u00fccklich, theils stillschweigend hinzubringt, gibt es nun in Wirklichkeit eine ziemlich gro\u00dfe Anzahl. Sie lassen sich im allgemeinen in drei Classen von Annahmen und in eine diesen hinzugef\u00fcgte methodologische Forderung unterscheiden.\nDie erste dieser Classen besteht in der f\u00fcr alle objectiven Vorg\u00e4nge als g\u00fcltig vorausgesetzten naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Das Princip derselben, dass alle qualitativen Ver\u00e4nderungen auf quantitative zur\u00fcckzuf\u00fchren seien, und das f\u00fcr diese Aenderungen ma\u00dfgebende Gesetz der Erhaltung der Energie werden ohne weiteres als ein Gegebenes und Bekanntes angenommen. Diesem Begriffssystem der naturwissenschaftlichen Weltanschauung gegen\u00fcber werden dagegen alle Begriffe der Psychologie und der so genannten Geisteswissen-\n1)\tVgl. hierzu den ersten Artikel, S. 342 f.\n2)\tVgl. hier\u00fcber den folgenden dritten Artikel (Nr. 5), in welchem der naturwissenschaftliche und der psychologische Standpunkt des Empiriokriticismus n\u00e4her beleuchtet werden sollen.","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n45\nsch\u00e4ften als ein Unbekanntes, erst noch auf seine Bedingungen Zur\u00fcckzuf\u00fchrendes bezeichnet. Obgleich die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab nicht wenige S\u00e4tze durch nichts anderes als ihre Denknoth-wendigkeit begr\u00fcndet, so vers\u00e4umt sie es doch selten, den Begriff des \u00bbDenkens\u00ab selbst, ebenso wie den des \u00bbWissens\u00ab, \u00bbBewusstseins\u00ab u. s. w. durch beigef\u00fcgte Anf\u00fchrungszeichen als einen fragw\u00fcrdigen Bestand zu charakterisiren. Eine zweite Classe von Voraussetzungen besteht sodann in gewissen Hypothesen \u00fcber die allgemeinen Func-tionsformen des centralen Nervensystems, die sich auf einige der Physiologie entnommene Anschauungen und Erfahrungss\u00e4tze st\u00fctzen. Dahin geh\u00f6ren namentlich : 1) die Annahme eines centralsten Systems, welches das Individuum in seiner Totalit\u00e4t zu vertreten geeignet sei (\u00bbempiriokritische Substitution\u00ab), 2) die Annahme, dass Stoffwechsel und Arbeitsleistung bez. Eunctions\u00fcbung derart in Wechselbeziehung stehende physiologische Vorg\u00e4nge seien, dass sich dadurch immer wieder ein Gleichgewicht herzustellen strebe. Hierzu kommen dann, als eine dritte, etwas abseits stehende psychologische] Voraussetzung, die unter dem Begriff der \u00bbIntrojection\u00ab zusammengefassten \u00bbVerdoppelungen\u00ab des Individuums, seiner Mitmenschen und anf\u00e4nglich (im animistischen Stadium) der Objecte \u00fcberhaupt. Endlich ist diesen Voraussetzungen die f\u00fcr den Gang der Untersuchung entscheidende Forderung hinzuzuf\u00fcgen, dass alle irgendwie denkbaren Erkenntniss-, Gef\u00fchlswerthe u. s. w. aus den Schwankungen des centralen Nervensystems um die erw\u00e4hnte Gleichgewichtslage abzuleiten seien.\nIn der letzterw\u00e4hnten Forderung besteht nun zweifellos die wichtigste Annahme des empiriokritischen Systems. Sie besitzt aber freilich nicht wie die andern den Charakter einer als Axiom behandelten Voraussetzung, sondern sie gibt sich als ein aus den sonstigen Voraussetzungen bereits abgeleitetes Postulat. Gleichwohl sind die Beweisgr\u00fcnde f\u00fcr diese fundamentale Forderung so unvollst\u00e4ndig entwickelt, dass man in ihr thats\u00e4chlich wohl ebenfalls eine a priori gemachte Annahme sehen muss. Wenn man n\u00e4mlich die an verschiedenen Orten ge\u00e4u\u00dferten Gedanken, die als Beweisgr\u00fcnde gelten k\u00f6nnten, zusammensucht, so d\u00fcrften sich, abgesehen von einigen wenig erheblichen, weil verschieden deutbaren physiologischen Thatsachen, folgende auffinden lassen: 1) Nach dem \u00bbempiriokritischen Befund\u00ab","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nW. Wundt.\ngeh\u00f6ren zu jeder Erfahrung Umgebungsbestandtheile und das erfahrende Individuum;\u00f6dem letzteren kann aber nach den Erfahrungen der Physiologie f\u00fcr alle Functionen der Wahrnehmung, des Gef\u00fchls u. s. w. das centrale Nervensystem substituirt werden, also ist f\u00fcr alle gedachten Functionen allein das centrale Nervensystem eine constante Bedingung, zu der Umgebungsbestandtheile als variable Bedingungen hinzutreten. 2) Nach einer allgemeinen methodologischen Regel ist nicht das Bekannte auf das Unbekannte, sondern das Unbekannte auf das Bekannte zur\u00fcckzuf\u00fchren. Nun sind die Functionen des Nervensystems und die Energiegesetze, denen sie folgen, ein Bekanntes, die Begriffe des \u00bbDenkens\u00ab, \u00bbWissens\u00ab, \u00bbBewusstseins\u00ab u. s. w. ein Unbekanntes. Also ist es gefordert, die letzteren aus den ersteren abzuleiten, o\n\u00b0 Dass diese beiden Argumente im wesentlichen gar keine anderen sind als die l\u00e4ngst bekannten, die in der materialistischen Literatur des 18. Jahrhunderts fortw\u00e4hrend wiederkehren, ist augenf\u00e4llig.\u00bb Man kann auch nicht einmal sagen, dass sie eigentlich unter einen neuen Gesichtspunkt ger\u00fcckt werden.\u00bb Wenn das erste die \u00bbPrincipalcoordi-nation\u00ab als den Grund f\u00fcr die Statuirung des centralen Nervensystems als der allein constanten Bedingung jeder Art von Erfahrung anf\u00fchrt, so steht dem, abgesehen von dem zweifelhaften Charakter der Principalcoordination, das Bedenken im Wege, dass die \u00bbempirio-kritische Substitution\u00ab des \u00bbSystems C\u00ab f\u00fcr das Individuum offenbar ein willk\u00fcrlicher Act ist. o Die \u00bbPrincipalcoordination\u00ab enth\u00e4lt das ganze Individuum, zu dem insbesondere auch alle die Eigenschaften desselben geh\u00f6ren, die wir als \u00bbWahmehmen\u00ab, \u00bbF\u00fchlen\u00ab, \u00bbErkennen\u00ab u. s. w. bezeichnen.!\u00bb Wird behauptet, dass die unter dem Einfluss der Umgebungsbestandtheile erfolgenden Functionsschwankungen des Nervensystems die vollst\u00e4ndigen und ausschlie\u00dflichen Bedingungen jener Eigenschaften seien, so ist das ebenso gut eine unbewiesene Voraussetzung, als wenn Jemand die \u00bbSeele\u00ab oder irgend ein anderes, von dem Nervensystem verschiedenes \u00bbSystem C\u00ab als eine solche unver\u00e4nderliche Bedingung annimmt.0 In der That ist daher die Zur\u00fcckbeziehung aller unmittelbar gegebenen Erfahrungsinhalte auf \u00bbSchwankungen\u00ab der Gehirnfunctionen streng genommen gerade so gut eine \u00bbIntrojection\u00ab wie die Zur\u00fcckf\u00fchrung auf irgend welche transcendente \u00bbseelische\u00ab Vorg\u00e4nge, wie z. B.'auf St\u00f6rungen","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n47\nund Selbsterhaltungen der Seele im Sinne Herb art\u2019s.0 Der einzige Unterschied zwischen beiden F\u00e4llen ist der,0 dass man das Gehirn sehen kann, w\u00e4hrend man die Her hart\u2019sehe Seele nicht sehen kann. 1 Heser Unterschied ist aber nicht wesentlich. \u00b0 Denn die Schwankungen und Selhsterhaltungen des Gehirns kann man ebenso wenig wie die mit ihnen nebenbei in merkw\u00fcrdiger Begriffsverwandtschaft stehenden St\u00f6rungen und Selbsterhaltungen der Herbart\u2019schen Seele als solche wahrnehmen, und noch weniger kann davon die Bede sein, dass alles menschliche Erkennen, Denken, F\u00fchlen, Wissen u. s. w. auf solche Schwankungen als die bedingende \u00bbunabh\u00e4ngige Vitalreihe \u00ab zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnte.0 H\u00e4tte der Empiriokriticismus nicht dem Begriff der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab eine von der bisherigen g\u00e4nzlich verschiedene Bedeutung gegeben, so k\u00f6nnte man ihn fragen, warum er denn nicht in der wechselseitigen Zuordnung der \u00bbVitalreihen\u00ab der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab folgt, das hei\u00dft, warum er nichUBeziehungen zwischen centralen Functionen und Erkenntniss- und Ge-f\u00fchlswerthen da statuirt, wo sie sich empirisch nachweisen lassen, ebenso dann aber auch Beziehungen der Abh\u00e4ngigkeit dieser psychologischen Werthe unter einander, wo die Erfahrung sie darhietet. Dieser Regel der wirklichen \u00bbreinen Erfahrung\u00ab folgt aber der Empirio-kriticismus nicht, sondern indem er den Aenderungen der \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihen\u00ab \u00fcberall solche der \u00bbunabh\u00e4ngigen\u00ab als Bedingungen vorangehen l\u00e4sst, unterliegt auch er dem von ihm so scharfsinnig entwickelten Gesetz der Verdoppelung.\u00bb Die \u00bbunabh\u00e4ngige Vitalreihe\u00ab ist die Verdoppelung der \u00bbabh\u00e4ngigen\u00ab, denn im allgemeinen ist nur diese beobachtet, jene aber ist hypothetisch hinzuconstruirt.0 Ob man das Wesen, fiir das man einen Mechanismus erdichtet, von dem in irgend einer Weise unser Erkennen und F\u00fchlen abh\u00e4ngig sein soll, \u00bbSystem C\u00ab oder \u00bbSeele\u00ab nennt, ist im Grunde gleichg\u00fcltig.\u00bb Beidemal folgt man dem metaphysischen Drang, den wechselnden Fluss \u00abes Geschehens an ein unver\u00e4nderliches Sein, an eine Substanz zu un en. Mag auch das \u00bbSystem C\u00ab den Ver\u00e4nderungen des Stoff-\nr ,.!el.S Und der UebunS unterworfen sein, in seiner Tendenz zur Stabilit\u00e4t hat es Beharrlichkeit genug bewahrt, um seine durch die munengung physiologischer Ueberlieferungen nur wenig alterirte Ver-tsc \u00eeaft mit den alten metaphysischen Substanzhegriffen erkennen assen. Wenn der Empiriokriticismus dem vulg\u00e4ren Materialismus","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nW. Wundt.\nvorwirft, dass er mit Ausdr\u00fccken, wie das G-ehim \u00bbhabe\u00ab oder \u00bbbewirke\u00ab das Denken, ein durch tbats\u00e4chliche Beobachtung und Beschreibung \u00fcberhaupt nicht constatirbares Verh\u00e4ltniss ausdr\u00fccke, und dass daher nur von bedingenden und von abh\u00e4ngigen Ver\u00e4nderungen die Bede sein k\u00f6nne, so ist diese B\u00fcge gewiss gerechtfertigt.51 Aber in der Sache wird durch die vorsichtigere Wahl des Ausdruckes nichts ge\u00e4ndert. Auch Herbart war besonnen genug, von einem \u00bbHaben\u00ab und \u00bbWirken\u00ab der Seele in jenem unkritischen Sinne nicht zu reden. Die Hauptsache ist doch die Frage: wo ist denn die \u00bbreine Erfahrung\u00ab , die jene von der empiriokritischen Theorie vorausgesetzten Schwankungen und Vitaldifferenzen verschiedener Ordnung als \u00bbunabh\u00e4ngig Ver\u00e4nderliche\u00ab zu den abh\u00e4ngig ver\u00e4nderlichen Werthen unseres Denkens, F\u00fchlens, Wissens u. s. w. nachweist?0 Die Antwort kann nur lauten: alle jene Processe sind genau ebenso hypothetisch und transcendent wie die mancherlei anderen H\u00fclfsvorstellungen anderer substantieller Seelenhypothesen.\nMit diesen Bemerkungen ist die an zweiter Stelle als St\u00fctze des empiriokritischen Standpunktes angef\u00fchrte Maxime, dass das Unbekannte auf das Bekannte zur\u00fcckzuf\u00fchren sei, nicht umgekehrt, im Grunde schon erledigt. Als methodologische Begel hat diese Maxime ihre relative Berechtigung, so lange es sich um Thats\u00e0chen eines und desselben Erfahrungsgehietes handelt, die im wesentlichen unter den n\u00e4mlichen Erkenntnissbedingungen stehen und die n\u00e4mlichen Er-kenntnissmittel erfordern. Wo diese Bedingung nicht zutrifft, da verliert aber die Begel ihre G\u00fcltigkeit. Wenn ein Physiologe behauptet, die psychischen Vorg\u00e4nge seien aus den Gehirnfunctionen abzuleiten, weil diese bekannt, jene aber unbekannt seien, so ist die G\u00fcltigkeit dieses Postulates einfach deshalb zur\u00fcckzuweisen, weil der Physiologe dabei das ihm zuf\u00e4llig Bekannte oder Unbekannte mit dem Bekannten oder Unbekannten \u00fcberhaupt verwechselt. Ob die Gehirnfunctionen als solche, wenn man sie nicht unter einem einseitigen Standpunkte zuf\u00e4lliger individueller Kenntnisse, sondern unter dem der wissenschaftlichen Erkenntniss \u00fcberhaupt betrachtet, bekannter oder unbekannter sind als die \u00bbBewusstseinsvorg\u00e4nge\u00ab, das ist eine gar nicht ohne weiteres zu entscheidende Frage. Und wenn sie seihst entschieden w\u00e4re, so w\u00fcrde sich damit immer noch nichts anfangen lassen, sobald sich zeigen sollte, dass es 'sich in beiden F\u00e4llen","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n49\num abweichende Erkenntnissgebiete oder Erkenntnissbedingungen handelt.\nNun ist freilich zuzugeben, dass Avenarius den Gegensatz des Bekannten und des Unbekannten zun\u00e4chst in einem andern Sinn versteht als in dem zuf\u00e4llig einander ausschlie\u00dfender Specialkenntnisse. Als das Allbekannte, darum nicht zu Bestreitende gilt ihm eben der in der \u00bb Pr incipalcoor dictation\u00ab ausgedr\u00fcckte Befund; und diesem gegen\u00fcber hat er gewiss von seinem Standpunkte aus das Recht, \u00bbDenken\u00ab, \u00bbBewusstsein\u00ab u. dergl. als ein Unbekanntes zu bezeichnen. Dagegen ist aber doch zu beachten, dass in Wirklichkeit gar nicht jener urspr\u00fcngliche \u00bbempiriokritische Befund\u00ab, sondern vielmehr die an seine Stelle sich einschiebende \u00bbempiriokritische Substitution\u00ab die Grundlage seiner Speculationen bildet. An die Stelle des Individuums und seiner Umgebung tritt das \u00bbSystem C* und seine Umgebung, und zur Ableitung der \u00bbabh\u00e4ngigen Yitalreihen\u00ab dient wieder keineswegs die blo\u00dfe Existenz des centralen Nervensystems, sondern \u00fcber die Functionsweise desselben wird eine Reihe von Hypothesen aufgestellt, die an sich etwas durchaus \u00bbUnbekanntes\u00ab sind, ja denen gegen\u00fcber die Begriffe, Urtheile, Gef\u00fchle u. s. w., die durch sie bedingt sein sollen, in der Theorie selbst als ein allgemein Gel\u00e4ufiges und Bekanntes vorausgesetzt werden. Thats\u00e4chlich ist also das Verh\u00e4ltniss dies, dass die empiriokritische Theorie keineswegs das Unbekannte aus dem Bekannten, sondern im Gegentheil das Bekannte aus dem Unbekannten abzuleiten sucht.'\nNun hat sich Avenarius gegen die Gefahr, unsicheren physiologischen Hypothesen zum Opfer zu fallen, dadurch zu sch\u00fctzen geglaubt, dass er sich auf eine blo\u00df \u00bbformale\u00ab Betrachtung der Functionen beschr\u00e4nkte. Nicht irgend welche Annahmen \u00fcber die physikalische Natur oder den Chemismus der nerv\u00f6sen Processe, sondern lediglich die allgemeinen Begriffe der Ern\u00e4hrung, des Stoffwechsels, der Arbeitsleistung, der Uebung werden als gegeben vorausgesetzt. Dadurch wird allerdings erreicht, dass von einer Aufzeigung der Bedingungen, unter denen die physiologischen Functionen selbst zu Stande kommen, nicht die Rede sein kann. F\u00fcr die Physiologie der Centralorgane leisten? die Begriffe der Ern\u00e4hrung, Uebung u. s. w. ungef\u00e4hr dasselbe, was die Begriffe des Verstandes, der Vernunft, des e \u00e4c finisses u. s. w. f\u00fcr die Psychologie geleistet haben. Sie sind\nWundt, Philos. Studien XIII.","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nW. Wundt.\nGeneralbezeichnungen f\u00fcr gewisse complexe Vorg\u00e4nge, deren eigentliche Natur v\u00f6llig unbestimmt hleiht. Aber es ist nicht richtig, dass eine derartig \u00bbformale\u00ab oder besser gesagt abstract begriffliche Betrachtung der Vorg\u00e4nge ein Schutz gegen zweifelhafte Hypothesen sei. In der That w\u00fcrden jene Generalbegriffe der Ern\u00e4hrung, der Uebung u. s. w. nicht im mindesten zu einer allgemeinen Theorie der Eunctionsweisen des \u00bbSystems C* f\u00fchren, wie sie die \u00bbKritik\u00ab unter dem -Namen der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab aufstellt, wenn nicht weitere Annahmen \u00fcber das wechselseitige Verh\u00e4ltnis der in jenen Generalbegriffen zusammengefassten allgemeinen Eunctionsweisen hinzuk\u00e4men. Dazu geh\u00f6rt vor allem das Streben nach einem \u00bbErhaltungsmaximum\u00ab, aus dessen St\u00f6rungen \u00bbSchwankungen\u00ab hervorgehen sollen, bei denen das \u00bbSystem C\u00ab immer wieder seiner Gleichgewichtslage zustrebt, welche St\u00f6rungsvorg\u00e4nge dann \u00fcberdies in beliebiger Superposition sich ereignen k\u00f6nnen (Vitalreihen verschiedener Ordnung). Die sp\u00e4rliche Grundlage dieser Annahmen ist die empirische That-sache, dass sich Ern\u00e4hrung und Zersetzung durch Arbeitsleistung vollst\u00e4ndig oder ann\u00e4hernd compensiren k\u00f6nnen. Nachgewiesen ist eine solche Compensation \u00fcberdies eigentlich nur in gewissen F\u00e4llen f\u00fcr den erwachsenen Gesammtorganismus. In wie weit sie f\u00fcr einzelne Organe zutrifft, ist zweifelhaft; dass sie f\u00fcr das unter den ver-wickeltsten Bedingungen stehende Gehirn jemals erf\u00fcllt sein werde, ist vielleicht sogar ziemlich unwahrscheinlich. Vom Standpunkt der physikalischen Naturbetrachtung aus ist aber ein solches teleologisches Stabilit\u00e4tsprincip \u00fcberhaupt zu verwerfen ; mindestens m\u00fcsste dasselbe, \u00e4hnlich wie es bei gewissen teleologisch geformten Principien der Mechanik der Fall ist, zugleich als ein Ausdruck irgend einer mechanischen Nothwendigkeit nachgewiesen sein. Davon ist aber im vorliegenden Fall nicht die Bede.\nDies ist \u00fcbrigens nur ein Specialfall eines Widerspruchs, dazwischen den beiden ersten, wichtigsten Classen empiriokritischer Voraussetzungen durchg\u00e4ngig besteht. Auf der einen Seite soll f\u00fcr alle objectiven Vorg\u00e4nge die exact naturwissenschaftliche Anschauung ma\u00dfgebend $ein ; auf der andern Seite werden die Functionen des Nervensystems, die doch zu den objectiven Vorg\u00e4ngen geh\u00f6ren, auf allgemeine \u00bbVerm\u00f6gensbegriffe\u00ab zur\u00fcckgef\u00fchrt, deren wechselseitiges Verh\u00e4ltniss durch ein Zweckm\u00e4\u00dfigkeitsprincip hypothetisch bestimmt wird. Dem","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n51\nStreben, diese beiden inad\u00e4quaten Kategorien allgemeiner Voraussetzungen einander anzupassen, d\u00fcrfte vor allem die Theorie der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab ihren eigenartigen Charakter verdanken. Der Einfluss der exacten Betrachtungsweise \u00e4u\u00dfert sich n\u00e4mlich bei ihr darin, dass gewissen physiologisch-teleologischen Begriffen, wie Ern\u00e4hrung und Uebung, positive und negative Aenderungen des Systems C substituirt werden. Damit diese dann in der pseudomathematischen Symbolik der empiriokritischen Theorie als Gr\u00f6\u00dfen derselben Art behandelt und mit ihren positiven und negativen Vorzeichen additiv verbunden werden k\u00f6nnen, wird \u00fcberdies f\u00fcr jene Begriffe das Postulat aufgestellt, dass ihre qualitativen s\u00e4mmtlich auf blo\u00df quantitative Unterschiede zur\u00fcckzuf\u00fchren seien. Aber da das teleologische Begriffssystem selbstverst\u00e4ndlich an sich eine solche Abstraction von den qualitativen Eigenschaften der Begriffe verbietet, so wird den Begriffen selbst eigentlich ein einziger, n\u00e4mlich der einer unbestimmten und unbekannten, aber jedenfalls blo\u00df quantitativen \u00bbAenderung\u00ab des Systems C substituirt. Stoffwechsel und Uebung lassen sich nat\u00fcrlich ebenso wenig wie Geldst\u00fccke und F\u00e4higkeiten zu einer Summe vereinigen. Aber das \u00bbSystem C\u00ab wird durch jene irgendwie positiv oder negativ ver\u00e4ndert: folglich m\u00fcssen sie sich dennoch addiren lassen. Ebenso lassen sich nat\u00fcrlich die Uebungserfolge verschiedener Organe und jedenfalls auch verschiedener Theile des centralen Nervensystems, sobald man ihren physiologischen Werth in Betracht zieht, nicht auf blo\u00dfe quantitative Unterschiede zur\u00fcckf\u00fchren. Um den Forderungen der exacten Betrachtung zu gen\u00fcgen, wird demnach dem \u00bbSystem C\u00ab die weitere Eigenschaft beigelegt, dass in ihm alle jene nach Ma\u00dfgabe ihrer Zweckrichtungen qualitativ vielgestaltigen Uebungsunterschiede wiederum als blo\u00df quantitative existiren.\nEine v\u00f6llig disparate Gedankenreihe tritt nun den auf solche Weise kunstvoll verwebten mechanischen und teleologisch-physiologischen Annahmen schlie\u00dflich in den psychologischen Voraussetzungen zur Seite, die der Theorie der \u00bbIntrojection\u00ab zu Grunde liegen. Diese Theorie hat ihre Wurzel in dem aus psychologischen und anthropologischen Erfahrungen l\u00e4ngst abstrahirten Satze, dass der Mensch um so mehr, auf einer je fr\u00fcheren Stufe der Erkenntniss-entwic lung ei sich befindet, seine eigenen psychischen Erlebnisse \u00e4u\u00dferen Gegenst\u00e4nden beilegt.o Das Verdienst dieser Theorie der\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nW. Wundt.