Open Access
{"created":"2022-01-31T12:47:22.524068+00:00","id":"lit790","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 13: 323-433","fulltext":[{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\nVon\nW. Wundt.\nDritter Artikel.\t'\nII. Der Empiriokriticismus.\n(Schluss.)\n4. Beziehungen zu andern philosophischen Systemen, a. Beziehungen zu Spinoza.\nMit einer Abhandlung \u00bb\u00fcber die beiden ersten Phasen des Spinoziscben Pantheismus\u00ab (1868) hat B. Avenarius seine wissenschaftliche Laufbahn begonnen. Die Arbeit ist im wesentlichen historisch-kritischen Inhalts, wenngleich in der Art, wie der endg\u00fcltige pantheistische Standpunkt des behandelten Philosophen gewisserma\u00dfen als eine logische Synthese der beiden vorangegangenen Entwicklungsphasen, einer naturalistischen und einer theistischen, abgeleitet wird, das speculative und constructive Talent des Verfassers sich unverkennbar verr\u00e4th. An und f\u00fcr sich ist nun nat\u00fcrlich eine kritische Untersuchung, wie sie in dieser Erstlingsschrift vorliegt, nicht ma\u00dfgebend f\u00fcr die eigenen Ansichten ihres Autors ; und es ist sehr wahrscheinlich, dass sich Avenarius in der Zeit, als er diese Abhandlung schrieb, eigene Ueherzeugungen noch nicht gebildet hatte, oder dass sich diese, so weit sie bestanden, mehr an Herbart, dessen Kritik er sich vor allem verpflichtet bekennt, als an Spinoza anschlossen. Gleichwohl wird man nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass die fr\u00fche Besch\u00e4ftigung mit Spinoza auf Avenarius eine bleibende Wirkung ausge\u00fcht hat, \u2014 eine Wirkung, die in sp\u00e4teren Jahren, wie es scheint, eher zu- als ahnahm\nWundt, Philos. Studien XIII.\n22","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nW. Wundt.\nSchon die Stimmung, die \u00fcber den sp\u00e4teren Schriften des Verfassers der \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab ausgebreitet liegt, hat sichtlich in jener beschaulichen, weltabgeschiedenen K\u00fche, die der Ethik Spinoza\u2019s einen so unnachahmlichen Keiz verleiht, ihr n\u00e4chstes Vorbild. Es ist jene Stimmung, die im Eingang des dritten Buchs der Ethik in den Worten ihren Ausdruck findet: \u00bbDie menschlichen Handlungen und Begierden werde ich gerade so betrachten, als wenn es sich um Linien, Ebenen oder K\u00f6rper handelte\u00ab; und die unter einem andern Bilde, aber in der Sache \u00fcbereinstimmend in der Einleitung zur Kritik der reinen Erfahrung ausgesprochen ist in dem Hinweis auf den Standpunkt, den die griechische Ueberlieferung dem \u00bbPhilosophen\u00ab anweise. \u00bbEr steht im Gew\u00fchl des Marktes, aber nicht als K\u00e4ufer oder Verk\u00e4ufer, sondern als Beschauer des ganzen Treibens; er zieht durch entfernte Lande und verkehrt mit fremden V\u00f6lkern, aber nicht wegen irgend welch\u00e9r niederer oder h\u00f6herer Gesch\u00e4fte, sondern um der Betrachtung willen\u00ab1). Die Verschiedenheit des Bildes ist allerdings charakteristisch f\u00fcr Zeit und Umst\u00e4nde. Der einsame Denker des 17. Jahrhunderts stand selbst weit abseits vom Gew\u00fchl des Marktes. Zur Versinnlichung jener Stimmung affectloser Beschaulichkeit, die er vom Philosophen forderte, lag ihm der \u00fcber seinen Figuren gr\u00fcbelnde Geometer n\u00e4her als der Keisende, der M\u00e4rkte und St\u00e4dte durchwandert. Die Stimmung selbst aber ist die n\u00e4mliche. Nur erscheint sie, was ja eben das ver\u00e4nderte Bild andeutet, bei dem modernen Philosophen vielleicht weniger als eine urspr\u00fcngliche und nat\u00fcrliche, als bei seinem \u00e4lteren Vorbilde.\nDoch die Stimmung macht noch keine Philosophie, wie viel sie auch zu der Richtung, die diese einschl\u00e4gt, mithelfen mag. In der That ist in diesem Fall der Einfluss des Spinozischen Denkens ein weit tieferer. Er hat insbesondere in der Methode der empiriokri-tischen Philosophie Spuren zur\u00fcckgelassen, die von dem oberfl\u00e4chlichen Beschauer wegen der ver\u00e4nderten Constellation der Begriffe und der \u00e4u\u00dferen Begriffsbezeichnungen unbemerkt bleiben m\u00f6gen, die aber, wenn man von Aeu\u00dferlichkeiten absieht und die Sache selbst betrachtet, unschwer zu bemerken sind. Ich hebe als Beispiel\n1) Kritik, I, S. 10.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n325\neine Stelle der \u00bbKritik\u00ab hervor, weil sie f\u00fcr diesen spinozistischen Geist der empiriokritischen Methode besonders charakteristisch ist und auf die ganze Behandlungsweise der Probleme Licht wirft. Sie hei\u00dft: \u00bbDenken wir n\u00e4mlich zu einem bestimmten Bedingten W eine andere Gr\u00f6\u00dfe U als Bedingungsgesammtheit, so kann W weder gr\u00f6\u00dfer noch kleiner als TJ gedacht werden: nicht kleiner, weil sonst U noch nicht die Bedingungsgesammtheit sein k\u00f6nnte; nicht gr\u00f6\u00dfer, weil das Plus dann nicht mehr zur Bedingungsgesammtheit geh\u00f6rte\u00ab *).\nIn der Abhandlung \u00bb\u00fcber die beiden ersten Phasen des Spino-zischen Pantheismus\u00ab hat Avenarius der Vertauschung der beiden Begriffe \u00bbempirische Causalit\u00e4t\u00ab und \u00bblogische Abh\u00e4ngigkeit\u00ab ein interessantes Capitel gewidmet1 2). Er hat hier gezeigt, dass diese fast seinem ganzen Zeitalter eigene Vermengung der Begriffe bei Spinoza zur vollendeten Durchf\u00fchrung gelangt, und dass sein Pantheismus ein Erzeugniss dieser Gleichsetzung von causa und ratio ist. Es ist nun h\u00f6chst merkw\u00fcrdig zu sehen, wie dem Verfasser der Kritik der reinen Erfahrung die Erinnerung an jenen von ihm selbst mit vielem Scharfsinn gef\u00fchrten Nachweis g\u00e4nzlich entschwunden zu sein scheint, und wie er das Opfer genau derselben verh\u00e4ngnisvollen Vertauschung der Begriffe wird, die er dereinst bei Spinoza als die Quelle einer alle Grenzen m\u00f6glicher Erkenntnis \u00fcbersteigenden Metaphysik erkannt hatte. Denn es ist vollkommen klar, die obige Argumentation setzt das ber\u00fchmte Axiom der Ethik: \u00bbEffectus cognitio a cognitione causae dependet et eandem involvit\u00ab ohne weiteres als g\u00fcltig, weil als denknothwendig voraus; und die Beweisf\u00fchrung aus dem Begriff der \u00bbBedingungsgesammtheit\u00ab auf das quantitative Verh\u00e4ltnis, in welchem Bedingendes und Bedingtes zu einander stehen m\u00fcssten, hat eine wahrhaft verbl\u00fcffende Familien\u00e4hnlichkeit mit den Demonstrationen zu der folgenschweren Propositio VI: \u00bbUna substantia non potest produci ab alia substantia\u00ab. \u00bbNam si substantia ab alio posset produci, ejus cognitio a cognitione suae causae deberet pendere\u00ab. (Ethice, Pars I, Axioma IV, Prop. VI, Coroll, aliter.) F\u00fcr den Standpunkt der wissenschaftlichen Erfahrung gibt es schlechterdings\n1)\tKritik, I, S. 52.\n2)\tUeber die beiden ersten Phasen etc. S. 62 ff.\n22*","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nW. Wundt.\nkeine andere Instanz als die Erfahrung seihst, die \u00fcber das qualitative wie quantitative Yerh\u00e4ltniss von Bedingung und Folge entscheidet, und wenn es zutrifft, dass sich f\u00fcr die Verkn\u00fcpfung der Naturerscheinungen das Princip der Aequivalenz von Ursachen und Wirkungen fruchtbar erwiesen hat, so r\u00fchrt dieses Princip weder von irgend einer a priori feststehenden Denknothwendigkeit her, noch verdankt es einer solchen seine wissenschaftliche Brauchbarkeit, sondern es stammt aus der Erfahrung und erweist sich brauchbar, weil die Erfahrung mit den aus ihm abgeleiteten Folgerungen \u00fcbereinstimmt. F\u00fcr den Standpunkt der Kritik der >reinen Erfahrung\u00ab ist das aber offenbar anders. Hier hat der Begriff der \u00bbBedingungs-gesammtheit\u00ab die Eigenschaft, dass man aus ihm nicht nur das ganze Princip der Erhaltung der Energie a priori ableiten kann, sondern auch noch die andere, dass man aus ihm durch eine blo\u00dfe logische Analyse der in ihm enthaltenen Merkmale das angeblich f\u00fcr alle Erfahrung, welche es auch sei, g\u00fcltige Gesetz gewinnt: \u00fcberall, wo wir Anlass haben Bedingendes und Bedingtes zu unterscheiden, auf logischem, psychologischem, historischem Gebiete u. s. w., sind beide einander quantitativ gleich. Und auch hier bew\u00e4hrt die apagogische Methode ihre so oft bew\u00e4hrte dialektische Kraft. Dass die Bedingung nicht kleiner sein darf, folgt klar aus dem Begriff der Gesammtheit,\n__ wenn sie kleiner w\u00e4re, so w\u00fcrde ihr zur Gesammtheit etwas\nfehlen; und dass sie nicht gr\u00f6\u00dfer sein darf, folgt hinwiederum aus dem Begriff der Bedingung, \u2014 sonst w\u00fcrde sie ja irgend etwas enthalten, was nicht Bedingung ist. So f\u00fcgt es sich denn gl\u00fccklich, dass dieser zusammengesetzte Begriff der \u00bbBedingungsgesammtheit\u00ab mit seiner einen H\u00e4lfte das zu viel und mit seiner andern das zu wenig abschneidet, um gerade so viel \u00fcbrig zu lassen, als zu beweisen war. Dass diese Demonstration eine ontologische reinster Qualit\u00e4t ist, springt in die Augen. Ich w\u00fcsste auch nicht, was sie anderes als ein Schluss vom Begriff auf die Sache sein sollte, es sei denn, dass man in ihr einen Schluss vom \"Wort auf die Sache erblicken wollte. In der That glaube ich nicht, dass man die vorliegende Form ontologischer Beweisf\u00fchrung f\u00fcr eine Verbesserung der spino-zistischen halten kann. Der H\u00fclfe k\u00fcnstlicher Wortzusammensetzungen hat sich diese doch niemals bedient. Hiervon abgesehen ist es aber offenbar logisch betrachtet genau dasselbe Verfahren, ob","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n327\nman mit Spinoza aus dem Begriff der \u00bbCausa sui\u00ab die Unendlichkeit der Substanz beweist, oder ob man \u00bbempiriokritisch\u00ab aus dem Begriff der \u00bbBedingungsgesammtheit\u00ab das Gesetz der Erhaltung der Energie und der quantitativen Gleichheit von Ursachen und Wirkungen \u00fcberhaupt beweist. M\u00f6gen beide Beweisf\u00fchrungen in ihren Anwendungen und in ihrer metaphysischen Tragweite verschieden sein, ihr erkenntnisstheoretischer Charakter ist der n\u00e4mliche, dieser besteht hier wie dort darin, dass ein rein logisches Yerh\u00e4ltniss in ein reales umgewandelt wird, ein Verfahren, dem dann au\u00dferdem, um den gew\u00fcnschten Erfolg herbeizuf\u00fchren, logische Umdeutungen der Begriffe zu H\u00fclfe kommen m\u00fcssen. Solche sind eben n\u00f6thig, um aus dem rein Logischen gerade die Art von Realit\u00e4t zu gewinnen, deren man in dem metaphysischen Gedankensystem bedarf. So lie\u00dfe sich z. B. aus dem Satze, dass das Bedingte gleich sein m\u00fcsse der Bedingungsgesammtheit, m\u00f6glicher Weise auch folgern, beide seien nicht blo\u00df quantitativ gleich, sondern qualitativ wie quantitativ identisch; und, wie mir scheint, w\u00fcrde dieser Schluss, wenn man nun einmal dem Begriff die Macht zutraut, die Wirklichkeit zu bestimmen, logisch der richtigere sein. Denn wenn das Bedingte auch nur qualitativ etwas enthielte, was nicht in der Bedingungsgesammtheit gegeben ist, so w\u00fcrde dies qualitativ Heue \u2014 so k\u00f6nnte man ontologisch argumentiren \u2014 etwas sein, was \u00fcberhaupt nicht bedingt w\u00e4re. Nun ist es aber ein handgreiflicher Widerspruch, dass das Bedingte zugleich ein Unbedingtes sein soll, folglich muss das Bedingte auch qualitativ mit der Bedingungsgesammtheit identisch sein. Wenn dieser ohne Erage folgerichtigere Schluss vermieden wird, so ist der Grund offenbar der, dass er ein metaphysisch unbrauchbares Resultat ergibt. Denn dann w\u00e4re alle Erkenntniss in dem v\u00f6llig leeren Identit\u00e4tssatze A = A eingeschlossen, mit dem sich eben absolut nichts anfangen l\u00e4sst. Man begn\u00fcgt sich also mit der quantitativen Gleichheit, der ohnehin gewisse naturwissenschaftliche Erfahrungen zu H\u00fclfe kommen. Indem man aber diese nicht als ein empirisches Verhalten, sondern als eine Denknothwendigkeit behandelt, genie\u00dft man den Vortheil, sie nicht nur \u00fcber ihr eigentliches Erfahrungsgebiet, sondern \u00fcber alle Grenzen der Erfahrung hinaus ausdehnen k\u00f6nnen, w\u00e4hrend zugleich in den Augen Solcher, die nur auf die Resultate sehen, nicht auf die Art, wie sie gewonnen sind,","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nW. Wundt.\ndiese ontologische Metaphysik als exacte naturwissenschaftliche Denkweise erscheint.\nUnter diesem ontologischen Gesichtspunkte ist es nun auch vollkommen begreiflich, dass der Empiriokriticismus gegen die Ausdr\u00fccke \u00bbUrsache\u00ab und \u00bbWirkung\u00ab eine un\u00fcberwindliche Abneigung hegt und sie \u00fcberall durch die andern Wechselhegriffe \u00bbBedingendes\u00ab und \u00bbBedingtes\u00ab ersetzen m\u00f6chte1). In jener sachlichen Nebenbedeutung, die im popul\u00e4ren Sprachgebrauch und hie und da auch noch hei einzelnen Logikern dem Begriff der Ursache anhaftet, kann der zureichende Grund dieser Abneigung nicht liegen. Denn seit Hume und Kant \u2014 mag man nun im \u00fcbrigen ihre Ansichten billigen oder nicht \u2014 jedenfalls dies vollkommen klar gezeigt haben, dass die neuere Naturwissenschaft keinen andern Causalbegriff kennt als den, der Ursache und Wirkung beide als Ereignisse umfasst, die in einer fest bestimmten, keine Ausnahmen zulassenden empirischen Regelm\u00e4\u00dfigkeit mit einander verkn\u00fcpft sind, seitdem liegt in diesen Begriffen nichts mehr oder braucht wenigstens nichts in sie gelegt zu werden, was eine andere Bedeutung hat, als die der spe-ciellen Gestaltung des allgemeinen Verh\u00e4ltnisses der Abh\u00e4ngigkeit oder, wenn man es mathematisch ausdr\u00fceken will, der Function im Gebiete empirischer Zusammenh\u00e4nge. Aber gerade deshalb, weil die Begriffe Ursache und Wirkung diesen empirischen Charakter bestimmter Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen, im Unterschiede von den allgemeineren, zun\u00e4chst ein rein logisches Verh\u00e4ltnis bezeichnenden der Bedingung und des Bedingten, unzweideutig ausdr\u00fceken, sind sie auch erkenntnisstheoretisch werthvoll. Sie machen jener ontologischen Vermengung der causa mit der ratio ein f\u00fcr allemal ein Ende, wenn man den Unterschied dieser Begriffe darin sieht, dass Ursache und Wirkung, weil sie auf ein empirisches Verh\u00e4ltnis gehen, eben auch nur empirisch hinsichtlich des qualitativen wie quantitativen Verh\u00e4ltnisses der beiden Glieder der Abh\u00e4ngigkeit zu einander bestimmt werden k\u00f6nnen. Aber gerade das ist es, was der empirio-kritischen Philosophie nicht zusagt. Sie w\u00fcnscht, wie wir sahen, \u00fcber das Verh\u00e4ltnis der Ursachen und Wirkungen zu einander a\n1) Ygl. unten 5, b (Einw\u00e4nde gegen den Causalbegriff).","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n329\npriori gewisse Aussagen machen zu k\u00f6nnen, z. B. die, dass sie quantitativ einander gleich seien. Daraus wird es vollkommen verst\u00e4ndlich, dass sie jene Unterscheidung von Causalit\u00e4t und Erkenntniss-grund f\u00fcr ihre Zwecke nicht brauchen kann. Sie identificirt also wieder causa und ratio und schl\u00e4gt damit ohne weiteres auch wieder die Wege der alten ontologischen Demonstration ein. Da sich jedoch dieser neue Ontologismus zugleich mit der Versicherung verbindet, die logische Beziehung zwischen Bedingendem und Bedingtem solle ganz nach Analogie des mathematischen Functionshegriffs gedacht, und es solle dabei jede Anlehnung an den durch \u00bbanimistische\u00ab Nebenvorstellungen bedenklichen Begriff der \u00bbUrsache\u00ab vermieden werden, so genie\u00dft derselbe zugleich den Vortheil, in einem exacten Gewand aufzutreten, was den ontologischen Erschleichungen einen Schein von Gewissheit verleiht. Auch hier ist freilich nur die Form neu, nicht die Sache, in der wiederum der spinozistische Ontologismus das unverkennbare Vorbild ist. Nachdem die Euklidische Demonstrationsform durch den Missbrauch, den der Wolffianismus des 18. Jahrhunderts in der Philosophie mit ihr getrieben, seine Zugkraft eingeb\u00fc\u00dft hat, ist es begreiflich, dass man nach andern, der Mathematik zu entlehnenden Mitteln greift. Und welches Mittel k\u00f6nnte da gl\u00fccklicher gew\u00e4hlt sein, als das allgewaltige Symbol der Function, das, wenn man sich nur nicht darauf einlassen soll die Functionen zu entwickeln, gef\u00e4llig genug ist, bekannte wie unbekannte, wirkliche und blo\u00df gemuthma\u00dfte Beziehungen der Abh\u00e4ngigkeit gleichf\u00f6rmig zu umfassen?\nIn der That ist es nun dieses Gewand der Function und die ganze mit ihm im Zusammenhang stehende pseudomathematische Betrachtungsweise, die in diesem Falle der Gedankenentwickelung ihren ontologischen Charakter gibt. Alle Ontologie geht, wie Kant treffend bemerkt hat, darauf aus, Denkm\u00f6glichkeiten in Wirklichkeiten zu verwandeln. Die Vitalreihen und Vitaldifferenzen verschiedener Ordnung, die Schwankungen, die Schwankungsexercition und Tr'ansexercition und wie die andern Begriffe alle hei\u00dfen m\u00f6gen \u2014 sie sind nichts als leere Denkm\u00f6glichkeiten. Ihre reale Bedeutung erlangen diese Begriffe erst dadurch, dass sie uns als denknothwen-dige Verhaltungsweisen des Systems C demonstrirt werden, w\u00e4hrend zugleich das System C den Charakter einer Substanz hat, die alles","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nW. Wundt.\naus sich producirt. Die Denknothwendigkeit ist freilich in diesem Falle eine andere als bei Spinoza, wie denn ja auch die Substanz eine andere ist. Aber darauf kommt es der Ontologie nicht an, sondern darauf, dass sie zuerst ein System m\u00f6glicher Begriffe aufstellt und dann, indem sie diesem System Denknothwendigkeit zuschreiht, daraus die Wirklichkeit ableitet. Die Substanz Spinoza\u2019s ist denknothwendig kraft ihrer Definition als \u00bbens per se existens\u00ab. Die Schwankungen des Systems C sind denknothwendig, weil ein Ding, welches nur quantitativer Ver\u00e4nderungen f\u00e4hig ist, von einem gegebenen Nullzustande aus nur positive oder negative Schwankungen und eventuell positive oder negative Schwankungen dieser Schwankungen u. s. f. erleiden kann. Nun muss man zugestehen, die Deduc-tionen Spinoza\u2019s sind einfacher und, wenn man sich einmal dem ontologischen Denken gefangen gibt, doch wohl auch zwingender als die dieses neuen Ontologismus, der sich viel offenkundiger der Erschleichungen und unmotivirten Gedankenspr\u00fcnge schuldig macht; aber ontologisch sind diese darum nicht minder. Allerdings hat der Empiriokriticismus ein Mittel in Bereitschaft, das geeignet scheint derartige Einw\u00fcrfe abzulehnen. Er h\u00e4lt seine Denknothwendigkeiten selbst nicht, wie es offenbar Spinoza gethan hat, f\u00fcr solche, die auf jeden Denkenden einen unwiderstehlichen Zwang aus\u00fcben m\u00fcssen, sondern er kleidet sie in die bescheidenere Form von Hypothesen. Mindestens stellt er es jedem frei, die Voraussetzungen anzunehmen oder nicht anzunehmen, und den, der sie nicht annimmt, l\u00e4sst er seiner Wege ziehen. Aber in der Sache kann dies doch keinen Unterschied machen. Wenn wir seihst die M\u00f6glichkeit zugehen wollten, dass es Denknothwendigkeiten von blo\u00df hypothetischer Geltung geben k\u00f6nne \u2014 was allerdings der Begriff eines Nothwen-digen, welches nicht nothwendig ist, sein w\u00fcrde \u2014 wenn wir selbst diese eigentlich undenkbare M\u00f6glichkeit zugehen, so w\u00fcrden doch derartige hypothetische Denknothwendigkeiten vom Gesichtspunkte der Erkenntniskritik aus gar nicht anders behandelt werden k\u00f6nnen als wie diejenigen so genannten Denknothwendigkeiten, die mit dem vollen Anspruch solcher auftreten; und wenn ontologische Schl\u00fcsse vom M\u00f6glichen auf das Wirkliche hier unzul\u00e4ssig sind, so sind sie es auch dort. Darum w\u00fcrde jenes Zugest\u00e4ndniss an diejenigen, die die empiriokritischen Voraussetzungen nicht annehmen, in einem","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n331\nGlaubenssystem besser am Platze sein als in einem philosophischen System, es sei denn, dass sich dieses selbst zu den Glaubenssystemen rechnet. Denn in Sachen des Glaubens kann man nicht tolerant genug sein. In Sachen der Wissenschaft aber hat die Toleranz ihre Grenzen. Was wahr ist, ist wahr, und was falsch ist, ist falsch. Auch dieses Zugest\u00e4ndniss einer nur hypothetischen G\u00fcltigkeit der aufgestellten Voraussetzungen ist \u00fcbrigens ein Zug, in welchem das empiriokritische System offenbar einer Stimmung der Zeit seinen Tribut zollt. Die Anschauung, dass die Wissenschaft \u00fcberhaupt nur zu mehr oder minder wahrscheinlichen, in letzter Instanz von gewissen grundlegenden Hypothesen abh\u00e4ngigen S\u00e4tzen gelange, und dass es sich daher nur darum handeln k\u00f6nne, von den vielen m\u00f6glichen Hypothesen die wahrscheinlichste oder die einfachste zu w\u00e4hlen \u2014 diese Anschauung ist gegenw\u00e4rtig in naturwissenschaftlichen Kreisen weit verbreitet. Und dass sie, wenn auch vielleicht nicht ganz in der skeptischen Passung, in der sie zuweilen ausgesprochen wird, doch insofern eine Berechtigung hat, als gewisse grundlegende Voraussetzungen der Naturwissenschaft in der That immer hypothetisch bleiben m\u00fcssen, soll hier gewiss nicht geleugnet werden. Aber Eines schickt sich nicht f\u00fcr Alle. Wenn man mit ontologischen Denknothwendigkeiten operirt, also z. B. das Princip der Constanz der Energie nicht f\u00fcr einen Erfahrungssatz, sondern f\u00fcr ein aus dem Begriff der Bedingung ohne weiteres abzuleitendes Axiom h\u00e4lt, dann ist jene sich vorsichtig auf Wahrscheinlichkeitserw\u00e4gungen zur\u00fcckziehende empirisch-skeptische Betrachtung ein f\u00fcr allemal ausgeschlossen. P\u00fcr das ontologische Denken gibt es eine blo\u00dfe Wahrscheinlichkeit h\u00f6chstens in Nebendingen. Das Denknothwendige duldet weder Halbheiten noch Zugest\u00e4ndnisse. Auch darin bleibt also der moderne Ontologismus an innerer Polgerichtigkeit hinter seinem klassischen Vorbilde zur\u00fcck.\nZu dieser allgemeinen Verwandtschaft einer der Erfahrung abgewandten, mit dem Begriff \u00bbreine Erfahrung\u00ab in seltsamem Contrast stehenden Methode kommt nun endlich noch ein weiterer Charakterzug, der den Empiriokriticismus mit dem Spinozismus verbindet. Preilich handelt es sich hier um eine Verbindung anderer Art. In diesem dritten Punkte ist n\u00e4mlich das empiriokritische System nicht, wie in der affectlosen Stimmung und in der ontologischen Denkweise, eine","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nW. Wundt.\nmodificirte Wiederholung, sondern hier ist es eine zweifellose Weiterbildung des spinozistischen Systems.\nEine lange, gegen die Ableitung zweckm\u00e4\u00dfiger thierischer Handlungen aus einem zweckth\u00e4tigen \u00bbBewusstsein\u00ab gerichtete Anmerkung des ersten Bandes der \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab schlie\u00dft Ave-narius mit dem Cit\u00e2t aus der Ethik Spinoza\u2019s (Eth. HI, Prop. H, Schol.) : \u00bbEtenim quid corpus possit, nemo hucusque determinavit, hoc est, neminem hucusque experientia docuit, quid corpus ex solis legibus naturae, quatenus corporea tantum consideratur, possit agere, et quid non possit, nisi a mente determinetur\u00ab1). Dieses Cit\u00e2t h\u00e4tte er ruhig \u00fcber das ganze Werk schreiben k\u00f6nnen. Es w\u00fcrde nicht nur dessen Grundtendenz, es w\u00fcrde auch deutlich den Punkt bezeichnet haben, wo der Empiriokriticismus mit dem Spinozismus zusammenh\u00e4ngt. Denken und Ausdehnung sind nach der Substanzlehre Spinoza\u2019s Attribute, die einander entsprechen, und die, insofern nur die Modi der Ausdehnung, die K\u00f6rper, und ebenso die Modi des Denkens, die Ideen, auf einander, niemals aber jene auf diese oder diese auf jene einwirken k\u00f6nnen, eine vollkommen gleichwerthige Stellung haben. Je nach besonderen Bedingungen k\u00f6nnen dann die Dinge bald unter dem einen, bald unter dem andern Attribute gedacht werden. Diese Vertauschung ist aber f\u00fcr die Dinge an sich deshalb gleichg\u00fcltig, weil eben die Modi beider Attribute einander vollkommen entsprechen, so dass jedem K\u00f6rper und sogar jedem Zustand eines K\u00f6rpers eine Idee, umgekehrt aber auch jeder Idee ein K\u00f6rper entsprechen muss. So wird denn auch Gott in erster Linie als Res cogitans und erst in zweiter als Res extensa definirt. So begreiflich aber diese Voranstellung der Res cogitans gerade in diesem besonderen Falle ist, so f\u00fchrt doch im \u00fcbrigen die allgemeine Anschauung, dass Denken und Ausdehnung einander entsprechen, nothwendig, sobald von der unendlichen Substanz selbst zu ihren einzelnen Modis \u00fcbergegangen wird, das Ergebniss mit sich, dass die Idee gegen\u00fcber der Res extensa, die sie ausdr\u00fcckt, in die zweite Stelle r\u00fcckt. Denn nun schiebt sich der Vorstellung, dass Reales und Ideales einander entsprechen, leicht die andere unter, dass das Ideale eine Art Spiegelbild des Realen sei, wo dann nat\u00fcrlich die Sache\n1) Kritik, I, S. 217.","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Uebet naiven und kritischen Realismus.\n333\nvor ihrem Abbild den Vorrang hat. So wird man z. B. die ber\u00fchmte Propositio VII der Ethik \u00bbOrdo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum\u00ab nicht leicht umkehren, wenn sie auch selbstverst\u00e4ndlich im Sinne Spinoza\u2019s und seiner zu diesem Satze von ihm gegebenen Erl\u00e4uterungen mit vollem Rechte umgekehrt werden kann. Denn unwillk\u00fcrlich schiebt sich dem Gedanken, dass Ideen und ausgedehnte Dinge einander gleichen, der andere, aus der nat\u00fcrlichen Auffassung der Sinneswahrnehmungen uns gel\u00e4ufige unter, dass sich unsere Ideen nach den Dingen richten, deren Ideen sie sind. Eben weil diese empirische Auffassung \u00fcberall in die Auffassung des Verh\u00e4ltnisses der beiden Attribute sich eindr\u00e4ngt, so behauptet schon hei Spinoza in allen den Ausf\u00fchrungen, in denen es sich um einzelne Fragen, z. B. um das Verh\u00e4ltniss von K\u00f6rper und Seele oder um die Erkl\u00e4rung der einzelnen Affecte handelt, die reale Seite ein gewisses Uebergewicht \u00fcber die ideale. So liegt denn f\u00fcr Denjenigen, der an Spinoza ankn\u00fcpft, namentlich wenn er die transcendente Gottesidee bei Seite l\u00e4sst, der Gedanke nicht allzu fern, dieses Uebergewicht des Realen in ein wirkliches Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltniss der idealen Erfahrungselemente von jenem umzuwandeln, was dann freilich mit den Grundgedanken Spinoza\u2019s nicht mehr im Einklang ist, um so mehr aber im Sinne jenes Scholion zu sein scheint, welches hervorhebt, dass bis jetzt noch Niemand durch Erfahrung ermittelt habe, was der K\u00f6rper nach reinen Naturgesetzen \u00fcberhaupt wirken k\u00f6nne. Wenn das noch Niemand gelungen ist, warum sollte sich dann nicht der Versuch machen lassen, auch alle Aussagen unserer Mitmenschen, die ja als solche jedenfalls mit zur Res extensa geh\u00f6ren, aus den Modificationen des K\u00f6rpers oder des Systems, das ihm \u00bbempiriokritisch\u00ab substituirt werden kann, des Systems C, abzuleiten? Dieser Gedanke selbst ist nat\u00fcrlich nicht vollkommen neu. Nicht erst Ludwig Feuerbach hat gemeint, dass, was Spinoza metaphysisch die Substanz und theologisch Gott nenne, eigentlich nur die Natur sei1), sondern die bekannte, nach allem, was wir heute wissen, freilich ganz gewiss falsche Sage, Spinoza habe in seiner Ethik das Wort Gott \u00fcberall erst sp\u00e4ter auf Anrathen seiner Freunde f\u00fcr Natur eingef\u00fcgt, zeigt, dass man fr\u00fche schon geneigt war, die naturalistische Seite\n1) S\u00e4mmtliche Werke, IV, S. 380.","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nW. Wandt.\ndes spinozistischen Substanzbegriffs in den Vordergrund zu stellen, was dann, sobald es nicht von Gegnern, sondern von Anh\u00e4ngern der spinozistischen Denkweise geschah, folgerichtig dazu f\u00fchren musste, aus dem Spinozismus einen Materialismus zu entwickeln, der sich von der origin\u00e4ren Form des letzteren nur dadurch unterschied, dass er zwar das Materielle als das Prim\u00e4re, also namentlich die geistige Welt unter der Form der \u00bbGehimfunction \u00ab ansah, der aber doch nicht gerade das Psychische dem Physischen identisch setzte, sondern gegen\u00fcber den materiellen Bewegungsvorg\u00e4ngen die Eigenartigkeit desselben anerkannte. Manche einzelne Z\u00fcge einer solchen zwischen Spinozismus und absolutem Materialismus liegenden Denkweise finden sich schon bei John Toland, Diderot und in neuerer Zeit bei den physiologischen Vertretern des Materialismus, wie B\u00fcchner und Moleschott. 9 Aber an einer einigerma\u00dfen consequenten Durchf\u00fchrung dieses vermittelnden, heute eigentlich allein noch wissenschaftlich discutirharen Materialismus hat es bis jetzt gemangelt. Diese L\u00fccke ausgef\u00fcllt zu haben, ist meines Erachtens ein Verdienst des Empiriokriticismus. o Dass er dadurch einer besonders unter Physiologen und physiologischen Psychologen ziemlich verbreiteten Anschauung wissenschaftlich einen philosophischen Ausdruck gegeben hat, ist \u00fcberdies unzweifelhaft.\nAuch darin aber d\u00fcrfte der Empiriokriticismus ein Bild dieser von ihm repr\u00e4sentirten geistigen Str\u00f6mungen sein, dass er selbst nicht geneigt ist, auf seine Philosophie den Begriff des Materialismus anzuwenden. Von Avenarius wird uns mitgetheilt, er habe Freunden gegen\u00fcber seine metaphysische Richtung gelegentlich mit den Worten gekennzeichnet: \u00bbIch kenne weder Physisches noch Psychisches, sondern nur ein Drittes\u00ab *). Nun ist es unzweifelhaft richtig: wenn man unter Materialismus nur jene Anschauung versteht, die das Psychische \u00fcberhaupt als einen blo\u00dfen Schein, als ein \u00bbPhantasma\u00ab nach dem Ausdruck von Hobbes, ansieht, das sich, wenn wir es genauer wahrzunehmen verm\u00f6chten, ohne Rest in irgend welche verwickelte Molecularbewegungen aufl\u00f6sen lie\u00dfe, \u2014 wenn man nur diese extremste Gestaltung des Materialismus mit diesem Namen\n1) C aratanj en, Nachruf an Richard Avenarius, Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. XX, S. 381.","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n335\nnennt, dann ist nat\u00fcrlich der Empiriokriticismus ebenso wenig wie der neuere naturphilosophische Materialismus von B\u00fcchner und Moleschott wirklicher Materialismus; ja dann sind \u00fcberhaupt, ausgenommen in einigen besonders drastisch gehaltenen Stellen von Hobbes, Holbach im Syst\u00e8me de la Nature, C. Yogtu. A., kaum unverd\u00e4chtige Zeugen des Materialismus \u00fcberhaupt in der Litteratur der neueren Philosophie aufzufinden, und diejenigen, die aufzufinden sind, sind in der Regel nicht einmal consequent, da sie an andern Stellen einer skeptischen und an noch andern einer halb spinozistischen Denkweise zuneigen. Wenn man aber, wie das logischer Weise geschehen muss, Materialismus jede Anschauung nennt, die die psychischen Vorg\u00e4nge als \u00bbFunctionen\u00ab materieller Processe, speciell der Gehimprocesse in dem Sinne auf fasst, dass die einzige M\u00f6glichkeit ihrer wissenschaftlichen Interpretation in der Zur\u00fcckf\u00fchrung auf diese materiellen Vorg\u00e4nge bestehe, dann ist unzweifelhaft der Empiriokriticismus gerade so gut wie die Naturphilosophie B\u00fcchner\u2019s oder Moleschott\u2019s Materialismus.\u00ab Dass der Empiriokriticismus seihst das nicht Wort haben will, ist in dieser Beziehung nicht entscheidend. o Denn nicht darauf kommt es an, wof\u00fcr die Philosophen sich selbst halten, sondern darauf, was sie nach dem Inhalte ihrer Anschauungen wirklich sind. \u00ab Und dass man sich \u00fcber das t\u00e4uscht, was man eigentlich ist, das kommt nat\u00fcrlich in der Philosophie so gut wie im gew\u00f6hnlichen Lehen vor. Gleichwohl bleibt die Art der Selbstt\u00e4uschung in diesem Fall ein bezeichnendes Symptom f\u00fcr die Entstehungsquelle des empiriokritischen Materialismus.^ Derjenige, der in der That weder Physisches noch Psychisches, sondern \u00bbein Drittes\u00ab f\u00fcr das eigentlich Wirkliche hielt, war Spinoza mit seiner transcendenten Substanz. Wenn Avenarius, der diese Substanz beseitigte und f\u00fcr sie eigentlich das System C einsetzte, gleichwohl selbst noch an das \u00bbDritte\u00ab glaubte, so beweist dies nun, dass er, nachdem er mit seinem Intellecte zum Materialismus \u00fchergegangen war, mit seinen Gef\u00fchlen und Neigungen immer noch dem Spinozis-mus anhing. Da man jedoch \u00fcber blo\u00dfe Gef\u00fchle in der Regel keine klare Rechenschaft gehen kann, so erkl\u00e4rt es sich auch, dass er, wie Carstanjen bemerkt, \u00bbeinen Begriff f\u00fcr dieses Dritte nicht aufgestellt hat\u00ab. Dieser Begriff h\u00e4tte eben nur die spinozistische Substanz sein k\u00f6nnen, und diese hatte er auf gegeben, um nach den Worten","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nW. Wundt.\nSpinoza\u2019s zu erproben, \u00bbquid corpus ex solis legibus naturae, qua-tenus corporea tantum consideratur, possit agere\u00ab.\nb. Beziehungen zu Herbart und Hegel.\nVon Spinoza zu Herbart scheint ein weiter Schritt zu sein. Von Herbart wissen wir, wie abf\u00e4llig er \u2014 von seinem Standpunkte aus nat\u00fcrlich mit Recht \u2014 \u00fcber Spinoza geurtheilt hat1). Von Spinoza darf man mit Gewissheit behaupten, dass er, wenn zu seiner Zeit die Herbart\u2019sche Metaphysik existirt h\u00e4tte, \u00fcber diese kaum anders gedacht haben w\u00fcrde. Aber beide verbindet im letzten Grunde doch die ontologische Denkweise. Denn ob nun Spinoza aus dem Begriff der causa sui die reale Nothwendigkeit und absolute Unendlichkeit der Substanz, oder ob Herbart aus dem Begriff der widerspruchslosen Setzung die absolute Einfachheit des Realen ableitet, die Denkweise, aus der diese Ergebnisse geflossen sind, ist dieselbe, m\u00f6gen auch die Ergebnisse selbst diametral entgegengesetzte sein. Hier wie dort wird den Begriffen, unter der Voraussetzung, dass man ihnen gewisse, sie dazu tauglich machende Merkmale beilegt, die Macht zugeschrieben, die Wirklichkeit hervorzubringen oder mindestens a priori festzustellen, wie die Wirklichkeit gedacht werden m\u00fcsse. Und auch der Zug zur mathematischen Methode ist beiden Gestaltungen des Ontologismus gemeinsam, nur dass nat\u00fcrlich seine Erscheinungsform jedesmal durch die Zeitumst\u00e4nde bedingt ist. Hier aber gerade hat sich augenscheinlich der Empiriokriticismus mehr an das j\u00fcngere Vorbild gehalten, das freilich auch bei ihm wieder zeitgem\u00e4\u00df modificirt erscheint. Lassen sich in Herb art\u2019s Metaphysik und mathematischer Psychologie die Spuren der in jenen Tagen in ihrer ersten Bl\u00fcthe begriffenen abstracten Dynamik nicht verkennen, so ist der Empiriokriticismus von den Ideen der heute im Culminations-punkt des mathematischen Denkens stehenden Eunctionentheorie beherrscht. Doch mehr als diese \u00e4u\u00dferen Beziehungen, die schlie\u00dflich zuf\u00e4llige sein k\u00f6nnten, weist der Gedankengang des empiriokritischen Systems darauf hin, dass der Begr\u00fcnder dieses Systems an dem eindringenden Studium Herbart\u2019s sein eigenes Denken ge\u00fcbt hatte,\n1) Herbart, Metaphysik, Werke, Ausg. von Hartenstein, III, S. 158 ff.","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n337\nehe seine Wege von denen des scharfsinnigsten Vertreters der mathematischen Methode in der neuesten Philosophie sich trennten. In der That sind Spuren genug erhalten gebheben, die diesen Einfluss Herb art\u2019s auf die Gestaltung der Voraussetzungen sowohl wie der theoretischen Ausf\u00fchrungen verrathen.\nIn dem zweiten Abschnitte der Kritik, der von der \u00bbErhaltung des Individuums\u00ab handelt, werden drei F\u00e4lle als die f\u00fcr die Erhaltung des Systems C \u00fcberhaupt denkbaren angef\u00fchrt: 1) es existiren \u00fcberhaupt keine Aenderungshedingungen; 2) diese sind vorhanden, aber \u00bbdie formellen Beschaffenheiten des Systems C lassen seine Zerst\u00f6rung nicht zu\u00ab; 3) es sind sowohl Aenderungshedingungen wie die M\u00f6glichkeit einer Zerst\u00f6rung des Systems C vorhanden, \u2014 aber das System behauptet sich trotzdem durch irgend welche in ihm selbst eintretende weitere Aenderungen1). Lassen wir, um die abstracte Untersuchung nicht durch concrete Nebengedanken zu tr\u00fcben, das System C einstweilen hei Seite und setzen wir statt dessen irgend einen v\u00f6llig neutralen Begriff, z. B. den irgend eines \u00bbRealen\u00ab, so ist unter allen Umst\u00e4nden klar, dass der Fall 1 auf das Reale nicht passen kann, da die Aufstellung dieses Begriffs doch nur den Zweck hat, die in der Erfahrung thats\u00e4chlich gegebenen Ver\u00e4nderungen zu erkl\u00e4ren, was mittelst des Begriffs eines unver\u00e4nderlichen und unver\u00e4ndert bleibenden Realen offenbar unm\u00f6glich ist. H\u00f6chstens also Ann\u00e4herungen an diesen Zustand sind m\u00f6glich. Solche nehmen in der That sowohl Herhart wie Avenarius f\u00fcr ihre Realen an, freilich unter ganz verschiedenen Bedingungen: Herb art f\u00fcr die Seele, wenn sie sich nach dem Tode vom Leibe getrennt hat2), Avenarius umgekehrt f\u00fcr das \u00bbSanctuarium des Mutterscho\u00dfes\u00ab3). Von diesen Grenzf\u00e4llen abgesehen bleiben also nur die F\u00e4lle 2 und 3 \u00fcbrig. Hier ist nun einleuchtend, dass vom ganz abstracten Standpunkte aus, und wenn man von den gerade im Vordergrund des Interesses stehenden Vorstellungen ahsieht, keine zwingenden Motive f\u00fcr. das eine oder f\u00fcr das andere entscheiden. Geht man aber von der zu Herb art\u2019s Zeit gel\u00e4ufigen Annahme aus, dass die Seele eine\n1)\tKritik, I, s. 61 ff.\n2)\tHerbart, Lehrbuch zur Psychologie, Werke V, S. 173.\n3)\tKritik, I, S. 63.","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nW. Wundt.\nunzerst\u00f6rbare Substanz sei, so sind offenbar die Bedingungen des Falles 2 erf\u00fcllt: denn nun sind zwar Aenderungsbedingungen in Folge des Zusammenseins mit irgend welchen andern Substanzen vorhanden, aber die \u00bbformalen Beschaffenheiten\u00ab des Bealen lassen seine Zerst\u00f6rung nicht zu. Damit ist der Begriff der Herb art sehen Bealen, zu denen ja auch die Seele geh\u00f6ren muss, unweigerlich gegeben. Geht man dagegen von der gegenw\u00e4rtig in ma\u00dfgebenden naturwissenschaftlichen Kreisen verbreiteten Vorstellung aus, dass alle im Erfahrungsinhalt des Individuums eintretenden Aenderungen zun\u00e4chst und direct auf Functionsweisen seines centralen Nervensystems beruhen, so ist damit der Fall 3 gegeben: das Beale wird nun zum \u00bbSystem CV Da von einem absoluten Beharren dieses letzteren nicht mehr die Bede sein kann, so ist nur noch ein beschr\u00e4nktes und relatives Beharren desselben m\u00f6glich, und der ab-stracte Begriff dieses Beharrens mit den ihn erg\u00e4nzenden Begriffen der positiven und negativen Abweichung von dem \u00bbErhaltungsmaximum\u00ab wird mittelst der concreteren physiologischen Begriffe des Stoffwechsels, der Arbeit, der Uebung einigerma\u00dfen versinnlicht. Man sieht: hier stand die empiriokritische Philosophie am Scheideweg. Sollte sie dem Herbartianismus, oder sollte sie den Impulsen der modernen Nervenphysiologie folgen? Man kann begreifen, dass sie letzteres that. Aber die Aufstellung der Alternative zeigt deutlich, dass in diesem Falle nicht, wie bei den sonstigen Bichtungen des neueren physiologischen Materialismus, die Entscheidung direct von dem Gesichtskreise nahe liegender physiologischer Erfahrungen aus geschah, sondern dass sie von speculativen Erw\u00e4gungen getragen ist, die sich ganz in den eigenth\u00fcmlichen Bahnen Herbart\u2019schen Denkens bewegen. Wenn trotzdem das Ergebniss schlie\u00dflich ein anderes ist als bei Herb art, so beweist das eben wiederum, dass jede Philosophie das Product ihrer Zeit und zun\u00e4chst derjenigen Zeitstr\u00f6mung ist, von der sie getragen wird.\nDennoch verleugnet sich, nachdem dergestalt ein ganz abweichender Ausgangspunkt der Theorie gewonnen ist, auch im weiteren Fortgang der Betrachtungen der Einfluss der Schule Herbart\u2019s nicht. Er verdr\u00e4ngt schlie\u00dflich alle der speculativen Construction fremdartigen physiologischen Begriffe, wie Stoffwechsel, Arbeit, Uebung, indem als die eigentliche Grundlage der Theorie die mittelst der","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n339\nlogischen Verarbeitung dieser empirischen Begriffe an ihrer Stelle gewonnenen abstracten Beziehungshegriffe der Selbsterhaltung des Systems C und seiner Schwankungen Zur\u00fcckbleiben. Es ist vollkommen klar, wenn wir hier wieder das System C durch den allgemeineren, keinerlei physiologische Nebenvorstellungen einschlie\u00dfenden Begriff des \u00bbRealen\u00ab ersetzen, so wiederholen sich in dieser Betrachtung Herhart\u2019s Selbsterhaltungen der Realen gegen die durch ihr Zusammensein entstehenden St\u00f6rungen. Auch darin, dass die empirio-kritische Theorie die Schwankungen als rein quantitative auffasst, folgt sie Herb art\u2019sehen Spuren. Denn obzwar das einfache Reale bei Herb art schlechthin nur als einfache Qualit\u00e4t gedacht werden soll, die alle Relationen und darum auch alle Quantit\u00e4t ausschlie\u00dfe, so entstehen nicht blo\u00df solche quantitative Relationen noth-wendig durch das Zusammensein der Realen, sondern die ganze Theorie der St\u00f6rungen und Selbsterhaltungen nimmt sogar einen ausschlie\u00dflich quantitativen Charakter an. Denn es handelt sich bei ihr nur noch um die Bestimmung der Gr\u00f6\u00dfe der St\u00f6rungen oder, indem die \u00e4hnliche Betrachtungsweise auf die durch die St\u00f6rungen und Selbsterhaltungen entstehenden Vorstellungen \u00fcbertragen wird, auf psychologischem Gebiet um die Gr\u00f6\u00dfe der wechselseitigen Hemmung der Vorstellungen. Der qualitative Gegensatz aber, aus dem urspr\u00fcnglich diese Hemmungen hervorgegangen sind, bleibt bei der Betrachtung des Geschehens gerade so im Hintergrund wie der urspr\u00fcnglich nicht minder qualitativ gedachte Unterschied der Werth e f(R) und f(S) (Reiz und Stoffwechsel) in der Mechanik der Schwankungen des Systems C. Beidemal hegt eben die ausschlie\u00dflich quantitative Betrachtung in dem mathematisch-dynamischen Charakter der Theorien begr\u00fcndet, und bei diesem hat augenscheinlich Herbart an der Wiege der j\u00fcngeren Theorie gestanden. Worin diese sich einigerma\u00dfen von ihrem Vorbilde entfernt, das ist nur, dass sie von vornherein positive und negative Schwankungen um die Gleichgewichtslage als gleich m\u00f6gliche einf\u00fchrt, w\u00e4hrend bei Herbart die Position zun\u00e4chst nur als Behauptung gegen die als Negation gedachte St\u00f6rung zur Geltung kommt. Aber sobald es sich um die Ableitung empirischer Erscheinungen aus den gemachten ontologischen Voraussetzungen handelt, wie in der Psychologie, da sind auch bei Herbart die entgegengesetzten Kr\u00e4fte, deren nun einmal keine dynamische\nWundt, Philos. Studien XIII.\t23","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nW. Wundt.\nBetrachtung entbehren kann, zur Stelle: sie \u00e4u\u00dfern sich als Hemmung und als Verschmelzung der Vorstellungen, wobei die letztere durch die Verschmelzungsh\u00fclfen, die durch sie zu Stande kommen, die Bedeutung einer der Hemmung entgegengesetzten positiven Kraft annimmt. Da die Psychologie mehr noch als die Metaphysik Herbart\u2019s innerhalb wie au\u00dferhalb seiner Schule nachgewirkt hat, so begreift es sich um so mehr, dass diese Gegens\u00e4tze psychischer Kr\u00e4fte in der empirio-kritischen Theorie wieder auflebten, da es sich ja in dieser wesentlich gerade um psychologische Probleme handelt.\nErscheint nach allem dem das System C als eine Art Mittelding zwischen dem sich selbst gegen St\u00f6rungen erhaltenden einfachen Realen und der in der Klemme zwischen widerstrebenden Kr\u00e4ften schwebenden Vorstellung, so mahnt nun schlie\u00dflich auch noch die gewagte Uebertragung des individuellen Systems C in einen Collectiv-begriff, ein durch das Symbol 2 C dargestelltes Gesammtcentrum der Gesellschaft, an eine \u00e4hnliche nicht minder k\u00fchne Uebertragung, die sich schon hei Herb art findet in dessen \u00bbBruchst\u00fccken der Statik und Mechanik des Staats\u00ab1). Wenn hier die \u00bbdurch Sprache und durch Handlungen in der gemeinsamen Sinnenwelt vermittelten gesellschaftlichen Kr\u00e4fte\u00ab als solche dargestellt werden, die den Hemmungen und den Verschmelzungsh\u00fclfen der Vorstellungen im individuellen Bewusstsein analog seien, so erkennt man darin unschwer das Vorbild jener \u00bbCongregalsysteme\u00ab oder \u00bbSysteme C h\u00f6herer Ordnung\u00ab, deren Zusammenhang ebenfalls durch Sprache und Ausdrucksbewegungen vermittelt sein soll. In beiden F\u00e4llen handelt es sich nicht blo\u00df um verwandte Analogiebildungen, sondern um solche, die zu demselben Zweck ausgef\u00fchrt sind und die n\u00e4mlichen \u00e4u\u00dferen H\u00fclfsmittel in Anspruch nehmen, die aber eben deshalb, weil diese H\u00fclfsmittel von den Processen, denen sie analog sein sollen, wesentlich verschieden sind, willk\u00fcrliche Begriffs\u00fcbertragungen genannt werden m\u00fcssen. In der That sind Sprache und Handlungen in dei gemeinsamen Sinnenwelt ebenso verschieden von dem Zusammensein der Vorstellungen im Bewusstsein wie von der Verbindung der Zellen und Fasern im Gehirn. Beide Analogien heben aber zugleich die ontologischen Voraussetzungen, die hier und dort der Betrachtung\n1) Im zweiten Theil der Psychologie als Wissenschaft, Werke VI, S. 31 ff.","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Deber naiven und kritischen Realismus.\n341\ndes Individuums zu Grunde gelegt werden, in einem \u00fcbereinstimmenden Sinne auf: sie substituiren n\u00e4mlich den substantiellen Verbindungen actuelle psychische Wechselwirkungen, und sie fallen so g\u00e4nzlich aus der Rolle, die sie sich selbst in ihren metaphysischen Voraussetzungen zugetheilt haben.