\nIntrojection besteht in der scharfsinnigen Durchf\u00fchrung des Gedankens, dass die Seelenhegriffe in ihren philosophischen Gestaltungen letzte Entwicklungsformen dieses urspr\u00fcnglichen Animismus seien *)A Wie aher die \u00bbIntrojection\u00ab als eine psychologische Abstraction den \u00fcbrigen Voraussetzungen des empiriokritischen Systems fremd gegen\u00fcbersteht, so erf\u00e4hrt sie in diesem haupts\u00e4chlich nur die negative Anwendung, dass sie zur kritischen Widerlegung gel\u00e4ufiger psychologischer Anschauungen verwerthet wird, um so dem eigenen psychologischen Standpunkt die Wege zu bereiten1 2). Gleichwohl besteht begreiflicherweise das Bestreben, die Voraussetzungen dieser Theorie auch in positiver Weise mit den Grundlagen des empiriokritischen Systems in Verbindung zu bringen. Doch geschieht dies erst beim Abschluss des letzteren, wo die endg\u00fcltige \u00bbAusschaltung der Introjection\u00ab als zusammenfallend mit der Feststellung der \u00bbPrincipalcoordination\u00ab und damit zugleich als jener Act der R\u00fcckkehr zum \u00bbnat\u00fcrlichen Weltbegriff\u00ab erkannt wird, der diesen als definitiven und fortan'constanten Universalbegriff betrachten lasse3). Damit ist dann zugleich der Gedanke nahegelegt, dass jene \u00bbVariationen\u00ab des nat\u00fcrlichen Welthegriffs, welche die Introjection auf ihren verschiedenen Stufen zu Stande brachte, \u00bbabh\u00e4ngige Vitalreihen\u00ab seien, die aus den gesetzm\u00e4\u00dfigen \u00bbSchwankungen des Systems C\u00ab hervorgehen. Von einer n\u00e4heren Begr\u00fcndung dieses Gedankens, ebenso von einem Nachweis daf\u00fcr, dass der Vorgang der Introjection und die Schwankungen von C irgend welche Beziehungen zu einander darbieten, ist aber nicht die Rede. Jene Verbindung der Theorie der Introjection mit der Theorie der Vitalreihen l\u00e4sst sich daher nur auf die zwei Folgerungen zur\u00fcckf\u00fchren: 1) Die \u00bbAusschaltung der Introjection\u00ab ist Endpunkt einer Entwicklung, und die Herstellung eines ann\u00e4hernd constanten Zustandes des Systems C ist ebenfalls Endpunkt einer solchen, also m\u00fcssen beide einander entsprechen, und 2) die] vorangegangenen\n1) Ausgesprochen ist dieser Gedanke wohl zuerst von E. B. Tylor, Anf\u00e4nge der Cultur, deutsche Ausgabe, 1873, I, S. 411 ff. Dann ist er mannigfach von Anthropologen und Mythologen verwerthet worden: so noch in besonders anziehender Weise in Bezug auf die Platonische Philosophie von Erwin Rhode, Psyche, 1894, S. 429 ff.\n2} Bemerkungen, Art. III, S. 1 ff.\n3) Weltbegriff, S. 77 ff., Bemerkungen, Art. IV, S. 129 ff.","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n58\n\u00bbIntrojectionen\u00ab zeigen einen allm\u00e4hlichen Wechsel, die \u00bbSchwankungen\u00ab des Systems C sind ebenfalls wechselnd, also sind jene auf diese zur\u00fcckzuf\u00fchren. Nat\u00fcrlich sind beide Folgerungen nur dann g\u00fcltig, wenn man voraussetzt, dass \u00fcberhaupt alle Erfahrungsinhalte auf Aenderungen des Systems C zur\u00fcckzuf\u00fchren seien. Es ist aber be-merkenswerth, dass in diesem Falle auch nicht einmal der Versuch gemacht wird, die a priori zu Grunde gelegte Voraussetzung auch a posteriori durch irgend welche Analogien wahrscheinlich zu machen.\nDiese v\u00f6llig willk\u00fcrliche Verbindung der Theorie der Introjection mit den sonstigen Voraussetzungen des empiriokritischen Systems ist wohl geeignet, die oben angedeutete Vermuthung zu verst\u00e4rken, dass der Satz, alle \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihen\u00ab seien auf die \u00bbunabh\u00e4ngige\u00ab des Systems C zur\u00fcckzuf\u00fchren, nicht sowohl das Ergebniss einer Untersuchung als vielmehr selbst ein Postulat sei, das jener von vornherein entgegengehracht wird. Dass die empiriokritische Theorie dieses Postulat wie ein a priori g\u00fcltiges Axiom behandelt, dies wird aber schlie\u00dflich noch durch den von ihr gew\u00e4hlten \u00bbStandpunkt\u00ab der Betrachtung \u2014 nicht gerechtfertigt, aber begreiflich gemacht.\nObjectiv, leidenschaftslos \u2014 so wie nach griechischer Ueber-lieferung der Philosoph dem \u00bbGew\u00fchl des Marktes\u00ab gegen\u00fcbersteht1) \u2014 soll dieser Standpunkt sein. Deshalb bevorzugt die Untersuchung, wo es sich um irgend welche so genannte psychische Werthe handelt, vor der \u00bbSelbstbeobachtung\u00ab die \u00bbAussagen der Mitmenschen\u00ab. Sogar da, wo es sich darum handelt, das Verh\u00e4ltniss des \u00bbIch\u00ab zu einem andern \u00bbIch\u00ab zu erw\u00e4gen, werden dem zufolge Aussagen eines Mitmenschen \u00bb-M\u00ab denen eines anderen Mitmenschen \u00bb T\u00ab gegen\u00fcbergestellt. Der Grund( dieses Verfahrens liegt offenbar in dem starken Misstrauen, welches der Empiriokriticismus dem \u00bbBewusstsein\u00ab und allen subjectiven Wahrnehmungen, die mit diesem Zusammenh\u00e4ngen, entgegenbringt. Nicht recht begreiflich ist es aber, wie er dieser Unsicherheit der subjectiven Werthe dadurch zu entgehen meint, dass er ihnen die \u00fcber sie gemachten Aussagen Anderer substituirt, da er doch selbst zugesteht, dass wir solche Aussagen, wie \u00fcberhaupt \u00bbmitmenschliche Bewegungen\u00ab, hypothetisch nach Analogie unserer eigenen als \u00bbmehr als mechanische\u00ab zu betrachten berechtigt seien.0\n1) Kritik. I, S. 10. Vgl. oben S. 8.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nW. Wundt.\nSchon der Sophist Gor g ia s hat bekanntlich gemeint, unsere ohnehin zweifelhafte Erkenntniss werde dadurch noch zweifelhafter, dass wir bei den Erfahrungen unserer Mitmenschen auf deren Aussagen angewiesen, die Worte aber doch von den Gedanken, die sie ausdr\u00fccken sollen, verschieden seien. Warum also hier geflissentlich dieses Zwischenglied einschieben?\nDie Antwort liegt augenscheinlich in der Forderung objectiver Betrachtung, der man nur auf diesem Wege gerecht zu werden glaubt. Nun gebrauchen wir das Wort \u00bb objective in doppelter Bedeutung. Wir k\u00f6nnen erstens irgend etwas \u00bbobjectiv\u00ab betrachten, wenn wir subjectiven Affecten und W\u00fcnschen, die mit dem Gegenstand seihst nichts zu thun haben, keinen ungeh\u00f6rigen Einfluss g\u00f6nnen: hier ist \u00bbobjectiv\u00ab etwa gleichbedeutend mit \u00bbunbefangen\u00ab. Wir k\u00f6nnen aber auch etwas \u00bbobjectiv\u00ab betrachten, das neben seiner objectiven noch irgend eine subjective Seite hat, die wir geflissentlich au\u00dfer Betracht lassen: so z. B. wenn wir eine Handlung blo\u00df nach ihrem objectiven Verlauf, ohne R\u00fccksicht auf ihre subjective Entstehung untersuchen. Es ist klar, dass eine Auffassung objectiv im zweiten Sinne sein kann, eben darum aber objectiv d. h. unbefangen im ersten Sinne nicht ist. So z. B. wenn Jemand von einer menschlichen Willenshandlung sagen wollte, sie habe eine \u00bbmehr als mechanische Bedeutung\u00ab \u00fcberhaupt nicht. Es scheint mir klar zu sein, dass der Empirio-kriticismus diese beiden Bedeutungen des Wortes \u00bbobjectiv\u00ab mit einander verwechselt. Er will nat\u00fcrlich objectiv sein im ersten Sinne, er will unbefangen, ohne Leidenschaft dem \u00bbGew\u00fchl des Marktes\u00ab gegen\u00fcberstehen. Dies meint er aber zu erreichen, indem er objectiv in der zweiten Bedeutung des Wortes ist und so dem, was er an sich selbst beobachten k\u00f6nnte, die Aussagen eines Mitmenschen vorzieht. Das ist nun, sobald es sich um psychologische Thatsachen handelt, nicht mehr objectiv in der ersten Bedeutung. Denn es ver-r\u00e4th sich darin eine Bevorzugung derjenigen Bestandtheile dieser Thatsachen, die sich durch objective Aussagen feststellen lassen \u2014 eine Bevorzugung, welche nicht mehr unbefangen zu nennen ist, weil unbefangen niemals eine Beobachtungsweise sein kann, die geflissentlich mangelhaft ist. Der Empiriokriticismus setzt ausdr\u00fccklich voraus, dass die Aussagen unserer Mitmenschen eine ebensolche \u00bbmehr als mechanische\u00ab Bedeutung haben wie unsere eigenen \u00e4hnlichen Aus-","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n55\nsagen, wogegen nat\u00fcrlich nichts eingewandt werden kann. Er setzt aber au\u00dferdem stillschweigend voraus, das's dieses \u00bbmehr als mechanische\u00ab vollst\u00e4ndig durch die Aussage wiedergegeben werden k\u00f6nne. Dieser Annahme gegen\u00fcber wird man aber dem alten G-orgias Recht geben m\u00fcssen, wenn er meinte, dass die Worte und die Gedanken nicht dasselbe seien. In der That bleibt daher diese Verwendung der Aussagen auch bei dem Empiriokriticismus im Grunde nur eine \u00e4u\u00dfere Form, die dem Leser die strenge Objectivit\u00e4t der Untersuchung vor Augen f\u00fchren soll, und der sich doch meist ein durch Selbstbeobachtung gewonnener Inhalt unterschiebt. Immerhin wirkt der so gew\u00e4hlte Standpunkt dadurch auf die Untersuchung selbst verh\u00e4ngnissvoll ein, dass diese den in Worten fixirten Begriffen einen \u00fcberm\u00e4\u00dfigen Werth beilegt, so dass diejenige Aufgabe, die man sonst einer Erkenntnisstheorie zuweist, hier zumeist durch eine eigenth\u00fcmliche Theorie der Wortbedeutungen ersetzt wird, ein Verfahren, welches dazu beitr\u00e4gt, dem empiriokritischen System den ihm eigenen scholastischen Charakter zu verleihen1).\n1) Vgl. \u00fcber diesen den n\u00e4chsten (dritten) Artikel. Das oben besprochene Missverst&ndniss, als k\u00f6nnten \u00bbAussagen\u00ab \u00fcber irgend etwas Selbsterlebtes f\u00fcr dieses als Aequivalent eintreten, ist merkw\u00fcrdigerweise, trotz wiederholter Richtigstellung (vgl. z. B. meine Logik, 2. Aufl., II, 2, S. 172 ff.), auch au\u00dferhalb des Empirio-kriticismus noch weit verbreitet. So glauben es Manche als die Eigenth\u00fcmlichkeit der \u00bbexperimentellen Psychologie\u00ab ansehen zu sollen, dass hier der Experimentator andere Menschen unter Bedingungen versetze, unter denen sie ihm Aussagen Aber das von ihnen Beobachtete machen sollen, aus welchen Aussagen er dann seine Schiasse ziehe. Noch Andere schlie\u00dfen wieder hieraus, dass die experimentelle Psychologie gar keine wahre Psychologie sei, weil sich eine solche nur auf subjective Wahrnehmungen, nicht auf objective Aussagen gr\u00fcnden lasse. Dieser Streit ist gegenstandslos, weil er auf einer falschen Voraussetzung \u00fcber das Wesen der experimentellen Methode in der Psychologie beruht. Nicht der so genannte Experimentator, sondern das \u00bbVersuchssubject\u00ab ist eben hier der Beobachter, und die experimentellen Veranstaltungen sollen ihn nur in die g\u00fcnstigsten Bedingungen subjectiver Beobachtung versetzen. Nat\u00fcrlich ist dann bei der Beschreibung solcher subjectiven Beobachtungen die Sprache nicht zu entbehren. Aber das ist bei der ohne experimentelle H\u00fclfsmittel arbeitenden Psychologie se stverst\u00e4ndlich nicht anders. Ist erst durch exactere Beobachtung ein That-estand sichergestellt, so muss es immer gelingen, ihm die H\u00fclfsmittel der sprac le en Mittheilung so lange anzupassen, bis diese im Stande sind, in Anderen * a\tzu erwecken und die Vergleichung mit eigenen Beobachtungen\nm\u00f6g lc zu machen. Hier folgt dann die Psychologie geradeso wie jedes andere Wissenschaftsgebiet den Gesetzen gemeinsamer Gedankenarbeit.","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nW. Wundt.\nSo verkehrt hiernach, \u00bbobjectiv\u00ab betrachtet, der Standpunkt genannt werden muss, den die empiriokritische Theorie sich w\u00e4hlt, so bezeichnend ist er f\u00fcr die alle Voraussetzungen derselben bereits beherrschende Grundanschauung. Diese Voraussetzungen m\u00fcssen in der eigenth\u00fcmlichen Verbindung, die sie hier miteinander eingegangen sind, schon um deswillen willk\u00fcrlich ausgew\u00e4hlt sein, weil ihre verschiedenen Bestandtheile, die naturwissenschaftliche Weltanschauung, die physiologisch-teleologischen Begriffe und die psychologische Theorie der Introjection, an sich einander v\u00f6llig heterogen sind. In ihrem Gesammtcharakter n\u00e4hert sich daher diese Anschauung einigerma\u00dfen der eines Physiologen, der, die gesammten Lebenserscheinungen unter dem einseitigen Gesichtswinkel seiner physiologischen Kenntnisse betrachtend, die Zur\u00fcckf\u00fchrung aller geistigen Erfahrungsinhalte auf - G ehirnfunctionen \u00ab f\u00fcr eine selbstverst\u00e4ndliche Sache h\u00e4lt. Aber diese Uebereinstimmung ist doch nur eine sehr oberfl\u00e4chliche. Die Ausf\u00fchrung des Gedankens w\u00fcrde bei jenem Physiologen sicherlich eine ganz andere geworden sein. Er w\u00fcrde sich nicht mit allgemeinen Begriffen wie Ern\u00e4hrung, Stoffwechsel, Uehung begn\u00fcgt, sondern eine directere Verbindung der Gehimfunctionen mit den physikalischen Grundanschauungen versucht haben1). Die Ausf\u00fchrung w\u00fcrde wahrscheinlich weder mehr noch weniger hypothetisch, aber sie w\u00fcrde jedenfalls ganz anders geworden sein. Denn die Art und Weise, wie die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab jene eigentlich einander widerstreitenden Voraussetzungen verbindet und daraus mit eigenartiger Kunst ein scheinbar einheitliches System gestaltet, ist nicht die des Physiologen, der von Haus aus nur mit physikalisch-chemischen Begriffen arbeitet, sondern die des Philosophen, der den Plan gefasst hat, nun einmal die Welt nicht mit den Augen des Philosophen, sondern des \u00bbphilosophisch unbeeinflussten psychophysiologischen Experimentators oder des Psychiaters zu betrachten\u00ab2), der aber nun dieses Unternehmen mit dem vollen R\u00fcstzeug philosophischer Dialektik und mit einem das Talent \u00bb reiner \u00ab Beobachtung stark \u00fcberwiegenden Ma\u00df speculativer Begabung ausf\u00fchrt. In Wahrheit sind es daher weder die Voraussetzungen in\n1)\tSigmund Exner hat ein solches Unternehmen auszuf\u00fchren begonnen in seinem Werk: Entwurf zu einer physiologischen Erkl\u00e4rung der psychischen Erscheinungen. Bd. I. 1894.\n2)\tWeltbegriff, Vorwort, S. XI.","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n57\nihrer etwas bunten Mischung, noch der an sich nicht neue Standpunkt der Betrachtung, welche dem empiriokritischen System seine unbestreitbare Originalit\u00e4t verleihen. Wohl aber liegt diese in der Methode oder vielmehr in der eigent\u00fcmlichen Mischung von Methoden, die es verwendet.\n3. Die empiriokritische Methode.\nDie empiriokritische Methode l\u00e4sst sich, wie ich glaube, in zwei Hauptmethoden sondern, die freilich in der Ausf\u00fchrung fortw\u00e4hrend ineinander eingreif en: in ein auf empirischer Abstraction beruhendes Analogieverfahren, und in eine durchaus speculative dialektische Methode. Daneben machen aber au\u00dferdem noch zwei heuristische Principien, n\u00e4mlich die Forderung der Einfachheit der Voraussetzungen oder der \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab und die des rein beschreibenden Standpunktes der Betrachtung, ihren Einfluss geltend.\na. Die Methode der psycho-physischen Analogien.\nAls Methode der \u00bbpsycho-physischen Analogien\u00ab bezeichne ich ein Verfahren, welches allgemein zwischen physiologischen und psy- ! chologischen Thatbest\u00e4nden irgend welche Aehnlichkeiten des Verhaltens feststellt. Der {Ausdruck \u00bbpsycho-physisch\u00ab ist also hier nicht etwa in dem Sinne verstanden, als wenn dabei metaphysische Voraussetzungen \u00fcber die \u00bbPsyche\u00ab oder \u00fcber die \u00bbMaterie\u00ab gemacht w\u00fcrden, sondern lediglich in dem, dass mit psychischen Thatbest\u00e4nden solche .gemeint sind, die zu dem Untersuchungsgebiet der Psychologie oder der Geisteswissenschaften, unter den physischen dagegen solche, die vor das Forum der Naturwissenschaften, in diesem Fall speciell der Physiologie, geh\u00f6ren1).\n1) Zu dieser f\u00fcr jeden Kenner der neueren Psychologie selbstverst\u00e4ndlichen Bemerkung veranlasst mich der Vorschlag von Avenarius, k\u00fcnftighin \u00fcberhaupt nur noc von psychologischen und physikalischen oder physiologischen, me a er von psychischen und physischen \u00bbThatsachen, Zust\u00e4nden, Gesetzen u. s. w. zu spree en\u00ab. (Bemerkungen, Art. Ill, S. 16.) Ich glaube nicht, dass die Begriffe psyc is un \u00bbp ysisch\u00ab irgend einem Bedenken begegnen k\u00f6nnen, wenn man m \u00aer heutigen Psychologie wohl fast durchg\u00e4ngig geschieht, in dem oben definirten Sinne versteht. Ausdr\u00fccke wie \u00bbpsycho-physische Ma\u00dfmethoden\u00ab,","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nW. Wundt.\nDie Methode der psycho-physischen Analogien kann nun an und f\u00fcr sich in einer doppelten Weise angewandt werden: entweder sucht man zu gegebenen physiologischen Vorg\u00e4ngen die ihnen anal\u00aegen psychologischen auf; oder man geht umgekehrt von den letzteren zu den entsprechenden physiologischen Analogiegliedem \u00fcber. In beiden F\u00e4llen ist zugleich vorausgesetzt, dass die in Analogie gebrachten Vorg\u00e4nge sich begleitende Ver\u00e4nderungen seien. Die Methode l\u00e4sst sich daher auch als eine specielle Gestaltung der sogenannten \u00bbMethode der sich begleitenden Umst\u00e4nde\u00ab betrachten, wie sie Mill unter den allgemeinen naturwissenschaftlichen Methoden aufgef\u00fchrt hat* 1). Die Methode der Analogien kann nun insofern zur Bekr\u00e4ftigung der durch diese fundamentalere Methode gewonnenen Ergebnisse dienen, als die Wahrscheinlichkeit, dass zwei sich begleitende Ver\u00e4nderungen im Verh\u00e4ltniss des Bedingenden und des Bedingten zu einander stehen, gr\u00f6\u00dfer wird, wenn beide Ver\u00e4nderungen einen analogen Verlauf zeigen. Da nun aber ein analoger Verlauf sich begleitender Ver\u00e4nderungen sehr h\u00e4ufig in der Erfahrung sich darbietet, so kann es geschehen, dass wir schon dann, wenn lediglich zu con-statiren ist, dass der Verlauf zweier Vorg\u00e4nge ein analoger sei, nun auch umgekehrt schlie\u00dfen, diese seien sich begleitende und demnach im Verh\u00e4ltniss von Bedingung und Folge stehende Vorg\u00e4nge, vorausgesetzt nur, dass nicht das Gegentheil nachgewiesen ist. Auf diese Weise gewinnt dann die Methode der Analogien eine selbst\u00e4ndige, von der fundamentaleren Methode, die sie urspr\u00fcnglich blo\u00df erg\u00e4nzt, relativ unabh\u00e4ngige Bedeutung.\nEs kann nun keine Frage sein, dass in der Form, in der sie der Empiriokriticismus verwerthet, die Methode den zuletzt erw\u00e4hnten F\u00e4llen zuzurechnen ist. Zun\u00e4chst werden gewisse durch die Wechselbeziehungen von Stoffwechsel und Uebung eintretende \u00bbSchwankungen\u00ab des Systems C statuirt, und dann wird darauf hingewiesen, dass ana-\n\u00bbpsycho-physisches Gesetz\u00ab durch \u00bbpsychologisch-physiologische Ma\u00dfmethoden\u00ab, \u00bbpsychologisch-physiologisches Gesetz\u00ab u. s. w. ersetzen zu wollen, w\u00fcrde meines Erachtens nur eine unn\u00fctze Verumst\u00e4ndlichung der Terminologie sein.\n1) Mill, Logik, \u00fcbers, von Schiel, 2. Aufl., I, S. 466ff. Ich bin allerdings der Ansicht, dass das Princip der sich begleitenden Ver\u00e4nderungen kein f\u00fcr die Untersuchung functioneller Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnisse zureichendes logisches Princip ist. (Logik, 2. Aufl., II, 1, S. 363.) Doch kann dies hier au\u00dfer Betracht .bleiben.","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n59\nloge Schwankungen intellectueller Wer the Vorkommen. Yon dem Nachweis, dass beide Schwankungen regelm\u00e4\u00dfig sich begleitende Ver\u00e4nderungen seien, ist aber nicht die Rede, und kann, wie man billiger Weise zugestehen muss, bei dem au\u00dferordentlich unsichem Zustand unserer Kenntnisse der Functionen des centralen Nervensystems nicht wohl die Rede sein. Ferner ist bemerkenswerth, dass der Empirio-kriticismus die Methode der psychophysischen Analogien in den zwei bei ihr m\u00f6glichen Richtungen verwendet, und nicht etwa blo\u00df in der vom Physischen zum Psychischen, wie man deshalb vermuthen k\u00f6nnte, weil jenes allgemein als die \u00bbunabh\u00e4ngige\u00ab und dieses als die \u00bbabh\u00e4ngige Vitalreihe\u00ab vorausgesetzt wird.\nAls Ausgangspunkte der Analogien dienen die \u00bbSchwankungen des Systems C\u00ab vor allem bei der Feststellung der einfachsten Gesetze der \u00bbVitalreihe\u00ab. Entkleidet man die Theorie alles unwesentlichen Beiwerks, so liegt hier das entscheidende Moment der Analogiebildungen in dem Begriff Uebung. Eine Menge von Uebungsvorg\u00e4ngen, die wir im Gebiet der physiologischen Functionen, vor allem der Sinnesfunctionen und der willk\u00fcrlichen Bewegungen beobachten, m\u00fcssen in letzter Instanz auf Uebungserfolgen des centralen Nervensystems beruhen. Auf der andern Seite ist die \u00bbUebung\u00ab oder \u00bbGew\u00f6hnung\u00ab ein der Psychologie l\u00e4ngst gel\u00e4ufiger und namentlich von der Associationspsychologie stark verwertheter Begriff, der die allm\u00e4hliche Fixirung bestimmter Vorstellungen oder Vorstellungsverbindungen begreiflich machen soll. Auch daran, diese psychologischen \u00bbUebungs-vorg\u00e4nge\u00ab auf die vorhin genannten physiologischen zur\u00fcckzuf\u00fchren, hat man seit David Hartley oft gedacht.