\nGleichwohl gibt es eine Grenze, von der an die Betrachtungsweisen beider Systeme wesentlich auseinandergehen. Ich meine damit noch nicht die Substitution des Systems C f\u00fcr das Reale, die dann freilich der empiriokritischen Theorie einen scharf gegen die Herbart\u2019sche wie jede Seelentheorie gerichtete Wendung gibt, sondern einen Punkt, der selbst noch ganz der Sph\u00e4re abstracter Ueberlegungen angeh\u00f6rt. Diese wichtige Differenz steht mit dem Vorbild der abstracten Dynamik, das Herbart\u2019s Psychologie bestimmt, und mit dem der Functionentheorie, das die empiriokritische Philosophie beeinflusst, in naher Beziehung ; und zugleich kommt dabei die verschiedene Art, wie diese Vorbilder auf beide Theorien her\u00fcberwirken, zu bedeutsamer Geltung. Herbart\u2019s Psychologie ist eine wirkliche Statik und Mechanik intensiver Gr\u00f6\u00dfen. Man kann ihre s\u00e4mmtlichen Voraussetzungen theils f\u00fcr willk\u00fcrlich theils f\u00fcr nachweislich falsch halten; aber man muss doch anerkennen, dass in dieser Psychologie wirklich gerechnet, nicht blo\u00df ein m\u00f6gliches und vielleicht g\u00e4nzlich unausf\u00fchrbares Rechnen symbolisch angedeutet wird. Hierdurch geschieht es nun, dass, nachdem die erste willk\u00fcrliche Behauptung, die n\u00e4mlich, dass die Selbsterhaltungen der Seele die qualitative Bedeutung von Vorstellungen haben, eingef\u00fchrt ist, alles \u00fcbrige auf Grund der speciellen zur Erm\u00f6glichung der mathematischen Behandlung gemachten Voraussetzungen \u00fcber das verschiedene Verhalten der Vorstellungen zu einander in w\u00fcnschenswerter Vollst\u00e4ndigkeit sich ergibt. Das ist bei der empiriokritischen Theorie anders. Sie bedient sich, indem sie \u00fcberall mit dem unbestimmten Functionssymbol operirt, eigentlich nur einer pseudomathematischen Behandlungsweise der Probleme. Dadurch geschieht es aber, dass sie jenen Uebergang aus dem Gebiet quantitativer Betrachtungen in das Reich der psychischen Qualit\u00e4ten nicht mit einem Male vollziehen kann, sondern sich gen\u00f6thigt sieht, bei jeder einzelnen psychologischen oder erkenntnisstheoretischen Aufgabe wieder auf die Grundvoraussetzungen zur\u00fcckzugehen, um zu zeigen, dass die\n23*","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nW. Wundt.\nThatsachen mit dem allgemeinen Inhalte dieser Voraussetzungen \u00fcbereinstimmen. Man sieht sofort, dass dadurch jenes Verfahren entstehen muss, das ich oben als die Methode der \u00bbpsychophysischen Analogien\u00ab bezeichnet habe. (Art. II, S. 57.) Aber es hat das dann auch noch die weitere Folge, dass der Schwerpunkt der Entwickelungen des Systems nicht in die Voraussetzungen \u00fcber die Natur des fundamentalen Geschehens gelegt ist, das als die Bedingung aller besonderen Thatsachen des Erkennens betrachtet wird, sondern dass er im Gegentheil in die besondere Darstellung der psychischen \u00bbGr und wer the \u00ab oder der \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihen\u00ab f\u00e4llt, wo nun alle Verh\u00e4ltnisse nicht mehr, wie hei der Betrachtung des Systems C selbst, einen rein quantitativen, sondern in erster Linie einen qualitativen Charakter haben, h\u00f6chstens nebenbei, da \u00fcberall nat\u00fcrlich auch Gradunterschiede der Qualit\u00e4ten Vorkommen, quantitativ abgestuft sind. Da sich dieser qualitative Charakter ganz besonders auf die von den positiven und negativen Schwankungen des Systems C abh\u00e4ngigen Grundwerthe erstreckt, so repr\u00e4sentiren diese nun in allen F\u00e4llen logische Gegens\u00e4tze. Die ganze Theorie der \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihen\u00ab verwandelt sich aber dadurch in ein dialektisches Verfahren, hei welchem nachzuweisen versucht wird, dass irgend ein Erkenntnisswerth durch eine ihm immanente Entwicklung, die sich zun\u00e4chst nur in einer quantitativen Werthabnahme \u00e4u\u00dfert, schlie\u00dflich in sein Gegentheil \u00fcbergehe, worauf sich dann verm\u00f6ge der Superposition solcher Schwankungen der n\u00e4mliche Process auf h\u00f6herer Stufe wiederholen k\u00f6nne. So entspricht der Mechanik der functionellen Schwankungen des Systems C auf der Seite der abh\u00e4ngigen \u00bbA-Werthc\u00ab eine dialektische Bewegung der Begriffe. Spiegelte sich in der Theorie der unabh\u00e4ngigen Vitalreihe die mathematisch-ontologische Betrachtungsweise Her hart\u2019s, so wird auf diese Weise die Theorie der abh\u00e4ngigen Vitalreihen zu einer eigenth\u00fcmlichen Neubelebung Hegel\u2019scher Dialektik. Bei dem Schwergewicht der Bedeutung, das auf diesen Anwendungen ruht, wird daher, wie fr\u00fcher ausgef\u00fchrt, die Begriffsdialektik zu einem wesentlichen Grundbestand-theil der empiriokritischen Methode1).\n1) Vgl. den zweiten Artikel, S. 68 ff.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n343\nDer Weg von Herbart zu Hegel ist wahrlich kein kleiner, jedenfalls nicht kleiner als der von Spinoza zu Herbart. Aber solche Ueberg\u00e4nge werden wesentlich erleichtert, wenn sie sich unbewusst vollziehen, wie wir wohl im gegenw\u00e4rtigen Falle mit Sicherheit annehmen d\u00fcrfen. Sie werden noch leichter, wenn das eine System Bed\u00fcrfnisse nicht befriedigt, die man in dem andern vollauf erf\u00fcllt findet. Und dem ist hier in der That so. Der gro\u00dfe Mangel der Herbart\u2019schen Philosophie entspringt aus dem g\u00e4nzlich unhistorischen Sinn ihres Begr\u00fcnders. Wo Herbart \u00fcber \u00e4ltere Philosophen urtheilt, da sind sie ihm Zeitgenossen; die Philosophie scheint ihm so eine Art zeitloser Existenz zu f\u00fchren. Dass er selbst unter dem Einfl\u00fcsse bestimmter Zeitstr\u00f6mungen stand, solcher freilich, die denen der gleichzeitigen vorzugsweise geschichtsphilosophischen Systeme wesentlich entgegengesetzt waren, scheint ihm kaum zum Bewusstsein gekommen zu sein. Die ganze Herb art\u2019sehe Schule krankt bekanntlich an diesem Mangel. Wo sie Geschichte der Philosophie schreibt, da geschieht es, um andere philosophische Systeme vom Standpunkt des Herbart\u2019schen Syst\u00e8mes aus zu be-urtheilen. Es ist bemerkenswerth, dass dasjenige \"Werk von Ave-narius, in welchem der Herbart\u2019sche Einfluss der \u00fcberwiegende ist, die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab, ebenfalls diesen zeitlosen Charakter hat. In der Art, wie in den Anwendungen der Theorie die mannigfaltigsten, den verschiedensten Erkenntnissstufen angeh\u00f6renden Begriffs\u00fcberg\u00e4nge unter denselben schematischen Gesichtspunkten betrachtet werden, l\u00e4sst sie beinahe ein geflissentliches Ignoriren aller geschichtlichen Bedingungen vermuthen. Doch ein Mann von so umfassender Bildung konnte sich einer der wichtigsten Seiten der heutigen Wissenschaft nicht auf die Dauer entziehen. Gerade in diesem Sinne enth\u00e4lt daher die Schrift \u00fcber den \u00bbmenschlichen Weltbegriff\u00ab eine wichtige Erg\u00e4nzung des Hauptwerkes. Hier ist alles, insonderheit das Weltproblem selbst in den Fluss geschichtlicher Entwicklung gestellt. Aber freilich, gerade hier ist diese geschichtliche Betrachtung ganz und gar eine geschichtsphilosophische im Hegel\u2019schen Sinne. Die geschichtliche Bewegung ist, wie wir fr\u00fcher gesehen haben, nichts anderes als eine dialektische Selbstbewegung der Begriffe, die sogar den Hegel\u2019schen Kreislauf der Idee, also gerade das was vor allem unhistorisch in Hegel\u2019s","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nW. Wundt.\nGeschichtsphilosophie ist, in nur unwesentlich ver\u00e4nderter Form wiederholt1).\n\u00bbVon Spinoza durch Herhart zu Hegel\u00ab: in diesen Satz k\u00f6nnte man demnach die Einfl\u00fcsse der \u00e4lteren Systeme auf die em-piriokritische Philosophie zusammenfassen. Damit soll nat\u00fcrlich nicht gesagt sein, dass diese Einfl\u00fcsse genau in der genannten Reihenfolge zur Geltung gekommen seien. Es w\u00e4re ebenso gut m\u00f6glich, dass die Herbart\u2019sche Philosophie den Grundstock gebildet h\u00e4tte, zu dem sp\u00e4ter spinozistische Gedanken und Stimmungen hinzukamen, wie das umgekehrte. Am wenigsten ist sich wohl der Begr\u00fcnder dieses Systems selbst seiner Verwandtschaft mit Hegel\u2019s Dialektik und Geschichtsphilosophie bewusst gewesen. Das ist aber nat\u00fcrlich kein Beweis gegen diese Verwandtschaft, sondern eher ein Zeugniss daf\u00fcr, wie die Neigung zum dialektischen, nicht minder wie die zum ontologischen Denken auch heute noch nicht erloschen ist, sondern sich gelegentlich ohne directe Anregung von au\u00dfen in Weltanschauungen, die sonst weit abhegenden Tendenzen huldigen, Geltung verschafft.\nc. Scholastischer Charakter des empiriokritischen\nSystems.\nWenn einer Philosophie ein scholastischer Charakter zugeschrieben wird, so hat dieser Begriff weder mit der Frage etwas zu thun, ob sie \u2014 was die urspr\u00fcngliche Herkunft des Wortes vermuthen lassen k\u00f6nnte \u2014 Schulphilosophie ist, also einen mehr oder minder weiten Kreis von Anh\u00e4ngern gewonnen hat, noch auch damit, ob sie mit der eigentlichen Scholastik, der des Mittelalters oder neuerer Zeiten, irgend eine Verwandtschaft besitzt. Den Begriff des \u00bbScholasticismus\u00ab, im Unterschiede von dem der Scholastik, wird man vielmehr zun\u00e4chst dahin bestimmen k\u00f6nnen, dass damit eine Methode philosophischer Forschung und Lehre gemeint sei, welche der in der eigentlichen Scholastik \u00fcblichen verwandt erscheint, wobei es \u00fcbrigens nur auf den allgemeinen Charakter dieser Methode, nicht auf ihre n\u00e4here Beschaffenheit ankommt, die bekanntlich schon in der Scholastik selbst mannigfache Verschiedenheiten je nach Zeiten und\n1) Vgl. oben S. 71.","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n345\nRichtungen aufweist. Worin besteht nun in diesem Sinne das Wesen des Scholasticismus? Es wird wohl in zwei Merkmalen gesucht werden d\u00fcrfen: erstens darin, dass man in der Auffindung eines fest gegebenen und auf die verschiedensten Probleme in gleichf\u00f6rmiger Weise angewandten Begriffsschematismus die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Forschung erblickt; und zweitens darin, dass man auf gewisse Allgemeinbegriffe und folgeweise auch auf die diese Begriffe bezeichnenden Wortsymhole einen \u00fcberm\u00e4\u00dfigen Werth legt, wodurch daun eine Analyse der Wortbedeutungen, in extremen F\u00e4llen eine leere Begriffst\u00fcftelei und Wortklauberei an die Stelle der Untersuchung der wirklichen Thatsachen tritt, aus denen die Begriffe ab-strahirt sind.\nUnleugbar ist Aristoteles der Vater, wie der Scholastik, so auch des Scholasticismus. Hur dass freilich von der in den obigen Merkmalen enthaltenen \u00fcblen Nebenbedeutung des Begriffs bei Aristoteles, wenn man ihn im Lichte seiner Zeit w\u00fcrdigt, noch nicht die Rede sein kann. Denn hei ihm war eben jenes Gesch\u00e4ft der Begriffssubsumtion eine nicht nur dem Geiste seiner Philosophie, sondern auch der Stufe der Wissenschaft seiner Zeit durchaus entsprechende Art der Betrachtung. Erst als man an dieser immer noch festhielt, obgleich sie eigentlich \u00fcberlebt war, und als man sie auf Probleme anwandte, hei denen sie g\u00e4nzlich unfruchtbar bleiben musste, entwickelte sich das was wir heute Scholasticismus nennen. Die Geburtsst\u00e4tte dieses Scholasticismus war eben die Scholastik, in welcher der von Aristoteles angewandte, seiner Philosophie angemessene Begriffsschematismus mehr und mehr zu einer todten Form erstarrte, die an der Stelle wirklicher Erkenntniss einen blo\u00dfen Schein einer solchen erweckte. Je mehr die Bed\u00fcrfnisse der Zeit \u00fcber diese alten ausgelehten Formen hinausstrebten, um so mehr nahm daher auch der Scholasticismus seinen eigenartigen Charakter an, indem auch in diesem Falle durch den Contrast der Eindruck gehoben wurde. Dieser Contrast einer neuen lebendigen Weltanschauung mit einer in Formeln und leeren Wortdefinitionen erstarrten B\u00fccherweisheit ist es, der vor allen in Galilei\u2019s Dialogen der Polemik' gegen die Aristo-teliker einen unwiderstehlichen Reiz verleiht.\nNun l\u00e4sst sich aber nat\u00fcrlich der allgemeine Begriff des Scholasticismus nicht auf die aristotelische Scholastik fr\u00fcherer oder neuerer","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nW. Wundt.\nZeiten einschr\u00e4nken, sondern man darf wohl sagen : jede Philosophie, der aus irgend welchen sachlichen oder methodologischen Gr\u00fcnden die Tendenz zu eigenartigen Begriffsbildungen und Begriffsunterscheidungen innewohnt, hat auch eine gewisse Anlage zum Scholasticismus, und wie weit dieser zur Entwicklung gelangt, das ist von allen den Umst\u00e4nden abh\u00e4ngig, die eine Ausartung in logischen Formalismus zu f\u00f6rdern geeignet sind. So ist seihst Kant mit seiner \u00fcberall wiederkehrenden und nicht immer ohne Zwang durchgef\u00fchrten Anwendung der Kategorientafel bekanntlich nicht frei von Scholasticismus; und wenn f\u00fcr diesen bei Kant selbst der den Formen beigegebene Gedankengehalt noch entsch\u00e4digt, so wird er hei seinen Nachfolgern in der \u00e4lteren Kantischen Schule, wo mit den Kategorien und den Wechselbegriffen des Ph\u00e4nomenon und Noumenon fortw\u00e4hrend geklappert wird, ohne dass irgend etwas dabei herauskommt, v\u00f6llig unertr\u00e4glich. Nicht anders verh\u00e4lt es sich mit Hegel, dessen dialektische Methode von Anfang an die Anlage in sich tr\u00e4gt, in einen Begriffs- und Wortschematismus auszuarten. Bei ihm kommt besonders auch jene Seite des Scholasticismus zum Vorschein, von neuen Wortbildungen, die in gewissem Umfange ja f\u00fcr neu gebildete Begriffe kaum entbehrlich sind, einen \u00fcberm\u00e4\u00dfigen Gebrauch zu machen, wodurch gelegentlich selbst Gedanken von ziemlich allt\u00e4glichem Inhalt der Schein des Tiefen oder Geheimnissvollen verliehen wird. Das F\u00fcrsichsein, Ansichsein und Anundf\u00fcrsichsein, die Dasheit und die Dasselbigkeit und andere Bildungen k\u00f6nnen es hier mit ihren Vorbildern der Entit\u00e4t, Quiddit\u00e4t, Haecceit\u00e4t u. s. w. der alten Scholastiker vollkommen aufnehmen. Doch alle diese Scholasticismen neuerer Philosophen bleiben weit zur\u00fcck hinter dem was der Empiriokritismus an neuen Begriffs- und Wortbildungen leistet. Er hat sich darin so \u00fcberaus fruchtbar erwiesen, dass man sich wundem muss, warum unter den Anh\u00e4ngern dieser Philosophie noch Niemand auf den Gedanken gekommen ist, Neulingen oder Uneingeweihten durch ein W\u00f6rterbuch das Verst\u00e4ndnis zu erleichtern. Das Fidential, Existenzial, Secural, Notal, Idential, die Tautote, Heterote, das Affectional und Coaffectional, das Virtual, die Exercition und Transexercition u. s. w. u. s. w. diese unglaubliche F\u00fclle von Bezeichnungen macht, man muss das schon zugestehen, seihst dem, der gerade kein literarischer Kostver\u00e4chter ist, einige Beschwerden.","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n347\nVon vielen Seiten ist, wie ich glaube, diese abschreckende Au\u00dfenseite der Avenarius\u2019schen Werke bedauert worden. Man hat gemeint, in einem gef\u00e4lligeren Gew\u00e4nde w\u00fcrde sich die neue Philosophie leichter Eingang verschafft und in weiteren Kreisen namentlich der Naturforscher Anh\u00e4nger gefunden haben. Ich wei\u00df nicht, ob diese Vorw\u00fcrfe ganz berechtigt sind. Avenarius mag ja, nachdem er einmal auf die Wege seiner eigenth\u00fcmlichen Begriffszerlegungen gerathen war, hie und da an terminologischer Fruchtbarkeit des Guten zu viel gethan haben. Aber die Au\u00dfenseite einer Philosophie ist doch keineswegs blo\u00df ein ihr willk\u00fcrlich umgeh\u00e4ngtes Gewand, das man beliebig auch mit einem andern vertauschen k\u00f6nnte.\nUnter einem doppelten Gesichtspunkte scheint mir in der That diese \u00fcberreiche Begriffs- und Wortunterscheidung von Bedeutung zu sein. Erstens hat auch sie einen symptomatischen Werth. In der Philosophie unserer Tage herrscht, wie ich finde, weit verbreitet eine Hinneigung zum Scholasticismus in dem Sinne, dass man den wesentlichsten Erkenntnissbed\u00fcrfnissen durch eine Subsumtion des Einzelnen unter irgend ein Begriffsschema Gen\u00fcge zu leisten meint. In dieser Hinsicht ist es ja schon bezeichnend, dass gegenw\u00e4rtig eine wirkliche Neoscholastik im Aufbl\u00fchen begriffen ist, wie sie in gleicher Verbreitung wohl seit zwei Jahrhunderten nicht mehr bestanden hat. Beligi\u00f6se und religi\u00f6s-politische Parteibestrebungen m\u00f6gen daran wohl mitbetheiligt sein; auf die Wissenschaft w\u00fcrden diese aber einen solchen Einfluss nicht \u00e4u\u00dfern k\u00f6nnen, wenn sie nicht in ihr schon einen vorbereiteten Boden f\u00e4nden. Doch auch andere, sonst von der Neoscholastik ebensowohl wie von dem Empiriokriticismus weit entfernte philosophische Systeme bewegen sich insofern in verwandten Bahnen, als sie in irgend einem Begriffsschema, mag es nun Evolution und Involution, Integration und Desintegration oder irgendwie anders hei\u00dfen, den Schl\u00fcssel zu den Geheimnissen der kosmologischen, biologischen und sociologischen Probleme gefunden zu haben glauben. Als ein weiteres Symptom dieser Art erscheint mir auch die beinahe in allen einzelnen Wissensgebieten gegenw\u00e4rtig herrschende Tendenz, der L\u00f6sung irgend welcher Probleme durch provisorische, sofort durch eine bestimmte Namengebung gesch\u00fctzte Begriffe vorauszueilen, und dadurch solche Probleme, wenn sie auch real noch gar nicht gel\u00f6st sind, doch so zu sagen formal als gel\u00f6st zu","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nW. Wundt\nbetrachten. Wer da wei\u00df, welche ungeheure Rolle z. B. in den neueren Vererbungstheorien die Plastidulen, Bionten, Iden, Biophoren und \u00e4hnliche g\u00e4nzlich hypothetische Dinge spielen, der kann an dieser tiefgehenden Neigung, auf formalem und demzufolge auch zum Theil auf terminologischem Wege die L\u00f6sungen bestimmter Fragen vorauszunehmen, nicht wohl mehr zweifeln. Auch die merkw\u00fcrdige Erscheinung, dass es heute noch immer eine nicht geringe Anzahl von Philosophen gibt, denen eine Interpretation der psychischen Vorg\u00e4nge darin zu bestehen scheint, dass sie Worterkl\u00e4rungen von gewissen psychologischen Allgemeinbegriffen, wie Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung, Gef\u00fchl, Wille, oder auch Phantasie, Verstand, Gem\u00fcth u. dergl. geben, geh\u00f6rt wohl hierher. Fragt man aber, worin diese mit andern Zeitstr\u00f6mungen in so augenf\u00e4lligem Gegens\u00e4tze stehende scholastische Neigung ihren Grund hat, so Hegt die Antwort wohl in demselben Princip der \u00bb0\u00d6konomie des Denkens\u00ab, auf das ja, freihch in einem andern Sinne, auch die empiriokritische Philosophie so gro\u00dfen Werth legt. Ohne Frage ist verwickelten Aufgaben gegen\u00fcber das scholastische Verfahren das einfachste. Man schafft eine Anzahl von wohl geordneten Begriffen, dazu die passende Anzahl von W\u00f6rtern, und schachtelt nun in dieses Schema alles nach Be-d\u00fcrfniss ein, w\u00e4hrend zugleich die terminologische Verkleidung dieses Subsumtionsgesch\u00e4ftes dem Bed\u00fcrfniss nach WissenschaftHchkeit die erforderliche Befriedigung schafft. Dem Postulat der \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab ist so auf das vollkommenste Gen\u00fcge geleistet. Leichter als auf diesem Wege lassen sich jedenfalls wissenschaftliche Probleme nicht l\u00f6sen.\nEine weitere Bedingung zu einer solchen scholastischen Form liegt jedoch in der Eigenart des empiriokritischen Systems selbst; und nur hieraus l\u00e4sst es sich auch erkl\u00e4ren, dass in ihm eine Eigenschaft, die in anderen Systemen und Richtungen oft nur in Andeutungen zu finden ist, eine so ausgepr\u00e4gte Gestaltung gewinnt. Jene Bedingung besteht in dem, was ich fr\u00fcher die \u00bbempiriokritische Dialektik\u00ab genannt habe. Wie Hegel mehr zum Scholasticismus tendirt als Herbart oder selbst als Kant, so f\u00fchrt die dem Empi-riokriticismus eigenth\u00fcmfiche Zur\u00fcckf\u00fchrung aller Erkenntnissent-wicklungen auf bestimmte Begriffsgegens\u00e4tze, ihre Abstufungen und Ueberg\u00e4nge nothwendig das Bestreben mit sich, solche Gegens\u00e4tze","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n349\nund Abstufungen durch feste Begriffe und Begriffszeichen zu unterscheiden. So entstehen denn Tautote und Het\u00e9rote, Probl\u00e9matisation und Deproblematisation und wie die andern Gegensatzhegriffe und Begriffsstufen alle hei\u00dfen m\u00f6gen. An und f\u00fcr sich ist nun nat\u00fcrlich mit dem \u00bbNotai\u00ab z. B. gar nicht mehr gesagt, als dass irgend ein Wahrnehmungs- oder Erkenntnissinhalt f\u00fcr bekannt gilt. Aber dieser schlichte Thathestand erh\u00e4lt doch durch den neu eingef\u00fchrten Ausdruck einen eigenth\u00fcmlichen Gef\u00fchlswerth, der wohl geeignet scheint, auch einen gewissen Erkenntnisswerth zu repr\u00e4sentiren. Da die Subsumtion unter Allgemeinhegriffe ein logisches Gesch\u00e4ft ist, so wird dieses mit dem andern logischen Gesch\u00e4ft, das in der Erkenntniss des Gegenstandes besteht, verwechselt. Wenn nicht ausschlie\u00dflich, so doch wohl zu einem nicht ganz geringen Theil, verdankt diesem Umstand der Scholasticismus alter und neuer Zeit seine Erfolge. Jenes Gesch\u00e4ft der Subsumtion unter ein gel\u00e4ufiges Schema erzeugt, um in der Sprache der empiriokritischen Theorie zu reden, ein \u00bbSecural\u00ab, bei dem einstweilen das Erkenntnissbed\u00fcrfniss befriedigt ausruhen kann.\nd. Der Empiriokriticismus eine Entwicklungsform des Materialismus.\nIn allem Bisherigen ist von Beziehungen die Rede gewesen, die das empiriokritische System nach den verschiedensten Richtungen hin erkennen l\u00e4sst. Aber alle diese Beziehungen sagen nicht was das System selbst ist. H\u00f6chstens l\u00e4sst die gro\u00dfe Divergenz der Richtungen, von denen dasselbe Anregungen empfangen hat, von vornherein vermuthen, dass seine eigene Grundtendenz von der einer jeden der es beeinflussenden Str\u00f6mungen verschieden sei.0 In der That ist darauf oben schon hingewiesen worden: der Empiriokriticismus ist seinem eigensten Charakter nach eine Entwicklungsform des Materialismus. \u00ab> Genetisch steht daher von allen ihn bestimmenden \u00e4lteren Systemen der Spinozismus in erster Linie, weil dieser einen derartigen Uebergang am leichtesten m\u00f6glich macht. (Vgl. oben S. 332.)\nAvenarius selbst hat, wie erw\u00e4hnt, diese Zugeh\u00f6rigkeit zum Materialismus geleugnet, und nicht nur die Anh\u00e4nger seiner Philosophie, sondern auch Andere, die sonst abweichende Wege einschlagen,","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nW. Wundt.\naber in der Auffassung des Verh\u00e4ltnisses von \u00bbPsychischem\u00ab zu \u00bbPhysischem\u00ab und der Aufgabe der Psychologie im wesentlichen mit ihm einig sind, verhalten sich zumeist in dieser Beziehung \u00e4hnlich und haben nicht selten sogar gegen jene Zugeh\u00f6rigkeit energisch protestirt. So begreiflich diese Verwahrungen aber auch sind, so wenig k\u00f6nnen sie doch als berechtigt angesehen werden. Sie sind aus zwei Gr\u00fcnden begreiflich: einmal deshalb, weil man gelegentlich immer noch Verwechslungen des rein theoretischen und metaphysischen Materialismus mit der praktischen und ethischen Richtung gleichen Namens f\u00fcrchtet, und weil in der That von unverst\u00e4ndigen Philosophen und Theologen noch fortw\u00e4hrend solche Verwechslungen begangen werden; sodann aber, weil sich der heutige Materialismus durchg\u00e4ngig, und so insbesondere auch der des empirio-kritischen Systems, wesentlich von den \u00e4lteren Entwicklungsformen der gleichen Denkweise unterscheidet. Der erste dieser Gr\u00fcnde ist jedoch offenbar ebenso wenig stichhaltig wie der zweite. Dass der heutige Materialismus noch der n\u00e4mliche sei wie der des Demokrit oder des Hobbes und Gassendi oder auch wie der eines de la Mettrie und Holbach, das ist von vornherein ebenso wenig anzunehmen, wie man unter einem Idealisten heutzutage einen Philosophen vermuthen darf, der an die platonische Ideenwelt glaubt. Jede Weltanschauung ist dem Gesetz der Entwicklung unterthan, und die Lebensbedingungen f\u00fcr den Materialismus sind daher heute gerade so gut andere geworden wie die f\u00fcr irgend welche andere metaphysische Richtungen, f\u00fcr die wir gleichwohl, um so zu sagen ihre Stammeszugeh\u00f6rigkeit von vornherein erkennen zu lassen, die gleichen Namen beibehalten. Vollends dass es Leute gibt, die heute noch kurzsichtig genug sind, jeden Materialisten eo ipso f\u00fcr einen unsittlichen und irreligi\u00f6sen Menschen zu halten, lohnt nicht der M\u00fche der Beachtung. Man kann doch wahrlich nicht berechtigte philosophische Begriffe unterdr\u00fccken oder ver\u00e4ndern, blo\u00df um der Ignoranz Zugest\u00e4ndnisse zu machen. Diese Vermengung des theoretischen mit dem praktischen Materialismus ist ein Ueberlebniss aus dem 18. Jahrhundert, wo die Verbindung beider eine Theilerscheinung des revolution\u00e4ren Geistes der Zeit war, ein Ueberlebniss das allm\u00e4hlich sich wirklich \u00fcberlebt hat.\nLassen wir nun solche ungeh\u00f6rige Vermengungen bei Seite, so","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n351\nkann zun\u00e4chst gar kein Zweifel sein, dass diejenige Auffassung vom Yerh\u00e4ltniss des Psychischen zum Physischen, die der Empiriokri-ticismus vertritt, historisch in directer Descendenz aus jenen \u00e4lteren Formen materialistischer Metaphysik hervorgegangen, und dass sie systematisch die einzige Gestaltung des Materialismus ist, in der heute nooh Jemand vern\u00fcnftiger Weise Materialist sein kann. Denn dass man nicht mehr mit Hobbes oder de la Mettrie und Holbach die psychischen Vorg\u00e4nge f\u00fcr \u00bbPhantasmen\u00ab halten kann oder f\u00fcr \u00bbungenaue Wahrnehmungen\u00ab, die sich, wenn wir sie exact zu beobachten verm\u00f6chten, in Molecularbewegungen aufl\u00f6sen w\u00fcrden, das liegt ziemlich ebenso auf der Hand, wie dass man nicht mehr mit Demokrit und Epikur besondere kugelf\u00f6rmige Seelenatome annehmen kann. Das Charakteristische des Materialismus im allgemeinen besteht aber auch durchaus nicht in diesen besonderen, jeweils von dem wissenschaftlichen Standpunkte der Zeit bedingten Anschauungen, sondern darin, dass er die Naturseite der Erfahrung, die K\u00f6rperwelt mit den uns in der Sinneswahrnehmung gegebenen Wechselbeziehungen der K\u00f6rper und ihrer Theile, f\u00fcr die Grundlage der Erkenntniss \u00fcberhaupt h\u00e4lt, und dass er demnach die geistige Welt, das Bewusstsein, Wissen, Erkennen, F\u00fchlen, Wollen u. s. w., aus dieser Naturseite der Dinge abzuleiten sucht. Das ist so sehr die Hauptsache, dass mit R\u00fccksicht auf diesen allgemeinen Begriff der Ausdruck \u00bbMaterialismus\u00ab insofern allerdings zu einseitig oder zu eng ist, als die Annahme eines hinter der K\u00f6rperwelt stehenden metaphysischen Substrates nicht unbedingt erfordert wird. Man kann der allgemeinen Denkweise nach theoretischer Materialist sein, ohne im metaphysischen Sinne eine Materie anzunehmen, dann n\u00e4mlich, wenn man etwa die K\u00f6rper selbst so, wie sie uns unmittelbar in der Wahrnehmung gegeben sind, als das Substrat betrachtet, aus dessen Eigenschaften die geistige Seite der Dinge zu erkl\u00e4ren sei. So ist \u00fcberhaupt das Wie dieser Erkl\u00e4rung in den verschiedensten Formen m\u00f6glich; und welche dieser Formen irgend einer besonderen Gestaltung des Materialismus ihr eigenth\u00fcmliches Gepr\u00e4ge gibt, das richtet sich nat\u00fcrlich nach den sonstigen Bedingungen der Erkennte nissentwicklung.\nIm allgemeinen lassen sich nun deutlich drei allgemeine Entwicklungsformen des Materialismus unterscheiden. Zuerst sieht man in","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nW. Wundt.\nden seelischen Vorg\u00e4ngen eine besondere Art k\u00f6rperlicher Vorg\u00e4nge, Bewegungen leichterer Atome u. dergl. : so der antike Materialismus. Dann sieht man in ihnen confuse Totalwirkungen molecularer Bewegungsvorg\u00e4nge der K\u00f6rper: so im ganzen der Materialismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Schlie\u00dflich sieht man in ihnen \u00bbFunctionen\u00ab k\u00f6rperlicher Vorg\u00e4nge: so der Materiahsmus des 19. Jahrhunderts. Dass das empiriokritische System dieser dritten Form des Materiahsmus zugeh\u00f6rt, ist einleuchtend. Es betrachtet alle geistigen Werthe oder \u00bbIS-Werthe\u00ab, wie es sie nennt, als Abh\u00e4ngige von den unabh\u00e4ngigen Schwankungen des Systems C, das hei\u00dft des centralsten Nervensystems, welches dabei zugleich als das functionelle Centrum des ganzen k\u00f6rperlichen Individuums gedacht wird. Das empiriokritische System f\u00e4llt aber nicht blo\u00df unter den Begriff dieser dritten oder neuesten Form des Materiahsmus, sondern es bringt dieselbe durch diese entschiedene Betonung des Begriffs der Function zu einem besonders klaren Ausdruck; es tr\u00e4gt aber auch, wie danach leicht begreifhch ist, mehr als andere moderne Spielarten der n\u00e4mlichen Denkweise gewisse Z\u00fcge an sich, die an die vorhin erw\u00e4hnte Descendenz aus den \u00e4lteren Formen gemahnen, \u2014 Erscheinungen die man mit einem dem Darwinismus entnommenen Bilde atavistische Rudiment\u00e4rbildungen fr\u00fcherer Entwicklungsstufen nennen k\u00f6nnte. Dahin geh\u00f6rt vor allem die Erscheinung, dass Begriffe wie \u00bbBewusstsein\u00ab, \u00bbWissen\u00ab, \u00bbWille\u00ab u. dergl. als ein g\u00e4nzlich fragw\u00fcrdiger Bestand angesehen werden, der erst dann auf eine klare Formel gebracht sei, wenn man die zugeh\u00f6rigen Schwankungen des Systems C ermittelt habe. Dies gemahnt immer noch an die confusen Wahrnehmungen der cerebralen Molecularvorg\u00e4nge aus der \u00e4lteren Epoche des Materialismus. Denn im ganzen muss man sagen, dass derartige Ankl\u00e4nge in der heutigen Philosophie dieser Richtung selten geworden sind. Man trifft hier mitunter auf Vertreter des materialistischen Standpunktes in dem oben bezeichneten allgemeinen Sinne, die das ganz gut mit Bruchst\u00fccken Kantischer Erkenntnisstheorie oder sogar mit metaphysischen Glaubensbekenntnissen im Sinne der substantiellen Seelentheorie zu vereinigen wissen. Vor allen solchen schw\u00e4chlichen Compromissversuchen, die bald als ein vollt\u00f6nendes \u00bbIgnorabimus\u00ab verk\u00fcndet werden, bald als eklektische Vermittelungsbestrebungen zwischen verschiedenen Standpunkten auftreten, hat das","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n353\nempiriokritische System, wenn man von den fr\u00fcher (Art. II, S. 63) erw\u00e4hnten R\u00fcckschl\u00fcssen von den \u00bbabh\u00e4ngigen Grundwerten\u00ab auf die unabh\u00e4ngige Vitalreihe ahsieht, jedenfalls die gr\u00f6\u00dfere Folgerichtigkeit voraus. Denn was, trotz Ignorabimus, substantiellem Seelenglauben und Ooncessionen an suhjectivistische Erkenntnisstheorien, alle jene Anschauungen als ihrem Wesen nach materialistische kennzeichnet, ist eben die Annahme, die der Empiriokriticismus zu ihrem klarsten Ausdruck gebracht hat: alle geistigen Vorg\u00e4nge, Sch\u00f6pfungen und Werthe sind in dem Sinne Functionen des centralen Nervensystems und der Naturbedingungen, unter denen sich dieses befindet, dass sie ohne Rest aus diesen ihren k\u00f6rperlichen Bedingungen abgeleitet werden k\u00f6nnen.\nAber das Verdienst des Empiriokriticismus beschr\u00e4nkt sich nicht darauf, dass er diesen heute allein noch wissenschaftlich m\u00f6glichen Materialismus consequent und ohne Winkelz\u00fcge zum Ausdruck gebracht hat, sondern, was mir wichtiger scheint, von allen den Formen, in denen der in dem obigen Satze ausgesprochene Standpunkt des modernen Materialismus vorkommt, d\u00fcrfte die des empiriokritischen Systems insofern die wissenschaftlichste sein, als sie sich in der Aufstellung von Functionsbeziehungen, die das Psychische als bedingt von bestimmten physischen Vorg\u00e4ngen darstellen, am meisten auf Begriffe zur\u00fcckzieht, denen wirklich vom Standpunkte der Physiologie aus eine gewisse thats\u00e4chliche Geltung zuerkannt werden darf. Dieser Vorzug der empiriokritischen Theorie springt sofort in die Augen, wenn man sie mit andern theoretischen Anschauungen der n\u00e4mlichen allgemeinen Richtung vergleicht, mit jenen insbesondere, die gegenw\u00e4rtig bei Physiologen, Medicinern und einem gro\u00dfen Kreis wissenschaftlicher Dilettanten die herrschenden sind. Diese lassen sich auf zwei Vorstellungsweisen oder, wenn man will, \u00bbTheorien\u00ab zur\u00fcckf\u00fchren. Die eine k\u00f6nnen wir die Theorie der hypothetischen Gehirnmechanik, die andere die der hypothetischen Seelenorgane nennen. Jene ist physiologischen, diese anatomischen Ursprungs ; und dem entsprechend vertheilen sich auch beide wieder auf etwas verschiedene wissenschaftliche Kreise, greifen jedoch nicht selten \u00fcber einander, indem man die anatomische Hypothese als eine provisorische erste Ann\u00e4herung ansieht, die zun\u00e4chst die Vertheilung der Functionen im groben festzustellen habe, um einer physiologischen","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nVV. Wundt.\nGehirnmechanik in spe die Ausf\u00fchrung im einzelnen und die exactere Erkl\u00e4rung zu \u00fcberlassen.\nNun ist eine solche \u00bb Gehirnmechanik\u00ab, das hei\u00dft genauer ausgedr\u00fcckt eine exacte Analyse der centralen Processe in Bezug auf ihre physikalischen und chemischen Componenten, und namentlich mit B\u00fccksicht auf die stattfindenden Umsetzungen der physischen Energien, sicherlich eine wichtige, wenn auch noch auf lange hinaus nur in sehr rohen Ann\u00e4herungen und unter gewissen vereinfachenden Bedingungen zu l\u00f6sende Aufgabe, eine Aufgabe nach deren L\u00f6sung wir erst das besitzen werden, was man eine Physiologie der Nerven-centren im eigentlichen Sinne wird nennen k\u00f6nnen. Aber die Meinung, dass wir, selbst wenn diese Aufgabe gel\u00f6st w\u00e4re, dem inneren Zusammenhang der psychischen Vorg\u00e4nge als solcher, der Erkenntniss wie sie aus ihren Elementen sich aufbauen und in ihrem Zugleichsein wie in ihrer Aufeinanderfolge bestimmte gesetzm\u00e4\u00dfige Beziehungen psychischer und unter gewissen Umst\u00e4nden logischer Art erkennen lassen, auch nur um einen Schritt n\u00e4her ger\u00fcckt w\u00e4ren, \u2014 diese Meinung beruht auf einer trostlosen G-edankenverwirrung. Was wir \u00e4u\u00dfersten Falls erreichen k\u00f6nnen ist der Nachweis, dass gewissen regelm\u00e4\u00dfigen Verbindungen hier gewisse regelm\u00e4\u00dfige Verbindungen dort entsprechen. Da aber nicht nur die zu vergleichenden Elemente, sondern auch die Art, wie sie sich zusammenf\u00fcgen, absolut unvergleichbar sind, so ist damit f\u00fcr die Interpretation des psychischen Geschehens selbst nicht das geringste geleistet. Nat\u00fcrlich w\u00fcrde das in dem Augenblick deutlich hervortreten, wo jene exacte Gehirnphysiologie der Zukunft wirklich existirte. Da sie aber vorl\u00e4ufig noch in unbekannter Ferne hegt, so lassen sich mit ihrer Verhei\u00dfung ohne M\u00fche noch andere Verhei\u00dfungen verbinden, \u00fcber deren m\u00f6gliche Erf\u00fcllung man sich nicht erst den Kopf zu zerbrechen braucht, die aber doch einstweilen unbequemen Zumuthungen gegen\u00fcber als Beruhigungsmittel dienen k\u00f6nnen.\nIm Gegens\u00e4tze hierzu befindet sich nun die zweite der oben erw\u00e4hnten Theorien, die anatomische, auf festerem Boden. Ihr steht in den Erfahrungen \u00fcber die Endigungen der Leitungsbahnen und \u00fcber die Localisation gewisser psychischer Functionen ein in physiologischer wie medicinischer Hinsicht \u00e4u\u00dferst sch\u00e4tzbares Material zur Seite, das, insoweit die gewonnenen Ergebnisse wirkliche Thatsachen und nicht hypothetische und zum Theil h\u00f6chst zweifelhafte Erg\u00e4nzungen","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n355\ndieser Thatsachen sind, seinen Werth stets behalten wird. Aber zu Theorien kann man nat\u00fcrlich nur mit H\u00fclfe solcher Erg\u00e4nzungen gelangen, und da hei diesen die Idee einer zuk\u00fcnftigen ex-acteren Gehirnmechanik, die die endg\u00fcltige L\u00f6sung aller B\u00e4thsel bringen soll, ein fernes Nebelbild bleibt, das nur dazu dient, \u00fcber die Unzul\u00e4nglichkeit des einstweilen eingenommenen Standpunktes hinwegzut\u00e4uschen, so bleibt als der eigentliche Bestand dieser anatomischen Theorien nur der \u00fcbrig, dass die gel\u00e4ufigen Begriffe der Vulg\u00e4rpsychologie in die Landkarte, die durch die Localisationsstudien gewonnen wurde, irgendwie\u2018hineingezeichnet werden. So gewinnt diese Theorie den Charakter einer neu aufgelegten Phrenologie, die, je nachdem es rein anatomische, entwicklungsgeschichtliche oder pathologische Thatsachen sind, mit denen sie arbeitet, jeweils eine etwas verschiedene Physiognomie darbietet. Geh\u00f6ren die Thatsachen dem pathologischen und dem experimentellen Gebiete an, so gleichen die theoretischen Vorstellungen mehr denen der alten Phrenologie: pathologisch oder experimentell erzeugte Seh-, H\u00f6r-, Ged\u00e4chtnisst\u00f6rungen setzen sich ohne weiters in ein Seh-, H\u00f6r-, Ged\u00e4chtniss-centrum um, u. s. w. Sind dagegen die Thatsachen rein anatomischer Art, so bewegen sich die Vorstellungen im Gebiet fragw\u00fcrdiger Analogien. Verbindungsfasern zwischen verschiedenen Hirnwindungen z. B. verwandeln sich in \u00bbAssociationssysteme\u00ab ; ganze Bindengebiete, die zwischen verschiedenen Sinnescentren eingeschaltet zu sein scheinen, werden zu \u00bbAssociationscentren\u00ab, mit der ausgesprochenen Absicht, durch sie die psychischen Vorg\u00e4nge zu erkl\u00e4ren, die man im weitesten Sinne als psychische Associationsprocesse aufzufassen pflegt. Dass solche Analogien zwischen anatomischen Verbindungen und Verbindungen psychischer Elemente f\u00fcr die Erkenntniss der psychischen Vorg\u00e4nge in Wirklichkeit nichts leisten, und dass sie seihst dann nichts leisten w\u00fcrden, wenn die auf Grund derselben entstandene Annahme, jene sogenannten Associationsfasem und -centren hingen irgendwie mit der Association im psychologischen Sinne zusammen, gesichert w\u00e4re, versteht sich von selbst, weil auch die genauesten anatomischen Aufschl\u00fcsse \u00fcber Easer- und Zellenverbindungen im Gehirn \u00fcber das/ was durch solche Verbindungen geleitet und geleistet wird nichts: auszusagen verm\u00f6chten. Das zu erwarten ist in der That etwa dasselbe, als wenn man aus der Zahl und Bichtung der Stra\u00dfen, die ein\nWundt, Philos. Studien XIII.\t24","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nW. Wundt.\nLand durchziehen, die Geschichte und die Staatsverfassung seiner Bewohner construiren wollte. Die Schuld an solchen Missgriffen tr\u00e4gt, neben dem Mangel an psychologischem Verst\u00e4ndniss, in erster Linie der in den Kreisen, aus denen diese Theorien stammen, verbreitete theoretische Materialismus, der es als ein Axiom betrachtet, dass \u00bbpsychische Vorg\u00e4nge\u00ab vollst\u00e4ndig und ohne Best als \u00bbFunctionen\u00ab bestimmter Gehimvorg\u00e4nge zu interpretiren seien. Da nun diese Ge-himvorg\u00e4nge selbst vorl\u00e4ufig noch nicht aufzufinden sind, so geht dann diese Vorstellungsweise innerhalb der anatomischen Theorie ohne weiteres in die andere \u00fcber, dass bestimmte beliebig zusammengesetzte psychische Vorg\u00e4nge die \u00bbFunctionen\u00ab bestimmter Hirntheile seien, worunter man sich nat\u00fcrlich an und f\u00fcr sich gar nichts denken kann. Denn wenn man z. B. die Function des \u00bbDenkens\u00ab irgend einer Hirnprovinz z\u00fcweist, so ist damit offenbar f\u00fcr das V\u00e9rst\u00e2ndniss des Denkens selber genau so viel oder so wenig geleistet, als wenn man sagt, das Denken sei eine Function des menschlichen Individuums. Der letztere Ausdruck w\u00fcrde h\u00f6chstens den Vorzug haben, dass er nicht von zweifelhaften Localisationshypothesen abh\u00e4ngig w\u00e4re.\nHier ist es nun ein unleugbares Verdienst des Empiriokriticismus, dass er mit diesen Vorstellungen g\u00e4nzlich gebrochen und die materialistische Hypothese in eine Form gebracht hat, in der sie nicht sofort mit den fundamentalsten Forderungen wissenschaftlicher Methodik in Conflict ger\u00e4th. Dass das Gehirn oder irgend ein Theil desselben \u00bbkein Wohnort, Sitz, Erzeuger\u00ab des Denkens oder irgend eines andern psychischen Vorgangs, eben darum auch dap Denken nicht eigentlich eine \u00bbFunction des Gehirns\u00ab sein k\u00f6nne, davon ist er ja, wie wir gesehen haben, ebenso gut wie jede andere einigerma\u00dfen zurechnungsf\u00e4hige Erkenntnisstheorie \u00fcberzeugt. (Vgl. den zweiten Art. S. 36.) Er weist daher dem Begriff der Function auch hier diejenige Bedeutung zu, die seiner sonstigen wissenschaftlichen Anwendung gem\u00e4\u00df ist. Wie man von physikalischen Functional-beziehungen nur dann spricht, wenn physikalische Ver\u00e4nderungen erfolgen, die \u00bbunter das Gesetz der Erhaltung der Energie fallen\u00ab, von mathematischen nur dann, wenn mathematische Gr\u00f6\u00dfen, \u00bbwie z. B. Logarithmen und Grundzahlen\u00ab, in Abh\u00e4ngigkeit von einander stehen, so soll .auch von einer Functionalbeziehung zwischen den k\u00f6rperlichen Substraten des Seelenlebens und diesem selbst, d. h. den","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n357\n\u00bbA-Werthen\u00ab, nur in dem Sinne die Rede sein, dass eine Abh\u00e4ngigkeit zwischen den \u00bbElementen und Charakteren\u00ab und \u00bbbestimmten Aenderungen des Systems C\u00ab besteht, bei der diese als die Urver-\u00e4nderlichen, jene als die abh\u00e4ngig Ver\u00e4nderlichen anzusehen sind. Hierdurch ist das allgemeine Erforderniss f\u00fcr Functionalbeziehungen irgend welcher Art auch hier erf\u00fcllt: \u00bbWenn sich das erste Glied \u00e4ndert, so \u00e4ndert sich auch das zweite\u00ab1). Es ist klar, dass durch diese Formulirung der ganze Standpunkt ein logisch correcterer geworden ist. Gleichwohl w\u00fcrde es nicht berechtigt sein zu behaupten, er habe nunmehr aufgeh\u00f6rt unter den metaphysischen Begriff des Materialismus zu fallen, da er, als eine Ausdehnung des in der Naturwissenschaft angewandten empirischen Functionsbegriffs auf psychologische Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnisse, einfach ein empirischer genannt werden d\u00fcrfe. Denn gerade das was das Hauptst\u00fcck seiner\nDoctrin ausmacht: alle m\u00f6glichen\nWerthe seien derart\nFunctionen der Ver\u00e4nderungen des Systems C, also des Gehirns, dass sie daraus mit \u00e4hnlicher Vollst\u00e4ndigkeit abgeleitet werden k\u00f6nnten, wie etwa die Logarithmen aus ihren Grundzahlen oder bestimmte Energiegr\u00f6\u00dfen aus andern, nach den bekannten arithmetischen Operationsgesetzen und nach den physikalischen Energiegesetzen, \u2014 dies eben ist eine empirisch nicht zu beweisende, also metaphysische Annahme. Eine derartige Art der Abh\u00e4ngigkeit zwischen physischen und psychischen Ver\u00e4nderungen ist n\u00e4mlich nicht nur thats\u00e4chlich nicht nachgewiesen, sondern es ist auch wegen der g\u00e4nzlich heterogenen Beschaffenheit der Gehirnvorg\u00e4nge und der den sogenannten \u00bb A-Werthen\u00ab zu Grunde liegenden psychischen Vorg\u00e4nge nicht einzusehen, wie sie jemals nachzuweisen sein sollte. Eine wirkliche Analogie zwischen den \u00bbpsychologischen\u00ab Abh\u00e4ngigkeiten und den physikalischen und mathematischen w\u00fcrde doch nur dann nachzuweisen sein, wenn jene in \u00e4hnlicher Weise nach fest bestimmten Gesetzen herzustellen, also die psychischen Werthe aus bestimmten Gehirnvorg\u00e4ngen \u00e4hnlich abzuleiten w\u00e4ren, wie nach den mathematischen Operationsgesetzen die abh\u00e4ngigen aus den unabh\u00e4ngig ver\u00e4nderlichen .Zahlen oder nach den Gesetzen der Erhaltung der Energie und der\n1) Bemerkungen, Art. Ill, S. 17 f.\n24*","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nW. Wundt.