\u00ae Der allgemeine Grundgedanke der Methode ist also nicht neu.\u00ae Neu ist aber allerdings die scharfe begriffliche Unterscheidung von Uebungsvorg\u00e4ngen verschiedener Ordnung und Richtung, und neu sind die hieraus entwickelten Folgerungen \u00fcber positive oder negative Abweichungen einer neu eintretenden von einer bereits vorhandenen Uebung, \u00fcber Uebungs-vanationen durch die Verbindung gleicher oder entgegengesetzter Uebungen u. s. w. \u00bb). Originell ist nicht minder die logische Gewandtheit, mit welcher zu diesen f\u00fcr das \u00bbSystem C\u00ab in abstracter Form construirten Schwankungen passende Beispiele auf dem weiten Gebiet\n1) Vgl. oben S. 15 ff.","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nW. Wundt.\nreiner und angewandter Psychologie aufgesucht werden. Aber so bewundernswert die auf solche Weise hergestellte logische Ordnung einer F\u00fclle empirisch-psychologischen Materials an und f\u00fcr sich auch sein mag, so f\u00e4llt doch zweierlei sofort in die Augen. Erstens: von einer Zur\u00fcckf\u00fchrung aller dieser \u00bbgeistigen\u00ab Uebungsvorg\u00e4nge auf die UehungsVariationen des \u00bbSystems 0\u00ab kann im empirischen Sinne schon um deswillen nicht die Eede sein, weil diese Uebungsvariationen des Systems C seihst im einzelnen gar nicht nachgewiesen, sondern nur als abstracte M\u00f6glichkeiten angenommen sind. Es kann daher h\u00f6chstens gesagt werden, dass, da im allgemeinen centrale Uebungsvorg\u00e4nge existiren, auch Unterschiede derselben den Unterschieden der psychischen Uebungsvorg\u00e4nge parallel gehen werden: ein solcher Schluss ist dann aber direct, wie man sieht, gar nicht auf psychophysische Analogien, sondern auf die vorausgesetzte G\u00fcltigkeit eines \u00bbpsycho-physischen Parallelismus\u00ab gegr\u00fcndet. Zweitens l\u00e4sst sich nicht verkennen, dass die Betrachtung der allerverschiedensten Erkenntniss-inhalte, Begriffsentwicklungen u. s. w. unter dem allbeherrschenden Gesichtspunkt der \u00bbUehung\u00ab den besonderen Eigenth\u00fcmlichkeiten und den speciiischen Entwicklungsbedingungen der einzelnen Erkennt-nissinhalte durchaus nicht gerecht wird. Im Gegentheil, die Subsumtion unter einen und denselben rein formalen Begriffsschematismus f\u00fchrt in der augenf\u00e4lligsten Weise dazu, an den wesentlichsten Eigenschaften der Begriffe und damit an allem dem, was uns an ihnen, sei es unter dem historischen, sei es unter dem systematischen Gesichtspunkte, vorzugsweise interessirt, vor\u00fcberzugehen, um statt dessen in v\u00f6llig gleichf\u00f6rmiger Weise eigentlich immer nur die Thatsache hervorzuheben, dass Denkgewohnheiten allm\u00e4hlich entstehen und sich befestigen, um dann wieder ahzunehmen, bis schlie\u00dflich andere Denkgewohnheiten an ihre Stelle treten, die das bisher als sicher Angenommene in ein \u00bbUnwahrscheinliches\u00ab oder seihst \u00bbUnwahres\u00ab verwandeln, um statt dessen f\u00fcr eine gewisse Zeit anderen \u00bbWahrheiten\u00ab zum Sieg zu verhelfen. Es ist ja leider nicht zu leugnen, dass die Entwicklung der menschlichen Erkenntniss und mehr noch die der philosophischen Systeme gelegentlich diesen etwas trostlosen Eindruck macht. Aber, abgesehen von der Frage, ob ein solcher Wechsel zwischen \u00bbSein\u00ab und \u00bbNicht-Sein\u00ab alle Erkenntnissinhalte ergreift, \u00fcber die eigentlichen Bedingungen dieser Ver\u00e4nderungen gibt","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n61\njene gleichf\u00f6rmige Subsumtion unter die Begriffe Uebung, Uebungs-variation, Ausbreitung der Uebung, Gegen\u00fcbung keinen befriedigenden Aufschluss. Diese Begriffe halten h\u00f6chstens gewisse \u00e4u\u00dfere formale Eigenschaften des Verlaufs fest; was die Vorg\u00e4nge selbst bedeuten, erfahren wir durch sie nicht im mindesten.\nDem entspricht denn auch der ungen\u00fcgende Inhalt der Definitionen, die sich aus der Theorie f\u00fcr bestimmte, oft behandelte Begriffe der Erkenntnistheorie ergeben. Dass \u00bbGlauben\u00ab und \u00bbWissen\u00ab blo\u00df durch den Grad ihres durch Ein\u00fcbung entstandenen \u00bbEidentials\u00ab unterschieden seien, dass das \u00bbM\u00f6gliche\u00ab, \u00bbWirkliche\u00ab und \u00bbISToth-wendige\u00ab Abstufungen des \u00bbExistenzials\u00ab seien, die durch verschiedene \u00bbSchwankungsexercitation\u00ab in einander \u00fcbergehen k\u00f6nnen u. s. w. \u2014 solche Begriffsbestimmungen zeigen doch, dass eine formale Theorie der Uehungsvorg\u00e4nge, sie mag noch so scharfsinnig ausgedacht sein, den Aufgaben, die wir heute billiger Weise einer Erkenntnisstheorie stellen d\u00fcrfen, nicht gerecht wird.\nDer Grund dieses Misserfolgs ist augenf\u00e4llig. Die \u00bbUebung\u00ab ist ein Begriff sehr weiten Umfangs, zu dessen Bildung sowohl auf physiologischem wie auf psychologischem Gebiet sich mannigfache Anl\u00e4sse geboten haben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser Begriff zuerst auf die planm\u00e4\u00dfige Ein\u00fcbung mechanischer Fertigkeiten angewandt wurde. Da dieser Ausgangspunkt ein \u00bbpsycho-physischer\u00ab ist, so lag es dann nahe genug, ihn nach den beiden hier vereinigten Seiten hin weiter auszudehnen, so dass man nunmehr von Uebung theil8 im rein physiologischen Sinne redet, wo an die Mitwirkung von Plan und Willk\u00fcr nicht mehr gedacht wird, theils aber auch in einem blo\u00df psychologischen, wo begleitende oder gar bedingende physiologische Vorg\u00e4nge wenigstens au\u00dfer Betracht bleiben. Dabei ist dann zug eich der Begriff der Uebung dem der Gew\u00f6hnung nahezu synonym gewor en. So k\u00f6nnte man z. B. Hume\u2019s bekannte Causalit\u00e4tstheorie enso gut eine Uebungs- wie eine Gewohnheitstheorie nennen. Der einzige Unterschied beider Begriffe besteht noch darin, dass wir bei , ,W<i nun\u00a3 nur an die Beibehaltung einer Function in Folge au gen Wiederholung, bei der Uebung aber zugleich an ihre Vervollkommnung denken.\n\u2019? S'n^ Tatsachen, die einem und demselben Allgemeinbe-o\tsumirt werden k\u00f6nnen, selbstverst\u00e4ndlich immer einander","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nW. Wundt.\nanalog, denn sie gleichen sich mindestens in den Merkmalen, die den Allgemeinbegriff constituiren. So lange jedoch die Uebereinstimmung nicht weiter reicht, so kann auch die Analogie f\u00fcr die Erkenntniss der Thatsachen unm\u00f6glich mehr leisten, als die einfache Subsumtion unter jenen Allgemeinhegriff auch leisten w\u00fcrde. Gewiss kann es daher werthvoll sein, auf den Einfluss hinzuweisen, den das Moment der Uebung bei irgend einem Vorgang hat. Aber es darf dabei doch niemals \u00fcbersehen werden, dass erstens die \u00bbUebung\u00ab selbst nur ein Allgemeinhegriff ist, der in jedem concreten Fall noch der besonderen Feststellung der thats\u00e4chlichen Vorg\u00e4nge bedarf, die man unter ihm zusammenfasst; und dass zweitens dieses Moment der \u00bbUebung\u00ab immer nur eins neben vielen andern ist, die im allgemeinen f\u00fcr den wirklichen Inhalt der Vorg\u00e4nge viel wichtiger sind. Darum wird hei der ausschlie\u00dflichen Hervorhebung dieses Moments eine reale Untersuchung der Begriffe durch einen formalen Schematismus ersetzt, der schlie\u00dflich, weil die Allgemeinbegriffe seihst hinsichtlich ihrer concreten Bedingungen nicht n\u00e4her analysirt werden, leicht dazu verf\u00fchrt, dass man sich mit scholastischen Worterkl\u00e4rungen zufrieden gibt. In der That muss gesagt werden, dass ein gro\u00dfer Theil der Ausf\u00fchrungen des empiriokritischen Systems \u00fcber Gegenst\u00e4nde der Psychologie\u201c und der Geisteswissenschaften diesen scholastischen Charakter an sich tr\u00e4gt').\nDieses der Ausf\u00fchrung der einzelnen psycho-physischen Analogien zu Grunde liegende Verfahren der Begriffssubsumtion best\u00e4tigt nun aber zugleich auf das evidenteste, dass der die Methode beherrschende Grundgedanke, wonach von den beiden Analogiegliedem \u00fcberall das physische als das bedingende, das psychische als das abh\u00e4ngige zu denken sei, nicht auf den Analogien seihst, sondern auf der ihnen bereits vorausgehenden Annahme beruht, dass alle \u00bbpsychischen\u00ab Werthe auf irgend welche physischen Aenderungen des Systems C zur\u00fcckzuf\u00fchren seien. Denn es ist ja klar, dass die blo\u00dfe M\u00f6glichkeit der Subsumtion unter einen und denselben Allgemeinhegriff niemals es rechtfertigen kann, die subsumirten Glieder in irgend ein Verh\u00e4ltniss wechselseitiger oder einseitiger Abh\u00e4ngigkeit von einander zu bringen. Wohl aber gibt, wenn von vornherein die\n1) Vgl. oben S. 55.","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n63\nAnnahme einer Abh\u00e4ngigkeit aller psychischen Werthe von den Aen-derungen des Systems C gemacht ist, jene Subsumtion den allgemeinen Begriff an die Hand, nach welchem diese Aenderungen, und nach welchem daher auch die psychischen Werthe und ihre Aenderungen heurtheilt werden sollen. Da nun die \u00bbHebung\u00ab ein Begriff ist dem jeder zusammenh\u00e4ngende Verlauf centraler physiologischer wie psychologischer Vorg\u00e4nge n\u00f6thigen Palls subsumirt werden kann, so sind dann selbstverst\u00e4ndlich auch alle Modificationen dieses Verlaufs als specielle Modificationen der Uebung aufzufassen.\nVon diesem Gesichtspunkte aus erkl\u00e4rt sich zugleich die That-sache, dass, nachdem erst der allgemeine Begriff der Uebung durch gleichzeitige Abstraction auf physischer wie auf psychischer Seite feststeht, nunmehr alle n\u00e4heren Aufschl\u00fcsse \u00fcber die mannigfaltigen Modificationen der UebungsVorg\u00e4nge, ja offenbar schon die verschiedenen Arten dieser Modificationen selbst, gar nicht aus physiologischen Erfahrungen, sondern aus \u00bbpsychischen Thatsachen\u00ab abstrahirt und von diesen aus auf die \u00bbSchwankungen des Systems U\u00ab \u00fcbertragen werden, worauf dann erst das Verfahren sich umgekehrt, indem jetzt diese in Wahrheit abgeleiteten Ver\u00e4nderungen des Systems C als die Bedingungen f\u00fcr die Thatsachen betrachtet werden, aus denen sie zuerst abgeleitet worden sind1). Es ist selbstverst\u00e4ndlich, dass eine solche Umkehrung ganz unstatthaft w\u00e4re, wenn man die Analogien selbst als ein Beweismaterial f\u00fcr die Abh\u00e4ngigkeit der \u00bbpsychischen\u00ab von den \u00bbphysischen\u00ab Werthen betrachten wollte, dass sie aber berechtigt ist, sobald diese Abh\u00e4ngigkeit schon vorher als feststehend angenommen wird.\nVergegenw\u00e4rtigt man sich nun, von solchen augenscheinlich und zum Theil eingestandenerma\u00dfen vom Psychischen zum Physischen r\u00fcckw\u00e4rts gehenden Analogien ausgehend, die ganze Theorie der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab namentlich auch unter Hinzunahme der Erg\u00e4nzungen, die sie bei der Entwicklung der \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab erh\u00e4lt, so gewinnt man ohne weiteres die Ueberzeugung, dass von c en wesentlichen Eigent\u00fcmlichkeiten, die \u00fcber die m\u00f6glichen Aen-\nSo\nz g\tm ^er That an verschiedenen Stellen auch direct ausgesprochen,\nj \u2022\t. n\t^ \u2018 J>-^ann der allgemeine Charakter der Fidentialit\u00e4t in\nara tere zer'eghar gedacht werden, so kann auch die Unabh\u00e4ngige sammengesetzter Aenderungsmodus des Systems C angenommen werden.\u00ab","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nW. Wundt.\nderungen des Systems C ausgesagt werden, nur ein au\u00dferordentlich sp\u00e4rlicher Theil in einer von der physiologischen Erfahrung ausgehenden Begriffsbildung, ein gr\u00f6\u00dferer in einer auf dieser Grundlage ausgef\u00fchrten rein dialektischen Begriffsbewegung, und ein letzter, f\u00fcr die Anwendungen der Theorie jedenfalls der wichtigste, in Con-structionen besteht, bei denen nach Analogie gewisser Begriffs\u00fcberg\u00e4nge und Begriffsgegens\u00e4tze auf intellectuellem Gebiet die zugeh\u00f6rigen \u00bbSchwankungen des Systems C\u00ab festgestellt werden.\nVon diesem Gesichtspunkte aus erscheinen nun aber die Entwicklungen der \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab in einem neuen, nur durch die Einmengung bestimmter physiologischer Vorstellungen getr\u00fcbten Lichte. Nicht blo\u00df die energische Betonung des Standpunktes der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab, sondern auch die ausdr\u00fcckliche Bemerkung, unter dem \u00bbSystem (7\u00ab sei das Oentralorgan des menschlichen Nervensystems zu verstehen, hatten von vornherein annehmen lassen, dass mit demselben ein empirischer Begriff gemeint sei. Das erw\u00e4hnte Constructionsverfahren zeigt uns nun erst, dass diese Annahme in Wahrheit nicht zutreffend ist. Denn wollen wir empirische Abh\u00e4ngigkeits- oder Eunctionsbezieliungen von irgend welchen metaphysischen Causalit\u00e4ts- und Substanzbegriffen nach \u00fcberall g\u00fcltigen logischen Merkmalen unterscheiden, so kann dies nur nach der Kegel geschehen: bei den empirischen Eunctionsbeziehungen sind die unabh\u00e4ngig und die abh\u00e4ngig ver\u00e4nderlichen Gr\u00f6\u00dfen selbst empirische Thatsachen, und die Abh\u00e4ngigkeit besteht in einem regelm\u00e4\u00dfigen Zusammenh\u00e4nge empirischer Ver\u00e4nderungen dieser Gr\u00f6\u00dfen; bei den metaphysischen Causal- und Substanzbegriffen dagegen sind nur die abh\u00e4ngig ver\u00e4nderlichen Werthe empirisch gegeben, die Bedingungen, die \u00bbUrver\u00e4nderlichen\u00ab, unter Umst\u00e4nden aber auch \u00bbUnver\u00e4nderlichen\u00ab, werden zu diesen empirisch gegebenen abh\u00e4ngigen Wer-then als \u00bb\u00fcberempirische\u00ab hypothetisch construirt, und nat\u00fcrlich kann diese Construction nur dann einigerma\u00dfen das \u00bbErkenntnissbed\u00fcrfniss\u00ab befriedigen, wenn die so gewonnenen \u00bb\u00fcberempirischen\u00ab Causal- und Substanzbegriffe den abh\u00e4ngigen Werthen zureichend angepasst sind.\nWendet man dieses Kriterium an, so unterliegt es keinem Zweifel, dass das \u00bbSystem C\u00ab keine empirische Bedingung oder Bedingungs-gesammtheit, sondern dass es eine metaphysische Substanz ist. / Denn es wird in dem Sinne als die wirkende Ursache der \u00bbabh\u00e4ngigen","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n65\nVitalreihen\u00ab, d. h. aller m\u00f6glichen \u00bbgeistigen\u00ab Werthe, gedacht, dass ihm bestimmte \u00bb\u00fcberempirische\u00ab Eigenschaften beigelegt werden, deren begriffliche Eixirung lediglich den Erfordernissen der in der Erfahrung gegebenen \u00bbabh\u00e4ngigen Werthe\u00ab angepasst ist. Dass eine solche Anpassung stattfindet, ist nat\u00fcrlich kein Einwand gegen den Charakter einer metaphysischen Substanz. Auch die Leibniz\u2019schen Monaden, die Herbart\u2019schen Realen oder die Atome, Begriffe, denen unbestritten der Charakter metaphysischer Substanzen zukommt, sind von ihren Erfindern den Erfordernissen der Erfahrung angepasst worden. Aber auch der Umstand, dass das centrale Nervensystem ein empirischer Gegenstand ist, der sinnlich wahrgenommen werden kann oder, empiriokritisch ausgedr\u00fcckt, die Eigenschaft der \u00bbSach-haftigkeit\u00ab besitzt, w\u00e4hrend diese den Monaden, Realen und Atomen allerdings nicht zukommt, kann hier keinen wesentlichen Unterschied begr\u00fcnden. Denn nicht darauf kommt es an, dass von dem System C gesagt wird, es sei das centrale Nervensystem, sondern darauf, ob die ihm beigelegten Eigenschaften thats\u00e4chlich mit den Eigenschaften des letzteren \u00fcbereinstimmen, o Wenn ein Wilder verm\u00f6ge seiner animi-stischen \u00bbErkenntniss\u00ab \u00fcberzeugt ist, ein beliebiger Stein beherberge einen zauberhaften D\u00e4mon, so ist ihm der Stein, obgleich er gesehen werden kann, ein \u00fcberempirisches mythologisches Wesen, gerade so durch Introjection entstanden wie die sp\u00e4teren Seelensubstanzbegriffe der \u00bbspiritistischen\u00ab Philosophie, die, wie die Theorie der Introjection treffend gezeigt hat, nichts anderes als sp\u00e4tere Entwicklungsstufen jener selben animistischen Vorstellungen sind.0 Nun theilt zwar das System C unleugbar gewisse Eigenschaften mit dem centralen Nervensystem, obgleich auch sie durch die Verblassung zu abstracten llgemeinbegriffen, wie \u00bbStoffwechsel, Ern\u00e4hrung, Uebung\u00ab, der con-crcten Wirklichkeit ziemlich fern stehen. Alles aber was \u00fcber die was UV^,ln^Un^en<! des Systems C um sein \u00bbErhaltungsmaximum\u00ab, und sagtuM Vers<ddedenen Modificationen dieser Schwankungen ge-lich dadu ^ ^h^h^isch, a^so \u00bb\u00fcberempirisch\u00ab, und es tr\u00e4gt nament-\n\u2022i UrC, \u2019 ^ass Schwankungsgesetze nach Ma\u00dfgabe gewisser von innen\ti u\t.\tt\ti\n,\tgedachter empirischer \u00bbErscheinungen\u00ab construit!\ndurchaus d kommen daher\nchaus den Charakter des Metaphysischen an sich.0 Wir\n\u2022 , ,\t.. . zu dem Resultat\nnicht mit dem uns\ndass das System G \u00fcberhaupt\nw\u201e ..\taus der Erfahrung bekannten centralen Nerven-\nWandt, Philos. Stadion XIII.\n5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nW. Wundt.\nsystem identisch, sondern dass es nach allen seinen Merkmalen ein metaphysischer Substanzbegriff ist, der nur in einigen unwesentlichen allgemeinen Verhaltungsweisen an das centrale Nervensystem erinnert.0\nDieses Eesultat wird nun auch durch die bemerkenswerthen Entwicklungen best\u00e4tigt, die sich auf die sociale Existenz des Menschen beziehen. 0 Hier stellt die Theorie der reinen Erfahrung den Begriff eines Systems C h\u00f6herer Ordnung auf, welches als \u00bbcongregales System\u00ab durch das Symbol 2 C bezeichnet wird und sich zu dem individuellen System C \u00e4hnlich verhalten soll wie dieses zu den in ihm enthaltenen \u00bbPartialsystemen\u00ab.\u00bb Nun hat man zwar mannigfach von einem * Gesammtbewusstsein \u00ab, \u00bb Gesammtwillen \u00ab u. dgl. gesprochen, und man wird diesen auf eine menschliche G-esammtheit bezogenen psychologischen Begriffen so lange eine Berechtigung zugestehen d\u00fcrfen, als sie lediglich die in einer Gemeinschaft in Folge \u00e4hnlicher Anlagen und sprachlicher Mittheilung zu Stande kommende Ueberein-stimmung bestimmter Vorstellungen, Gef\u00fchle und Willensrichtungen ausdr\u00fccken.o In diesem actuellen Sinne genommen sind dann also \u00bbGesammtbewusstsein\u00ab, \u00bbGesammtwille\u00ab u. dgl. ganz und gar empirische Begriffe: alles was au\u00dfer jener thats\u00e4chlich vorhandenen Uebereinstimmung in sie hineingelegt werden k\u00f6nnte, wird grunds\u00e4tzlich abgelehnt. Was l\u00e4sst sich nun aber in analogem Sinne unter einem Begriff 2 C denken? Dass der Begriff eines \u00bbGesammtgehirns\u00ab, das alle Sch\u00e4delinhalte s\u00e4mmtlicher Individuen einer Gesellschaft umfasste, ein Unding ist, f\u00e4llt in die Augen. Jedes individuelle Gehirn ist ein einzelner K\u00f6rper, der mit andern Gehirnen nicht, wie die Partialsysteme des Einzelhims, durch Nervenma^se und Faserverbindungen, sondern h\u00f6chstens durch die umgebenden physikalischen Medien, Schallwellen, Lichtstrahlen, mechanische Ersch\u00fctterungen u. s. w., in Verbindung steht. Sollte 2 C wirklich eine Art von Gesammt-gehirn sein, so m\u00fcsste man diesem also auch die ganze \u00bbUmgebung\u00ab, welche die Beziehungen der einzelnen Systeme C zu einander vermittelt, zurechnen. Es ist kaum zu glauben, dass die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab an eine solche, an die phantastischen Tr\u00e4ume einer hylo-zoistischen Naturphilosophie erinnernde Vorstellung gedacht haben sollte ; auch w\u00fcrde das Symbol 2 C, welches uns anweist, dieses Ge-sammtsystem als eine blo\u00dfe Summe der einzelnen C zu denken, dem widersprechen. Diese Schwierigkeit verschwindet aber, wenn man","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n67\ndem System C den Charakter einer metaphysischen Substanz zugesteht wo dann nichts im Wege ist, von einer solchen hypothetisch auch zu einer Substanz h\u00f6herer Ordnung \u00fcberzugehen. Da dieselbe augenscheinlich nur eine metaphysische \u00bbUrsache\u00ab ist, die zu den empirisch allein vorhandenen Wechselbeziehungen geistiger Vorg\u00e4nge innerhalb einer Gemeinschaft hinzugedacht wird, so ist aber klar, dass sich der Begriff von dem eines \u00bbGesammtgeistes\u00ab, wie ihn z B. Berkeley annahm, nur durch die Annahme, dass ep stets, selbst als \u00bbMultiponiblej h\u00f6chster Ordnung\u00ab, von endlicher Gr\u00f6\u00dfe sei, und durch den begleitenden, f\u00fcr den Begriff selbst aber unwesentlichen Nebengedanken an das Gehirn unterscheidet.