\nEnergieverwandlungen bestimmte physikalische Vorg\u00e4nge aus andern\nihrer Beschaffenheit und Gr\u00f6\u00dfe nach abgeleitet werden k\u00f6nnen. Dass\n*\ndies der Eall sei, das ist nun aber eine Annahme, die nicht etwa eine m\u00f6glicher Weise von der Zukunft zu erwartende empirische Best\u00e4tigung anticipirt, sondern eine solche, deren Charakter eine empirische Best\u00e4tigung geradezu ausschlie\u00dft. Denn diese Annahme setzt sich in Wirklichkeit aus zwei Hypothesen zusammen, von denen wegen der besonderen Bedingungen des Falls nur die erste, nicht aber die zweite eine Best\u00e4tigung durch die Erfahrung zul\u00e4sst. Erstens n\u00e4mlich wird vorausgesetzt, dass jeder Gehirnver\u00e4nderung eine bestimmte Aenderung des psychologischen Thatbestandes derart zugeordnet sei, dass, wenn die erste eintrete, auch die zweite eintreten m\u00fcsse; und zweitens wird vorausgesetzt, dass hierbei die zweite Aenderung aus der ersten ohneBest sich ergebe, derart also, dass mittelst der bedingenden Gehimver\u00e4nderung der zugeh\u00f6rige psychische Werth, der \u00bbA-Wertli\u00ab, vollst\u00e4ndig begriffen werden k\u00f6nne. Dass diese zweite Hypothese ebenso nothwendig ist wie die erste, ergibt sich unmittelbar aus der Analogie mit den mathematischen und den physikalischen Functionalbeziehungen. In der Mathematik muss die Gr\u00f6\u00dfe, die als Function einer andern unabh\u00e4ngig variabeln betrachtet werden soll, stets aus dieser durch bestimmte Operationen von begrenzter oder unbegrenzter Anzahl gewonnen werden k\u00f6nnen. Zwar gibt es eine scheinbare Ausnahme, die der sogenannten willk\u00fcrlichen Functionen. In Wahrheit k\u00f6nnen aber auch sie nur insofern dem Functionsbegriff subsumirt werden, als sich im allgemeinen stets eine Reihe von Operationen denken l\u00e4sst, durch die aus einer bestimmten Zahlenreihe eine andere gewonnen werden kann. Auch die willk\u00fcrlichen Functionen sind also nur deshalb Functionen, weil bei ihnen die Gr\u00f6\u00dfen, die urspr\u00fcnglich nicht durch mathematische Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen entstanden sind, nachtr\u00e4glich in solche \u00fcbergef\u00fchrt werden k\u00f6nnen. Bei den physikalischen Functionalbeziehungen spielen nun die allgemeinen Naturgesetze genau die n\u00e4mliche Rolle wie bei den mathematischen die Operationsgesetze, weshalb denn auch diese physikalischen als mathematische Functionalbeziehungen dargestellt werden k\u00f6nnen. Hierbei findet z. B. bei den Energiegesetzen die Gleichwerthigkeit der urspr\u00fcnglich ver\u00e4nderlichen und der abh\u00e4ngigen Gr\u00f6\u00dfen darin ihren Ausdruck, dass bestimmten Transformationen der","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n359\nEnergie im allgemeinen (von gewissen, in der eigent\u00fcmlichen Ordnung der Energieformen begr\u00fcndeten Ausnahmen abgesehen) solche von umgekehrter Richtung entsprechen k\u00f6nnen, analog wie den mathematischen Operationen, die ein bestimmtes Functionsverh\u00e4ltniss hersteilen, inverse Operationen gegen\u00fcberstehen. Dem gegen\u00fcber ist es klar, dass bei den so genannten \u00bbpsychischen\u00ab Functionalbeziehungen, auch wenn wir uns im Besitz einer vollendeten Gehirnmechanik bef\u00e4nden, niemals eine andere Zuordnung bestimmter physischer zu bestimmten psychischen Werthen m\u00f6glich sein w\u00fcrde als in dem Sinne, dass man zu einer physischen Reihe a, b, c, d, . . . eine psychische Reihe d, b', e', d', . . . ermittelte, die der ersteren regelm\u00e4\u00dfig zugeordnet w\u00e4re. Da aber die physischen und die psychischen Erfahrungsinhalte von v\u00f6llig disparater Beschaffenheit sind, was sich, wie wir unten (Nr. 6) sehen werden, daraus erkl\u00e4rt, dass die Standpunkte der Betrachtung in beiden F\u00e4llen wesentlich ahweichen, so kann auch nicht davon die Rede sein, dass wir, wie auf mathematischem und dann, bei zureichend vollst\u00e4ndiger Kenntniss der Functionalbeziehungen, auch auf physikalischem Gebiete eine abh\u00e4ngige Gr\u00f6\u00dfe d aus der unabh\u00e4ngig ver\u00e4nderlichen a durch irgend welche Operationen gewinnen, oder dass wir, was mit einem solchen Ueber-gang zwischen gleichartigen Begriffen zusammenh\u00e4ngt, etwa umgekehrt unter irgend welchen Bedingungen d in a zur\u00fcckverwandeln k\u00f6nnen ; sondern es bleibt lediglich bei einer regelm\u00e4\u00dfigen Zuordnung jener Reihen a, b, e, d, . . . und d, V, e', d\\ . . ., ohne dass die 'Verh\u00e4ltnisse, in denen etwa die Gr\u00f6\u00dfen a, b, c, d, . . . zu einander stehen, \u00fcber das Verh\u00e4ltniss der Gr\u00f6\u00dfen d, V, c', d', ... zu einander Auskunft geben. In der That zeigt das die Erfahrung aller Orten. Wenn einer bestimmten Schwingungsgeschwindigkeit des Lichtes eine bestimmte Farbenempfindung zugeordnet ist, so ergibt sich daraus nicht im mindesten, welche Farben\u00e4nderung einer bestimmten Aende-rung jener Geschwindigkeit zugeordnet sein werde. Oder wenn bestimmte Netzhauterregungen beider Augen einander zugeordnet sind, so w\u00fcrde sich daraus niemals z. B. der Eindruck eines plastischen Reliefs Voraussagen lassen, u. s. w. Man m\u00fcsste also, wenn man das Verh\u00e4ltniss des Physischen zum Psychischen dem auf mathematischem und physikalischem Gebiet angewandten Begriff der Function sub-sumiren wollte, vom empirischen Standpunkte aus den \u00bbpsycho-","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nW. Wundt.\nlogischen\u00ab Functionen zugleich eine h\u00f6chst merkw\u00fcrdige Ausnahmestellung einr\u00e4umen. Man m\u00fcsste n\u00e4mlich feststellen, dass von den zwei oben angef\u00fchrten Hypothesen nur die erste, die der regelm\u00e4\u00dfigen Correlation bestimmter Gehimvorg\u00e4nge und bestimmter psychischer Vorg\u00e4nge (A-Werthe) zutreffe, dass jedoch die zweite, wonach irgend welche gesetzm\u00e4\u00dfige Beziehungen, seien es nun logische Operationenverkn\u00fcpfungen, wie in der Mathematik, oder allgemeing\u00fcltige Naturgesetze, wie in der Physik, diese regelm\u00e4\u00dfigen Beziehungen beherrschen, in diesem Falle nicht gelte. Nun ist es aber augenscheinlich, dass durch eine derartige Einschr\u00e4nkung der Begriff der Function vollst\u00e4ndig seine Bedeutung verl\u00f6re. Denn es w\u00fcrde dann das bei jeder Function, seihst bei den sogenannten mehrdeutigen Functionen der Mathematik, vorausgesetzte Postulat, dass irgend eine Variation der unabh\u00e4ngig ver\u00e4nderlichen \"Werthe die einzige und ausschlie\u00dfliche Bedingung der Variation der abh\u00e4ngig ver\u00e4nderlichen Werthe sei, nicht erf\u00fcllt sein; und es w\u00fcrden demgem\u00e4\u00df auch diese aus jenen Variationen nicht unbedingt abgeleitet werden k\u00f6nnen. Es w\u00fcrde ja z. B. denkbar sein, dass neben dem System C noch eine andere Ur-ver\u00e4nderliche, etwa eine Seelensubstanz, existirte, die theils selbst\u00e4ndig, theils aus Anlass bestimmter Aenderungen des Systems C die \u00bbE-Werthe\u00ab hervorbr\u00e4chte, wie dies der Spiritualismus annimmt. Oder es w\u00fcrde denkbar bleiben, dass die abh\u00e4ngig ver\u00e4nderlichen Werthe a, b', e', d', . . . seihst unter einander wieder in Functional-beziehungen st\u00fcnden, die in jenen Correlationen zwischen a und a', b und b\u2019, c und e' u. s. w. noch nicht eingeschlossen w\u00e4ren. Damit alle diese M\u00f6glichkeiten als beseitigt gelten k\u00f6nnen, muss man eben zu der ersten noch die zweite Hypothese hinzuf\u00fcgen: man muss annehmen, dass zwischen den Schwankungen des Systems C und den \u00bb F-Wer then\u00ab nicht blo\u00df regelm\u00e4\u00dfige Beziehungen stattfinden, sondern dass diese auch den Functionalbeziehungen der Mathematik und Physik in dem Sinne entsprechen, dass erstens die Variationen der Urver\u00e4nderlichen die einzigen Bedingungen f\u00fcr die Variationen der abh\u00e4ngig ver\u00e4nderlichen Werthe sind, und dass zweitens mittelst irgend welcher Gesetze diese abh\u00e4ngig ver\u00e4nderlichen Werthe vollst\u00e4ndig aus den Variationen der unabh\u00e4ngig ver\u00e4nderlichen abgeleitet werden k\u00f6nnen. In der That ist es augenf\u00e4llig, dass die empirio-kritische Philosophie diese Annahme macht. Nur so ist die eingehende","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n361\nUntersuchung der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab, nur so die Entwicklung der Gesetze derselben und der versuchte Nachweis, dass sich aus ihnen die \u00bbabh\u00e4ngige Vitalreihe\u00ab ableiten lasse, verst\u00e4ndlich. Hierdurch tritt nun aber auch die empiriokritische Theorie in den Kreis der metaphysischen Theorien, und zwar speciell derer, die dem System des Materialismus zuzurechnen sind, ein. Denn der metaphysische Charakter einer Theorie wird nicht dadurch beseitigt, dass sie \u00fcberhaupt irgend welche Beziehungen zur Erfahrung enth\u00e4lt \u2014 solche fehlen in keiner noch so transcendenten Metaphysik \u2014 sondern metaphysisch wird eine Theorie in der Kegel gerade dadurch, dass sie irgend ein empirisch gegebenes Verh\u00e4ltniss \u00fcber alle Grenzen der Erfahrung hinaus erweitert. In diesem Sinne bilden die empirisch gegebenen Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen zwischen psychischen und physischen Vorg\u00e4ngen die Erfahrungsgrundlage aller materialistischen Metaphysik. Zur Metaphysik wird diese aber dadurch, dass sie das Physische zur ausschlie\u00dflichen und unser Erkenntnissbed\u00fcrfniss vollst\u00e4ndig befriedigenden Bedingung des Psychischen macht. In diesem fundamentalen Punkte, der das Wesen aller materialistischen Metaphysik ausmacht, besteht also zwischen dem Empiriokriticismus und den \u00e4lteren Formen des Materialismus durchaus kein Unterschied. Allerdings aber liegt in der Art und Weise, wie in der erkenntniss-theoretischen Begr\u00fcndung des empiriokritischen Standpunktes der Functionsbegriff eingef\u00fchrt wird, ein starkes Motiv, sich und Andere \u00fcber den metaphysischen Charakter des Systems hinwegzut\u00e4uschen. Indem n\u00e4mlich jene erste Voraussetzung f\u00fcr die Anwendung des Functionsbegriffs, die Existenz einer Abh\u00e4ngigkeit, als das einzige Kriterium dieses Begriffs eingef\u00fchrt wird, entspricht das einerseits imer in der Naturwissenschaft der Gegenwart verbreiteten empirischskeptischen. Stimmung, und erscheint es anderseits als eine einfache Forderung der Erfahrung, die psychischen Vorg\u00e4nge als Abh\u00e4ngige des Systems C zu betrachten. Dass dann hinterher die beim mathematischen und physikalischen Functionsbegriff erf\u00fcllte zweite Forderung, wonach die Functionalbeziehung die vollst\u00e4ndige Bedingung f\u00fcr die Beschaffenheit der abh\u00e4ngigen Werthe enthalten muss, stillschweigend auch auf die sogenannte \u00bbpsychologische\u00ab Functionalbeziehung \u00fcbertragen wird, bleibt derart im Hintergrund, dass der unaufmerksame Leser vollst\u00e4ndig auf der breiten Heerstra\u00dfe der","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nW. Wundt.\nErfahrung geblieben zu sein glaubt, w\u00e4hrend er sich bereits tief in das Dickicht der Metaphysik verstrickt hat.\nImmerhin hat dieser Versuch einer strengeren Anwendung des Functionshegriffes auf die Verh\u00e4ltnisse der \u00bbpsychologischen Abh\u00e4ngigkeit\u00ab vor den oben gekennzeichneten gel\u00e4ufigen Formen derselben, der anatomischen, die den Begriff der Function in ganz unexactem Sinne in den eines \u00bbSitzes\u00ab der psychischen Vorg\u00e4nge umwandelt, und vor der vulg\u00e4r-physiologischen, die mit dem g\u00e4nzlich unbestimmten Begriff einer \u00bbGrehirnmechanik\u00ab operirt, schon in der allgemeinen begrifflichen Grundlegung gro\u00dfe Vorz\u00fcge. Hier wird von vornherein gefordert, dass zun\u00e4chst nach dem Bilde der mathematischen Function jene Abh\u00e4ngigkeiten der \u00bbA-Werthe\u00ab von dem \u00bbSystem C\u00ab gedacht werden. Das ist aber .nat\u00fcrlich nur m\u00f6glich, wenn man \u00fcber die Vorg\u00e4nge in dem System C, aus denen die psychischen Werthe abgeleitet werden sollen, einigerma\u00dfen klare Vorstellungen entwickelt. Daran hatte es der bisherige Materialismus so gut wie ganz fehlen lassen. Ber\u00fchmte Ausspr\u00fcche wie \u00bbohne Phosphor kein Gedanke \u00ab sind f\u00fcr cGe vage Allgemeinheit seiner Begriffe bezeichnend. \"Wo aber je einmal der Versuch einer Art \u00bbMechanik\u00ab psycho-physischer Vorg\u00e4nge wirklich gemacht wurde, da behalf sich diese, wie noch Beispiele aus neuester Zeit zeigen, in der Regel damit, dass sie irgend welche centrale Erregungsvorg\u00e4nge mit Attributen wie Empfindung, Wahrnehmung, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Denken u. dergl. ausstattete und so einen Weg einschlug, der zwischen dem wirklichen Versuch einer physiologischen Gehirnmechanik und den phrenologischen Localisationshypothesen die Mitte hielt. Dieses Missgeschick ist begreiflich. Erstens kann sich eine Mechanik der centralen Vorg\u00e4nge, wenn sie streng physiologisch durchgef\u00fchrt wird, immer nur in den allgemeinen Begriffen physiologischer Erregungs- und Hemmungsvorg\u00e4nge bewegen, von denen aus gar kein unmittelbarer Uehergang zum Thatbestand der psychologischen Erfahrung existirt. Zweitens aber sind zu einer physiologischen Mechanik der Nervencentren seihst in diesem bescheideneren Sinne zumeist noch die Bausteine zu finden, \u2014 was Wunder daher, wenn man in Ermangelung derselben einstweilen Luftschl\u00f6sser errichtet?1)\n1) Was im Sinne einer mechanisch-physikalischen Betrachtung die Nerven-physiologie f\u00fcr die Aufhellung der Natur der centralen Innervation mit beson-","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n363\nDamit will ich den Nutzen provisorischer Hypothesen auf diesem Gebiete, insoweit es sich hei ihnen wirklich blo\u00df um Gehirnphysiologie handelt, nicht bestreiten. Solche Hypothesen k\u00f6nnen auch hier, wie \u00fcberall, m\u00f6glicher Weise ein Weg sein, der zu neuen Problemstellungen und durch deren L\u00f6sung zu einer wirklichen Erweiterung unserer physiologischen Erkenntnisse f\u00fchrt. So lange aber die eigentlich physiologische Functionsanalyse, zu der die anatomischen Functionslocalisationen nat\u00fcrlich gar nichts beitragen, noch ein \u00fcberaus wenig ergibiges Feld ist, so ist es begreiflich genug, dass der Physiologe allzu sein- geneigt bleibt, sich mit allgemeinen mechanischen Analogien zu behelfen, Analogien von denen es immerhin zweifelhaft ist, inwieweit sie mit einigem Recht auf Vorg\u00e4nge \u00fcbertragen werden k\u00f6nnen, von deren verwickelter Zusammensetzung wir uns vorl\u00e4ufig kaum eine Vorstellung machen k\u00f6nnen. Unleugbar hat darum hier ein Philosoph wie Avenarius immerhin den Vortheil gr\u00f6\u00dferer Unabh\u00e4ngigkeit von den gerade herrschenden physiologischen Vorstellungen voraus. Er kann vor allen Dingen vollkommen unbefangen sich fragen: was wissen wir denn \u00fcberhaupt von den Vorg\u00e4ngen des centralen Nervensystems, die muthma\u00dflich f\u00fcr die psychologischen Erfahrungsinhalte von Bedeutung sind? Sobald die Frage in dieser Form gestellt ist, so kann aber die Antwort kaum zweifelhaft sein. Wir wissen n\u00e4mlich offenbar von jenen Vorg\u00e4ngen sehr viel weniger als von der Physiologie der meisten andern Organe; ja, ehrlich gestanden, wir wissen von ihnen im wesentlichen nur das was f\u00fcr die Organe des K\u00f6rpers \u00fcberhaupt gilt. Wir wissen, dass das Gehirn, wie alle andern Organe, sich ern\u00e4hrt, dass es, wie wir uns bildlich ausdr\u00fccken, \u00bbarbeitet\u00ab und durch Arbeit ersch\u00f6pft wird, dass es aber anderseits auch durch geeignete Wiederholung der Arbeit \u00bbge\u00fcbt\u00ab wird. Ave-\nderer R\u00fccksicht auf die psychologischen und psychophysischen Probleme gegenw\u00e4rtig ungef\u00e4hr zu leisten vermag, habe ich in dem sechsten Capitel meiner physiologischen Psychologie (4. Aufl. Bd. I, S. 273 ff.) darzulegen versucht. Dass es sich dabei nur um verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig bescheidene Anf\u00e4nge handelt, dass diese aber gerade durch ihren positiven Inhalt immerhin schon jetzt geeignet sind die Vorstellung zu beseitigen, als k\u00f6nne auf diesem Wege jemals eine Theorie der psychischen Vorg\u00e4nge als solcher gewonnen werden, d\u00fcrfte aus diesem wie aus jedem andern die gebotenen Grenzen naturwissenschaftlicher Betrachtung einhaltenden Versuch hervorgehen.","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nW. Wundt.\nnarius war so einsichtig dies zu erkennen, und er war unbefangen genug, diesen auf die oberfl\u00e4chlichsten physiologischen Allgemeinbegriffe sich reducirenden Stand unserer Kenntniss der \u00bbGehirnmechanik\u00ab zuzugestehen. So machte er sich denn daran, lediglich auf Grund der allgemeinen Voraussetzung, dass im Gehirn Ern\u00e4hrung und Stoffwechsel, Arbeit und Hebung Vorkommen und in den sonst im allgemeinen zu beobachtenden Verh\u00e4ltnissen zu einander stehen, sein System aufzubauen. Die empiriokritische Theorie kann daher mit einigem Recht den Anspruch erheben, der materialistischen Hypothese eine Form gegeben zu haben, die dem allgemeinen Stand unserer Kenntniss der Gehimvorg\u00e4nge im wesenthchen entspricht. Darum hat nun aber auch unverkennbar die Frage nach dem Ergebniss dieses Versuchs einer wirkhch wissenschaftlichen Durchf\u00fchrung des materialistischen Gedankens ein besonderes Interesse.\nDie Antwort auf diese Frage ist in der oben versuchten Kritik des empiriokritischen Systems, wie mir scheint, unzweideutig gegeben. Bei aller Anerkennung des Scharfsinns, mit dem aus jenen physiologischen Allgemeinbegriffen des Stoffwechsels, der Uebung u. s. w. eine zusammenh\u00e4ngende Theorie der centralen Vorg\u00e4nge zu entwickeln versucht wird und mit dieser die allgemeinsten Gesichtspunkte in Verbindung gebracht sind, unter die man die so genannten geistigen \u00bbGrundwerthe\u00ab ordnen kann, muss doch gesagt werden, dass bei diesen Bem\u00fchungen weder f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss der physiologischen Gehimprocesse noch auch f\u00fcr die Erkenntniss des geistigen Lebens selbst irgend etwas herauskommt. Nichts f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss der centralen Processe, \u2014 denn hier zeigt ja, wie wir gesehen haben, die Theorie der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab vollkommen klar, dass man mit jenen allgemeinen Begriffen der Ern\u00e4hrung, Arbeit und Uebung \u00fcberhaupt nichts anfangen kann, und dass daher in der Durchf\u00fchrung der Theorie in Wahrheit an ihre Stelle ein ganz anderes Begriffssystem tritt, n\u00e4mlich das irgend einer Substanz, die positive und negative Schwankungen um eine Gleichgewichtslage erleidet, auf der sie sich zu erhalten strebt, ein Begriffssystem, das auf die St\u00f6rungen und Selbsterhaltungen einer Her-bart\u2019schen Seele an und f\u00fcr sich ebenso gut anwendbar ist wie auf das centrale Nervensystem, und das in beiden F\u00e4llen eine hypothe-","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n365\ntische Fiction bleibt1). Das System leistet aber auch nichts f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss der geistigen \u00bb Grundwerthe \u00ab. Denn es ordnet diese ledigbeb unter einen formalen Schematismus, der den -wirklichen Zusammenhang des geistigen Geschehens in individueller Erfahrung, in Gesellschaft und; Geschichte v\u00f6llig unber\u00fchrt l\u00e4sst2). Das sprechendste Zeugniss f\u00fcr diese , absolute Ergebnislosigkeit liegt in der Thatsache, dass derjenige Gedanke, durch den allein das empi-riokritische System zu anerkannten Thatsachen der Geistesentwicklung in Beziehung tritt, die \u00bbTheorie der Introjection\u00ab, eine psychologische Verallgemeinerung ist, die an sich mit der Lehre von der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab in gar keiner Beziehung steht, vielmehr sicht-Mch erst nachtr\u00e4glich und in einer ziemlich gek\u00fcnstelten Weise dieser von au\u00dfen angepasst wurde3).\nDie neue Entwickelungsform des Materialismus, als welche wir die empiriokritische Philosophie erkannten, ist demnach in dem Enderfolg ihrer Bem\u00fchungen nicht gl\u00fcckbcher gewesen als ihre verschiedenen der gleichen Richtung zugeh\u00f6rigen Vorg\u00e4ngerinnen aus \u00e4lterer und neuerer Zeit. Nichts desto weniger bietet sie ein nicht geringes Interesse dar; und in der Entwicklungsgeschichte philosophischer Weltanschauungen wird sie voraussichtlich dauernd einen gewissen Werth behalten. Dieses Interesse hegt vornehmlich darin, dass der Empiriokriticismus den vorausgesetzten ausschlie\u00dflichen Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen des geistigen Lehens vom centralen Nervensystem einen exacteren Ausdruck zu gehen versucht hat, als es von Seiten der \u00e4lteren Formen des Materialismus geschehen war, und dass er auf der Grundlage allgemeing\u00fcltiger physiologischer Begriffe sein Geb\u00e4ude zu errichten strebte. Indem ihm beides misslang, da er weder Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen von irgend zureichendem Erkl\u00e4rungswerth aufzufinden, noch mit H\u00fclfe jener allgemeing\u00fcltigen Begriffe die Theorie durchzuf\u00fchren vermochte\u2019, hat er damit zugleich ein beredtes Zeugniss f\u00fcr die Unhaltbarkeit des allgemeinen Standpunktes \u00fcberhaupt gehefert. Aber philosophische Systeme verdanken ihre Bedeutung bekanntlich keineswegs blo\u00df den positiven Fortschritten,\n1)\tVgl. den zweiten Artikel, S. 47 f.\n2)\tSiehe ebend. S. 68.\n3)\tSiehe ebend. S. 51 f.","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nW. Wundt.\ndie sie unmittelbar selbst herbeif\u00fchren helfen. Sie sind auch berufen Denkrichtungen ihrer Zeit, selbst da wo diese sich auf falschen Bahnen bewegen, zu einem m\u00f6glichst folgerichtigen, der allgemeinen Stufe wissenschaftlicher Entwicklung entsprechenden Ausdruck zu bringen. Unter diesem Gesichtspunkte betrachtet wird man nicht anstehen k\u00f6nnen, dem empiriokritischen System das Verdienst zuzuerkennen, dass es der exacteste Ausdruck einer sonst unklaren, der Zugeh\u00f6rigkeit des eigenen Standpunktes oft nicht einmal bewussten Form des heutigen naturwissenschaftlichen Materialismus ist.\n5. Der naturwissenschaftliche Standpunkt des Empiriokriticismus.\na. Folgerungen aus dem Princip der Principal-coordination.\nWenn es, wie oben bemerkt, zun\u00e4chst in der heutigen Naturwissenschaft verbreitete geistige Str\u00f6mungen sind, welche die empirio-kritische Philosophie in einseitiger Ausgestaltung und mit augenf\u00e4lliger Vernachl\u00e4ssigung anderer wissenschaftlicher Interessen zur Geltung bringt, so sollte man erwarten, dass nun auch zwischen dem Standpunkte streng naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung und dem der empiriokritischen Philosophie eine durchg\u00e4ngige Uebereinstimmung zu finden sei.0 Diese Erwartung wird jedoch in auffallender Weise sch\u00f6n bei einer der fundamentalsten Fragen der Naturwissenschaft get\u00e4uscht, bei der Frage n\u00e4mlich: wie weit sich \u00fcberhaupt der Gesichtskreis naturwissenschaftlicher Erkenntniss in zeitlicher wie in r\u00e4umlicher Beziehung erstrecke.\nDie Naturwissenschaft l\u00e4sst, wie bekannt, in beiden Beziehungen bestimmte Grenzen nicht zu. Insbesondere ist sie keineswegs gewillt, sich auf das was thats\u00e4chlich Inhalt menschlicher Erfahrung ist oder gewesen ist zu beschr\u00e4nken. Insoweit aus dem unmittelbar Gegebenen R\u00fcckschl\u00fcsse auf fr\u00fchere* direct von keinem Beobachter wahrgenommene Ereignisse, oder aber auch auf zuk\u00fcnftige, noch von keinem wahrzunehmende m\u00f6glich sind, erkennt sie solchen Schl\u00fcssen ihre volle Berechtigung zu. Man braucht noch nicht zur\u00fcckzugehen auf die Hypothesen \u00fcber die Anf\u00e4nge unseres Weltsystems oder auf die Folgerungen, die aus der mechanischen W\u00e4rmetheorie \u00fcber den Endzustand dieses Systems gezogen worden","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n367\nsind, um dieses Recht der Naturwissenschaft als ein solches zu erkennen, von dem sie fortw\u00e4hrend Gebrauch macht. Die Geologie beschr\u00e4nkt ihre Schl\u00fcsse keineswegs auf Entwicklungsperioden der Erde, \u00fcber die uns etwa Berichte von Augenzeugen vorliegen \u2014 sie w\u00fcrde damit bekanntlich kaum zu ihrer eigentlichen Aufgabe gelangen \u2014 ja nicht einmal auf i diejenigen, in denen \u00fcberhaupt irgend welche lebende Wesen muthma\u00dflich auf ihr existirt haben, sondern sie macht ganz unabh\u00e4ngig davon aus den gegenw\u00e4rtigen Befunden R\u00fcckschl\u00fcsse auf urs\u00e4chliche Verbindungen und zeitliche Aufeinanderfolgen einer aller Beobachtung unzug\u00e4nglichen Vergangenheit. Ebenso k\u00fcmmert sich die Astronomie hei ihren Berechnungen der Position von Sternen oder der Umlaufsdauer von Kometen nicht um die Frage, oh diese Objecte in den Zeitpunkten, auf die sich jene Berechnungen beziehen, von irgend einem Beobachter gesehen werden k\u00f6nnen oder nicht. Ja im Grunde verh\u00e4lt sich das hei der Aufstellung irgend welcher sonstiger Naturgesetze nicht anders. Der Physiker und Chemiker stehen nicht an, den Ergebnissen ihrer Untersuchungen, soweit diese sich auf die allgemeinsten Eigenschaften und Zusammenh\u00e4nge der Naturerscheinungen beziehen, eine Allgemeing\u00fcltigkeit zuzuschreiben, die durchaus nicht auf die Anwesenheit menschlicher Beobachter oder anderer empfindender und wahmehmender Wesen beschr\u00e4nkt ist.\nDass dieser Standpunkt der Abstraction von jedem wirklich vorhandenen oder etwa m\u00f6glichen Beobachter von der Naturwissenschaft als ein selbstverst\u00e4ndlicher betrachtet werden muss, erhellt ohne weiteres, wenn man sich die Folgen vergegenw\u00e4rtigt, die eine Aufhebung desselben mit sich f\u00fchren w\u00fcrde. Eine solche w\u00fcrde ganze Wissenschaftsgebiete verschwinden und in andern wenigstens die empfindlichsten L\u00fccken entstehen lassen. An die Stelle zusammenh\u00e4ngender Erkenntniss w\u00fcrden zum gro\u00dfen Theil zusammenhangslose Fragmente treten. Gerade mit R\u00fccksicht auf diese verkn\u00fcpfende Bedeutung f\u00fcr den Thathestand der wirklichen Erfahrung ist es zugleich augenf\u00e4llig, wie sehr selbst solche weit \u00fcber alle Grenzen m\u00f6glicher Erfahrung hinausgehende Hypothesen, wie z. B. die Kant-La-place\u2019sche, einen hohen theoretischen Werth besitzen k\u00f6nnen. Ist doch die genannte Hypothese lediglich aus dem Bed\u00fcrfniss hervorgegangen, \u00fcber die regelm\u00e4\u00dfige Anordnung der Planeten und ihrer Bewegungen","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nW. Wundt.\nRechenschaft zu geben, was sie denn auch bekanntlich im wesentlichen mit Gl\u00fcck erreicht hat.\nNun tritt aber mit dieser von der Naturwissenschaft festgehaltenen Maxime, theils mit H\u00fclfe von Schlussfolgerungen, theils auch mittelst der Ausbildung erkl\u00e4render Hypothesen den Bereich der that-s\u00e4chlichen Erfahrung zu \u00fcberschreiten, augenscheinlich das von der empiriokritischen Philosophie aufgestellte Princip der Principalcoor-dination in Widerspruch. Denn nach diesem Princip ist zu jedem als \u00bbGegenglied\u00ab gegebenen Umgebungsbestandtheil irgend ein \u00bbSystem (7\u00ab, also nach der durchg\u00e4ngig festgehaltenen Bedeutung dieses Begriffes ein centrales menschliches Nervensystem erforderlich. Gegenglied und Centralglied, d. h. Umgebungsbestandtheile und ein Individuum, bez. das diesem substituirte System C, m\u00fcssen zusammen gegeben sein, wenn \u00bbSchwankungen\u00ab der Vitalreihe dieses Systems, und damit \u00fcberhaupt Erfahrungen entstehen sollenx). Demgem\u00e4\u00df widerspricht es allen Bedingungen der .\u00bbreinen Erfahrung\u00ab, irgendwo und irgendwann einen Gegenstand anzunehmen, der nicht den Charakter eines Um-gebungsbestandtheils besitzt, weil ihm das dazu erforderliche Centralglied fehlt \u2014 eine Voraussetzung, die doch offenbar bei den oben erw\u00e4hnten Folgerungen und Hypothesen der Naturwissenschaft gemacht wird.\nEs ist, zun\u00e4chst mit R\u00fccksicht auf den im Princip der Principal-coordination enthaltenen Gedanken, dann aber auch f\u00fcr die W\u00fcrdigung der empiriokritischen Denkweise \u00fcberhaupt von Interesse, die Versuche zur Beseitigung dieses Widerspruchs ins Auge zu fassen. Diese Versuche tragen keinen ganz einheitlichen Charakter an sich. Vielmehr sind zu dem gleichen Zweck zwei wesentlich verschiedene oder doch nur in gewissen Beziehungen \u00fcbereinstimmende Wege eingeschlagen worden. Der eine besteht in einer der Hauptsache nach begrifflichen Deduction, der andere in einer \u00bbbiologischen\u00ab Interpretation. In einer Hinsicht stimmen \u00fcbrigens beide L\u00f6sungsversuche \u00fcberein, darin n\u00e4mlich, dass beiden der evolutionistische Gedanke zu Grunde liegt.\nDen Weg abstract begrifflicher Untersuchung hat Avenarius eingeschlagen. Er geht davon aus, dass die Begriffe \u00bbCentralglied\u00ab und\n1) Vgl. hierzu namentlich Bemerkungen Art. Ill, S. 1 ff","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n369\n\u00bbGegenglied\u00ab nach dem in ihnen gegebenen Verh\u00e4ltnisse keine absolute, sondern im allgemeinen nur eine relative Bedeutung beanspruchen k\u00f6nnen. Innerhalb der Principalcoordination, deren Centralglied \u00bbich\u00ab selbst bin, zerlegt sich n\u00e4mlich dieses \u00bbIch\u00ab, ebenso wie irgend ein Umgebungsbestandtheil, in \u00bbElemente\u00ab und \u00bbCharaktere\u00ab. Die auf mein \u00bbIch\u00ab, dass heisst auf meinen Leib bezogenen Bestandtheile sind nun aber dadurch ausgezeichnet, dass ihnen stets eine \u00bbbestimmte Aenderung des Systems C* zu Grunde liegt. '' Daraus ergibt sich, dass \u00fcberhaupt irgend ein Gegenglied dann zugleich als Centralglied angenommen werden darf, wenn ihm eine \u00bbbestimmte Aenderung meines Systems C\u00ab substituirt werden darf. 0 Nat\u00fcrlich ist aber dabei ein solches Gegenglied nur in Bezug auf denjenigen Umgebungsbestandtheil Centralglied, zu dem eine bestimmte Aenderung des Systems C complement\u00e4r geh\u00f6rt1). , Hiermit sind nun zugleich die Gesichtspunkte gegeben, von denen aus die Beziehungen des Systems C zur \u00bbleblosen Umgebung\u00ab zu beurtheilen sind. In dieser Hinsicht erheben sich zwei Fragen: 1) Inwiefern kann das System C eines Mitmenschen auch solchen Bestandtheilen seiner individuellen Umgebung gegen\u00fcber als Centralglied gedacht werden, zu denen entsprechende Vitaldifferenzen dieses Systems C nicht existiren oder wenigstens nicht zur \u00bbAbhebung\u00ab gelangen? 2) Inwiefern ist es gestattet das Verh\u00e4ltniss von Centralglied und Gegengliedern auch da noch zu statuiren, wo, so viel wir wissen, ein wirkliches System C noch gar nicht \u00e9xistirt hat?0 Die erste Frage bezieht sich, wie man sieht, auf Umgebungsbestandtheile, die von keinem \u00fcber ein System G verf\u00fcgenden Mitmenschen wahrgenommen, die zweite auf solche, die der Entwicklung lebender Wesen, die sich im Besitz solcher Systeme C befinden, vorausgegangen sind. Die Antworten auf beide Fragen lauten im wesentlichen \u00fcbereinstimmend. Erstens : der Mitmensch ist in Bezug auf solche nicht wahrgenommene Umgebungsbestandtheile zwar nicht als \u00bbactuelles\u00ab, aber als \u00bbpotentielles\u00ab Centralglied anzunehmen, weil der Zustand der Wahrnehmung, wenn er auch in Wirk- \\ lichkeit nicht vorhanden ist, doch hergestellt werden k\u00f6nnte 2).t3 Zweitens : da das System C zu seiner Entwicklung Bedingungen voraussetzt,\n1)\tBemerkungen, Art. IV, S. 133 ff.\n2)\tEbend. S. 137.","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nW. Wundt.\ndie in einem vorangegangenen Zustande gegeben sind, so werden diese Bedingungen auch als solche anzusehen sein, die seine Function als * Centralglied\u00ab bestimmen, und sie werden demnach selbst die ^Bedeutung eines \u00bbpotentiellen\u00ab Centralgliedes besitzen. In dieser Reihe der Bedingungen kann aber beliebig weit zur\u00fcckgegangen werden. \u2019\u00bbWenn angenommen wird, dass zu einer Zeit alles das, was unsere jetzige Umgebung ausmacht, nur aus kleinsten gleichartigen, an sich ,leblosen Theilen' bestand, dann aus diesen zun\u00e4chst unsere ,Erde\u2018 wurde, weiterhin sich aus ihnen die ,niedersten Lebewesen' bildeten u. s. w., so ist eben damit gesagt, dass ein stetiger Ueber-gang von der anf\u00e4nglichen Combination der ,leblosen Umgebungs-bestandtheile1 zu der Constitution des Systems C ... . als eine zwar maximal entfernte, aber doch immer noch als eine durchaus unausschaltbare (logische) Bedingung derjenigen bestimmten Aenderungen des Systems C denkbar ist, von denen dann die bestimmten Elemente und Charaktere, welche die Principalcoordination und mit ihr das Centralglied zusammensetzen', unmittelbar abh\u00e4ngen.\u00ab Mit andern Worten: auch hier ist immer ein \u00bbpotentielles Centralglied\u00ab in Bezug auf irgend eine individuelle Umgebung anzunehmen, die der Forderung, dass alle Erfahrung auf dem Vorhandensein der \u00bbPrincipalcoordination\u00ab beruht, Gen\u00fcge leistet1), o 1\nEtwas abweichend und auch in den Resultaten nicht ganz mit dieser abstract logischen Betrachtung zusammentreffend ist der Weg rein biologischer, also mehr empirischer Erw\u00e4gungen, den R. Willy bei der Behandlung des in dieser zweiten Frage aufgeworfenen Problems einschl\u00e4gt2). Bei ihm ist von jener subtilen Unterscheidung zwischen potentiellem und actuellem Centralglied mit der au\u00dferordentlich dehnbaren Erweiterung des Begriffs der Principalcoordi-nation, die sie gestattet, nicht die Rede, sondern er nimmt, diese nur in ihrem verst\u00e4ndlicheren actuellen Sinne an. Wie er nun aus jenem Princip vollkommen resolut den Satz ableitet, \u00bbdass die K\u00f6rperwelt ohne uns keine K\u00f6rperwelt mehr ist\u00ab, so entschlie\u00dft er sich auch kurzweg zu der nun vom empirischen Standpunkte aus allerdings, wie es scheint, kaum mehr zu vermeidenden Folgerung, von einer Vergangenheit,\n1)\tBemerkungen, Art. IV, S. 139, 143.\n2)\tVierteljahrsschr. XX, S. 72 ff.","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n371\ndie der Existenz wahmehmender Wesen, also actueller Centralglieder, vorausging, sei \u00fcberhaupt nicht zu reden.\u00b0 Vielmehr erscheint ihm das offenbar als eine Art, metaphysischer Schw\u00e4rmerei. \u00bbEs w\u00fcrde schon ein Abweg sein und der menschlichen Erfahrung widerstreiten, wenn man hinsichtlich der urweltlichen organismenlosen Zust\u00e4nde sagte: wir m\u00fcssen uns denken, dass, wenn wir unter diesen Umst\u00e4nden wahmehmen k\u00f6nnten, dann w\u00fcrden wir jene dunkle Welt erfahren, auf welcher sich kein Lehen bewegt. \u00ab 0 Nichts desto weniger glaubt auch Willy den Umfang erlaubter empirisch-wissenschaftlicher Forschung nicht auf die Zeit der Existenz des Menschen oder gar auf die der geschichtlichen Tradition beschr\u00e4nken zu sollen \u2014 was offenbar das folgerichtigste w\u00e4re, da wir doch f\u00fcr den vorgeschichtlichen Menschen nur vermuthungsweise die G\u00fcltigkeit des Princips der Principalcoordination voraussetzen k\u00f6nnen \u2014, sondern er meint in der Entwicklungstheorie eine zureichende Begr\u00fcndung f\u00fcr die Annahme zu finden, dass in Bezug auf diese Frage irgend welche andere thierische Gesch\u00f6pfe dem Menschen ohne weiteres substituirt werderi k\u00f6nnten. \u00bbDenn die Thierwelt \u2014 und w\u00e4re es der geringste Wurm \u2014 m\u00fcssen wir, wenn wir, wie hier geschieht, das thierische Lehen nur im Zusammenhang der allgemeinsten Erfahrung betrachten, einfach als primitive Mitmenschen ansehen.\u00ab0 Ebenso d\u00fcrfen wir nach der Meinung dieses empiriokritischen Philosophen \u00bbauf unserem Standpunkt die ausgestorbenen Geschlechter einfach wie verstorbene Einzelindividuen ein und derselben, sich fort und fort geschlechtlich erg\u00e4nzenden Familie betrachten\u00ab]).\nDer Unterschied dieser beiden Ausf\u00fchrungen \u00fcber die aus der Principalcoordination sich ergebenden Forderungen ist, wie man sieht, kein unwesentlicher, in den Voraussetzungen so wenig wie in den Ergebnissen. F\u00fcr Avenarius bietet der von ihm eingef\u00fchrte H\u00fclfsbegriff \u00bbpotentieller\u00ab Centralglieder und die Uebertragung der dem System C zugeschriebenen Eigenschaften in dieser \u00bbpotentiellen\u00ab Form auf beliebige Vorstufen und Anlagen zu jenem System eine Ausdehnung des Begriffs der Erfahrung, die es m\u00f6glich macht diesem alles unterzuordnen, was jemals vom Standpunkte empirisch naturwissenschaftlicher Forschung aus auch nur in Gestalt von Schluss-\nl) A. a. O. S. 74.\nW u n d t, Philos. Studien XIII.\n25","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nW. Wundt.\nfolgerungen oder Hypothesen \u00fcber noch so entlegene Zust\u00e4nde der Vergangenheit entwickelt worden ist. Unsicherer scheint es in dieser Beziehung mit der Zukunft zu stehen. Doch hat sich Avenarius \u00fcber diesen Punkt nicht ausgesprochen. Weit skeptischer verh\u00e4lt sich gegen\u00fcber dem, was die Grenzen unmittelbarer Erfahrung \u00fcberschreitet, der j\u00fcngere Empiriokritiker. Indem er auf den H\u00fclfsbegriff des \u00bbPotentiellen\u00ab verzichtet, \u2018scheint ihm nichts \u00fcbrig zu bleiben, als Erfahrung und demgem\u00e4\u00df auch Erfahrungswissenschaft \u00fcberhaupt nur so weit reichen zu lassen, als die Nachweisung der Prin-cipalcoordination durch Ueberlieferung von Mensch zu Mensch m\u00f6g-\\ lieh ist. Dass \u00fcber die Zukunft absolut nichts ausgesagt werden ; kann, ist auf diesem Standpunkte au\u00dfer allem Zweifel.\u00bb Doch auch die Vergangenheit w\u00fcrde auf eine bedenklich kurze Zeitstrecke redu-cirt werden, wenn nicht der auf die Descendenztheorie gegr\u00fcndete Gedanke hier als Better in der Noth erschiene, wonach die Thiere, auch die niedersten, als primitive Mitmenschen,^ ja sogar die ausgestorbenen Thierarten als verstorbene Einzelindividuen der gleichen Familie betrachtet werden sollen. \u00bb Dadurch ist immerhin den Naturwissenschaften das Becht zugesprochen, \u00fcber jene Zust\u00e4nde und Ereignisse der Welt, w\u00e4hrend deren die Existenz der Thierwelt gesichert ist, etwas auszusagen. Jenseits dieser Grenzen freilich haben sie nichts zu suchen. Damit wird allerdings noch eine erhebliche Anzahl der bisher von der Naturwissenschaft behandelten Probleme in das Gebiet der T\u00e4uschung oder der metaphysischen Tr\u00e4umerei verwiesen. \" Dieser Widerspruch mit der positiven Wissenschaft, der hei der ersten Gestaltung der Theorie nur k\u00fcnstlich durch H\u00fclfsbegriffe verdeckt wird, hei der zweiten aber, trotz weit gehender Anleihen bei der Descendenztheorie, schlie\u00dflich offen zu Tage tritt, fordert denn doch die Frage heraus, ob hier der Fehler nicht sowohl auf Seiten der Naturwissenschaft, als vielmehr einer Philosophie Hege, die derartige Grenzhestimmungen einf\u00fchren will. F\u00fcr die Pr\u00fcfung dieser Frage sind nun die eigenth\u00fcmhehen Wege, auf denen man den entstandenen Widerstreit mit der positiven Wissenschaft zu beseitigen sucht, besonders lehrreich. Je mehr sich diese Wege als g\u00e4nzlich unzul\u00e4nghch heraussteilen, um so klarer wird es in der That, dass dieser ganze Zwiespalt auf der falschen erkenntnisstheoretischen Voraussetzung beruht, von der die empiriokritische Philosophie ausgeht,","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n373\n\u2022worauf dann, wie so h\u00e4ufig, der begangene Irrthum durch das Bestreben die von ihm herr\u00fchrenden Schwierigkeiten zu beseitigen nur in noch gr\u00f6\u00dfere Irrungen verwickelt.\nBei Avenarius besteht das Mittel, die Folgerungen aus dem Princip der Principalcoordination mit den Forderungen der Naturwissenschaft auszugleichen, in der Einf\u00fchrung des Begriffs eines \u00bbpotentiellen Centralgliedes\u00ab oder, was in diesem Zusammenh\u00e4nge das n\u00e4mliche bedeutet, eines potentiellen Centralnervensystems, welches, da die Anlage zu allem Gewordenen mit logischer Noth-wendigkeit seihst dem urspr\u00fcnglichsten, noch ganz undifferenzirten Zustande der Materie zugeschrieben werden m\u00fcsse, in einen beliebig fr\u00fchen Zeitpunkt zur\u00fcckdatirt werden k\u00f6nne, und welches nun in denjenigen Principalcoordinationen, die irgend eine urzeitliche Erfahrung bestimmen, die Stelle des actuellen Centralgliedes einzunehmen habe. Bei dem gro\u00dfen Einfl\u00fcsse, den naturwissenschaftliche Anschauungen und Begriffe auf die empiriokritische Philosophie aus-ge\u00fcbt haben, und hei dem hohen Werthe, den diese insbesondere auf das Princip der Energie legt, wird man nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass die bekannten Begriffsgegens\u00e4tze der actuellen und der potentiellen Energie f\u00fcr diese Aufstellungen bestimmend gewesen seien, o Wie in der Natur \u00fcberhaupt in jedem Augenblicke potentielle in actuelle Energie \u00fcbergehen kann, ohne dass darum die Gesammtsumme der Energie vergr\u00f6\u00dfert oder vermindert wird, so soll man sich in diesem Falle wohl auch die Anlagen zu einem k\u00fcnftigen System C als eine Art potentieller Energie denken, die ihrer Gr\u00f6\u00dfe und darum auch ihrem Functionswerthe nach den sp\u00e4ter aus ihnen hervorgehenden actuellen Energien gleich sei. Aber hierbei ist doch nicht zu \u00fcbersehen, dass diese Anwendung der Gegens\u00e4tze des Actuellen und Potentiellen in der modernen Energielehre nur eine, und zwar eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig secund\u00e4re Anwendungsform dieser Begriffe \u00fcberhaupt ist. In jedem einzelnen Falle, wo man sich au\u00dferhalb des Gebietes exacter Energiehetrachtungen jener Gegensatzhegriffe bedient, bedarf es daher einer sorgf\u00e4ltigen Pr\u00fcfung, ob der Sinn derselben wirklich dem in der Energielehre recipirten entspricht, oder oh .er nicht auf \u00e4ltere und wesentlich abweichende Bedeutungen zur\u00fcckgeht. Bekanntlich ist kein anderer als Aristoteles der Urheber dieses Begriffsgegensatzes. Die dvva/j.ig und iv\u00e9qyuu spielen in seiner Philo-\n25*","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nW. Wundt.\nsophie eine Rolle, die im wesentlichen dem Gegens\u00e4tze von Stoff und Form entspricht; und man kann von diesen Begriffen wie von andern der aristotelischen Philosophie sagen, dass sie der Stufe der Wissenschaft seiner Zeit gem\u00e4\u00df waren, einer Erkenntnissstufe, die im wesentlichen darauf ausging, die F\u00fclle der Erscheinungen einer Reihe bereitstehender Allgemeinhegriffe zu subsumiren. (Ygl. oben S. 345.) Wie in andern Dingen, so ist aber auch in der Anwendung dieses Begriffsgegensatzes Aristoteles der Vater der Scholastik, und wie diese \u00fcberall allm\u00e4hlich die aristotelischen Begriffsgliederungen zu einem hohlen und leblosen Begriffsger\u00fcste erstarren lie\u00df, das zu leeren Wortdefinitionen und Wortsubsumtionen verf\u00fchrte, so erging es auch und sogar in ganz besonderem Grade den Correlatbegriffen der Po-tentia und des Actus. Sie wurden zu einer nichtssagenden Form f\u00fcr alle m\u00f6glichen einzelnen Gestaltungen des Causalproblems. Auf die Frage, wie denn das Wirkliche wirklich geworden sei, lautete die bequeme Antwort: bis zu dem Moment, wo der Actus eintrat, sei die Potentia dazu bereits vorhanden gewesen. So erwies sich dieses Begriffspaar als ein besonders geeignetes H\u00fclfs- und Bet\u00e4ubungsmittel in allen intellectuellen N\u00f6then. Nicht blo\u00df im Hinblick auf diesen scholastischen Missbrauch, der mit ihnen getrieben worden ist, sondern auch deshalb, weil dieser Gegensatz der Potentia und des Actus f\u00fcr uns in der That keinen fassbaren Inhalt mehr hat, ist es darum kaum ein gl\u00fccklicher Griff gewesen, als Rankine diese alten scholastischen Gespenster wieder ins Leben zur\u00fcckrief, um sie in der modernen Energielehre zu verwenden. Begreiflich war freilich dieser Schritt angesichts der Entwicklung, die der Energiebegriff nun einmal erfahren hatte. Die Ausdr\u00fccke \u00bbSpannkraft\u00ab, \u00bbLageenergie\u00ab, die jenen Begriff der \u00bbpotentiellen Energie\u00ab vollst\u00e4ndig deckten und dabei, was dieser nicht thut, seinen positiven Inhalt klarer andeuteten, waren doch zun\u00e4chst ausschlie\u00dflich dem Gebiet der Mechanik entnommen. Die Verallgemeinerung des Energieprincips f\u00fchrte aber naturgem\u00e4\u00df zu dem Streben, die Grundbegriffe dieses Princips von dem besonderen Kreise mechanischer Vorstellungen loszul\u00f6sen und sie auf jede beliebige, m\u00f6glicher Weise mechanisch gar nicht zu inter-pretirende Art von Energie anwendbar zu machen. Die \u00bbEnergie\u00ab, die allm\u00e4hlich an die Stelle des in der fr\u00fcheren Entwicklung der Theorie gebrauchten Begriffs der \u00bbKraft\u00ab getreten war, repr\u00e4sentirte selbst","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n375\nschon einen solchen indifferenten Begriff. Wollte man die \u00bbSpannkraft\u00ab in \u00e4hnlicher Weise von der Mechanik emancipiren, so hot sich der Ausdruck \u00bbpotentielle Energie\u00ab zwar nicht als ein nothwen-diges, aber doch als ein vielleicht nahe liegendes Auskunftsmittel dar. Ja sogar einen gewissen Nutzen kann man diesem neuen Namen nicht absprechen, durch den er sich vor den fr\u00fcher in \u00e4hnlichem Sinne gebrauchten Ausdr\u00fccken auszeichnet : den n\u00e4mlich, dass er andeutet, es handle sich, wo von potentieller Energie die Bede ist, \u00fcberall um Energiegr\u00f6\u00dfen, die nur insofern zu bestimmen und demnach \u00fcberhaupt nur insofern wie Energien anzusehen sind, als sie aus bestimmten wirklichen d. h. actuellen Energiegr\u00f6\u00dfen entstehen oder in solche umgewandelt werden k\u00f6nnen. Eben darin liegt nun aber zugleich eine hinreichende Contr\u00f4le, um missbr\u00e4uchliche Anwendungen des Begriffs in diesem Falle ferne zu halten. Potentielle Energien werden n\u00e4mlich \u00fcberall nur insoweit vorausgesetzt, als dies erforderlich ist, um der Gleichung E + P = const., worin E die eigentliche oder actuelle, P aber die potentielle Energie bedeutet, Gen\u00fcge zu leisten. Da nun in dieser Gleichung nicht blo\u00df die actuelle Energie E der unmittelbaren Messung zug\u00e4nglich ist, sondern eventuell auch die Constante auf der rechten Seite durch die Umwandlung der gesammten in dem gegebenen System vorhandenen Energie in actuelle Energie bestimmt werden kann, so hat dabei der Werth P stets eine bestimmte, genau in actuellen Energiewerthen auszudr\u00fcckende Bedeutung. Denn an sich repr\u00e4sentirt er lediglich eine bestimmte Summe genau definirbarer physikalischer Bedingungen, verm\u00f6ge deren eine gewisse exact messbare Gr\u00f6\u00dfe wirklicher Energie gewonnen werden kann. Am einleuchtendsten ist dies bei der mechanischen Energie. Hier wird die Gr\u00f6\u00dfe P der obigen allgemeinen Energiegleichung unmittelbar dadurch gewonnen, dass man die Gr\u00f6\u00dfe der Arbeit A bestimmt, die das betreffende System oder bestimmte Theile desselben in eine Lage versetzt haben, in der ein durch P zu messender Vorrath an Energie in ihm vorhanden ist. In diesem Falle ist P eben jener Arbeit A an Gr\u00f6\u00dfe gleich, aber wegen der entgegengesetzten Richtung der Bewegungsenergie, in die P zur\u00fcckverwandelt werden kann, mit entgegengesetztem Vorzeichen zu versehen: P =\u2014A. Dem entspricht es, dass auf mechanischem Gebiet die Gleichung der Erhaltung der Energie aus dem so genannten Princip der \u00bbErhaltung","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nW. Wundt.\nder lebendigen Kr\u00e4fte\u00ab abgeleitet worden ist. Indem diese aussagt, dass in einem in sich geschlossenen mechanischen System, z. B. bei den Bewegungen eines Pendels um seine Gleichgewichtslage, die Differenz der \u00bblebendigen Kr\u00e4fte\u00ab d. h. der actuellen Energie und der geleisteten Arbeit constant bleibe, kann dieses Princip ausgedr\u00fcckt werden durch die Gleichung E \u2014 A = const. Diese geht aber ohne weiteres in die Gleichung des Energiegesetzes \u00fcber, wenn man in sie statt A die \u00e4quivalente Gr\u00f6\u00dfe P unter entgegengesetztem Vorzeichen einf\u00fchrt: E + P = const. Aus diesem Grunde hat man auch zuweilen die Gr\u00f6\u00dfe P als \u00bbvorr\u00e4thige Energie\u00ab bezeichnet, und vielleicht w\u00e4re es besser gewesen, \u00fcberhaupt diesen Ausdruck statt des der \u00bbpotentiellen Energie\u00ab zu gebrauchen, um die dem letzteren nun einmal anhaftende Keminiscenz an den leeren scholastischen Begriff der \u00bbPotentia\u00ab zu vermeiden. Denn es l\u00e4sst sich nicht verkennen, dass die Gleichheit des Ausdrucks zu Verwechslungen Anlass geben kann, die in diesem Falle um so leichter eintreten werden, als nunmehr jenem alten scholastischen Scheinbegriff die Gelegenheit geboten ist sich in ein exactes Gewand zu kleiden. Durch die Annahme eines \u00bbVerm\u00f6gens\u00ab, einer \u00bbAnlage\u00ab u. dergl. sich \u00fcber irgend ein Problem hinwegzut\u00e4uschen, dazu kehrt in der That die Versuchung immer wieder, und es ist daher durchaus nicht unm\u00f6glich, dass gerade jene Neubelebung, die die neuere Energetik der alten Potentia zu Theil werden lie\u00df, auch den eigentlich obsolet gewordenen scholastischen Begriff selber gelegentlich wieder auferstehen l\u00e4sst.