\nIn dieser merkw\u00fcrdigen und, wie man zugehen muss, mit einer gewissen Folgerichtigkeit abgeleiteten Vorstellung eines Gesammtge-hirns wiederholt sich jedoch nur in besonders augenf\u00e4lliger Weise ein Widerspruch, der schon zwischen dem Begriff des einzelnen System |G und den ihm zugemutheten Leistungen besteht, und der es eigentlich unm\u00f6glich macht, unter diesem C das centrale Nervensystem zu verstehen, vollends wenn man dieses mit dem Em-piriokriticismus als ein Aggregat von Partialsystemen betrachtet, 'die in ihren Wechselwirkungen ausschlie\u00dflich den mechanischen Gesetzen unterworfen seien, so dass ihre Effecte sich schlie\u00dflich nur nach Richtung und Gr\u00f6\u00dfe, nicht aber durch irgend welche qualitativen Eigenschaften unterscheiden k\u00f6nnen. Von einem solchen mechanischen System einen irgend fruchtbaren Uebergang zur Mannigfaltigkeit der uns in unserm Wissen, Glauben und Erkennen begegnenden Grund-werthe zu finden, ist schlechterdings ein Ding der Unm\u00f6glichkeit. Jenes mechanische System wird als ein Aggregat gedacht, in dessen Resultanten sich immer die n\u00e4mlichen mechanischen Eigenschaften wiederholen, die schon den einzelnen Partialmomenten zukommen; bei den psychischen Grundwerten entstehen durch die Verbindung einfacherer Facto-ren synthetische Producte mit neuen Eigenschaften. Bei jenem mecha-mschen System beruhen alle Unterschiede der Vorg\u00e4nge auf den 4 * ativen Unterschieden der zusammenwirkenden Momente; diese 1 y ^ sc ien Grundwerthe sind in erster Linie durch ihre qualitativen\ni ^ ' w a.iten \u00a3ekennzeichnet, so dass durch letztere auch haupts\u00e4chlich dire Werthgr\u00f6\u00dfe bestimmt wird. Diese Abweichungen sind so tief-\n\u00f6\ti t, dass sich die Ausf\u00fchrung von Analogien nothwendig\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"W. Wundt.\nauf die allgemeinsten formalen und eben darum f\u00fcr die Sache selbst unwesentlichsten Verh\u00e4ltnisse beschr\u00e4nken muss. Dass die empiriokri-tische Theorie in der That durchg\u00e4ngig diesen Weg rein formaler Betrachtung einschl\u00e4gt, ist daher ebenso sehr ein Zeugniss f\u00fcr ihre Consequent in der Durchf\u00fchrung des Grundgedankens wie f\u00fcr die Unfruchtbarkeit dieses letzteren.\nb. Die empiriokritische Dialektik.\nAls dialektische Methoden im weitesten Sinne lassen sich alle diejenigen philosophischen Methoden betrachten, bei denen aus gegebenen Begriffen vermittelst einer rein logischen Entwicklung andere Begriffe abgeleitet werden. Dass dabei angenommen wird, eine solche Ableitung sei ohne Mith\u00fclfe der Erfahrung, auf blo\u00df speculativem Wege, m\u00f6glich, ist eine zumeist vorkommende, aber an sich nicht wesentliche Nebenbestimmung der Methode. Ebenso ist es, wenn man die Methode unter diesem allgemeinsten Gesichtspunkte betrachtet, nicht erforderlich, dass es ein Begriff abstractester oder universellster oder sonstwie logisch ausgezeichneter Natur sei, von dem das dialektische Verfahren ausgeht. An und f\u00fcr sich ist als ein solcher Ausgangspunkt, ebenso gut wie die \u00bbIdee\u00ab oder die \u00bbSubstanz\u00ab oder das \u00bbIch\u00ab oder das \u00bbreine Sein\u00ab, auch irgend ein anderer Begriff m\u00f6glich, falls man nur diesem eine Beschaffenheit zuschreibt, die ihn zur dialektischen \u00bbSelbstbewegung\u00ab geeignet macht. Denn dies allerdings ist ein immer wiederkehrender Grundcharakter der Dialektik, dass sie sich als eine den Begriffen immanente und darum logisch nothwendige Entwicklung zu geben pflegt, eine Auffassung, die zugleich in hohem Grade geeignet ist, das Vertrauen in die Sicherheit ihrer Ergebnisse zu verst\u00e4rken.\nNun k\u00f6nnte es allerdings scheinen, eine Philosophie, die im wesentlichen darauf ausgeht, aus den Functionen des centralen Nervensystems alles menschliche Erkennen und Handeln abzuleiten, sei schlechterdings ungeeignet zur Anwendung einer Methode, die bis dahin vorzugsweise die Systeme des verwegensten \u00bbIdealismus\u00ab (ein Name, der im Sinne des empiriokritischen Systems etwa auch als \u00bbzahmer Animismus\u00ab wiedergegeben werden k\u00f6nnte) ihr berechtigtes Eigenthum betrachteten. Doch nachdem wir erf\u00fcbeujiaben,","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus,\n69\ndass das System C mit dem wirklichen centralen Nervensystem nur eine sehr oberfl\u00e4chliche Aehnlichkeit hat, seiner eigensten Natur nach aber die bekannte metaphysische Substanz in einer neuen Verkleidung ist kann diese Erscheinung nicht mehr allzusehr befremden.\nIn der Macht der Verneinung hat nun die Dialektik all\u00e8r Zeiten die m\u00e4chtigste treibende Kraft f\u00fcr die Selbstbewegung der Begriffe gesehen. Jene Verneinung, die aus dem Ich das Nicht-Ich, aus dem Sein das Nicht-Sein und das \"Werden hervorzaubert, spielt in der That auch in der Dialektik des empiriokritischen Systems die herrschende Rolle. Aber in doppelter Beziehung ist ihre Verwendung hier eine eigenartige. Erstens setzt die Verneinung ihre Arbeit nicht bei einem Begriff an, der etwa als eine urspr\u00fcnglich gegebene noth-wendige Voraussetzung betrachtet werden k\u00f6nnte, sondern bei einem Begriff von teleologischem Charakter, von dem ausdr\u00fccklich behauptet wird, er sei empirischen Ursprungs. Dies ist \u00fcbrigens nicht etwa der Begriff des Systems C selbst, sondern der an diesen gekn\u00fcpfte der \u00bbSelbsterhaltung\u00ab. Zweitens steht die Dialektik hier von vornherein unter der Voraussetzung, dass sich alle qualitativen auf quantitative Werthunterschiede zur\u00fcckf\u00fchren lie\u00dfen: die dialektischen Gegens\u00e4tze der Verneinung und Setzung nehmen darum hier die Bedeutung entgegengesetzter negativer und positiver Gr\u00f6\u00dfenwerthe vor. Hierdurch wird in diesem Fall der dialektischen Methode von vornherein jener rein formale Charakter verliehen, wie ihn die Theorie der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab an sich tr\u00e4gt. An diesem abstract formalen Charakter darf das Vorkommen von Begriffen, wie Ern\u00e4hrung, Stoffwechsel, Uebung, Arbeit, Umgebung, Partialsysteme u. dergl. nicht irre machen. Man kann alle diese durch Abstraction aus der Erfahrung gewonnenen Begriffe beseitigen und die Theorie der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab dennoch entwickeln. Das wesentliche bei dieser ist auch hier die logische Dreitheilung : erstes Glied \u2014 reine Setzung, Selbsterhaltung von C; zweites Glied \u2014 Negation der Selbsterhaltung, \u00bbVitaldifferenz\u00ab ; drittes Glied \u2014 neue Position, \u00bbAufhebung der Vitaldifferenz\u00ab. Der ganze dreigliedrige Begriffscyklus wird eine \u00bbSchwankung\u00ab genannt, und diese wird, jenen drei Gliedern der dialektischen Begriffskette entsprechend, in ein \u00bbInitial-, Medial- und Finalglied\u00ab eingetheilt. Nur eine dialektische Gliederung kann zu emer solchen Dreitheilung f\u00fchren, \u2014 die mechanisch-mathematische","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nW. Wundt.\nBetrachtung irgend eines Vorgangs w\u00fcrde alle Theile des Verlaufs als stetig zusammenh\u00e4ngende behandeln. An die aus einer ersten dialektischen Entgegensetzung und Setzung entstandene Bewegung kann nun aber nach einer allen Formen dialektischer Methode gemeinsamen Annahme durch Wiederholung des dialektischen Processes eine abermalige Selbstbewegung sich anschlie\u00dfen u. s. f. So entwickeln sich mit begrifflicher Noth Wendigkeit die Vitaldifferenzen und Vitalreihen \u00bbh\u00f6herer Ordnung\u00ab.\nIn einem Punkt unterscheidet sich freilich diese neue Gestaltung der dialektischen Methode sehr wesentlich von ihren altern Verwandten. Indem die Begriffe blo\u00df als Gr\u00f6\u00dfen betrachtet werden, die sich .durch ihre positiven und negativen Vorzeichen unterscheiden, entsteht der abstracte Begriff eines rein formalen Verlaufs einander superponirter \u00bbSchwankungen\u00ab, dessen reale Bedeutung dahingestellt bleibt, der sich also ebenso gut auf einen ganz imagin\u00e4ren Process wie auf die Entstehung irgend welcher \u00bbGrundwerthe\u00ab von qualitativem Inhalt'beziehen k\u00f6nnte. Darum wird es nun erforderlich, jener blo\u00df formalen Entwicklung der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab eine entsprechende qualitative Begriffsreihe als \u00bbabh\u00e4ngige Vitalreihe\u00ab gegen\u00fcberzustellen ; und bei dieser muss dann diesem Ursprung gem\u00e4\u00df die dialektische Entwicklung zur\u00fccktreten, um der oben geschilderten Methode der \u00bbpsycho-physischen Analogien\u00ab den Platz zu r\u00e4umen.\n\u2018 Auf diese Weise ist die gesammte empiriokritische Methode die Verbindung einer formalen Begriffsdialektik mit einem Analogieverfahren, das zu den einzelnen Stufen des dialektischen Processes qualitative Analogieglieder auf psychologischem und erkenntnisstheoretischem Gebiete aufsucht, w\u00e4hrend zugleich nicht selten nach den Bed\u00fcrfnissen dieser qualitativen Werthe nachtr\u00e4glich die formalen Entwicklungen erg\u00e4nzt werden.\nIst nach allem dem diese Anwendung der dialektischen Methode zwar eine eigenartige, so steht sie immerhin durch die nothwendige Herbeiziehung des Analogieverfahrens und durch die damit zusammenh\u00e4ngende Spaltung in eine formale und eine reale Begriffsreihe an Geschlossenheit hinter manchen der \u00e4lteren Anwendungen der Dialektik, besonders hinter der Hegel\u2019s, zur\u00fcck. Doch findet sich in einem andern Punkt wiederum eine merkw\u00fcrdige Gedankenverwandtschaft gerade mit Hegel\u2019s System. Das ist die eigenth\u00fcmliche Ent-","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n71\nwicklung des \u00bbWeltkegriffs\u00ab, die geradezu eine Wiederholung des Hegel\u2019schen \u00bbKreislaufs der Idee\u00ab in der dem empiriokritischen System eigenen Gedankenform genannt werden kann. Diese merkw\u00fcrdige Verwandtschaft tritt besonders in zwei Merkmalen zu Tage: erstens in dem ahstracten und zugleich \u00bb\u00fcberempirischen\u00ab Charakter, den Anfangs- und Endglied der Entwicklungen besitzen, zwischen denen hier der \u00bbWeltbegriff\u00ab, dort die \u00bbabsolute Idee\u00ab sich bewegt; und zweitens die tief mit dem Wesen der dialektischen Methode zusammenh\u00e4ngende Eigenschaft des Endgliedes, dass es zugleich eine K\u00fcckkehr zum Anfangsglied ist. In dem Kreislauf der absoluten Idee kehrt das reine Sein, nachdem es die Welt der logischen Denkbestimmungen, der Natur und des Geistes in dialektischer Selbstbewegung durchwandert hat, in sich selber zur\u00fcck, wto es dann freilich nicht mehr ein leerer Seinsbegriff, sondern das mit der ganzen Mannigfaltigkeit der entwickelten Begriffe erf\u00fcllte universelle Sein ist. Nicht minder ist der \u00bbnat\u00fcrliche Weltbegriff\u00ab ein urspr\u00fcnglicher \u00bbempiriokritisclier Befund\u00ab, der allen Variationen dieses Weltbegriffs und demnach auch allen Schwankungen der abh\u00e4ngigen und der diese bedingenden unabh\u00e4ngigen Vitalreihe vorausgeht. Das Ende der Entwicklung ist aber die R\u00fcckkehr zu diesem \u00bbnat\u00fcrlichen Weltbegriff\u00ab, bei der auch hier das Denken durch alles das bereichert ist, was es der Ueberwind-ung der vorangegangenen ver\u00e4nderlichen Erkenntnissstufen' verdankt. Eben darum ist dieser wiedergewonnene nat\u00fcrliche Weltbegriff zugleich ein fortan constant bleibender Universalbegriff, \u2014 die Selbstbewegung des Denkens findet hier genau so wie die absolute \u00bbIdee\u00ab ihr endg\u00fcltiges, nicht weiter zu \u00fcberschreitendes Ziel. Auch der Em-piriokriticismus ist also absolute Philosophie: eine andere Philosophie ist nach ihm nicht mehr m\u00f6glich, ebenso wie f\u00fcr den Hegelianer mit dem Hegel\u2019schen System die Kette der Weltanschauungen definitiv abgeschlossen ist1).\n1) Ave narius hat freilich, verm\u00f6ge der von ihm nirgends verleugneten Bescheidenheit, niemals diese Ueberzeugung von der nunmehr eingetretenen endg\u00fcltigen L\u00f6sung des Weltproblems mit jener Selbstgewissheit ausgesprochen, die Hegel eigen war. Aber die Sache liegt in der Consequenz seiner Anschauungen, und seine Sch\u00fcler haben sich meist eine geringere Zur\u00fcckhaltung in dieser Beziehung auferlegt. So R. Willy in seinem Artikel: \u00bbDer Empiriokriticismus als einzig wissenschaftlicher Standpunkt\u00ab (Yierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. XX, 1.\u2014","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nW. Wundt.\nAuf den ersten Blick scheint diese merkw\u00fcrdige Uebereinstimmung bei einem Punkte nicht ganz zuzutreffen: bei dem Anfang der em-piriokritischen Entwicklungsreihe. Jener urspr\u00fcngliche \u00bbnat\u00fcrliche Weltbegriff\u00ab des Individuums und seiner Umgebung gibt sich selbst als ein \u00bbempiriokritischer Befund\u00ab, also offenbar als eine augenf\u00e4lhge empirische Tbatsacbe, die Jeder \u00bbvor allem Philosophien\u00ab in sich vorfinde. Nichts desto weniger ist es klar, dass gerade dieser angeblich urspr\u00fcngliche \u00bbBefund\u00ab nichts anderes als ein abstracter Begriff ist, der unm\u00f6glich irgendwo oder irgendwann jemals in der Erfahrung Vorkommen kann. Mag man nun auf die abstracte Theorie der \u00bbVitalreihe\u00ab oder auf die empirische der \u00bbIntrojection\u00ab b\u00fccken, beide Male scheint diese Unm\u00f6g\u00fcchkeit einleuchtend zu sein. Unter dem Gesichtspunkt der ersteren Theorie w\u00fcrde jener \u00bbnat\u00fcr\u00fcche Welthegriff\u00ab offenbar gerade so gut auf einem von allen \u00bbSchwankungen\u00ab freien Zustand des \u00bbSystems C\u00ab beruhen m\u00fcssen, wie der endg\u00fcltige dereinst zu erreichende Universalbegriff der reinen Erfahrung. Es ist aber klar, dass ein solcher Zustand ohne \u00bbSchwankungen\u00ab, also ohne \u00bbVitaldifferenzen\u00ab, auch ein Zustand ohne Functionen sein w\u00fcrde, also ein Zustand, in welchem das Individuum \u00fcberhaupt keinen Befund, den empiriokritischen so wenig wie irgend einen andern, vorfinden k\u00f6nnte. Es ist also nicht zu bezweifeln, dass jener Anfangszustand nur eine Fiction oder eine abstracte Idee ist, und dass die \u00bbreine Erfahrung\u00ab so wenig wie das \u00bbreine Sein\u00ab jemals in irgend einer Erfahrung gegeben sein kann. Zu demselben Ergehniss kommt man aber, wenn man die Reihe unter dem Gesichtspunkt der Theorie der \u00bbIntrojection\u00ab betrachtet. Diese zeigt, dass die Introjection eine um so umfassendere und vollst\u00e4ndigere ist, auf je fr\u00fchere Stufen menschlichen Erkennens wir uns zur\u00fcckversetzen. Der Wilde, das Kind introjicirte nicht nur in \u00bbMitmenschen\u00ab, sondern auch in beliebige leblose Dinge eine \u00bbSeele\u00ab. Allm\u00e4hlich erst zieht sich die Introjection auf bewegte, dann auf lebende Wesen zur\u00fcck, end\u00fcch wird\n3. Heft). Mit derselben souver\u00e4nen Verachtung, mit der dereinst der echte Hegelianer das banausische Getreihe der positiven Wissenschaften betrachtete, blickt dieser \u00bbEmpiriokritiker\u00ab auf alle vorangegangene Philosophie hernieder. \u00bbUnsinn\u00ab, \u00bbFieberwahn\u00ab, \u00bbNeigung zum Ueherschnappen\u00ab und \u00e4hnliches sind die Ausdr\u00fccke, in denen hier die W\u00fcrdigung anderer philosophischer Richtungen sich ausspricht.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n73\nsje \u2014 und zwar im wesentlichen durch die empiriokritische Philosophie \u2014 ganz \u00fcberwunden. Es ist nun psychologisch offenbar im h\u00f6chsten Grade unwahrscheinlich, dass sich der Mensch, sei es der Mensch im allgemeinen, sei es ein einzelner, urspr\u00fcnglich in demselben Zustand gel\u00e4uterter Auffassung, als Besitzer des \u00bbnat\u00fcrlichen Weltbegriffs\u00ab, vorgefunden haben, sollte. Es w\u00e4re das die Vorstellung des goldenen Zeitalters auf das Gebiet der Philosophie \u00fcbertragen: die Annahme, dass die endg\u00fcltige Philosophie, die am Ende der Dinge zur bleibenden Errungenschaft werden soll, schon einmal im Anfang der Dinge dagewesen sei. Unter beiden Gesichtspunkten kann also die Behauptung, der \u00bbempiriokritische Befund\u00ab sei irgend einmal ein urspr\u00fcnglicher \u00bbempirischer Befund\u00ab gewesen, nicht aufrecht erhalten werden, sondern er ist offenbar, ebenso wie das \u00bbIch\u00ab oder das \u00bbSein\u00ab des absoluten Idealismus, ein reiner Begriff, der leerste, der in dem Gedankenzusammenhang des Systems angenommen werden kann, um die nachfolgende dialektische Selbstbewegung der Begriffe m\u00f6glich zu machen. Wenn diese \u00fcbrigens alle Variationen des \u00bbWelthegriffs\u00ab als eine Art \u00bbAbfall\u00ab von jener urspr\u00fcnglich dagewesenen \u00bbreinen Erfahrung\u00ab darstellt, welcher Abfall schlie\u00dflich \u00fcberwunden werden m\u00fcsse, so klingt das mehr noch nach dem urspr\u00fcnglichen Platonismus als nach den sp\u00e4teren Gestaltungen desselben. So zeigt auch diese Entwicklung, dass das speculative Denken nicht nur heute noch im wesentlichen mit den n\u00e4mlichen H\u00fclfsmitteln arbeitet wie vor Jahrtausenden, sondern dass es auch von den scheinbar entlegensten Ausgangspunkten aus und unter den verschiedenartigsten Verkleidungen immer wieder hei \u00e4hnlichen Ergebnissen endet.\nc. Das Princip der Oekonomie des Denkens.\nNeben den psycho-physischen Analogien und der soeben besprochenen eigenth\u00fcmlichen Modification der Dialektik sind noch euuSe andere Principien hervorzuheben, die von dem Empiriokriti-cismus selbst als Grundlagen seiner Methode ausdr\u00fccklich anerkannt werden, w\u00e4hrend hei jenen ersten \u00fcberall nur von einer thats\u00e4ch-lichen und zumeist sogar nur von einer unbewussten Anwendung die Rede sein kann. Dabei stellt sich dann freilich, wie wir bald sehen werden, das eigenth\u00fcmliche Verh\u00e4ltniss heraus, dass, ebenso wie die","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nW. Wundt.\nthats\u00e4chlich angewandten Methoden nicht officiell anerkannt, so umgekehrt wieder die ausdr\u00fccklich betonten leitenden Principien keineswegs durchgehends befolgt werden. Solcher ostensibler Principien k\u00f6nnen wir zwei unterscheiden: das Princip der Oekonomie des Denkens und das Postulat der reinen Beschreibung. Beide sind nicht dem Empiriokriticismus ausschlie\u00dflich eigen, sondern hei ihrer Aufstellung trifft er mit verbreiteten Str\u00f6mungen innerhalb der Naturwissenschaft zusammen.\nDas Princip der Oekonomie des Denkens oder, wie es von Avenarius genannt wird, das \u00bbPrincip des kleinsten Kraftma\u00dfes\u00ab *), geht in seinen ersten fruchtbaren methodologischen Anwendungen bis in das Zeitalter Galilei\u2019s und in den mannigfaltigsten anderen, namentlich auch metaphysischen Verwerthungen sogar bis in die fr\u00fchesten Anf\u00e4nge der Philosophie zur\u00fcck. Dabei pflegen aber drei wesentlich verschiedene Bedeutungen dieses Princips nicht zureichend unterschieden zu werden, Bedeutungen die auch in den Anwendungen, die man von dem Princip macht, neben einander Vorkommen. Die eine dieser Bedeutungen wollen wir der K\u00fcrze wegen die didaktische, die zweite die methodologische und die dritte die metaphysische nennen.\nDas didaktische Princip bedarf hier um so weniger einer n\u00e4heren Er\u00f6rterung, weil es an und f\u00fcr sich ein berechtigtes, ja nothwendiges und bis zu einem gewissen Grade selbstverst\u00e4ndliches ist, so lange es nicht in die andern Bedeutungen mit \u00fcbergreift, wo es dann eben kein rein didaktisches Princip mehr bleibt. Es besteht in der Forderung, einen gegebenen wissenschaftlichen Inhalt in der m\u00f6glichst einfachen Form zum Ausdruck zu bringen.\n1) Der Ausdruck \u00bbPrincip der Oekonomie\u00ab ist wohl zuerst von Ernst Mach gebraucht worden: so besonders in seinem Vortrag \u00bbDie \u00f6konomische Natur der physikalischen Forschung\u00ab (1882, abgedruckt in den popul\u00e4r wissenschaftlichen Vorlesungen, 1896, S. 203). Er ist jedenfalls dem Ausdruck \u00bbPrincip des kleinsten Kraftma\u00dfes\u00ab vorzuziehen, den Avenarius in seinen \u00bbProlegomenen\u00ab nach Analogie des Maupertuis\u2019schen \u00bbPrincipe de la moindre action\u00ab gebildet hatte. Ich selbst habe das gleiche Princip schon fr\u00fcher als \u00bbPrincip der Einfachheit\u00ab bezeichnet und zugleich auf zwei Bedeutungen hingewiesen, die demselben in der Geschichte der Wissenschaft zukommen: auf eine methodologische und eine metaphysische, die aber beide vielfach zum Schaden der Sache in einander geflossen sind. (Die physikalischen Axiome, 1866, S. 34 ff., Logik, 2. Auff, II, 1, S. 286 ff.)","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n75\nIn diesem Sinne ist es von fr\u00fche an instinctiv angewandt worden. Schon die Sprache l\u00e4sst sich als ein nat\u00fcrliches \u00f6konomisches H\u00fclfs-mittel des Denkens betrachten, und in den einzelnen Wissenschaften ^ird durch eine kunstvoll ausgebildete Terminologie und Begriffssymbolik dieses Princip immer mehr vervollkommnet, so dass die exactesten Gebiete, wie vor allen die Mathematik, von ihm den weitgehendsten Gebrauch machen. Dabei greift dann aber freilich auch von selbst das didaktische in das methodologische und gelegentlich sogar in das metaphysische Princip \u00fcber, da die einfachste Ausdrucksform eines wissenschaftlichen Inhaltes immer auch diejenige ist, welche den methodischen Fortschritt in der Stellung und L\u00f6sung der Probleme erleichtert, und da dieser Einfluss weiterhin leicht dazu f\u00fchrt, dass gewisse L\u00f6sungsversuche, die durch ihre Einfachheit und durch ihren heuristischen Nutzen sich auszeichnen, auch auf den Inhalt der wissenschaftlichen S\u00e4tze Einfluss gewinnen. Namentlich macht sich dieser Einfluss in dem Sinne geltend, dass solche durch ihre Einfachheit sich empfehlende L\u00f6sungsversuche, nachdem sie sich einge\u00fcbt haben, der Yerwerthung neuer Erkenntnisse, die dem gewohnten Schema nicht einzuordnen sind, als Hindernisse im Wege stehen lj.\nWie das didaktische Princip der Einfachheit auf die Darstellung der Probleme und ihrer L\u00f6sungen, so bezieht sich nun das methodologische auf die Aufstellung derselben und auf die zu ihrer L\u00f6sung einzuschlagenden Wege. Es besteht demnach in der Forderung, die Probleme in der m\u00f6glichst einfachen Weise zu formuliren und sich des m\u00f6glichst einfachen Verfahrens zu ihrer L\u00f6sung zu bedienen. Als methodologisches Princip vor allem hat das \u00bbPrincipium simplicitatis\u00ab der Naturwissenschaft nicht\n1) So bemerkt Mach sehr treffend: \u00bbDie Naturgesetze sind intellectuellen, theils beweglichen, theils stereotypen Letterns\u00e4tzen h\u00f6herer Ordnung vergleichbar, welche letzteren bei neuen Auflagen von Erfahrung oft auch hinderlich werden k\u00f6nnen.\u00ab (Die \u00f6konomische Natur der physikalischen Forschung, a. a. O. S. 210.) Die angef\u00fchrte Abhandlung Mach\u2019s behandelt das Princip der Einfachheit fast ganz von dem didaktischen Gesichtspunkte aus, wobei \u00fcbrigens der Begriff \u00bbdidaktisch\u00ab nat\u00fcrlich hier \u00fcberall in jenem weiteren Sinne verstanden werden muss, in welchem er sich nicht blo\u00df auf die Mittheilung an Andere, sondern auch auf die f\u00fcr die eigene Auffassung und Einpr\u00e4gung zweckm\u00e4\u00dfige Ordnung und Verkn\u00fcpfung der Thatsachen oder Begriffe bezieht.","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nW. Wundt.\ngenug zu sch\u00e4tzende Dienste geleistet. Yon den Begr\u00fcndern der neueren naturwissenschaftlichen Weltanschauung, von Galilei, dann von Descartes in seinen ber\u00fchmten Regeln, ist dasselbe klar ausgesprochen, freilich aber auch schon gelegentlich zu einem metaphysischen Princip gestempelt worden. Lassen wir zun\u00e4chst diese Vermengungen bei Seite, so ist das methodologische Princip der Einfachheit selbstverst\u00e4ndlich ebenso berechtigt wie das didaktische, und es \u00fcbertrifft das letztere noch an unmittelbarer Bedeutung f\u00fcr die wissenschaftliche Forschung. Dabei bringt aber zugleich in beiden F\u00e4llen die Gebundenheit dort an einen bestimmten, von der Forschung \u00fcberlieferten wissenschaftlichen Stoff, hier an einen der Untersuchung sich darhietenden Erfahrungs- oder Begriffsinhalt Beschr\u00e4nkungen mit sich, welche in dem Ausdruck, es sei die m\u00f6glichst einfache Art der Darstellung oder der Problemstellung und Probleml\u00f6sung zu w\u00e4hlen, ausgedr\u00fcckt ist. Der m\u00f6glichst einfache Weg ist eben keineswegs immer der absolut einfachste den es gibt; ja er kann sogar im Vergleich mit diesem von sehr verwickelter Beschaffenheit sein, weil er der einfachste oder vielleicht sogar der einzige ist, der den Erfordernissen der Erfahrung oder des untersuchten Begriffszusammenhanges entspricht. So ist z. B. die Mathematik, einen so bewundemswerthen Gebrauch sie in didaktischer wie methodologischer Beziehung von dem Princip der Oekonomie macht, doch deshalb noch keineswegs eine einfache, sondern eine sehr verwickelte Wissenschaft, weil sich in ihr von selbst neben den einfachen auch verwickelte Probleme ergehen, zu deren L\u00f6sung keine einfachen Wege mehr eingeschlagen werden k\u00f6nnen, wenn man sich auch immer bem\u00fchen wird, die m\u00f6glichst einfachen zu w\u00e4hlen. Nun ist in einer so ausgehildeten Wissenschaft wie der Mathematik keine Gefahr vorhanden, dass jemals das m\u00f6glichst Einfache mit dem absolut Einfachen verwechselt werde. In Gebieten, die es mit einem zweifelhafteren oder dem Streit der Meinungen mehr ausgesetzten That-bestande zu thun haben, ist dies aber sehr wohl m\u00f6glich, wenigstens in dem Sinne, dass man durch das Streben, einer absolut einfachen L\u00f6sung der Probleme so nahe wie m\u00f6glich zu kommen, den That-sachen Gewalt anthut oder bestimmte Momente der Erfahrung \u00fcber Geb\u00fchr vernachl\u00e4ssigt. In solchen F\u00e4llen wandelt sich dann in der Regel zugleich und unversehens, d. h. ohne dass man sich dessen","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n77\nselbst bewusst ist, das methodologische Princip der Einfachheit in ein metaphysisches Princip um. An die Stelle der Regel, dass man die einfachsten Wege zur Ermittlung der Naturgesetze einschlagen solle, tritt die andere, dass die Natur selbst stets die ein-, fachsten Mittel zur Hervorbringung ihrer Wirkungen w\u00e4hle,} d. h. dass die objectiv g\u00fcltigen Naturgesetze selbst von m\u00f6glichst einfacher Beschaffenheit seien. Kein Geringerer als Galilei ist bereits diesem Irrthum unterlegen. Wenn bei ihm die exacte objective Analyse der Erscheinungen dadurch nicht auf die Dauer beeintr\u00e4chtigt wurde, so ist das nur dem gl\u00fccklichen Umstande zuzuschreiben, dass seine scharfe Beobachtungsgabe und der offene Sinn f\u00fcr die That-sachen, der ihn jederzeit bereit fand sich durch die Erfahrung belehren zu lassen, dem metaphysischen Trieb einen hinreichend kr\u00e4ftigen Widerstand leistete, um das \u00bbPrincipium simplicitatis\u00ab immer wieder in die Schranken seiner wohlberechtigten methodologischen Anwendungen zur\u00fcckzuverweisen.\nHiernach k\u00f6nnen wir das Verh\u00e4ltnis der drei Gestaltungen des Oekonomieprincips von vornherein dahin feststellen, dass die didaktische als uneingeschr\u00e4nkt g\u00fcltig anerkannt werden muss, w\u00e4hrend die metaphysische, insofern sie den Thatsachen mit einem Postulate gegen\u00fcbertritt, das, nicht ihnen selbst entnommen, deren objective Beurtheilung beeintr\u00e4chtigt, unbedingt zur\u00fcckzuweisen ist. Dass die Welt in der m\u00f6glichst einfachen Weise geordnet, oder dass die Naturgesetze von der m\u00f6glichst einfachen Beschaffenheit seien, das anzunehmen existirt gar kein objectiver Grund. Wenn wir verlangen, dass die Dinge so einfach wie m\u00f6glich sein sollen, so ist dies ein subjectiver Wunsch, der an und f\u00fcr sich so wenig berechtigt ist wie die Forderung der Aristotelischen Naturphilosophie, die Himmelsk\u00f6rper m\u00fcssten sich in Kreisen bewegen, weil der Kreis die vollkommenste, oder weil sie unter den in sich zur\u00fccklaufenden Linien die einfachste sei. Bei der letzteren Formulirung des bekannten Postulats der alten Astronomie hat in der That das Princip der | Einfachheit bereits seine Rolle gespielt. Ungleich schwieriger ist die Erage zu beantworten, innerhalb welcher Grenzen die methodologische Gestaltung des Oekonomieprincips eine berechtigte sei. So 'wenig hier ein von vornherein verwerfendes Urtheil, \u00e4hnlich wie bei der metaphysischen Form, ausgesprochen werden darf, da gerade in","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nW. Wundt.\nseiner Anwendung auf die Methode das Princip, wie die Geschichte der Wissenschaft zeigt, seine fruchtbarsten Anwendungen gefunden hat, so wenig kann ihm doch hier offenbar eine \u00e4hnlich unbedingte und unbegrenzte Geltung zugeschrieben werden, wie dem didaktischen Postulat der m\u00f6glichst einfachen Darstellung eines gegebenen Er-kenntnissinhaltes. Wenn bereits oben diese nothwendige Beschr\u00e4nkung des methodologischen Princips formal durch die Bemerkung angedeutet wurde, es k\u00f6nne sich dabei immer nur um die Befolgung der m\u00f6glichst einfachen Methoden handeln, so wird sich in der That die n\u00e4mliche Beschr\u00e4nkung material dahin ausdr\u00fccken lassen, dass das methodologische Princip immer nur innerhalb solcher Grenzen zul\u00e4ssig ist, in denen seine Anwendung nicht bereits metaphysische Voraussetzungen in sich schlie\u00dft. Wie leicht aber solche Verbindungen eintreten k\u00f6nnen, erhellt ohne weiteres daraus, dass jede metaphysische Voraussetzung, die auf dem Princip der Einfachheit fu\u00dft, an und f\u00fcr sich auch methodologische Forderungen enth\u00e4lt, die sich dem Oekonomieprincip unterordnen lassen, ein Umstand, der dann begreiflicher Weise leicht dazu f\u00fchrt, dass man blo\u00df das methodologische Princip der Einfachheit anzuwenden glaubt, w\u00e4hrend man in Wahrheit bereits stark unter dem Einfl\u00fcsse einer metaphysischen Forderung handelt. So ist der Satz, dass die astronomischen Bewegungen in kreisf\u00f6rmigen Bahnen vor sich gehen m\u00fcssten, weil der Kreis die einfachste gekr\u00fcmmte Linie sei, ganz gewiss eine metaphysische Behauptung. Methodologisch aber ergibt sich aus ihr die Vorschrift, die wirklichen Bewegungen, soweit sie mit jenem Postulat nicht \u00fcbereinstimmen, auf kreisf\u00f6rmige zur\u00fcckzuf\u00fchren, eine Vorschrift, die direct zu der Construction der Epicykeln und excentrischen Kreise gef\u00fchrt hat. Zugleich zeigt dieses Beispiel, wie die metaphysische Deutung des Oekonomieprincips in ihren methodologischen Anwendungen vollst\u00e4ndig zur Selhstaufhehung des Princips f\u00fchren kann, da die Methode, die Bewegungen mittelst Epicykeln zu con-struiren, mindestens geometrisch sehr viel verwickelter ist als die Construction der Ellipse.\nStellen wir die Berechtigungsgrenzen des methodologischen Oekonomieprincips dahin fest, dass dasselbe niemals zugleich eine metaphysische Forderung enthalten d\u00fcrfe, so gilt \u00fcbrigens diese Begrenzung selbstverst\u00e4ndlich nur in dem Sinne, dass die Einfachheit einer Vor-","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Heber naiven und kritischen Realismus.\n79\naussetzung nicht als solche schon, blo\u00df aus dem Grunde, weil die Voraussetzung einfach ist, als ein Zeugniss ihrer Wahrheit betrachtet werden kann. Die Frage nach der Zul\u00e4ssigkeit einer Annahme ist mit andern Worten immer nur eine objective Thatfrage, nie aber eine Frage, die von unserem subjectiven Ermessen oder \u2014 was auf dasselbe hinauskommt \u2014 von blo\u00df subjectiven Maximen der Beur-theilung, wie z. B. von der, dass die Dinge oder die Naturgesetze vollkommen, oder dass sie einfach sein m\u00fcssten, abh\u00e4ngt. Alle derartige Vorstellungen sind in Wahrheit Ueberlebnisse der subjectiv-teleolo-gischen Weltanschauung des vorigen Jahrhunderts, wie sie beispielsweise in den merkw\u00fcrdigen Begr\u00fcndungen des Maupertuis\u2019schen \u00bbPrincipe de la moindre action\u00ab, mit dem ja das Oekonomieprincip in naher genealogischer Beziehung steht, einen drastischen Ausdruck gefunden hat1).\nAuf der andern Seite ist freilich anzuerkennen, dass eine solche irref\u00fchrende Anwendung des Oekonomieprincips nicht h\u00e4tte entstehen k\u00f6nnen, wenn nicht auch unabh\u00e4ngig von ihm die Naturwissenschaft aller Orten mit Voraussetzungen operirte, die nicht blo\u00df, wie manche noch der Best\u00e4tigung durch die Beobachtung bed\u00fcrftige, aber im allgemeinen doch einer solchen zug\u00e4ngliche Annahmen, vorl\u00e4ufig hypothetisch sind, sondern die stets hypothetisch bleiben m\u00fcssen, weil sie entweder in Folge ihrer eigenen Natur oder verm\u00f6ge der sonstigen Erkenntnissbedingungen niemals durch die Erfahrung nachgewiesen werden k\u00f6nnen. Dahin geh\u00f6ren die Annahmen \u00fcber die Constitution der Materie sowie \u00fcber deren Zust\u00e4nde, insoweit die letzteren nicht in vollkommen eindeutiger Weise aus den Thatsachen der Beobachtung erschlossen werden k\u00f6nnen, endlich in weiterem Sinne auch alle Annahmen \u00fcber die Zust\u00e4nde unserer Erde und des Kosmos \u00fcberhaupt in einer unserer Beobachtung nicht erreichbaren Vergangenheit oder Zukunft. Auch unter diesen Voraussetzungen gibt es wieder \u00dfinige, die einer relativen und indirecten Best\u00e4tigung durch die Erfahrung zug\u00e4nglicher sind als andere: dies gilt von allen den Hypothesen, die nur dazu dienen, die L\u00fccken einer immerhin an sich denkbaren directen Beobachtung auszuf\u00fcllen, wie z. B. die Annahmen \u00fcber die Anfangszust\u00e4nde unseres Planetensystems. Anders verh\u00e4lt\n1) Vgl. A. Mayer, Geschichte des Princips der kleinsten Action, 1877, und meine Logik, 2. Aufl., II, 1, S. 311.","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nW. Wundt.\nes sich dagegen mit solchen Voraussetzungen, die sich \u00fcberhaupt nicht direct auf einen Gegenstand der wirklichen oder auch nur einer irgendwie m\u00f6glichen Erfahrung beziehen, sondern auf einen Begriff, dessen man sich nur zur Verkn\u00fcpfung der Gesammtheit der Erfahrungen bedient. Ein solcher allezeit hypothetischer und darum eventuell auch in verschiedenerWeise hypothetisch construirbarer Begriff ist der der Materie. Man kann m\u00f6glicher Weise der Ansicht sein, dass die Naturwissenschaft in Zukunft diesen Begriff aus ihren Constructionen eliminiren k\u00f6nne. Gegenw\u00e4rtig ist ihr dies jedenfalls noch nicht gegl\u00fcckt. Auch ist es nicht denkbar, dass ihr dies jemals gl\u00fccken werde, so lange man an der G\u00fcltigkeit der mechanischen Naturanschauung , d. h. an der Forderung, alle Massen- und Molecular-vorg\u00e4nge in letzter Instanz auf Bewegungsvorg\u00e4nge eines objectiven Substrates zur\u00fcckzuf\u00fchren, festh\u00e4lt. Hieraus ergibt sich von seihst, dass jedenfalls die heutige Naturwissenschaft noch mit zwei Classen von Hypothesen operirt, deren aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Naturwissenschaft der Zukunft nicht wird entrathen k\u00f6nnen: erstens mit Hypothesen von an sich transitorischem Charakter, d. h. mit solchen, die, m\u00f6gen sie auch noch so lange im Stadium blo\u00dfer Hypothesen bleiben, doch nach der Natur der Objecte, auf die sie sich beziehen, einer directen oder indirecten (durch Schl\u00fcsse vermittelten) Best\u00e4tigung oder Widerlegung zug\u00e4nglich sind; zweitens aber mit solchen Hypothesen, deren Objecte niemals empirisch nachgewiesen werden k\u00f6nnen, sondern wo diese Objecte immer nur die Bolle von H\u00fclfsbegriffen spielen, die f\u00fcr die Verkn\u00fcpfung der Erfahrungsinhalte n\u00fctzlich, ja unerl\u00e4sslich sein m\u00f6gen, die aber niemals selbst in irgend einer Erfahrung aufgezeigt oder auch nur nach der Analogie sonst in der Erfahrung gegebener Gegenst\u00e4nde mit irgend einem Grade von Wahrscheinlichkeit construirt werden k\u00f6nnen. Solche definitive Hypothesen tragen nun durchaus den Charakter metaphysischer Voraussetzungen an sich: sie sind ein St\u00fcck Metaphysik, das hier mitten in die empirische Wissenschaft hineinragt. Denn wenn dies stets den eigensten Inhalt der Metaphysik gebildet hat, dass sie letzte Voraussetzungen aufzustellen sucht, die den Gesammt-inhalt der Erfahrung begreiflich machen sollen, w\u00e4hrend sie selbst doch jenseits aller Erfahrung liegen, so w\u00fcsste ich nicht, was mit gr\u00f6\u00dferem Rechte Metaphysik genannt werden k\u00f6nnte als die natur-","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"Heber naiven und kritischen Realismus.\n81\nwissenschaftlichen Hypothesen \u00fcber die Beschaffenheit und die Grundeigenschaften der Materie.\nTreten wir nun mit diesen Gesichtspunkten nochmals der Frage nach den Grenzen der Berechtigung des methodologischen Oekonomie-princips gegen\u00fcber, so ist von vornherein einleuchtend, dass es \u00fcberhaupt nur das Gebiet der Hypothesen sein kann, auf dem jenem Princip ein gewisser Baum geg\u00f6nnt ist. An den Thatsachen als solchen kann keine Methode etwas \u00e4ndern. M\u00f6gen sie von einfacher oder verwickelter Beschaffenheit sein, sie sind so aufzufassen wie sie sind. Es kann didaktisch Wege von verschiedener Zweckm\u00e4\u00dfigkeit geben sie zu beschreiben, und der einfachere Weg wird nat\u00fcrlich im allgemeinen der zweckm\u00e4\u00dfigere sein ; die Methoden der Untersuchung werden aber vor allem durch die Thatsachen selbst bestimmt: sind diese von zusammengesetzter Beschaffenheit, so fordern sie daher auch verwickeltere Methoden der Analyse, als wenn sie relativ einfach sind. Anders, sobald es sich um die Aufstellung von Hypothesen handelt. Solche k\u00f6nnen selbstverst\u00e4ndlich niemals f\u00fcr die Thatsachen selbst, sondern immer nur hei der Verkn\u00fcpfung derselben in Frage kommen, und nur insoweit sind \u00fcberhaupt Hypothesen m\u00f6glich, als verschiedene logische Verkn\u00fcpfungsweisen der Thatsachen denkbar sind. Jede solche denkbare M\u00f6glichkeit repr\u00e4sentirt danneine denkbare Hypothese. Hypothesen sind daher immer nur so lange zul\u00e4ssig, als eine Frage \u00fcberhaupt verschiedene Antworten gestattet. Wo es sich um vor\u00fcbergehende Hypothesen handelt, da verschwinden die Hypothesen im seihen Moment, wo sich unter den verschiedenen M\u00f6glichkeiten eine als die allein haltbare herausstellt. Sind dagegen die Hypothesen bleibende oder metaphysische, so besitzen diese auch stets den Charakter absolut mehrdeutiger L\u00f6sungen der Probleme. Man kann sich hei ihnen aus bestimmten Gr\u00fcnden f\u00fcr die eine oder die andere L\u00f6sung entscheiden; man ist aber niemals berechtigt, andere L\u00f6sungen f\u00fcr ausgeschlossen zu erkl\u00e4ren.\nBeiden Gattungen von Hypothesen gegen\u00fcber spielt nun das methodologische Princip der Einfachheit eine au\u00dferordentlich wichtige Rolle, die in der Geschichte der Wissenschaft \u00fcberall ihre bleibenden Spuren zur\u00fcckgelassen hat. Nat\u00fcrlich gilt es in beiden F\u00e4llen als ^gemeine Begel, dass von verschiedenen Hypothesen, die sich gleich\nWundt, Philoa. Studien XIII.\t6","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\nW. Wundt.\ntauglich zur Verkn\u00fcpfung der Thatsachen erweisen, die einfachere vorzuziehen sei. Hier fallen dann zugleich die didaktische und die methodologische Form des Oekonomieprincips nahe mit einander zusammen. Denn stets kann die einfachere Verkn\u00fcpfungsweise auch als die didaktisch zweckm\u00e4\u00dfigere angesehen werden. In der That hat man daher in der Physik unter Umst\u00e4nden nicht blo\u00df zwischen Hypothesen von gleicher Wahrscheinlichkeit, sondern gelegentlich auch, wenn sich eine wahrscheinliche Hypothese nicht finden l\u00e4sst, zwischen Hypothesen von gleicher Unwahrscheinlichkeit aus didaktischen Gr\u00fcnden die einfachste gew\u00e4hlt. Aber hei allen vor\u00fcbergehenden Hypothesen ist ein solches Gleichgewicht der Wahrscheinlichkeiten selbst ein vor\u00fcbergehender, oft nur w\u00e4hrend einer sehr kurzen Zeit bestehender Zustand, und in dem Moment, wo irgend eine entscheidende Instanz der Beobachtung oder der tiefer eindringenden logischen Analyse eine Hypothese als unzul\u00e4ssig herausstellt, da muss diese nat\u00fcrlich verlassen werden, mag sie sich auch noch so sehr durch ihre Einfachheit empfehlen.