\n0 In Anbetracht dieses Umstandes erhebt sich demnach im gegenw\u00e4rtigen Fall die Frage: wie verh\u00e4lt es sich mit dem \u00bbpotentiellen Centralglied\u00ab? Ist es ein echter Spross des Energieprincips der heutigen Physik? Oder ist es am Ende nur ein neuer Ableger jener tauben Kuss der Scholastik, der \u00bbPotentia\u00ab, wie sie dereinst in den Lebenskr\u00e4ften der Physiologie, den Verm\u00f6gensbegriffen der Psychologie und in andern \u00e4hnlichen Scheinbegriffen ihre Bolle gespielt hat?\nDiese Frage ist, wie mir scheint, nicht allzu schwer zu beantworten. \u00b0 Von einer echten Verwandtschaft jenes \u00bbpotentiellen Centralgliedes\u00ab mit dem Begriff des Potentiellen im exacten Sinne der Energielehre, wonach die potentielle Gr\u00f6\u00dfe genau ebenso gut wie die actuelle eine genau messbare, in festen r\u00e4umlichen und zeitlichen","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n377\nBedingungen des betrachteten Systems gegebene sein muss, kann augenscheinlich hier gar keine Rede sein.* Extensiv verliert sich jenes Potentielle vollst\u00e4ndig in die Unendlichkeit der Vorbedingungen f\u00fcr den gegenw\u00e4rtigen Zustand des Universums.0 Dass ein gegebenes \u00bbSystem C\u00ab existire, das einem gegebenen Individuum als Centralglied zu irgend welchen \u00bbPrincipalcoordinationen\u00ab substituirt werden k\u00f6nne, das ist aus dieser Unendlichkeit ebenso wenig abzuleiten, wie irgend ein empirischer Causalzusammenhang dadurch wirklich erkannt wird, dass man auf die unendliche Summe aller vorausgegangenen Ereignisse verweist, die, .wie zu jedem andern Geschehen, so auch zu dem speciell in Rede stehenden die Bedingungen enthalten m\u00fcsse. Intensiv aber fehlt es bei dieser Verkn\u00fcpfung actueller mit den ihnen vorausgegangenen potentiellen Centralgliedern selbstverst\u00e4ndlich ganz an irgend einer quantitativen Beziehung, die es gestattete^ etwas wie ein Princip der Aequivalenz \u2014 ohne das doch der Begriff der potentiellen Energie gar keinen Inhalt hat \u2014- anzuwenden. So, von welcher Seite man auch die Sache betrachten m\u00f6ge, erweist sich das potentielle Centralglied als ein Ueberlebniss der alten Potentia der Scholastik und ihrer Fortsetzungen, in die Begriffe der \u00bbAnlagen\u00ab und \u00bbVerm\u00f6gen\u00ab, \u2014 mit jener potentiellen Energie, welche aufgespeicherte Arbeit ist, hat es aber nicht das mindeste zu thun.\u00bb Dem entsprechen nun auch die verschiedenen Wendungen, in denen diese Einf\u00fchrung des Potentialit\u00e4tsbegriffs zu begr\u00fcnden versucht wird. Es wird ausdr\u00fccklich betont, dass es eine \u00bbregressive logische Betrachtung\u00ab sei, die mit einer Art innerer Denknothwendigkeit dazu f\u00fchre, zun\u00e4chst in irgend einem \u00bbembryonalen System C\u00ab, dann in den diesem vorausgehenden Systemen niedrigerer Ordnung und so fort ins Unbegrenzte die \u00bblogische\u00ab Bedingung auch zur Annahme jener potentiellen Centralglieder zu sehen '). Nicht Thatsachen der Erfahrung, am allerwenigsten solche, die sich in bestimmte ebenfalls empirisch festzustellende Grenzen einschlie\u00dfen lassen und eben darum eine quantitative Bestimmung der in Frage kommenden Werthe m\u00f6glich machen, sondern ganz allgemeine \u00bblogische\u00ab Erw\u00e4gungen sind es also, die diesem Begriff des Potentiellen zu Grunde Hegen; und wenn man die \u00bbregressive\u00ab Analyse des exacten Scheins entkleidet, so\n1) Bemerkungen, Art. IV, S. 140.","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nW. Wundt.\nbleibt schlie\u00dflich nichts zur\u00fcck als der g\u00e4nzlich inhaltsleere Gedanke, dass zu jedem Wirklichen die Anlage vorher schon vorhanden sein m\u00fcsse \u2014 der n\u00e4mliche Gedanke, der eben in dem aristotelisch-scholastischen Gegens\u00e4tze der Begriffe \u00bbPotentia\u00ab und \u00bbActus\u00ab seinen classischen Ausdruck gefunden hat.\nMerkw\u00fcrdiger noch als diese vollst\u00e4ndige R\u00fcckkehr zum scholastischen Verm\u00f6gensbegriff ist aber die Thatsache, dass dieser Begriff im vorliegenden Fall nicht einmal diejenigen Dienste leistet, die sonst die scholastischen Begriffe wenigstens \u00e4u\u00dferlich, f\u00fcr das blo\u00dfe Bed\u00fcrfniss nach Einordnung in einen logischen Schematismus, geleistet haben. Die scholastische Potentia ist ein allgemeines Schem\u00e4, welches f\u00fcr jede besondere causale Beziehung als Surrogat eingesetzt werden kann, und als solches ist sie immerhin eine intellectuelle Beruhigung f\u00fcr denjenigen, der im allgemeinen danach verlangt, dass jede Thatsache auf ihre Bedingungen zur\u00fcckgef\u00fchrt werde, sich aber um die besondere Art, wie dies geschehen k\u00f6nne, weiter nicht zu k\u00fcmmern w\u00fcnscht. Im vorliegenden Falle soll aber die Potentia nicht blo\u00df die allgemeine Summe der Bedingungen f\u00fcr die thats\u00e4ch-lich existirenden Centralglieder sein, sondern diese Bedingungen sollen auch denselben Erkenntnisswerth wie die actuellen Centralglieder besitzen: denn sie sollen in einer der Existenz des Menschen, ja lebender Wesen \u00fcberhaupt lange vorangegangenen Zeit in Verh\u00e4ltnisse der Principalcoordination eingef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, so dass sie auf diesem Wege der Stellvertretung eine Ausdehnung des Begriffs der Erfahrung nach r\u00fcckw\u00e4rts in jedem beliebigen Umfange m\u00f6glich machen. Diese Vorstellung kann man sich eigentlich nur erkl\u00e4ren, wenn man annimmt, dass hier der Begriff der Aequivalenz aus der exacten Anwendung des Begriffs der \u00bbpotentiellen\u00ab Energie pl\u00f6tzlich in den alten scholastischen Begriff der Potentia her\u00fcbergenommen sei, um dieser nun zu der progressiven, die ihr eigentlich und von Rechts wegen allein zukommt, auch noch eine regressive Causalbedeutung zu geben, d. h. um anzunehmen, dass die Grundeigenschaften, welche die aus ihren Bedingungen zu erkl\u00e4renden Thatsachen besitzen, auch jenen Bedingungen selbst schon zugeh\u00f6ren. In der That, wenn man annehmen soll, dass diese Ausdehnung des Begriffs der Principalcoordination irgend einen erkenntnisstheore-tischen Sinn habe, so muss man sich doch gem\u00e4\u00df der Bedeutung","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n379\ndieses Begriffs die \u00bbAnlagen\u00ab zu k\u00fcnftigen Systemen C selbst schon als Aequivalente der \u00bberfahrenden Individuen\u00ab denken. Das quantitative Aequivalenzprincip der Energielehre scheint sich also hier in eine qualitative Aequivalenz umgewandelt zu haben, welche die n\u00e4mlichen Erkenntnissfunctionen, die durch die Beziehungen eines Systems G zu seiner Umgebung zu Stande kommen, schon in die urspr\u00fcnglichsten, eventuell ganz gleichartigen Theilchen der \u00bbleblosen Umgebung\u00ab verlegt. Dass der Urheber der empiriokritischen Philosophie selbst diese offenbar in eine g\u00e4nzlich tr\u00fcbe hylozoistisclie Naturphilosophie ausm\u00fcndenden Folgerungen gezogen haben sollte, ist sicherlich nicht anzunehmen. Es ist vielmehr nicht zu bezweifeln, dass ihn hier eben der \u00fcberaus dehnsame, alles bedeutende und darum in Wahrheit nichtssagende Begriff der \u00bbPotentia\u00ab dieser Folgerungen enthoben hat. Wo das Centralglied der Principalcoordination nur potentiell existirt, da kann ja auch die Principalcoordination selbst nur eine potentielle sein. Dann ist alles wieder in Ordnung. Sachlich ist damit nat\u00fcrlich gar nichts gesagt. Aber das Wort \u00bbpotentiell\u00ab \u2014 denn von einem Begriff kann hier kaum mehr die Bede sein \u2014 das Wort hat seine Dienste gethan. Es hat zuerst den Widerspruch, in den die Principalcoordination als angebliche Bedingung aller Erfahrung mit der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise tritt, verfl\u00fcchtigt, und es hat, um die mystische Verdunkelung des Erfahrungsbegriffs, die hieraus zu entspringen drohte, zu vermeiden, schlie\u00dflich die Principalcoordination selber verfl\u00fcchtigt.\nVon solchen dialektischen Irrungen, die nicht zum kleinsten Theile der bedenklichen Vermischung des dem Begriff der \u00bbpotentiellen Energie\u00ab entlehnten Aequivalenzbegriffs mit der alten Potentia der Scholastik ihren Ursprung verdanken d\u00fcrften, hat sich nun der zweite Versuch, die Schwierigkeit zu beseitigen, der \u00bbbiologische\u00ab, der \u2014 wenn man es mit dem Wort nicht zu strenge nehmen und helfenden Hypothesen einen zureichenden Spielraum gestatten will \u2014 auch allenfalls der empirische genannt werden k\u00f6nnte, freizuhalten gewusst. Er l\u00e4sst nicht blo\u00df die Erfahrung, sondern auch die berechtigte Annahme der Existenz irgend welcher Erfahrungsgegenst\u00e4nde nicht weiter zur\u00fcckreichen, als die Existenz von thierischen Wesen, die als erfahrende Individuen Centralglieder einer wirklichen","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nW. Wundt.\nPrincipalcoordination sein k\u00f6nnen, mit hinreichender Sicherheit verb\u00fcrgt ist. Die blo\u00dfe Potentia spielt also hier gar keine Rolle mehr. Dagegen kommt es nicht darauf an, von welcher Beschaffenheit sonst solche erfahrende Individuen gewesen sein m\u00f6gen. Der \u00bbgeringste Wurm\u00ab ist als muthma\u00dflicher Ahnherr des Menschen und also auch als Vorl\u00e4ufer menschlicher Erfahrung und Erkenntniss vollkommen ausreichend. Man sieht, \u00fcber die speciellen Probleme der Descen-denztheorie, dar\u00fcber oh polyphyletische oder monophyletische Entwicklung anzunehmen sei u. dergl., macht sich diese empiriokritische Verwerthung der Entwicklungstheorie keine Scrupel. Die allgemeine begriffliche Feststellung der Descendenz gen\u00fcgt ihr offenbar, um jedes beliebige Thierwesen der Urzeit, gleichg\u00fcltig wie und wo es Vorkommen mochte, als \u00bbStammvater\u00ab des heutigen Menschen gelten zu lassen. Hier entsteht nun freilich die Frage: was hilft uns alle Descendenz, selbst wenn wir sie \u00fcber alle Grenzen der naturwissenschaftlich einigerma\u00dfen haltbaren Abstammungs- und Verwandtschaftsverh\u00e4ltnisse hinaus erweitern, so lange sich diese Descendenz nicht mit einer Tradition verbindet, die, wenn nicht jeden einzelnen Erfahrungsinhalt von Generation zu Generation fortpflanzt, so doch im ganzen eine gewisse Continuit\u00e4t der Erfahrung verb\u00fcrgt? Denn nur wo diese vorhanden ist, wird man doch mit einigem Rechte sagen k\u00f6nnen, es seien empirische Principalcoordinationen vorhanden, die sich von irgend einem Zeitpunkte der Vergangenheit an in unsere gegenw\u00e4rtige Erfahrung fortsetzten, so dass es erlaubt sei, diese gegenw\u00e4rtige Erfahrung selbst als die Fortsetzung jener vormenschlichen Erfahrungen zu betrachten und demnach in entsprechendem Ma\u00dfe die Annahme der Existenz von Erfahrungsobjecten nach r\u00fcckw\u00e4rts zu erweitern. Was hilft es denn, wenn irgend einmal und irgendwo thierische Wesen mit richtiger Principalcoordination gelebt haben sollten, die uns zwar, wenn die Bedingungen g\u00fcnstige waren \u2014 was bekanntlich selten zutraf \u2014 in Versteinerungen erhalten sein m\u00f6gen, von denen aber keine lebendige Ueberlieferung von Geschlecht zu Geschlecht, ja vielleicht nicht einmal ein continuirlicher geographischer Zusammenhang bis zu uns her\u00fcberreicht? Solche von uns im psychologischen Sinne absolut isolirte thierische \u00bbUrahnen\u00ab, m\u00f6gen sie auch Bewohner derselben Erde gewesen sein, sind f\u00fcr die Frage der \u00bbPrincipalcoordination\u00ab an sich ebenso gleichg\u00fcltige Objecte wie irgend welche","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n381\nGranite oder sonstige Urgesteine, die als stumme Zeugen urweltlicher Ereignisse bis auf unsere Tage herab ausgedauert haben m\u00f6gen. Offenbar ist es aber durchaus die Meinung, eine solche continuirliche Tradition f\u00fcr die Ausdehnung \u201eder Erfahrung \u00fcber die ihr direct gesetzten Grenzen sei in Wirklichkeit anzunehmen. Denn einen andern Sinn kann doch die Forderung, es sollten die \u00bbausgestorbenen Geschlechter einfach wie die verstorbenen Einzelindividuen einer und derselben, sich fort und fort geschlechtlich erg\u00e4nzenden Familie\u00ab betrachtet werden, nicht wohl haben. Nun kann nat\u00fcrlich eine solche Forderung sehr leicht erhoben werden. Ob sie aber in der Welt der wirklichen Dinge erf\u00fcllt gedacht werden kann, das ist eine andere Frage. Oder vielmehr, es ist gar keine Frage, dass es sich hier um eine empiriokritische Hypothese handelt, die weder empirisch noch kritisch m\u00f6glich ist. Dass die heutige menschliche Erfahrung eine directe Fortsetzung der Erfahrungen sei, die dereinst im Anfang der Existenz thierischer Gesch\u00f6pfe der \u00bbniederste Wurm\u00ab in sich aufge-sammelt hat, das ist in der That ein so abenteuerlicher Gedanke, dass dagegen die Einf\u00fchrung des alten scholastischen H\u00fclfsbegriffs der Potentia noch als ein verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig unschuldiger Kunstgriff erscheint.\nDie eigenth\u00fcmlichen H\u00fclfsbegriffe und H\u00fclfshypothesen, zu denen so das Princip der Principalcoordination Anlass gibt, sobald man sich bem\u00fcht es mit dem\u2019 Standpunkte naturwissenschaftlicher Er-fahrungskenntniss in Einklang zu bringen, bleiben \u00fcbrigens auch insofern belehrend, als diese Begriffe und Hypothesen die Unhaltbarkeit des Princips erst recht ins Licht setzen. Alle die Schwierigkeiten, die der Empiriokriticismus in der von der Naturwissenschaft postulirten Annahme einer Ausdehnung der Existenz der Erfahrungsobjecte und damit auch indirect der Erfahrung selbst \u00fcber alle Grenzen unmittelbarer menschlicher Erfahrung hinaus findet, und die er auf jenen merkw\u00fcrdigen Umwegen zu umgehen oder zu beseitigen sucht, \u2014 alle diese Schwierigkeiten sind leere Trugbilder. Denn der Naturwissenschaft selbst liegt der Gedanke an eine untrennbare Zusammengeh\u00f6rigkeit des erfahrenden Individuums und seiner Umgebung durchaus ferne. Vielmehr macht sie \u00fcberall schon bei der aus der directen Beobachtung entspringenden Erfahrung, im geraden Gegens\u00e4tze zur sogenannten Principalcoordination, von dem Princip der","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nW. Wundt.\nAbstraction von dem Subjecte und damit \u00fcberhaupt der Abstraction von jedem hinzugedachten Zuschauer Gebrauch. Eine solche Abstraction ist aber hinwiederum nur deshalb m\u00f6glich, weil jenes Hinzudenken des erfahrenden Individuums zu jedem Erfahrungsinhalt, das die empiriokritische in Uebereinstimmung mit der immanenten Philosophie annimmt, \u00fcberhaupt eine empirisch nicht begr\u00fcndete Voraussetzung ist, die aus der falschen Vermengung des Inhaltes der wirklichen Erfahrung mit der Reflexion \u00fcber diese hervorgeht ').\nb. Einw\u00e4nde gegen den Causalbegrif f.\nIn der neueren Naturwissenschaft begegnet man nicht ganz selten der Aeu\u00dferung, das Causalprincip sei zwar m\u00f6glicher Weise ein f\u00fcr eine gewisse Stufe des Denkens n\u00fctzliches H\u00fclfsmittel gewesen; nunmehr aber habe es seine Dienste gethan und sei entbehrlich geworden. Denn man thue gut sich statt seiner der concreteren Principien zu bedienen, die sich f\u00fcr die heutige Naturforschung h\u00fclfreich erweisen, wie des Princips der Energie, der mechanischen Principien. Oder noch besser sei es, einfach das thats\u00e4chliche Verhalten der Dinge zu beschreiben, das sich jedesmal hinter jenem abstracten Begriff verberge. So bemerkt Mach in seinem lehrreichen Buche \u00fcber die Entwicklung der Mechanik*: ' \u00bbIn der Natur gibt es keine Ursache und keine Wirkung. Die Natur ist nur einmal da\u00ab.\u00b0 Regelm\u00e4\u00dfige Verkn\u00fcpfungen zwischen zwei Ereignissen A und B \u00bbexistiren nur in unserer Abstraction, die wir zum Zweck der Nachbildung der Thatsachen vornehmen. Ist uns eine Thatsache gel\u00e4ufig geworden, so bed\u00fcrfen wir dieser Hervorhebung der zusammenh\u00e4ngenden Merkmale nicht mehr, wir machen uns nicht mehr auf das Neue, Auffallende aufmerksam, wir sprechen nicht mehr von Ursache und Wirkung. Die W\u00e4rme ist die Ursache der Spannkraft des Dampfes. Ist uns das Verh\u00e4ltniss gel\u00e4ufig geworden, so stellen wir uns den Dampf gleich mit der zu seiner Temperatur geh\u00f6rigen Spannkraft vor. Die S\u00e4ure ist die Ursache der R\u00f6the der Lackmustinctur. Sp\u00e4ter geh\u00f6rt aber diese R\u00f6thung unter die Eigenschaften der S\u00e4ure\n1)\tVgl. Art. I, Philos. Stud. XII, S. 343, und Art. II, ebend. XIII, S. 43f.\n2)\tMach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig 1883. S. 455.","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n383\nMan sieht leicht, dass diese Auffassung mit dem Princip der \u00bbOeko-nomie des Denkens\u00ab und mit dem Postulat der \u00bbreinen Beschreibung\u00ab eng zusammenh\u00e4ngt, c Nach jenem hat der Causalbegriff so lange eine Berechtigung, als er das Zusammendenken zweier regelm\u00e4\u00dfig verbundener Thatsachen erleichtert. In dem Augenblick, wo dieses Zusammendenken hinreichend durch Gewohnheit befestigt ist, wird er \u00fcberfl\u00fcssig : wir denken dann die Thatsachen einfach als zusammenbestehend, oder die eine als eine \u00bbEigenschaft\u00ab der andern. Die reine Beschreibung aber findet von vornherein nur Thatsachen vor, die verbunden sind oder nicht verbunden sind, nirgends eine \u00bbCausalit\u00e4t\u00ab als einen besonderen Gegenstand, der beschrieben werden k\u00f6nnte.\nWie der Empiriokriticismus die beiden Forderungen der Oekonomie des Denkens und der blo\u00dfen Beschreibung in sein philosophisches Programm aufgenommen hat, so hat er sich nun auch die Abneigung gegen den Begriff der Causalit\u00e4t zu eigen gemacht. Doch ist hier so wenig wie dort die Durchf\u00fchrung eine ganz gleichm\u00e4\u00dfige, sondern die Aeu\u00dferungen schwanken zwischen unbedingter Ablehnung und bedingter, auf gewisse Gebiete eingeschr\u00e4nkter Zulassung hin und her; und namentlich nimmt Avenarius selbst in dem Sinne eine mittlere Stellung ein, als er zwar den Begriff der Causalit\u00e4t \u00fcberall \u00bbausschaltet\u00ab, daf\u00fcr aber gewisse andere Begriffe, wie \u00bbAbh\u00e4ngigkeit, Bedingung, Function\u00ab, einf\u00fchrt, die sich nur durch ihre abstractere, rein logische Bedeutung von jenem unterscheiden.\nBetrachtet man nun die Causalit\u00e4t, wie es Mach an der oben angef\u00fchrten Stelle thut, als einen Begriff, der f\u00fcr eine fr\u00fchere Stufe des Denkens seine Berechtigung gehabt habe, f\u00fcr unsere heutige Weltauffassung aber hinf\u00e4llig geworden sei, und sieht man seine Bedeutung f\u00fcr jene fr\u00fchere Stufe darin, dass er auf das \u00bbNeue, Auffallende\u00ab des Zusammenhangs gewisser Erscheinungen aufmerksam mache, so liegt es nahe genug, jenen Begriff als ein Ueberlebniss aus der Denkweise des \u00bbAnimismus\u00ab aufzufassen, in der \u00bbUrsache\u00ab einen in den Dingen verborgenen \u00bbGeist\u00ab zu sehen, der auf irgend eine geheimnissvolle Weise die Wirkung hervorbringen solle, und so die Causalit\u00e4t zu jenen \u00bbIntrojectionen\u00ab zu rechnen, in deren v\u00f6lliger Beseitigung die endg\u00fcltige Aufgabe der Wissenschaft bestehen soll. In der That bemerkt Mach an verschiedenen Stellen, der Begriff","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nW. Wandt.\nder \u00bbUrsache\u00ab habe f\u00fcr ihn \u00bbeinen stark fetischistischen Zug\u00ab1)\" Wenn man sich die Art und Weise vergegenw\u00e4rtigt, wie die Causali-t\u00e4tstheorie noch heute in manchen sonst mit Recht gesch\u00e4tzten Darstellungen der Logik behandelt wird, z. B. jene immer noch nicht verschwundenen scholastischen Er\u00f6rterungen der Fragen, ob die Ursache, wie ihr Name sage, immer eine \u00bbSache\u00ab bedeute, oder ob sie auch gelegentlich ein Zustand oder Vorgang sein k\u00f6nne, ob sie mit ihrer Wirkung gleichzeitig sei oder ihr vorangehe, oder ob nicht vielleicht sowohl das eine wie das andere m\u00f6glich sei \u2014 wenn man diese und \u00e4hnliche Er\u00f6rterungen, seihst in einem Werke wie in Mill\u2019s Logik liest, Er\u00f6rterungen die von der ganzen seit den Zeiten Locke\u2019s und Hume\u2019s in Naturwissenschaft und Psychologie vor sich gegangenen, f\u00fcr die logische Feststellung des Begriffs ma\u00dfgebenden Wandlung so gut wie unber\u00fchrt zu sein scheinen, dann kann man sich freilich nicht sonderlich wundern, wenn ein Physiker von heute in solchen Dingen noch einen fetischistischen Hauch versp\u00fcrt. F\u00fcr denjenigen aber, der die Frage von einem allgemeineren erkenntnisstheoretischen Standpunkte aus betrachtet, Hegt die Sache doch etwas anders. Von ihm wird man wohl verlangen d\u00fcrfen, dass er die Begriffe \u00bbUrsache und Wirkung\u00ab nicht einer hehehigen Logik, die ihm gerade in die H\u00e4nde f\u00e4llt, oder \u00fcberhaupt ausschlie\u00dflich den Discussionen, die dar\u00fcber in der Philosophie vergangener Zeiten stattgefunden haben, entnehme, sondern dass er sich die Entwicklung vergegenw\u00e4rtige, die jene Begriffe thats\u00e4chlich in ihren wissenschaftlichen Anwendungen zur\u00fcckgelegt haben. Und dabei darf man sich dann freilich wieder nicht damit begn\u00fcgen, nachzusehen, wo etwa die W\u00f6rter \u00bbUrsache und Wirkung\u00ab Vorkommen, sondern es handelt sich vor allem darum, festzustellen, unter welchen Gesichtspunkten heute die empirischen Beziehungen betrachtet werden, die zur Einf\u00fchrung jener Begriffe Anlass gaben, und oh und in welchem Sinne dadurch die Begriffe selbst sich gewandelt haben. Denn hier wie in so vielen andern F\u00e4llen ist nicht zu vergessen, dass man von einem Princip factisch Gebrauch machen kann, ohne es mit einem besonderen Namen zu\n1) Mach, Das Princip der Vergleichung in der Physik, Popul\u00e4r-wissenschaftliche Vorlesungen, S. 269. Vgl. auch desselben Verf.