\nDieser gl\u00fcckliche Umstand der bei dem Fortschritt der Untersuchung fr\u00fcher oder sp\u00e4ter eintretenden Selhstcorrectur ist es nun zugleich, der namentlich bei provisorischen Hypothesen die Anwendung des Princips der Einfachheit auch dann als eine relativ unsch\u00e4dliche, ja im endg\u00fcltigen Erfolg f\u00f6rderliche erscheinen l\u00e4sst, wo diese Anwendung selbst noch eine sehr unsichere ist, und wo eigentlich nichts als eben die Einfachheit der Voraussetzung f\u00fcr sie spricht. In solchen F\u00e4llen macht es sich geltend, dass es gelegentlich w\u00fcnschens-werth sein kann, irgend eine Annahme zu machen, welche es auch sei, damit nur die weiter fortschreitende Untersuchung \u00fcberhaupt einen festen, der Pr\u00fcfung und Berichtigung zug\u00e4nglichen Ausgangspunkt habe; und da diese weitere Pr\u00fcfung durch die Einfachheit der Voraussetzungen erleichtert wird, so empfiehlt sich hier das Oekonomieprincip ebenfalls als das f\u00fcr solchen provisorischen Zweck n\u00fctzlichste. Ein denkw\u00fcrdiges Beispiel dieser Art bietet Galilei\u2019s Untersuchung des Gesetzes der Beschleunigung fallender K\u00f6rper. Als am dritten Tag der Discorsi der Begriff der gleichf\u00f6rmig beschleunigten Bewegung zuerst eingef\u00fchrt wird, meint der eine der Opponenten, es erscheine ihm einfacher, die gleichf\u00f6rmige Beschleunigung nicht so zu definiren, dass bei ihr die Geschwindigkeit immer","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n83\nnach gleichen Zeiten um gleich viel zunehme, sondern so, dass sie proportional der durchlaufenen Raumstrecke wachse. Darauf entgegnet der mit der Vertretung von Galilei\u2019s eigenen Lehren betraute galviati, es sei ihm tr\u00f6stlich in diesem Irrthum einen Genossen zu finden, denn diese Ueberlegung scheine allerdings so wahrscheinlich zu sein, dass selbst sein Autor sie eine Zeit lang getheilt habe, bis sie sich ihm als unm\u00f6glich herausstellte, weil sich daraus ergeben w\u00fcrde, dass ein fallender K\u00f6rper die doppelte Strecke in der gleichen Zeit durchlaufen m\u00fcsste wie die einfache1).\nIn diesen Ausf\u00fchrungen des gro\u00dfen Begr\u00fcnders der neueren Naturanschauung ist zugleich deutlich ausgesprochen, dass das Princip der Einfachheit in dieser seiner methodologischen Bedeutung \u00fcberhaupt nur ein H\u00fclfsprincip ist, das sich einem andern wichtigeren Princip von viel allgemeinerer Geltung unterzuordnen hat: 4em Princip des widerspruchslosen Zusammenhangs der Erkenntnisse, welches letztere wieder die Eorderung der vollst\u00e4ndigen, nicht blo\u00df theilweisen oder einseitigen Ber\u00fccksichtigung der Thatsachen, die in den Zusammenhang der Erfahrung eingehen, zu seiner selbstverst\u00e4ndlichen Voraussetzung hat.\nVergleicht man nun mit diesen Gesichtspunkten, die die exacte Wissenschaft f\u00fcr die Anwendung des Princips der Einfachheit an die Hand gibt, die Rolle, die dasselbe in der empiriokritischen Philosophie spielt, so lassen sich die wesentlichen Unterschiede dieser philosophischen von der wissenschaftlichen Auffassung offenbar in die drei Punkte zusammenfassen: 1) Der Empiriokriticismus scheidet durchgehends nicht die drei verschiedenen Bedeutungen, die das Oeko-nomieprincip hat; er l\u00e4sst die metaphysische mit der methodologischen und diese sogar mit der didaktischen Anwendung in unentwirrbarer Weise zusammenflie\u00dfen. 2) Die vorherrschende Bedeutung, die das Princip bei ihm besitzt, ist aber die metaphysische: der nat\u00fcrliche 'uid der aus ihm wiederherzustellende allgemein menschliche \u00bbWeltbegriff\u00ab ist vor allen denkbaren andern zu bevorzugen, weil er der \u00bbeinfachste\u00ab ist, indem bei ihm alle \u00bbBeibegriffe\u00ab eliminirt sind, und diejenige Philosophie ist zu bevorzugen, die allesaus \u00bbeiner Voraussetzung\u00ab ableitet, wodurch eine solche Philosophie wiederum andern\n1) Galilei, Opere, edit. Alb\u00e8ri, t. XIII, p. 161.\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\nW. Wundt.\nSystemen gegen\u00fcber, die mehrerer Voraussetzungen zu bed\u00fcrfen glauben, die einfachste ist. In allen diesen Beziehungen spielt das Princip der Einfachheit augenscheinlich die Bolle eines metaphysischen Weltgesetzes. Die Gr\u00fcnde, auf die sich die Anspr\u00fcche dieses Gesetzes st\u00fctzen, bleiben aber vollkommen verborgen. Weder wird gesagt, warum der einfachste Weltbegriff der wahre, noch wird dar-gethan, dass das Begreifen der Dinge nothwendig an die Entwicklung aus einer einzigen Voraussetzung gebunden sein m\u00fcsse. Das Princip der Einfachheit in dieser von dem Empiriokriticismus gew\u00e4hlten Anwendung ist also eine vollkommen willk\u00fcrliche Annahme : es steht, wie so manche andere metaphysische Annahme, eigentlich unter der Voraussetzung, dass Philosophie eine \u00bbBegriffsdichtung\u00ab sei, f\u00fcr die in erster Linie nicht logische, also wissenschaftliche, sondern \u00e4sthetisch-teleologische Principien ma\u00dfgebend sind. 3) Von einer Unterordnung des Oekonomieprincips unter das in der exacten Wissenschaft thats\u00e4chlich zur vorherrschenden Geltung gelangte Princip des widerspruchslosen Zusammenhangs ist bei dem Empiriokriticismus ebenso wenig die Bede wie von einer Ber\u00fccksichtigung des Postulates der allseitigen Ber\u00fccksichtigung der Erfahrungsthatsachen. W\u00e4hrend jenes logische Princip durch das halb metaphysische, halb \u00e4sthetisch-teleologische Gesetz der Einfachheit verdr\u00e4ngt wird, dient dieses zugleich dazu, Erfahrungszusammenh\u00e4nge als nicht existirend zu behandeln, wo sie irgend einmal mit den Voraussetzungen, die unter dem Schutz des metaphysischen Simplicit\u00e4tsprincips gemacht worden sind, nicht \u00fcbereinstimmen sollten. Die der exacten wissenschaftlichen Forschung eigene Begel des widerspruchslosen Zusammenhangs der Begriffe unter einander wandelt sich also hier in die andere Begel um, alle That-sachen und Begriffe seien aus dem Zusammenhang der Weltbetrachtung zu eliminiren, die mit dem aufgestellten metaphysischen Princip nicht \u00fcbereinstimmen.\nDer Empiriokriticismus ist zu dieser metaphysischen Anwendung des Oekonomieprincips, die im schroffsten Widerspruch mit dem berechtigten, aber auch freilich weit beschr\u00e4nkteren Gebrauch steht, den die positive Wissenschaft von ihm macht, nicht mit einem Male sondern allm\u00e4hlich fortgeschritten. In seinen \u00bbProlegomenen\u00ab hat es Avenarius zun\u00e4chst als eine methodologische Begel behandelt, unter welcher die philosophischen Weltanschauungen in ihrem geschieht-","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n85\nliehen Wechsel aufgefasst werden k\u00f6nnten. Ausgehend von der in gel\u00e4ufigen Vorg\u00e4ngen der Sinneswahrnehmung und Apperception sich bet\u00e4tigenden \u00bbZweckm\u00e4\u00dfigkeit\u00ab der Seele erscheint ihm hier das \u00bbprincip des kleinsten Kraftma\u00dfes\u00ab als ein das gesammte menschliche Denken beherrschendes Gesetz, das sich darum auch die Philosophie bei ihren Versuchen die Welt zu begreifen zu eigen mache. Damit \u2022wird zugleich der \u00e4sthetisch-teleologische Charakter des Princips offen anerkannt; und die Auffassung der philosophischen Systeme als wechselnder Versuche, nach diesem Princip in dem m\u00f6glichst einfachen Weltbegriff Befriedigung zu suchen, steht, wie es scheint, unter dem Zeichen von Albert Lange\u2019s Definition der Metaphysik als \u00bbBegriffsdichtung\u00ab. Daneben durchzieht aber die ganze Darstellung ein entwicklungsgeschichtlicher. Gedanke, der den Uebergang des in historisch-kritischem Sinne gehandhabten Princips in eine dogmatische Form leise schon andeutet. In der Entwicklung der philosophischen Systeme soll sich n\u00e4mlich das Gesetz des \u00bbkleinsten Kraftma\u00dfes\u00ab auch in dem Sinne beth\u00e4tigen, dass die Philosophie immer einfacheren L\u00f6sungen des Weltproblems zustrebe, bis sie schlie\u00dflich bei der absolut einfachsten angelangt sein werde. Als diese wird eine solche angedeutet, die der einfachen, \u00fcberall begrifflich gleich zu denkenden Atombewegung als seelisches Correlat eine gleichartige TJrempfindung gegen\u00fcberstelle, aus der die Gesammtheit der psychischen Erfahrungsinhalte zu entwickeln die Aufgabe einer k\u00fcnftigen \u00bbVariationspsychologie\u00ab sei1). Avenarius hat sp\u00e4ter diese durchaus nur aphoristisch und anspruchslos vorgetragenen Aper\u00e7us zu einer zuk\u00fcnftigen Metaphysik preisgegeben. Aber an dem Oekonomic-1 princip und an dem Gedanken, dass die Philosophie in fortschreitendem Ma\u00dfe einer immer einfacheren L\u00f6sung des Weltproblems zustrebe, hat er festgehalten. Nur wird das Oekonomieprincip jetzt zum Theil anders von ihm angewandt. Ist das Centralorgan des Nervensystems, wie die physiologische Beobachtung lehrt, indirect also die \u00bbUmgebung\u00ab in ihren Einwirkungen auf dieses Centralorgan, Bedingung aller unserer Erfahrungsinhalte, so zwingt uns \u2014 dieser Gedanke durchzieht wie ein rother Faden alle methodologischen Er\u00f6rterungen \u2014 das \u00bbPrincip der Oekonomie des Denkens\u00ab, zuzusehen, wie weit wir mit dieser Bedingung kommen, ehe wir schwer zu defini-\n1) Vergl. den ersten Artikel, Philos. Studien XII, S. 356.","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nW. Wundt.\nrende und unsichere Begriffe wie \u00bbBewusstsein\u00ab, \u00bbDenken\u00ab, \u00bbunmittelbar Gegebenes\u00ab oder \u00bbunmittelbar Gewisses\u00ab anwenden. Zeigt es sieb ferner, dass das vorwissenschaftliche Erkennen ungleich einfachere Voraussetzungen macht, als sie in dem philosophischen oder sonstigen \u00bbwissenschaftlichen\u00ab Erkennen Vorkommen, so gebietet das n\u00e4mliche Oekonomieprincip, zu pr\u00fcfen, ob nicht dieser urspr\u00fcngliche \u00bbnat\u00fcrliche Welthegriff\u00ab allen nachher gekommenen, auf Grund compli-cirter und hochentwickelter Formen und Mittel des Denkens zu Stande gekommenen vorzuziehen sei. Wird dieses Bestreben von Erfolg gekr\u00f6nt, so kann man dann auch sicher sein, jenem Ziel, welches nach dem Oekonomieprincip als das Ideal der Wissenschaft betrachtet wird, n\u00e4mlich alles Einzelne aus einer einzigen letzten Voraussetzung abzuleiten, so nahe wie m\u00f6glich zu kommen1).\nAllerdings wird das hier \u00fcberall zur Erl\u00e4uterung des Gedankengangs hinzugef\u00fcgte \u00bbPrincip des kleinsten Kraftma\u00dfes\u00ab in der \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab selbst nicht mehr genannt. Um so mehr beherrscht es den ganzen Zusammenhang. So sehr ist dies der Pall, dass es als eine selbstverst\u00e4ndliche und darum gar nicht weiter zu rechtfertigende Regel zu gelten scheint, gegen die etwaige Zweifel h\u00f6chstens mit der Bemerkung beseitigt werden, es stehe Jedermann frei, sich mit dem Autor auf den gleichen Standpunkt zu stellen oder nicht zu stellen. Im letzteren Fall m\u00fcsse eben jener dem Leser gegen\u00fcber \u00bbdie Hoffnung sich mit ihm zu verst\u00e4ndigen einstweilen aufgehen\u00ab 2). Diese Motivirung ist in der That wohl angebracht, wenn die Wahl des Standpunkts im letzten Grunde von einer \u00e4sthetischen Bevorzugung abh\u00e4ngt, also Geschmackssache ist. Handelt es sich um logische Gr\u00fcnde und Gegengr\u00fcnde, so ist sie aber unzul\u00e4ssig. So ist denn auch das Streben, in der Philosophie oder in der Wissenschaft \u00fcberhaupt das Einfache dem Complicirten vorzuziehen, durchaus nicht auf ein logisches, sondern nur auf ein \u00e4sthetisches Ideal gerichtet. Ein logisches Wissenschaftsideal ist es, alles thats\u00e4chlich Gegebene zu ber\u00fccksichtigen und das Ganze zugleich in einen vollkommen widerspruchslosen Zusammenhang zu ordnen. Mit diesem Ideal vertr\u00e4gt es sich aber nicht, dass man gewisse Seiten des Gegebenen ignorirt, und dass man sich um Widerspr\u00fcche nicht k\u00fcmmert. Eine Philosophie, die um ihres \u00e4sthetisch-teleologischen Strebens nach\n1) Kritik, I, Vorwort.\n2) Kritik I, S. 10.","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n87\nEinfachheit -willen das thut, kann m\u00f6glicher Weise ein \u00e4sthetisches Kunstwerk sein, ein logisches ist sie gewiss nicht, und eine wissenschaftliche Philosophie wird man sie nicht nennen k\u00f6nnen, sobald man der Meinung ist, dass \u00bbBegriffsdichtung\u00ab als solche keine Wissenschaft sei.\nNun ist freilich zuzugeben, so schlimm mit der r\u00fccksichtslosen Durchf\u00fchrung der \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab, wie man nach dem aufgestellten Programm yermuthen k\u00f6nnte, steht es nicht. Das Versprechen, alle einzelnen S\u00e4tze aus einer einzigen Voraussetzung abzuleiten, wird, wie wir gesehen haben, nicht gehalten1). Aber gerade das ist nun wiederum f\u00fcr die logische Klarheit und B\u00fcndigkeit des Systems keineswegs f\u00f6rderlich, dass die meisten Voraussetzungen, auf die es sich st\u00fctzt, stillschweigend und sozusagen heimlicher Weise eingef\u00fchrt werden, wobei dann nat\u00fcrlich auch die Begr\u00fcndung zu kurz kommen muss, sofern \u00fcberhaupt von einer solchen die Rede sein kann. In der Regel besteht n\u00e4mlich die einzige \u00e8ntweder blo\u00df angedeutete oder unausgesprochen bleibende, jedoch nothwendig zu erg\u00e4nzende Begr\u00fcndung darin, dass die betreffende Annahme durch die Erfahrung nahe gelegt werde. Durch solche nachtr\u00e4gliche, aus der Erfahrung oder aus beliebigen, mit einer gewissen Autorit\u00e4t ausgestatteten Hypothesen anderer Wissenschaften gesch\u00f6pfte H\u00fclfs-voraussetzungen entsteht nun aber eine Gefahr, der der Empiriokri-ticismus nicht entgangen ist, sondern von der man eher sagen k\u00f6nnte, dass er sie grunds\u00e4tzlich aufgesucht hat: die Gefahr n\u00e4mlich, dass die Voraussetzungen ganz willk\u00fcrlich ausgew\u00e4hlt werden. Das Princip der Oekonomie gestattet es ja auf der einen Seite, jede beliebige Voraussetzung unber\u00fccksichtigt zu lassen, die aus irgend welchen Gr\u00fcnden unbequem ist oder die \u00e4sthetische Symmetrie des Systems st\u00f6rt; und der thats\u00e4chlich befolgte Grundsatz, nachtr\u00e4glich die erforderlichen H\u00fclfsannahmen zuzulassen, macht es auf der andern Seite m\u00f6glich, die an die Spitze gestellte, angeblich ausschlie\u00dfliche Voraussetzung in jeder irgend gew\u00fcnschten Weise zu erg\u00e4nzen. Das ist auch der Grund, weshalb jener \u00bbempii\u2019iokritische Befund\u00ab, der die Grundvoraussetzung des Systems bildet, offenbar ebenso gut im Sinne der \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab zur Immanenzphilosophie h\u00e4tte aus-\n1) Ygl. oben S. tl ff.","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nW. Wundt.\ngebildet werden k\u00f6nnen. Denn ob man das \u00bbSystem C\u00ab oder das \u00bbBewusstsein\u00ab als einen solchen aus der Erfahrung hinzugef\u00fcgten H\u00fclfsbegriff w\u00e4hlt, ist, sofern man nur unter diesen beiden Begriffen nicht metaphysische Eictionen, sondern unter jenem das wirkliche Centralorgan, unter diesem die thats\u00e4chlich bestehenden concreten \u00bbBewusstseinsvorg\u00e4nge\u00ab versteht, offenbar im Sinne des Princips der Einfachheit selbst ganz und gar gleichg\u00fcltig \u2014 dar\u00fcber entscheiden also andere metaphysische oder vielleicht auch \u00e4sthetisch-teleologische Neigungen.\nHat man aber einmal die Wahl getroffen, so ist dann freilich auch das weitere Schicksal des Systems im wesentlichen besiegelt. Wer das \u00bbBewusstsein\u00ab w\u00e4hlt, dem ist das Nervensystem ein Bewusstseinsinhalt wie jeder andere ; und wer das System C w\u00e4hlt, dem sind \u00bbBewusstsein\u00ab, \u00bbWissen\u00ab, \u00bbDenken\u00ab, \u00bbunmittelbar Gegebenes\u00ab ein fragw\u00fcrdiger Befund, und die weiteren Voraussetzungen w\u00e4hlt er nicht nach den Bed\u00fcrfnissen der Sache, sondern nach den Bed\u00fcrfnissen des Systems C. Das zeigt sich, von vielem andern abgesehen, besonders deutlich an der Polemik, die der Empiriokriticismus gegen den Begriff der Causalit\u00e4t f\u00fchrt. Nicht selten behandelt er diesen Begriff so, als wenn Jedermann unter Ursache irgend eine metaphysische Entit\u00e4t und unter Wirkung eine dieser Entit\u00e4t als dem Ding an sich gegen\u00fcberstehende \u00bbErscheinung\u00ab verst\u00fcnde. Nun bedeuten aber in dem heutigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch im allgemeinen die \u00bbUrsache\u00ab und \u00bbWirkung\u00ab \u00fcberall, mag es sich um physikalische oder um psychologische Thatsachen oder unter den letzteren um die Causalit\u00e4t des Denkens selbst handeln, nur thats\u00e4chlich in der Erfahrung gegebene Ereignisse, und unter dem Cau-salit\u00e4tsverh\u00e4ltniss versteht man demnach die regelm\u00e4\u00dfige und den sonstigen Zusammenh\u00e4ngen des gleichen Erfahrungsgebietes entsprechende Verbindung zweier thats\u00e4chlicher Ereignisse. Diesem ebenso sehr auf einer allgemeinen logischen Forderung wie auf \u00fcberall sich vorfindenden empirischen Motiven beruhenden Begriff gegen\u00fcber ist es nun eine ganz willk\u00fcrliche Einschr\u00e4nkung, wenn z. B. gesagt wird, das materielle Geschehen folge ohne Ausnahme dem Causalgesetz, f\u00fcr das geistige Geschehen gebe es aber ein solches Gesetz im strengen Sinne gar nicht, sondern dieses sei nur deshalb \u00bbin allen seinen Theilen f\u00fcr ebenso bestimmt zu halten wie die Gesammtheit der","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n89\nmateriellen Vorg\u00e4nge\u00ab, weil \u00bbein durchg\u00e4ngiger functioneller Zusammenhang zwischen den psychischen Erscheinungen und gewissen \u00c4nderungen im nerv\u00f6sen Centralorgan bestehe\u00abl). Damit ist dem Princip der Einfachheit gen\u00fcgt, denn in dieser Beschr\u00e4nkung gefasst ist das Causalgesetz zweifellos einfacher und bestimmter, als ein allgemeines Causalprincip sein kann. Zugleich ist man aber damit gl\u00fccklich der Sorge um eine eigentliche Oausalerkl\u00e4rung psychologischer, geschichtlicher und \u00e4hnlicher Vorg\u00e4nge ledig geworden, oder vielmehr: allen diesen Gebieten gegen\u00fcber gilt unbesehen die Weisung, dass sie auf die Gesetze des materiellen Geschehens zur\u00fcckzuf\u00fchren seien. Der Psychologe, Historiker, Aesthetiker u. s. w. mag dann Zusehen, wie er damit fertig wird.\nAm schlagendsten gestalten sich diese Anwendungen, der \u00bbOeko-nomie des Denkens\u00ab hei der Verwerthung des Princips f\u00fcr einzelne Gebiete der historischen Geisteswissenschaften. Auch ist das begreiflich genug : die Unzul\u00e4nglichkeit einer Pegel, die darauf ausgeht, vor allen Dingen dem Wunsche nach Einfachheit zu gen\u00fcgen, muss nat\u00fcrlich um so mehr in die Augen fallen, von je verwickelteren Bedingungen die Thatsachen in Wirklichkeit abh\u00e4ngen. In dieser Beziehung ist eine vom \u00bbempiriokritischen\u00ab Standpunkte aus unternommene Untersuchung von Er. Oarstanjen \u00bb\u00fcber die Entwicklungs-factoren der niederl\u00e4ndischen Er\u00fchrenaissance\u00ab sehr belehrend2). Je mehr der Verf. in manchen von der anzuwendenden Theorie unbeeinflussten Ausf\u00fchrungen seine Kenntniss der behandelten Kunstepoche bekundet, ein um so augenf\u00e4lligeres Zeugniss ist das Ganze seiner Theorie f\u00fcr die verderbliche Wirkung metaphysischer Leitmotive. Die niederl\u00e4ndische Er\u00fchrenaissance in ihren Anf\u00e4ngen \u2014 so werden wir z. B. belehrt \u2014 ist nicht, wie man bisher gemeint, eine Begleit- und zum Theil Folgeerscheinung weit verzweigter geistiger Str\u00f6mungen, sondern sie muss, statt nach historischen und sociolo-gischen, nach \u00bbbiologischen Gesetzen\u00ab begriffen werden. Biologisch entspringt aber irgend ein Neues stets aus einem \u00bbUeherschuss an Kraft\u00ab, der in Folge l\u00e4ngerer Uebung in gleicher Pichtung sich einstellt. Dieser Ueherschuss an Kraft erzeugt dann zuerst ein unbe-\nJ. Petzoldt, Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. XVIII, S. 52 f.\n2) Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. XX, S. Iff., 143 ff.","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nW. Wundt.\nstimmtes \u00bbUnlustgef\u00fchl\u00ab und damit zugleich als dessen Kehrseite eine \u00bbLust nach einem unbestimmten Andern\u00ab, endlich ein \u00bbSuchen\u00ab nach diesem Andern und in Folge dessen die \u00bbNeul\u00f6sung\u00ab und die \u00bbLust an der Neul\u00f6sung\u00ab. Damit ist das Ph\u00e4nomen auf die empi-riokritische Theorie der Uebungsschwankungen zur\u00fcckgef\u00fchrt, welche nat\u00fcrlich mit historischen und sociologischen Factoren nichts anzufangen wei\u00df. Nebenbei hat als specielles Vorbild der Darstellung augenscheinlich die von Avenarius als allgemeines Schema der Uebungsschwankungen gegebene Schilderung der fr\u00fchesten Handlungen des Kindes gedient1). Wie das Kind zuerst unter dem Antrieb eines unbestimmten Unlustgef\u00fchls die Mutterbrust \u00bbsucht\u00ab und dann erst, wenn es sie gefunden hat, die ihm neue Lust an der Nahrungsaufnahme empfindet \u2014 genau nach diesem Schema soll jene \u00bb Uebungsscliwankung \u00ab in der Geschichte der Kunst vor sich gegangen sein. Dass dieser Process, wenn die Schilderung zutr\u00e4fe, in der That ein einfacherer als der wirkliche Verlauf w\u00e4re, wird Niemand bestreiten. Dass er aber durch diese Elimination aller Factoren, die die Harmonie einfacher Erkl\u00e4rungen st\u00f6ren k\u00f6nnten, begreiflicher geworden sei, wird Niemand glauben, der nicht auf die Schablone des empiriokritischen Systems schw\u00f6rt. Darin bew\u00e4hrt sich \u00fcbrigens dieses wiederum als ein echtes Product dialektischer Gedankenkunst, dass es seinen Adepten neben der Gewissheit einer h\u00f6heren Einsicht zugleich eine bewundernswerthe Virtuosit\u00e4t verleiht, von den That-sachen und Ergebnissen empirischer Forschung abstrahiren zu k\u00f6nnen. Die Einordnung in das dialektische Schema gew\u00e4hrt eben eine so hohe \u00bbLust an der Neul\u00f6sung\u00ab, dass ein Zweifel nicht mehr entstehen kann.\nAlle diese Beispiele zeigen deutlich, welche Wirkungen das Princip der \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab \u00e4u\u00dfern kann, sobald es zum metaphysischen Axiom erhoben wird. Ein als heuristische Maxime n\u00fctzliches methodologisches H\u00fclfsmittel in den H\u00e4nden des wissenschaftlichen Forschers, der jeden Augenblick bereit ist sich durch die Erfahrung eines besseren belehren zu lassen, ist es f\u00fcr den spe-culirenden Philosophen nur noch ein Werkzeug zur Unterdr\u00fcckung unbequemer Thatsachen.\n1) Kritik, II, S. 152 ff.","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n91\nd. Das Postulat der reinen Beschreibung.\nKaum in einem andern Punkte tritt die realistische Reaction der Gegenwart auf wissenschaftlichem Gebiete gegen vorangegangene speculative Oonstructionen und uncontrolirbare Hypothesen augenf\u00e4lliger zu Tage als in der eindringlich erhobenen Forderung, die Wissenschaft habe sich auf die Feststellung der Thatsachen und ihres Zusammenhanges zu beschr\u00e4nken, auf jede Hinzuf\u00fcgung von Begriffen aber, die nicht etwa selbst eine Zusammenfassung von Thatsachen oder aus solchen unmittelbar ahstrahirt seien, zu verzichten. Der gel\u00e4ufige Ausdruck f\u00fcr diese Forderung ist der, dass man verlangt, die Wissenschaft habe lediglich die Beschreibung des Vorgefundenen zur Aufgabe, und sie habe demnach mit den fortw\u00e4hrend gemachten Versuchen einer Erkl\u00e4rung desselben endg\u00fcltig zu brechen. Unter den neueren philosophischen Richtungen ist es vornehmlich der Empiriokriticismus, der sich zum Sprachrohr dieser besonders in der Naturwissenschaft weit verbreiteten Anschauung gemacht hat.\nDass diese skeptische, gegen unsichere Hypothesen und auf sie gegr\u00fcndete Theorien gerichtete Stimmung einer wohlberechtigten Tendenz entspringt, soll gewiss nicht geleugnet werden. Aber leider muss doch auch gesagt werden, dass hei dieser starken Betonung der Thatsachen und des Standpunktes reiner Beschreibung eine kritische Selbstbesinnung \u00fcber den eigentlichen Inhalt dieser Forderung und \u00fcber die etwaigen Grenzen ihrer Anwendung zumeist g\u00e4nzlich vermisst wird, und dass wohl aus diesem Grunde auch von den meisten Vertretern dieser Anschauung selbst die Forderungen, die sie stellen, keineswegs erf\u00fcllt werden. Merkw\u00fcrdiger Weise trifft das vor allem hei den Vertretern der empiriokritischen Philosophie zu, von denen man billiger Weise am ehesten eine Aufkl\u00e4rung \u00fcber die in jener Forderung enthaltenen Begriffe und eine strenge und folgerichtige Anwendung derselben erwarten sollte.\nZun\u00e4chst m\u00fcsste doch jene kritische Selbstbesinnung in der Definition dessen bestehen, was man denn unter einer \u00bbThatsache\u00ab, und was man unter einer \u00bbBeschreibung\u00ab und im Gegens\u00e4tze zu ihr unter einer \u00bbErkl\u00e4rung\u00ab zu verstehen habe. Erst auf Grund einer solchen Definition w\u00fcrde sich dann die Nothwendigkeit der Beschr\u00e4n-","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nW. Wundt.\nkung auf die erstere und die Unzul\u00e4ssigkeit der letzteren erweisen lassen. Innerhalb des empiriokritischen Systems deckt sich nun der Begriff der Thatsache augenscheinlich mit dem der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab. Thatsache ist was zum Inhalt der reinen Erfahrung geh\u00f6rt; was sich in ihr nicht vorfindet, ist auch nicht als Thatsache anzuerkennen. Dabei kommt aber der Begriff der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab selbst wieder in einer anf\u00e4nglichen, weiteren und in einer endg\u00fcltigen, engeren Bedeutung vor. Nach der ersteren ist alles, was \u00fcberhaupt Gegenstand einer Aussage sein kann, ein beliebiges Phantasma ebenso gut wie ein wahrgenommenes Object, Inhalt der reinen Erfahrung. Nach der zweiten beschr\u00e4nkt sich dieser Begriff auf die Erfahrungsinhalte, denen in der Aussage der Charakter der \u00bbSachhaftigkeit\u00ab beigelegt wird, oder die, was hierf\u00fcr als objectives Kriterium eintritt, \u00bbin Aenderungen der peripherischen Sinnesorgane die n\u00e4chsten Bedingungen ihrer Setzung haben\u00ab. (Vgl. oben S. 29.) Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der Begriff der \u00bbThatsache\u00ab als einer \u00bbgegebenen Sache\u00ab wissenschaftlich nur in der zweiten Bedeutung zu nehmen ist, da dieser Begriff zwar auch auf das blo\u00df \u00bbGedachte\u00ab \u00fcbertragen werden kann, aber urspr\u00fcnglich und eigentlich doch nur der Charakteristik des \u00bbWahrgenommenen\u00ab im Unterschiede von dem blo\u00df \u00bbVorgestellten\u00ab dient1). Der so endg\u00fcltig gegebenen Entscheidung gegen\u00fcber befindet sich jedoch nicht blo\u00df der Erkennt-nisstheoretiker, namentlich wenn er zugleich Psychologe sein sollte, sondern auch der Fachmann, der klar und b\u00fcndig im concreten Fall das Thats\u00e4chliche von dem Nicht-Thats\u00e4chlichen unterscheiden m\u00f6chte, in einer nicht geringen Verlegenheit. Zun\u00e4chst sind ihm ja die \u00bbSachen\u00ab nicht als Aenderungen der peripherischen Sinnesorgane gegeben, sondern eben als \u00bbSachen\u00ab, von denen er nicht wei\u00df, wie sie als wahrgenommene von den blo\u00df vorgestellten unterschieden werden sollen. Verweist man ihn auf die peripherischen Sinnesorgane, so w\u00fcrde also das Kriterium objectiver Thats\u00e4chlichkeit jedesmal nur durch eine physiologische Untersuchung zu gewinnen sein. Ein Zweifler k\u00f6nnte dagegen vor allem einwenden, welche B\u00fcrgschaft denn in diesem Falle uns daf\u00fcr gegeben sei, dass die nachgewiesenen Aenderungen der Sinnesorgane auch wirkliche, im eigentlichen\n1) Kritik, II, S. 356, 366.","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naben und kritischen Realismus.\n93\nSinne thats\u00e4chliche und nicht etwa auch blo\u00df \u00bbgedachte\u00ab seien. Aber lassen wir solche Zweifel auf sich beruhen, nehmen wir an, in Erkenntnistheorie und empirischer Wissenschaft w\u00fcrden k\u00fcnftighin etwa die Nachweisung der \u00bbnegativen Stromesschwankung\u00ab in den Sinnesnerven, die Bleichung des Sehpurpur und \u00e4hnliches als entscheidende Instanzen f\u00fcr die Annahme der Thats\u00e4chlichkeit eines Gegebenen anerkannt: was fangen wir dann mit jenen unz\u00e4hligen psychologischen Erfahrungen an, aus denen hervorgeht, dass es wahrscheinlich keine einzige so genannte Sinneswahrnehmung gibt, die aus den Aenderungen der peripherischen Sinnesorgane allein zu erkl\u00e4ren w\u00e4re, weil sich in der mannigfaltigsten Weise Erinnerungselemente mit den durch die Sinneserregung entstehenden Empfindungen verbinden, w\u00e4hrend umgekehrt Bestandtheile dieser Sinneserregung, offenbar in Eolge der Verdr\u00e4ngung durch Erinnerungselemente, in der Wahrnehmung g\u00e4nzlich verschwinden k\u00f6nnen? Es ist also klar, diese R\u00fcckverweisung auf die Aenderungen der peripherischen Sinnesorgane hilft uns gar nichts. Vielmehr, wenn wir einmal die Physiologie zur Richterin in erkenntnisstheoretischen Pr\u00e4gen machen wollen, so m\u00fcssen wir den Schritt entschlossen zu Ende thun: wir m\u00fcssen verlangen, dass die Molecularmechanik des ganzen Nervensystems, insonderheit auch der Centralorgane, von denen die Erinnerungselemente herstammen, klar gelegt werde, damit schlie\u00dflich eine Unterscheidung dessen, was wirklich von den \u00bbUmgebungsbestandtheilen\u00ab und nicht von den \u00bbsystematischen Vorbedingungen\u00ab des Systems C herr\u00fchrt, m\u00f6glich sei. Lassen wir uns nun auch die praktische Unerf\u00fcllbarkeit dieser Forderung nicht anfechten: was bliebe \u00fcbrig, wenn wir wirklich hei dem Ende dieser physiologischen Analyse angelangt w\u00e4ren? Als letztes Substrat einer Thatsache w\u00fcrde eine bestimmte J complexe Sinnesaffection gegeben sein. Nun weist bekanntlich die Psychophysik nach, dass es Sinnesaffectionen gibt, die wir nicht wahrnehmen: sind sie Thatsachen oder sind sie keine Thatsachen? Nat\u00fcrlich wird man sich daf\u00fcr entscheiden m\u00fcssen, sie als Thatsachen anzuerkennen. Die n\u00e4mliche Psychophysik lehrt ferner, dass es Unterschiede der Erregungsvorg\u00e4nge, z. B. sehr kleine Intensit\u00e4ts- und Qualit\u00e4tsunterschiede, gibt, die wir nicht als solche wahmehmen: sind diese Unterschiede thats\u00e4chliche oder nicht? Nat\u00fcrlich werden wohl auch sie wieder als thats\u00e4chliche anzusehen sein. Endlich","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nW. Wundt.\nnimmt der Empiriokriticismus selbst eine besondere, durch den psychophysischen Parallelismus bestimmte Functionsbeziehung zwischen den Wahmehmungsinhalten und den \u00bbAenderungen des Systems (7\u00ab an1), und es ist daher wohl im allgemeinen vorauszusetzen, dass gem\u00e4\u00df dieser Abh\u00e4ngigkeit zu jedem Wahmehmungsinhalt auch die entsprechende Aenderung des Systems C und ebenso eine mit dem letzteren wieder in Beziehung stehende Aenderung des peripherischen Sinnesapparates aufzufinden sein muss. Aber um so mehr entsteht dann die Frage: welches ist der eigentliche Inhalt einer in der Erfahrung gegebenen \u00bbThatsache\u00ab, ist es der \"Wahrnehmungsinhalt oder etwa die ihm entsprechende Aenderung des Systems C? Nun ist nach der Voraussetzung des Empiriokriticismus die Schwankung des Systems C das Bedingende, der Wahrnehmungsinhalt das Bedingte. Man wird also die obige Frage in einem doppelten Sinne beantworten k\u00f6nnen. In einem weiteren, wenn wir Bedingendes und Bedingtes zusammenfassen, ist der Wahmehmungsinhalt samt der entsprechenden Aenderung des Systems C zur Constitution der \u00bbThatsache\u00ab erforderlich. Im engeren Sinne aber wird man sich offenbar damit begn\u00fcgen k\u00f6nnen, die \u00bbunabh\u00e4ngige Vitalreihe\u00ab, das hei\u00dft die Aenderungen des Systems C, zu dem sich ja nach den allgemeing\u00fcltigen Functionalbeziehungen die Abh\u00e4ngigen von selbst ergeben sollen, als die eigentlichen Thatsachen zu betrachten. Nun mag man von den \u00bbSchwankungen des Systems (7\u00ab denken was man will, auf alle F\u00e4lle sind sie hypothetische Constructionen oder hypothetische Erg\u00e4nzungen der Wirklichkeit. Fasst man also den Begriff der Thatsache in dem oben als m\u00f6glich angedeuteten weiteren Sinne, so ist Thatsache ein wirklicher Wahrnehmungsinhalt und ein ihn erg\u00e4nzender hypothetischer Vorgang. Fasst man den Begriff in dem engeren Sinne, so bleibt als Thatsache nur die hypothetische Aenderung eines hypothetischen Substrates \u00fcbrig. In jedem dieser F\u00e4lle entfernt sich der empiriokritische Begriff der Thatsache von dem empirischen, und im zweiten geht er sogar vollst\u00e4ndig in einen metaphysischen Begriff \u00fcber: die Thatsachen der gew\u00f6hnlichen Erfahrung sind hier eigentlich nur \u00bbErscheinungen\u00ab, welche auf eine Urthatsache zur\u00fcckweisen, die selbst gar nicht in der Erfahrung gegeben ist. Unter allen\n1) Bemerkungen, Art. Ill, S. 17 f.","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n95\nUmst\u00e4nden aber ist es klar, dass sich mit diesem Begriff der Thatsache wissenschaftlich nichts anfangen l\u00e4sst, und dass der Versuch, die gegebene Definition festzuhalten und durchzuf\u00fchren, 'zu Widerspr\u00fcchen f\u00fchrt. Wenn sich hierbei als ultima ratio die Aufl\u00f6sung des empirischen Begriffs der Thatsache in einen metaphysischen Begriff herausstellt, so ist das \u00fcbrigens die nothwendige Folge davon, dass von Anfang an jene Zur\u00fcckf\u00fchrung des thats\u00e4chlich Gegebenen auf Aende-rungen peripherischer Sinnesorgane mit einer latenten Metaphysik arbeitet find daher an der erkenntnisstheoretischen Untersuchung der Frage, wie wir zum Begriff der Thatsache kommen, und welche Anwendung von diesem Begriff gemacht werden kann, vollst\u00e4ndig vor\u00fcbergeht.\nIn vieler Beziehung \u00e4hnlich verh\u00e4lt es sich nun mit der dieser angeblichen Beschr\u00e4nkung auf das Thats\u00e4chliche nahe verwandten Forderung der \u00bbreinen Beschreibung\u00ab. Der Empiriokriticismus hat wohl geglaubt der M\u00fche einer Definition dessen, was er unter \u00bbBeschreibung\u00ab versteht, deshalb enthoben zu sein, weil das Verfahren, auf das sich dieser Begriff bezieht, allgemein bekannt zu sein scheint, Aber wenn man ein bestimmtes Verfahren so entschieden als das ausschlie\u00dflich berechtigte hinstellt, so sollte man trotzdem nicht vers\u00e4umen, genau seine Beschaffenheit und die Grenzen seiner Anwendung anzugeben. Dar\u00fcber gibt der popul\u00e4re Begriff der Beschreibung nicht so ohne weiteres Auskunft. \u00bbBeschreiben\u00ab kann man schlie\u00dflich eine Chim\u00e4re oder einen Centauren ebenso gut wie einen Hund oder ein Pferd, \u00e4hnlich wie man ja auch eine \u00bbThatsache\u00ab im weitesten Sinne ebenso gut einen wahrgenommenen Gegenstand der Aussen-welt wie ein beliebiges Phantasiebild nennen kann. Aber einen Sinn hat das Postulat der reinen Beschreibung doch offenbar nur dann, wenn es in jenem engeren Sinne, verstanden wird, in welchem es nur auf thats\u00e4chliche Erfahrungsinhalte bezogen werden soll, wobei dann freilich wieder die Frage, was denn als thats\u00e4chlich gegeben zu betrachten sei, in die Schwierigkeiten, die dem Begriff der \u00bbThatsache\u00ab anhaften, verwickelt. Kann man nur reale Thatsachen der Erfahrung wahrheitsgem\u00e4\u00df beschreiben, so kann aber auch das Postulat der reinen Beschreibung nur sagen, die Erfahrungswissenschaft habe es mit nichts anderem als mit den realen Thatsachen der Erfahrung zu thun, nicht mit Begriffen oder Hypothesen, die dieser Erfahrung","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nW. Wundt.\nhinzugef\u00fcgt werden. In diesem Sinne einer thunlichsten Ausschlie\u00dfung aller zum Erfahrungsinhalt hinzugef\u00fcgten hypothetischen H\u00fclfsbegriffe ist denn auch jenes Postulat von den naturwissenschaftlichen Vertretern desselben verstanden und gehandhabt worden. Von einer wirklichen Elimination solcher H\u00fclfsbegriffe ist bei ihnen nicht die Rede '). In \u00e4hnlichem Sinne sind im wesentlichen die Ausf\u00fchrungen von Avenarius gehalten. Der \u00bbabschlie\u00dfende allgemeine Erkenntniss-inhalt\u00ab wird nach ihm dadurch bestimmt, dass derselbe \u00bb1) nur descriptive Aussagen, aber vollst\u00e4ndig, genau und einfach ; 2) nur quantitative Unterschiede, aber in mannigfaltigen Zusammensetzungen (entsprechend der denkbar geringsten Andersheit zwischen allem Z\u00e4hl- und Messbaren)\u00ab, enthalte; 3) der \u00bbdenkbar geringsten quantitativen Andersheit zwischen Bedingungen und Bedingtem\u00ab und 4) der \u00bbdenkbar geringsten inneren Andersheit\u00ab (synthetische Ausgleichung) sich ann\u00e4here1 2). Es ist klar, dass das in der ersten dieser Forderungen aufgestellte Princip der reinen Beschreibung, wie es selbst eigentlich dem Simplicit\u00e4tsprincip untergeordnet wird, so anderseits in den folgenden Forderungen durch die weiteren aus diesem abgeleiteten Bedingungen der Ann\u00e4herung der Erkenntnissinhalte an ihre definitive Gestaltung wieder wesentlich eingeschr\u00e4nkt ist. Denn es l\u00e4sst sich doch nicht verkennen, dass die Ausgleichung qualitativer, quantitativer und \u00bbsystematischer\u00ab Unterschiede Verfahrungsweisen sind, bei denen die Ergebnisse \u00bbreiner Beschreibung\u00ab nicht v\u00f6llig unge-\u00e4ndert bleiben k\u00f6nnen. Demnach hebt auch Avenarius in den Erl\u00e4uterungen zu dieser Stelle hervor, die Naturwissenschaft brauche nicht unbedingt auf die \u00bbNaturerkl\u00e4rung\u00ab zu verzichten, sie habe nur auf gewisse Erkl\u00e4rungsmittel verzichtet und daf\u00fcr \u00bbeigenartige H\u00fclfsmittel der Beschreibung ausgebildet\u00ab3). Man kann nicht sagen, dass durch diese Bemerkungen das Verh\u00e4ltniss zwischen der Beschrei-\n1)\tKirchhoff, Mechanik, 1876, Vorwort und S. Iff. Mach, Das Princip der Vergleichung in der Physik, popul\u00e4r-wissenschaftiche Vorlesungen S. 251 ff. Die Aufgabe der Zukunft deutet Mach hier in der Bemerkung an, in dem Ma\u00dfe als man mit den Thatsachen vertraut werde, erscheine es geboten, \u00bban die Stelle der indirecten die directe Beschreibung treten zu lassen, welche nichts Unwesentliches mehr enth\u00e4lt und sich lediglich auf die begriffliche Fassung der Thatsachen beschr\u00e4nkt\u00ab. (Ebend. S. 263.)\n2)\tKritik, II, S. 331 f. 3) Ebend. S. 493.","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n97\nbung und einer als berechtigt anerkannten \u00bbNaturerkl\u00e4rung\u00ab klargestellt sei. Die vorangegangenen Ausf\u00fchrungen lassen aber schlie\u00dfen, dass unter einer berechtigten \u00bbErkl\u00e4rung\u00ab eben auch hier eine solche verstanden wird, die sich dem \u00f6konomischen Princip des Denkens unterordnet. Entschiedener haben sich einige j\u00fcngere Vertreter der empiriokritischen Philosophie f\u00fcr die ausnahmslose Durchf\u00fchrung des Postulats der reinen Beschreibung und f\u00fcr die alleinige Anerkennung der \u00bbThatsachen\u00ab ausgesprochen, ohne dass sich freilich behaupten lie\u00dfe, es sei von ihnen jenes Postulat erf\u00fcllt oder zur Feststellung des Begriffs der Thatsache irgend etwas gethan worden1).\nDass der Sch\u00f6pfer des empiriokritischen Systems auf die Beih\u00fclfe der \u00bbNaturerkl\u00e4rung\u00ab nicht ganz verzichten wollte, ist nun angesichts der Theorie der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab begreiflich genug. Eher k\u00f6nnte man sich dar\u00fcber wundem, dass er dem Postulat der reinen Beschreibung trotzdem eine bevorzugte Stellung anwies. Denn daran l\u00e4sst sich nicht zweifeln, dass alles, was \u00fcber die Schwankungen des Systems \u00a37, \u00fcber Vitaldifferenzen und Vitalreihen verschiedener Ordnung entwickelt wird, nicht im allergeringsten eine Beschreibung wirklich beobachteter Dinge, sondern dass es h\u00f6chstens eine Schilderung hypothetischer Constructionen ist, die auf Grund einiger aus der Erfahrung abstrahirter Begriffe ausgef\u00fchrt werden. Mit demselben Hechte k\u00f6nnte man Spinoza\u2019s Ethik eine Weltbeschreibung oder Herbart\u2019s Mechanik der Vorstellungen eine Beschreibung realer Vorg\u00e4nge nennen. Noch weniger ist daran zu denken, dass die Ableitung der \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihen\u00ab aus den verschiedenen Schwankungen des Systems C und ihren Modificationen dem entspr\u00e4che, was man auch bei der weitesten Ausdehnung des Begriffs noch eine Beschreibung nennen k\u00f6nnte. Diese Ableitung beruht ja lediglich, wie wir gesehen haben, auf gewissen formalen Analogien. Kein Mensch aber hat z. B. zu bestimmten Uebungs-schwankungen der abh\u00e4ngigen Erkenntnisswerth\u00e8 die zugeh\u00f6rigen Uebungsschwankungen des Systems C wirklich beobachtet. Was man niemals beobachtet hat, kann man aber auch nicht eigentlich beschreiben, es sei denn, dass man dem Wort \u00bbBeschreibung\u00ab jene\n1) Vgl. z. B. J. Petzoldt, Vierteljahrssehr. f. wiss. Philos. IX, XIX, S. 147. R. Willy, ebend. XX, S. 80.\nWundt, Philos. Studieii XIII.\t\u00bb7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nW. Wundt.\nweitere Bedeutung beilegt, in der es sich auch auf ganz imagin\u00e4re Gegenst\u00e4nde und Vorg\u00e4nge beziehen kann.\nHier muss man nun aber, wie ich glaube, die empiriokritische Philosophie gewisserma\u00dfen gegen sich selber in Schutz nehmen. Nicht darin, dass sie \u00fcberhaupt eine \u00bbNatur er kl\u00e4r ung\u00ab oder, wie wir in diesem Pall noch weitergreifend sagen d\u00fcrfen, sogar eine \u00bbWelterkl\u00e4rung\u00ab zu geben versucht, liegt der Fehler, sondern in der Art, wie dies geschieht. Wenn die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab zwischen einer berechtigten Naturerkl\u00e4rung und einer unzul\u00e4ssigen unterscheidet, so ist das in der That vollkommen zutreffend. Aber es ist auffallend, dass sie ihre eigenen Erkl\u00e4rungsversuche nicht als ein neues Beispiel eben jener verfehlten philosophischen Welterkl\u00e4rungen erkannt hat. Dies h\u00e4ngt jedoch sichtlich damit zusammen, dass man sich bei der Aufstellung des Postulats der reinen Beschreibung wiederum keine zureichende erkenntnisstheoretische Rechenschaft dar\u00fcber gab, was denn unter einer \u00bbBeschreibung\u00ab im Unterschiede vwa einer \u00bbErkl\u00e4rung\u00ab im berechtigten wissenschaftlichen Sinne des Wortes zu verstehen sei.\nWas ist in Wahrheit nach dem in den positiven Erfahrungswissenschaften eingef\u00fchrten und im allgemeinen auch correct festgehaltenen Sprachgebrauch eine exacte Beschreibung? Zwei Merkmale sind es, die dieser \u00fcberall, sofern sie sich nicht, wie so oft, mit erkl\u00e4renden Momenten verbindet, sofern sie also wirklich \u00bbreine Beschreibung\u00ab ist, ihren Charakter verleihen. Erstens darf in der Beschreibung nichts enthalten sein, was nicht empirisch gegeben w\u00e4re ; und zweitens darf die Beschreibung keinerlei Aussagen enthalten, die irgend welchen Bestandtheilen des beschriebenen Objectes einen spe-cifischen Erkenntnisswerth gegen\u00fcber andern beilegen; insbesondere schlie\u00dft also die Beschreibung die Feststellung irgend welcher logischer Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen aus. Nach dem ersten dieser Merkmale kann irgend eine hypothetische Voraussetzung oder auch nur ein vermuthetes, aber nicht sicher nachgewiesenes Verhalten niemals Inhalt einer Beschreibung im exacten Sinne des Wortes sein. Nach dem zweiten Merkmal ist es nicht Aufgabe der Beschreibung, eine Theorie irgend eines empirisch gegebenen Zusammenhanges von Erfahrungen zu liefern oder auch nur die Feststellung des Gegebenen mit Elementen zu vermengen, die nicht in dem gegebenen Erfahrungs-","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Ucber naiven und kritischen Realismus.\n99\nInhalte selbst enthalten sind. Abgesehen von diesen beiden Kriterien, durch welche sich die Beschreibung von der Erkl\u00e4rung unterscheidet, ist ihr jedoch keinerlei bestimmte Kegel vorgeschrieben. Sie kann an und f\u00fcr sich z. B. jede beliebige r\u00e4umliche oder zeitliche Folge bevorzugen, wenn sie auch aus didaktischen Gr\u00fcnden meist diejenige w\u00e4hlen wird, die den beschriebenen Objecten selbst eigen ist. In Folge dieser didaktischen Gesichtspunkte wird die Beschreibung \u00fcberhaupt erstens so vollst\u00e4ndig wie m\u00f6glich, zweitens in der f\u00fcr die Auffassung angemessensten Folge und drittens so einfach wie m\u00f6glich vorgelien. In diesen hinzukommenden Forderungen, die nicht an die Beschreibung als solche, sondern nur an eine gute Beschreibung gestellt werden, kommt demnach wieder das Princip der Einfachheit in seiner wohlberechtigten didaktischen Bedeutung zur Anwendung. Wenn es als ein Merkmal der reinen Beschreibung gezeichnet wurde, dass diese nicht auf Unterschiede des \u00bbErkenntniss-werthes\u00ab der Objecte hinweise, so schlie\u00dft das \u00fcbrigens nicht aus, dass sie Eines vor dem Andern bevorzuge und in diesem Sinne Werthunterschiede mache. In der That pflegt dies ziemlich regelm\u00e4\u00dfig theils mit solchen Eigenschaften zu geschehen, die sich der Beobachtung vor andern aufdr\u00e4ngen, theils aber auch mit solchen, die f\u00fcr eine nachfolgende Feststellung von Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen von besonderem Werthe sind. Dass auf diese Weise die Beschreibung eine etwa an sie ankn\u00fcpfende \u00bbErkl\u00e4rung\u00ab vorbereite, liegt nat\u00fcrlich durchaus nicht im Widerspruch mit ihrer eigenen Aufgabe. Kur ist sie, sobald sie dar\u00fcber hinausgeht und selbst die logischen Beziehungen der beschriebenen Thatsachen als solche kennzeichnet, keine reme Beschreibung mehr, sondern ein gemischtes Verfahren.\nAus diesen Bemerkungen ergibt sich bereits von selbst, was als das unterscheidende Merkmal einer Erkl\u00e4rung anzusehen sei. Wir reden von einer solchen mit Fug und Recht \u00fcberall da, wo von einem Gegenstand Beziehungen logischer Abh\u00e4ngigkeit irgend welcher Art ausgesagt werden. Dabei kann diese logische Abh\u00e4ngigkeit bald als eine solche zwischen Begriffen oder zwischen Gebilden der r\u00e4umlichen und zeitlichen Anschauung, die nach bestimmten begrifflichen Forderungen construirt werden, bald auch als eme solche zwischen concreten Thatsachen der Erfahrung Vorkommen, bald endlich k\u00f6nnen beide Arten der Abh\u00e4ngigkeit sich verbinden:","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nW. Wundt.\nim ersten dieser F\u00e4lle handelt es sich um eine reine logisch-mathematische Functionsbeziehung, im zweiten Fall um ein empirisches Verh\u00e4ltniss zwischen bedingenden und bedingten Thatsachen, im dritten endlich um ein aus diesen beiden Grundformen gemischtes Verhalten, wie ein solches durchgehends den \u00bbErkl\u00e4rungen\u00ab im Gebiete der Mechanik und mathematischen Physik eigen ist. Zusammenfassend l\u00e4sst sich demnach sagen: \u00fcberall wo die Thatsachen nicht nach blo\u00dfen Verh\u00e4ltnissen der Coexistenz und der zeitlichen Aufeinanderfolge, sondern au\u00dferdem auch nach Grund und Folge geordnet werden, da handelt es sich um eine \u00bbErkl\u00e4rung\u00ab und nicht mehr blo\u00df um eine \u00bbBeschreibung\u00ab.\nAus dieser Grenzbestimmung ergibt sich zun\u00e4chst, dass zwar eine Beschreibung irgend welcher Gegenst\u00e4nde ohne jede Beimischung von Erkl\u00e4rung sehr wohl m\u00f6glich ist, dass aber eine Erkl\u00e4rung niemals ohne gleichzeitige Beschreibungen gegeben werden kann. Daran zeigt sich eben, dass die Beschreibung die elementarere, die Erkl\u00e4rung die zusammengesetztere wissenschaftliche Operation ist. Zwar fordert auch die Beschreibung schon eine Analyse des Gegenstandes. Aber diese descriptive Analyse ist einfacherer Art: sie beschr\u00e4nkt sich darauf, den Gegenstand nach bestimmten Unterscheidungsmerkmalen in Theile zu gliedern. Die Erkl\u00e4rung bedarf einer andern Art der Analyse : diese muss bestimmte Elemente, zwischen denen ein Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltniss vermuthet wird, unter wechselnden sonstigen Bedingungen in ihrem Verh\u00e4ltniss verfolgen. Dem entspricht es, dass es eine Beschreibung immer nur mit concreten Gegenst\u00e4nden, Eigenschaften und Zust\u00e4nden zu thun hat, niemals eigentlich mit Begriffen, die erst aus der Vergleichung zahlreicher einzelner Objecte gewonnen werden k\u00f6nnen. So ist die Beschreibung einer Pflanzen- oder Thierspecies oder die Aufz\u00e4hlung von Gattungsmerkmalen immer eine Beschreibung concreter Objecte. Die Species oder Gattung als solche kann nicht beschrieben werden. Die Beschreibung eines einzelnen Exemplars derselben wird aber dadurch dem systematischen Bed\u00fcrfnisse angepasst, dass man gewisse bei den einzelnen Individuen oder den Arten der Gattung variirende Merkmale hinwegl\u00e4sst und etwa noch erg\u00e4nzende Bemerkungen \u00fcber die stattfindenden Variationen, die wieder nur in einer Summe concreter Beschreibungen bestehen, hinzuf\u00fcgt. Dagegen operirt die","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n101\nErkl\u00e4rung immer mit allgemeinen Begriffen. Sie kann diese deshalb unm\u00f6glich entbehren, weil eine Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung stets nur durch Vergleichung vieler einzelner Thatsachen gewonnen werden kann und daher auch in ihrer Formulirung, namentlich in dem Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit, den sie zu machen pflegt, unmittelbar schon die Beziehung auf ein durch viele concrete F\u00e4lle hindurchgehendes Constantes und Allgemeines enth\u00e4lt. Dagegen ist ein anderes Moment zwar vielen, aber keineswegs allen wirklichen Erkl\u00e4rungen eigen, und es kann daher nicht im mindesten als ein wesentliches Merkmal derselben angesehen werden: das ist dies, dass die Erkl\u00e4rung hypothetische Bestandtheile enth\u00e4lt. Wenn man die Eigenschaft des ebenen Dreiecks, dass in ihm die Winkelsumme gleich zwei Rechten ist, aus den allgemeinen Definitionseigenschaften der Figur ableitet, so hat man damit eine \u00bbErkl\u00e4rung\u00ab jener Eigenschaft gegeben, die gar nichts hypothetisches [enth\u00e4lt. Ebenso lie\u00dfe sich eine streng empirische Durchf\u00fchrung der Physik denken, die sich darauf beschr\u00e4nkte, die in der Beobachtung gegebenen allgemeing\u00fcltigen Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen der Naturerscheinungen festzustellen: eine solche Behandlung der Physik w\u00fcrde durchaus den Charakter einer \u00bbNaturerkl\u00e4rung\u00ab in dem oben definirten Sinne besitzen, sie w\u00fcrde aber von hypothetischen Elementen vollkommen frei sein. Die heutige Physik entspricht allerdings nicht diesem Zustand : sie kann der Hypothesen nicht entbehren, und so w\u00fcnschens-werth es sein w\u00fcrde, einmal den wirklichen Versuch einer hypothesenfrei durchgef\u00fchrten Physik zu machen, so w\u00fcrde derselbe doch wahrscheinlich nur abermals beweisen, dass eine befriedigende, das hei\u00dft dem Princip des widerspruchslosen Zusammenhanges unserer Naturerfahrung gen\u00fcgende \u00bbNaturerkl\u00e4rung\u00ab auf diesem Wege nicht m\u00f6glich ist.\nHalten wir nun mit den hier entwickelten Unterschiedsmerkmalen von Beschreibung und Erkl\u00e4rung die Aeu\u00dferungen der Physiker und Philosophen zusammen, die dem Postulat der reinen Beschreibung in mehr oder weniger entschiedener Form Ausdruck gegeben haben, so wird ohne weiteres klar, dass hier unter \u00bbBeschreibung\u00ab durchweg etwas verstanden wird, was dies in dem oben definirten und logisch allein sicher abzugrenzenden Sinne gar nicht ist, und dass auf der andern Seite der \u00bbErkl\u00e4rung\u00ab zumeist Fehler aufgeb\u00fcrdet werden,","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nW. Wundt.\ndie sich zwar vielleicht manche sogenannte Naturerkl\u00e4rung hat zu Schulden kommen lassen, die aber mit der eigentlichen Aufgabe einer solchen nichts zu thun haben. Wenn z. B. Kirchhoff in seiner Mechanik bemerkt, unter den erforderlichen vereinfachenden Voraussetzungen, dass die K\u00f6rper als materielle Punkte, ihre Bahnen als unendlich klein gegen die Dimensionen der Erde betrachtet werden k\u00f6nnen u. s. w., sei die Bewegung fallender oder geworfener K\u00f6rper \u00bbbeschrieben durch den Ausspruch, dass auf die K\u00f6rper in vertical abw\u00e4rts gekehrter Richtung eine constante Kraft wirkt\u00ab '), so w\u00fcrde diese \u00bbBeschreibung\u00ab, selbst wenn man in ihr das Wort Kraft durch das angeblich unverf\u00e4nglichere \u00bbBedingung\u00ab ersetzen wollte, immer noch keine blo\u00dfe Beschreibung sein. Denn wenn man auch nur die Bewegungen fallender und geworfener K\u00f6rper in einen Ausdruck zusammenfassen will, so muss jedenfalls auf die Beziehung zur Erde Bezug genommen werden; sobald man aber diese Pactoren des Vorgangs als nach einer allgemeing\u00fcltigen Regel verbunden darstellt, so ist damit ein gesetzm\u00e4\u00dfiges Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltniss gegeben, auch wenn man Worte wie \u00bbKraft\u00ab, \u00bbWirkung\u00ab oder seihst \u00bbBedingung\u00ab vermeidet. Vollends wenn Mach bemerkt, die Forschung d\u00fcrfe, hei allem Streben die indirecte in eine directe Beschreibung \u00fcherzuf\u00fchren, die \u00bbwirksame H\u00fclfe theoretischer Ideen nicht verschm\u00e4hen\u00ab, und wenn er als das Kriterium f\u00fcr die geforderte Beschr\u00e4nkung auf das Wesentliche die \u00bbbegriffliche Fassung der That-sachen\u00ab bezeichnet, so beweisen diese Bestimmungen nicht minder, wie alles das, was er an Beispielen exacter physikalischer Beschreibung beibringt, dass bei ihm der Ausdruck \u00bbdirecte Beschreibung\u00ab eigentlich die Bedeutung von \u00bbexacter Naturerkl\u00e4rung\u00ab angenommen hat, einer Naturerkl\u00e4rung hei der auch die Mith\u00fclfe von Hypothesen, sogenannter \u00bbtheoretischer Ideen\u00ab, keineswegs zur\u00fcckgewiesen wird. Dass endlich bei den Philosophen, die dem Postulat der reinen Beschreibung huldigen, von einer wirklichen Anwendung desselben noch viel weniger die Rede sein kann, ist augenf\u00e4llig und \u00fcbrigens ja auch nach der Natur der philosophischen Aufgaben begreiflich. Wenn z. B. Avenarius die Betrachtungen seiner \u00bbKritik\u00ab auf die Forderung st\u00fctzt, die in der Erfahrung gegebenen Aenderungen aus\n1) Kirchhoff, a. a. O. S. 7.","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n103\n(1er Gesammtheit ihrer/Bedingungen abzuleiten und aus dieser Ge-ammtheit wieder die entscheidende \u00bbComplement\u00e4rbedingung\u00ab aufzusuchen u. s. w. '), so wird damit sofort auf eine causale oder logische Analyse hingewiesen, wie sie eben niemals Aufgabe einer blo\u00dfen Beschreibung sein kann.\nZwei Verwechselungen sind es, wie mir scheint, die diese Vermengung der Begriffe verschuldet haben. Erstens wird das Postulat der Beschreibung eigentlich einem andern Postulate substituirt, welches man nach seiner wirklichen Bedeutung wohl als das der \u00bbAnschaulichkeit\u00ab bezeichnen kann1 2). Die Naturwissenschaft fordert, dass die Naturvorg\u00e4nge anschaulich, das hei\u00dft in bestimmten r\u00e4umlich-zeitlichen Formen, in denen sie zugleich allein der pkysikalisch-mathematischen Analyse zug\u00e4nglich sind, gedacht werden. Eine solche anschauliche Beschaffenheit l\u00e4sst nat\u00fcrlich immer zugleich eine exacte Beschreibung zu. Aber weder ist es erforderlich, dass sich diese Beschreibung auf die wirklich zu beobachtenden Vorg\u00e4nge und Gegenst\u00e4nde beschr\u00e4nke, wie wir das von einer \u00bbreinen Beschreibung\u00ab verlangen m\u00fcssen, noch ist damit gesagt, dass sich hier die Beschreibung nicht mit Momenten der Naturerkl\u00e4rung, d. h. mit der Feststellung von Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen verbinde. In der That ist schon das erstere so wenig der Fall, dass sich die meisten der anschaulich gegebenen Schilderungen der mathematischen Physik z. B. g\u00e4nzlich auf hypothetische, in keiner Beobachtung wirklich gegebene Objecte und Vorg\u00e4nge beziehen. Zweitens verdankt das Misstrauen gegen die \u00bbErkl\u00e4rung\u00ab nicht zum wenigsten den in der Naturer-kl\u00e4rung und in andern Erkl\u00e4rungen vorkommenden und nicht immer in genau definirter Bedeutung gebrauchten Begriffen \u00bbUrsache\u00ab, \u00bbWirkung\u00ab, \u00bbKraft\u00ab u. dergl. seine Entstehung. Nun w\u00fcrde an und f\u00fcr sich eine \u00bbNaturerkl\u00e4rung\u00ab auch bei v\u00f6lliger Vermeidung solcher durch Missbrauch unsicher oder vieldeutig gewordener Begriffe m\u00f6glich sein. Es ist also nicht berechtigt, das Verfahren der \u00bbErkl\u00e4rung\u00ab \u00fcberhaupt anzugreifen, deshalb weil dieses sich nicht immer der angemessenen H\u00fclfsbegriffe bedient hat. Sodann aber w\u00fcrde augenscheinlich der richtigere Weg zur Vermeidung jener Fehler der sein,\n1)\tKritik, I, S. 30, 47. Ygl. a. oben S. 12.\n2)\tUeber dieses Princip verweise ich im \u00fcbrigen auf meine Logik, 2. Aufl., I,\nS. 278 ff.\tV","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nW. Wundt.\ndass man sich genauer, \u00fcberall eine bestimmte anschaubche Bedeutung festhaltender Definitionen bediente. In diesem Sinne hat ja in der That z. B. der Begriff der Kraft, wenn man ihn in der pr\u00e4cisen Bedeutung festh\u00e4lt, in der ihn auch Kirchhoff in seiner Mechanik anwendet, gar keine Bedenken mehr, und \u00e4hnlich verh\u00e4lt es sich mit den freilich allgemeineren Begriffen Ursache und Wirkung, wenn man ihnen jene ausschlie\u00dflich ph\u00e4nomenologische Bedeutung gibt, die sie thats\u00e4chlich in der neueren exacten Naturwissenschaft seit Galilei\u2019s Zeiten allm\u00e4hlich angenommen haben. Dem Missbrauch ist schlie\u00dflich jeder Begriff und jedes als Begriffszeichen verwendete Wort ausgesetzt. Wenn daher der Em-piriokriticismus in der Kegel, um \u00bbUrsache\u00ab und \u00bbWirkung\u00ab zu vermeiden, daf\u00fcr \u00bbBedingendes\u00ab und \u00bbBedingtes\u00ab oder \u00bbunabh\u00e4ngige\u00ab und \u00bbabh\u00e4ngige Aenderungen\u00ab w\u00e4hlt, so k\u00f6nnen diese Begriffe, weil sie ebenso allgemein, ja eigentlich noch allgemeiner sind als die immerhin in ihren neueren Anwendungen strenger auf empirische Zusammenh\u00e4nge eingeschr\u00e4nkten Ursache und Wirkung, ebenso gut gemissbraucht werden wie diese. Ein solcher Missbrauch ist es wohl in der That, und zwar ein solcher im Sinne einer ungeb\u00fchrlichen Verengerung des Begriffs, wenn die empiriokritische Theorie den Satz aufstellt, Bedingendes und Bedingtes seien stets nothwendig quantitativ einander gleich. Der ganz zuf\u00e4llige Nebengedanke an das Princip der Erhaltung der Energie hat hier offenbar eine in eine angebliche Denknothwendigkeit gekleidete Form angenommen, in welcher der Begriff der Abh\u00e4ngigkeit in einer weit die Grenzen der Erfahrung \u00fcberschreitenden Weise allgemeing\u00fcltig definirt wird1).\nEinen nicht ganz geringen Antheil hat vielleicht schlie\u00dflich an dieser augenf\u00e4lligen, aber freilich blo\u00df vermeintlichen Bevorzugung der Beschreibung vor der, Erkl\u00e4rung der Umstand, dass man sich, \u00e4hnlich wie nach Mach\u2019s Ausdruck unter der Ursache etwas \u00bbFetischistisches\u00ab, so unter der Erkl\u00e4rung ein mystisches Eindringen in die Geheimnisse der Natur oder eine L\u00f6sung des \u00bbWeltr\u00e4thsels\u00ab denkt, wie es nun einmal der wirklichen Wissenschaft unm\u00f6glich ist und h\u00f6chstens von den Systemen einer transcendenten Metaphysik erstrebt wird. Aber die \u00bbNaturerkl\u00e4rung\u00ab wie \u00fcberhaupt die Er-\n1) Kritik, II, S. 52.","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n105\nkl\u00e4rung in jener allein haltbaren, die tliats\u00e4chlichen Abli\u00e4ngigkeits-verh\u00e4ltnisse der Dinge feststellenden Bedeutung hat weder mit dem Weltr\u00e4thsel und seiner L\u00f6sung noch mit irgend einer Metaphysik etwas zu thun. Auch pflegen gerade die Metaphysiker, weil ihnen eben die positiven Aufgaben der Naturerkl\u00e4rung nicht gen\u00fcgen,' diese als ein Gesch\u00e4ft zu betrachten, welches die h\u00f6heren Anspr\u00fcche der Philosophie nicht befriedige. In diesem Sinne hat sogar Lotze am Schl\u00fcsse seiner Logik von der deutschen Philosophie gesagt, diese werde sich immer wieder zu dem Versuch erheben, \u00bbden Weltlauf zu verstehen, nicht blo\u00df zu berechnen\u00ab. Dass auch der Empiriokriticismus ein solcher Versuch deutscher Philosophie ist, dass er die Welt zu verstehen, das \u00bb Weltr\u00e4thsel\u00ab zu l\u00f6sen sucht und in diesem Bestreben \u00fcber die Aufgaben der gew\u00f6hnlichen wissenschaftlichen Erkl\u00e4rung hinausgeht, ist augenf\u00e4llig. Um so bemerkens-werther \u00e4u\u00dfert sich auch hei ihm der realistische Zug der Zeit, wenn er dieses Bem\u00fchen um ein metaphysisches Weltverst\u00e4ndniss selbst so viel als m\u00f6glich in das Gewand einer reinen Beschreibung kleidet. Dass ihm das nicht gl\u00fcckt, ist begreiflich. Eines aber wird durch diese Tendenz objectiver, den philosophischen Beschauer ganz hinter den betrachteten Dingen verbergender Beschreibung unzweifelhaft erreicht : das ist dies, dass der metaphysische Charakter diesem System nicht ganz so deutlich an die Stirne geschrieben ist, wie wir es von den Systemen der Vergangenheit gewohnt sind. Klar tritt aber dieser metaphysische Charakter hervor, wenn wir die unverkennbaren Verwandtschaftsbeziehungen aufsuchen, die das neue System mit \u00e4lteren philosophischen Systemen verbindet. Diese Untersuchung sowie die Frage nach dem Verh\u00e4ltniss des Empiriokriticismus zu Naturwissenschaft und Psychologie soll uns in einem folgenden Artikel besch\u00e4ftigen.","page":105}],"identifier":"lit788","issued":"1898","language":"de","pages":"1-105","startpages":"1","title":"\u00dcber naiven und kritischen Realismus, Zweiter Artikel","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:44:41.184407+00:00"}