\u2019s Principien der W\u00e4rmelehre, S. 430 ff.","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n385\nnennen, und namentlich ohne ihm denjenigen Namen zu gehen, der ihm in seiner ahstracten Bedeutung zukommt. Die Frage, ob und in welchem Sinne sich die heutige Naturwissenschaft des Causal-princips bedient, ist deshalb keineswegs mit der andern identisch, ob und wo man die Ausdr\u00fccke \u00bbUrsache und Wirkung\u00ab anwendet. Das letztere beruht schlie\u00dflich auf zuf\u00e4lligen Redegewohnheiten, die hier, wie in so vielen andern F\u00e4llen, m\u00f6glicher Weise auf einer fr\u00fcheren Begriffsstufe stehen geblieben sein k\u00f6nnen, w\u00e4hrend die wissenschaftliche Anwendung des Begriffs bereits eine andere geworden ist. So kann es kommen, dass man sich bald thats\u00e4chlich eines Begriffs bedient, ohne ihn ausdr\u00fccklich zu benennen, bald aber auch das einen solchen Begriff ausdr\u00fcckende Wort gelegentlich noch in einer wissenschaftlich obsolet gewordenen Bedeutung gebraucht. Die oben angef\u00fchrten Beispiele Mach\u2019s sind in der That Belege f\u00fcr diese beiden F\u00e4lle einer stillschweigend ausgef\u00fchrten Causalbetrachtung einerseits und eines wissenschaftlich unzul\u00e4ssigen, aus popul\u00e4ren Redegewohnheiten her\u00fcbergenommenen Sprachgebrauchs anderseits. Ich kann mir die Beziehung zwischen W\u00e4rme und Spannkraft des Dampfes so fest verbunden denken, dass mir sofort mit dem einen Begriff auch der andere gegeben zu sein scheint. Aber ich muss mir diese Be-* ziehung immer als eine Function denken, bei der die W\u00e4rme das bedingende, die Spannkraft das abh\u00e4ngige Glied ist, nicht etwa? umgekehrt: eine solche Function auf physikalische Vorg\u00e4nge angewandt ist aber nichts anderes, als eben das was wir, um solche empirische Functionsbeziehungen von andern, z. B. von rein mathematischen, zu unterscheiden, Causalit\u00e4t nennen. Wenn ich ferner j sage, die S\u00e4ure sei die Ursache der R\u00f6thung der Lackmustinctur, so entspricht dieser Ausdruck einer Redeweise, die ganz allgemein irgendwie regelm\u00e4\u00dfig verbundene Thatsachen in das Verh\u00e4ltniss von Ursache und Wirkung bringt. Nun ist zweifellos in der philosophischen Causalit\u00e4tstheorie viel Verwirrung dadurch angerichtet worden, dass man es f\u00fcr die Aufgabe der Erkenntnisstheorie hielt, diese ungenauen und mannigfach wechselnden Ausdrucksweisen des gew\u00f6hnlichen Lebens zu interpretiren. Aber heute darf man doch billig an den Logiker so gut wie an den Naturforscher die Forderung stellen, dass er sich auch hei diesem Begriff an die exacten Anwendungen halte, die die Wissenschaft von ihm macht. In diesem Sinne ist der Satz","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nW. Wundt.\n\u00bbdie S\u00e4ure verursacht die R\u00f6thung der Lackmustinctur\u00ab lediglich ein ungenauer summarischer Ausdruck f\u00fcr die chemischen Vorg\u00e4nge, die sich beim Hinzutritt der S\u00e4ure zum Lackmus entwickeln und den Uebergang der blau gef\u00e4rbten in eine roth gef\u00e4rbte Verbindung bewirken. Wenn dann aber der Chemiker in Folge der bei solchen von ihm fortw\u00e4hrend beobachteten Causalbeziehungen eintretenden Verdichtung des Denkens die R\u00f6thung des Lackmus einfach unter die \u00bbEigenschaften\u00ab der S\u00e4ure rechnet, so ist das erst recht ein ungenauer Ausdruck, da in einem einigerma\u00dfen exacten Sinne als \u00bbEigenschaften\u00ab eines K\u00f6rpers nur solche Pr\u00e4dicate gelten k\u00f6nnen, die ihm dauernd als ihm selbst angeh\u00f6rige Merknile zukommen, nicht Wirkungen, die der K\u00f6rper erst aus\u00fcbt oder empf\u00e4ngt, wenn er unter bestimmte Bedingungen versetzt wird. Es ist eine Eigenschaft der Erde, ann\u00e4hernd ein Rotationsellipsoid zu sein. Es ist aber keine Eigenschaft der Erde, dereinst einmal in einen Zustand des Temperaturgleichgewichts \u00fcberzugehen. Denn auch dann, wenn man diese Folgerung auf einen k\u00fcnftigen Endzustand als eine vollkommen bindende ansieht, bleibt der Eintritt des Zustandes eine unter bestimmten Bedingungen eintretende Wirkung, gerade so gut wie die R\u00f6thung der Lackmustinctur eine unter bestimmten Bedingungen eintretende chemische Wirkung, aber keine \u00bbEigenschaft\u00ab der S\u00e4ure seihst ist.\nWas ist denn aber nun, wenn man von solchen durch den popul\u00e4ren Gebrauch der Begriffe Ursache und Wirkung verschuldeten Schwankungen des Sprachgebrauchs ahsieht und von den exacten Anwendungen des Causalprincips ausgeht, der wirkliche Inhalt dieses Princips? Mach seihst hat darauf in einer vollkommen zutreffenden Weise geantwortet, indem er die causale Verkn\u00fcpfung der Erscheinungen an einem exacteren Beispiele er\u00f6rtert. \u00bbDem gewandten Artilleristen\u00ab, sagt er, \u00bbscheint die bestimmte Wurfbahn mit Noth-wendigkeit an die Anfangsgeschwindigkeit und Richtung des Projectiles gekn\u00fcpft\u00ab. Und er f\u00fchrt dann diese Nothwendigkeit mit Recht darauf zur\u00fcck, dass f\u00fcr uns Anfangsgeschwindigkeit und Anfangsrichtung zum \u00bbErkenntnissgrund\u00ab werden, \u00bbaus dem sich die Bahnelemente als logisch nothwendige Folge ergehen\u00ab, ohne dass wir daran denken, \u00bbdass das Bestehen jener Bedingung einfach durch die Erfahrung gegeben ist\u00ab1). In diesen Worten hegt, wie mir scheint,\n1) Mach, Die Principien der W\u00e4rmelehre, S. 432.","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n387\nnicht blo\u00df eine im wesentlichen zutreffende Definition der Causalit\u00e4t, sondern die stillschweigende Anerkennung ihrer Berechtigung, ja ihrer Unentbehrlichkeit, damit aber auch die schlagendste Widerlegung aller der Einw\u00e4nde, die Mach seihst an andern Stellen dieses Buchs und anderer B\u00fccher gegen sie beibringt, \u2014 es sei denn dass man diese Einw\u00e4nde nur auf die falschen, aus fr\u00fcheren Entwicklungsstufen des Begriffs und aus der popul\u00e4ren Redeweise \u00fcbernommenen Anwendungen beziehen will. In der That, wo der Causalbegriff in exactem Sinne gebraucht wird, da bedeutet die Ursache einen Erkennt-nissgrund und die Wirkung die aus diesem Grund hervorgehende Folge. Und wenn man gleichwohl das Causalprincip noch neben dem Princip von Grund und Folge in einer relativ selbst\u00e4ndigen Bedeutung bestehen l\u00e4sst, so geschieht das, um eben darauf hinzuweisen, dass es schlie\u00dflich keine \u00bblogische Nothwendigkeit\u00ab, sondern die Erfahrung ist, auf der die Verkn\u00fcpfung beruht. Ist so das Causalprincip gar nichts anderes als die Anwendung des logischen Satzes vom Grunde auf die Erfahrung, und wird dieser Satz als ein allgemeing\u00fcltiges Princip unseres Denkens anerkannt, wie es in den oben angef\u00fchrten Worten Mach\u2019s ausgedr\u00fcckt zu sein scheint, so ist nun damit zugleich gerechtfertigt, dass auch in solchen F\u00e4llen, wo wir noch nicht im Stande sind regelm\u00e4\u00dfig verbundene Erscheinungen in ein Verh\u00e4ltniss zu bringen, das sich dem von Erkenntnissgrund und Folge vollst\u00e4ndig unterordnen lie\u00dfe, oder wo sogar Erscheinungen uns zun\u00e4chst ohne die Glieder gegeben sind, denen sie mit zureichender Sicherheit als die zugeh\u00f6rigen Folgen zuzuordnen w\u00e4ren, wir dennoch die Aufsuchung solcher Glieder als eine von der empirischen Wissenschaft zu erf\u00fcllende Forderung betrachten. Alle diese Eigenschaften zeigen aber, dass das Causalprincip, so nahe es auch mit dem Satz von Grund und Folge zusammenh\u00e4ngt, doch mit R\u00fccksicht auf seinen empirischen Inhalt und auf die an diesen Inhalt gekn\u00fcpften Forderungen an die empirische Forschung als ein eigenartiges Princip anerkannt werden muss.\nBei diesem Punkte treffen jedoch die Ausf\u00fchrungen Mach\u2019s mit den Ideen zusammen, mit denen der Empiriokriticismus \u00fcberall seine \u00bbAusschaltung\u00ab der Causalit\u00e4t als eines angeblich animisti-schen Ueherlebnisses motivirt. Hierbei ist es ihm n\u00e4mlich in Wahrheit nicht im mindesten um eine Elimination des wirklichen\n'Wuiidi', Philos. Studien XIII\n26","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nW. Wundt.\nInhaltes dieses Begriffs zu thun, sondern lediglich um eine Ersetzung durch andere Begriffe, von denen man meint, dass ihnen jener ani-mistische oder fetischistische Zug nicht anhafte. Das sind die Begriffe der Abh\u00e4ngigkeit, Bedingung, auch allenfalls des Grundes. Besonders aber ist es der Begriff der \u00bbFunction\u00ab, dem man wegen seines mathematischen Ursprungs die Kraft zuzuschreiben scheint, \u00fcberall da, wo man sich seiner bedient, den Geist des exacten Denkens um sich zu verbreiten. Gerade im letzteren Fall stellt sich dann freilich bei n\u00e4herer Betrachtung heraus, dass dieser gew\u00fcnschte Erfolg durchaus nicht erreicht wird, sondern dass es sich im besten Fall um eine ver\u00e4nderte Bezeichnung handelt, die den Nachtheil hat, sachliche Unterschiede zu Gunsten einer Empirisches und abstract Logisches vermengenden Uniformit\u00e4t des Ausdrucks verschwinden zu machen, w\u00e4hrend im ung\u00fcnstigen Fall Begriffe und Betrachtungsweisen, die auf mathematischem Gebiet ihr gutes Recht haben, auf das Gebiet der empirischen Forschung \u00fcbertragen werden, wo ihnen dieses Recht nicht zukommt.\nEinen charakteristischen Beleg f\u00fcr diese falsch angewandte mathematische Betrachtungsweise bietet eine Abhandlung von J. Petzoldt \u00fcber \u00bbdas Gesetz der Eindeutigkeit\u00ab1), die nach der Ansicht des Verfassers dazu beitragen soll, des angeblich \u00bbunklaren\u00ab und \u00bbunbrauchbar gewordenen\u00ab Oausalhegriffs mittelst eines andern, klareren und bestimmteren Begriffs ledig zu werden. Ein solcher soll der Begriff der \u00bbEindeutigkeit\u00ab sein. Das Wesen des an Stelle des Causal-gesetzes einzuf\u00fchrenden \u00bbGesetzes des Eindeutigkeit\u00ab wird aber darin gesehen, dass es immer m\u00f6glich sein m\u00fcsse, \u00bbf\u00fcr irgend einen Vorgang Bestimmungsmittel zu finden, durch die er allein festgelegt wird\u00ab, so dass er sich dadurch zugleich von jedem andern Vorgang unterscheide. Nun ist gerade dies stets als der Inhalt des Causal-princips auf physikalischem Gebiete angesehen worden, dass nach ihm jedes Geschehen aus seinen Bedingungen in vollkommen eindeutiger Weise hervorgehe, daher, wo eine exacte mathematische For-mulirung eines Causalzusammenhanges m\u00f6glich ist, diese niemals anders als in der Form einer eindeutigen Function geschehen kann. Die ganze Umformung, die hei der Einf\u00fchrung des so genannten\n1) Vierteljahrsschrift f\u00fcr wissensch. Philos. XIX, S. 146 ff.","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n389\n\u00bbGesetzes der Eindeutigkeit\u00ab mit dem Causalprincip vorgenommen wird, besteht also darin, dass dieses mathematische H\u00fclfsmittel f\u00fcr den Ausdruck desselben zum eigensten Inhalt des Gesetzes gemacht wird. Das w\u00fcrde ziemlich gleichg\u00fcltig sein, wenn es nicht sofort zwei NaChtheile mit sich f\u00fchrte. Erstens wird dadurch die Grenze zwischen den sonstigen, z. B. den geometrischen Anwendungen und dieser physikalischen des Begriffs der eindeutigen Function in unzweckm\u00e4\u00dfiger Weise verwischt; und zweitens gewinnt das Princip einen speculativ-metaphysischen Charakter, welcher einerseits dem auf der logischen Forderung eines Zusammenhangs unserer Erkenntnissinhalte, anderseits aber dem auf der Erfahrung ruhenden Causalprincip fremd ist.\nDieser speculative Charakter, der mit der Substitution eines mathematischen an die Stelle eines physikalisch-empirischen Princips unvermeidlich vermacht ist, findet schon in der Begr\u00fcndung des \u00bbGesetzes der Eindeutigkeit\u00ab seinen Ausdruck. Es soll ein nothwen-diges Gesetz sein, weil wir ohne seine Annahme \u00bbin die gr\u00f6\u00dfte geistige Unruhe\u00ab, ja \u00bbin die gr\u00f6\u00dfte Gefahr wenigstens theilweisen geistigen Untergangs\u00ab gerathen w\u00fcrden u. dergl.1 ) Das sind Gr\u00fcnde, mit denen man sich allenfalls gegen die Zumuthung wehren k\u00f6nnte, anzunehmen, dass zweimal zwei ausnahmsweise auch einmal f\u00fcnf sein sollte, die sich aber einem Princip gegen\u00fcber, das bekanntlich ziemlich lange gebraucht hat, um sich in der Wissenschaft durchzusetzen, und an dessen Feststellung zweifellos der Erfahrung, und zwar nicht einer \u00fcberall auf Schritt und Tritt sich aufdr\u00e4ngenden, sondern einer bereits mit umfassenden H\u00fclfsmitteln ausger\u00fcsteten Erfahrung ein sehr wesentlicher Antheil zukommt, doch etwas seltsam ausnehmen. Der metaphysische Pferdefu\u00df des \u00bbempiriokritischen Standpunktes\u00ab kommt denn auch sofort zu Tage, wenn als die unausbleibliche Folge der als wirklich vorausgesetzten Unbestimmtheit eines Vorganges die \u00bbR\u00fcckbildung und schlie\u00dflich der Untergang von Theilsystemen des Gehirns\u00ab vorausgesagt wird, weil \u00bbunsere h\u00f6chste geistige Existenz, die h\u00f6chstentwickelten Theile des Centralnervensystems ohne die Eindeutigkeit alles Seins und Geschehens gar nicht zu denken w\u00e4ren\u00ab2). Dass Sein und Geschehen, simultane Zust\u00e4nde und auf\nl) A. a. O. S. 168.\nEbena. S. 169.\n26*","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nVV. Wundt.\neinander folgende Ereignisse liier einander vollst\u00e4ndig gleichgestellt werden, die Beziehung auf die Zeitfolge der Vorg\u00e4nge also bei dieser Transformation des Causalbegriffs in den der eindeutigen Function zu einem nebens\u00e4chlichen Bestandtheil wird, entspricht ganz diesem Hin\u00fcberspielen der Begriffe auf ein abstract sp\u00e9culatives Gebiet. Die .Natur ist ja, wie Mach sich ausdr\u00fcckt, \u00bbmit einem Mal da\u00ab. Da man die Ma\u00dfzahl der Zeit durch den Stundenwinkel der Erde, also durch eine r\u00e4umliche Gr\u00f6\u00dfe ersetzt denken kann, so sind die Ausdr\u00fccke: \u00bballe Baumlagen sind Functionen der Zeit\u00ab und: \u00bballe Raumlagen h\u00e4ngen von einander ab\u00ab im Grunde identisch. Ganz im Sinne dieser mathematischen Betrachtungsweise, die zwischen der Anwendung mathematischer Formeln zum Ausdruck empirischer Gesetze und zur Festlegung irgend welcher allgemeiner Beziehungen der Anschauung keinen principiellen Unterschied anerkennt, leugnet denn auch Petzoldt die Thatsache, dass die physikalische Anwendung der mathematischen Symbolik jemals dazu dienen k\u00f6nne, causale Beziehungen in Gleichungen auszudr\u00fccken. Die so genannten Causal-gleichungen bezeichnen nach ihm \u00bbnicht verschiedene Thatsachen\u00ab, die irgendwie causal mit einander verkn\u00fcpft w\u00e4ren, sondern \u00bbeinen einzigen Vorgang\u00ab, und sie entsprechen demgem\u00e4\u00df jedesmal nur \u00bbeinem einzigen Moment\u00ab1).\nDiese Behauptung widerstreitet so augenf\u00e4llig der unmittelbaren physikalischen Bedeutung, die den verschiedenen \u00bbBestimmungsst\u00fccken\u00ab einer wahren Causalgleichung zukommt, dass sie eigentlich nur verst\u00e4ndlich wird, wenn man sich erinnert, dass im Lichte des empirio-kritischen Gedankensystems eben \u00fcberhaupt die concrete Bedeutung der mathematischen Symbole hinter ihren abstract arithmetischen und geometrischen Beziehungen verschwindet. Weil die Gleichung und allenfalls auch das geometrische Gebilde, das durch sie ausgedr\u00fcckt werden kann, mit einem Mal in allen ihren Bestandtheilen vorhanden sind, deshalb soll dies auch von der physikalischen Bedeutung einer Gleichung gelten, \u2014 eine Idee, die nat\u00fcrlich nur m\u00f6glich ist, wenn man zuvor von den realen Anl\u00e4ssen, die zur Aufstellung physikalischer Gleichungen f\u00fchren, abstrahirt hat, indem man dem realen Zusammenhang der Erscheinungen den formalen Begriff der eindeu-\n1) A. a. O. S. 157.","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n391\ntigen Zuordnung der Bestimmungsst\u00fccke einer Function substituirte. Am deutlichsten erhellt die Willk\u00fcrlichkeit dieses Beginnens bei denjenigen physikalischen Gleichungen, die ich an einer andern Stelle als \u00bbZustandsgleichungen\u00ab bezeichnet habe1). Das Energieprincip verdankt bekanntlich einen Theil seines Wertbes dem Umstande, dass es Energiegr\u00f6\u00dfen zu einander in Beziehung zu setzen gestattet, die ganz verschiedenen Stadien eines in sich zusammenh\u00e4ngenden com-plexen Naturvorganges angeh\u00f6ren, ohne dass es n\u00f6thig ist, die s\u00e4mmt-lichen Zwischenstadien zu kennen, die zwischen dem ersten und dem zweiten Energiezustande liegen, da unter Umst\u00e4nden die Wege, auf denen ein System aus einem Zustande A in einen andern Zustand B \u00fcbergef\u00fchrt worden ist, verschiedene sein k\u00f6nnen, ohne dass man bei der Formulirung der Energiegleichung darauf R\u00fccksicht zu nehmen braucht. Ein chemischer Verbindungsprocess z. B., bei dem vor der Bildung der Verbindung die vorr\u00e4thige chemische Energie = U', nach eingetretener Verbindung == \u00fc ist, und der mit der Entwicklung einer W\u00e4rmemenge W verbunden war, ohne dass eine weitere Energieform in merklicher Menge auftrat, kann, wenn man ihn als einen Energievorgang betrachtet, dargestellt werden durch die Gleichung:\nTT = W + U.\nDer Zustand, der durch die Gr\u00f6\u00dfe U' bestimmt wird, kann mit dem Zustand, dem die Werthe W -f- U entsprechen, niemals zeitlich zusammenfallen; denn zwischen beiden hegt die Transformation eines Theils der Energie V in W. Wenn man also die Gr\u00f6\u00dfen W, U und W nicht blo\u00df als abstracte Zahlen betrachtet, sondern zugleich als Symbole, die realen Zust\u00e4nden in der Natur entsprechen, so hat die Behauptung, dass TT, \u00fc und W gleichzeitig gegebene Bestimmungsst\u00fccke einer einzigen Function seien, absolut gar keinen Sinn. Nat\u00fcrlich k\u00f6nnen nun aber auch diese Gleichungen dem allgemeinen Algorithmus der arithmetischen Operationen unterworfen werden, so dass nicht mehr die eine Seite der Gleichung die Bedeutung des Grundes, die andere die der causalen Folge hat, sondern Bestimmungsst\u00fccke beider auf beiden Seiten anzutreffen sind. So z. B. wenn wir der obigen Gleichung die Form geben:\nU' \u2014 U \u2014 W.\n1) Ueber psychische Causalit\u00e4t etc., diese Studien, X, S. 17.","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nW. Wundt.\nSelbstverst\u00e4ndlich kann jedoch durch solche \u00e4u\u00dfere arithmetische Transformationen die Gleichung nicht aufh\u00f6ren die Bedeutung einer \u00bbZustandsgleichung\u00ab zu haben. In der That bleibt der Sinn der Gleichung in beiden F\u00e4llen insofern ein ganz \u00fcbereinstimmender, als es sich hier wie dort darum handelt, zwei Zust\u00e4nde eines und desselben Systems, die irgendwie zeitlich getrennt, aber causal verkn\u00fcpft sind, zu einander in Beziehung zu setzen. Nur der Gesichtspunkt der Vergleichung ist ein anderer geworden, da man die zweite Form naturgem\u00e4\u00df dann bevorzugen wird, wenn nicht die Energiezust\u00e4nde \u00fcberhaupt im Anfang und am Ende des Processes, sondern die Mengen vorr\u00e4thiger chemischer Energie hier und dort verglichen werden sollen.\nIn meiner Abhandlung \u00bb\u00fcber psychische Causalit\u00e4t\u00ab habe ich bemerkt, dass, wenn es blo\u00df Zustandsgleichungen g\u00e4be, durch diese das Postulat der \u00bbAbgeschlossenheit der Naturvorg\u00e4nge\u00ab nicht noth-wendig erf\u00fcllt gedacht werden m\u00fcsste, weil es dann immer m\u00f6glich w\u00e4re, sich ausl\u00f6sende Kr\u00e4fte zu denken, die, wie z. B. ein trans-cendenter Wille, selbst nicht der Naturcausalit\u00e4t angeh\u00f6rten; dass aber diese Voraussetzung hinf\u00e4llig werde, sobald man, was sich in allen F\u00e4llen, wo eine zureichende Verfolgung der Processe m\u00f6glich sei, best\u00e4tigt finde, voraussetze, die zwischen den zwei verglichenen Zust\u00e4nden hegenden Processe k\u00f6nnten s\u00e4mmtlich durch ein System von Transformationsgleichungen dargestellt werden1). Das erhellt deutlich an dem von mir gebrauchten Beispiel aus dem Gebiet der Mechanik. Die Gleichung \\mvi \u2014 ph kann als eine Zustandsgleichung auf gefasst werden, wenn man den Vorgang der Erhebung des K\u00f6rpers vom Gewichte p in die H\u00f6he h und die im Moment des Falls auf die Erde gewonnene lebendige Kraft \\mvi- als zwei Zust\u00e4nde betrachtet, von denen der eine auf den andern in Bezug auf die Gr\u00f6\u00dfe des vorhandenen Energiewerthes causal zur\u00fcckgef\u00fchrt werden kann. Auch in diesem Fall ist es, wie in dem obigen Beispiel des chemischen Energiewechsels, gleichg\u00fcltig, wie der Uebergang\n1) A. a. O. S. 30f. Diese Bemerkung scheint Petzoldt dahin missverstanden zu haben, als wenn ich auf Grund dieser Beschaffenheit der Zustandsgleichungen \u00fcberhaupt die Forderung, dass die Naturcausalit\u00e4t eine in sich abgeschlossene sei, f\u00fcr keine nothwendige hielte (S. 158). Wenigstens erweckt seine Darstellung in dem Leser den Verdacht, dass dies der Fall sein m\u00f6chte.","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\t393\naus dem einen in den andern Energiezustand erfolgt ist: der K\u00f6rper kann z, B. ebenso gut auf einer schiefen Ebene herabgerollt wie vertical gefallen sein. Zugleich zeigt sich aber in diesem Falle deutlich, dass auch die Zustandsgleichung einen in sieh geschlossenen stetigen Uebergang von Energien voraussetzt. Denn die Distanzenergie ph und die Bewegungsenergie\tsind nur deshalb einander gleich,\nweil bei der Umwandlung jener in diese unmittelbar in jedem Moment ein der verschwundenen Distanzenergie \u00e4quivalenter Werth von Bewegungsenergie erzeugt wird, mit anderen Worten weil die Auffassung der Gleichung \u00a3mvi=ph als einer Zustandsgleichung, in welcher beide Seiten zeitlich getrennte Energiezust\u00e4nde bedeuten, nur auf Grund der urspr\u00fcnglicheren Bedeutung der n\u00e4mlichen Gleichung, nach der sie den unmittelbaren Uebergang von Distanz- in Bewegungsenergie ausdr\u00fcckt, m\u00f6glich ist. Diese letztere Bedeutung ist ohne weiteres aus ihrer urspr\u00fcnglichen Form\nh\nm ldh\\2\tn \u201e\nr \u2022 (31) =P \u25a0dh\n0\nherauszulesen, in welcher der stetige Uebergang der Distanz- in Bewegungsenergie bei der Fallbewegung des K\u00f6rpers ausgedr\u00fcckt ist. Wenn nun Petzoldt behauptet, diese urspr\u00fcngliche Bedeutung der Gleichung sei zugleich die einzige, in der sie \u00fcberhaupt angewendet werden d\u00fcrfe, so ist das eine durchaus willk\u00fcrliche Beschr\u00e4nkung. Mathematische Ausdr\u00fccke f\u00fcr irgend welche Beziehungen realer That-sachen sind so lange erlaubt, als sie jene Beziehungen richtig wiedergeben. Wenn ich die Distanzenergie, die einem K\u00f6rper vom Gewichte p durch Erhebung in die H\u00f6he h mitgetheilt wird, numerisch ausdr\u00fccken will, so kann dies nur durch das n\u00e4mliche Product ph geschehen, welches auch umgekehrt die von dem K\u00f6rper beim Fall von der n\u00e4mlichen H\u00f6he verbrauchte Distanzenergie ausdr\u00fcckt. Wenn ich daher gefragt werde, in welcher Relation die bei der Erhebung des K\u00f6rpers geleistete Arbeit zu der von ihm beim Fall entwickelten lebendigen Kraft stehe, so kann ich diese Relation schlie\u00dflich durch keine andere Gleichung ausdr\u00fccken, als durch diejenige, die mir auch die unmittelbare Transformation der n\u00e4mlichen Arbeit in lebendige Kraft oder Bewegungsenergie angibt; und die erste dieser Anwendungen wird nicht hinf\u00e4llig, weil die zweite auch m\u00f6glich ist, oder","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nW. Wundt.\nweil sie sogar diejenige ist, welche der theoretischen Auffindung der Beziehung zwischen beiden Gr\u00f6\u00dfen n\u00e4her liegt. Mathematische Symbole sind H\u00fclfsmittel zum Ausdruck physikalischer Beziehungen, nicht unabh\u00e4ngig existirende Normen, nach denen sich die physikalischen Thatsachen zu richten haben.\nIn der That ist es nichts anderes als diese Verwechselung des arithmetischen Inhalts der Formeln mit ihrer physikalischen Bedeutung, die sich in einem andern Ein wand des gleichen Verfassers gegen die Deutung solcher Gleichungen als physikalischer Causalgleichungen ausspricht. Die beiden Glieder einer solchen Gleichung, also in dem\nobigen Beispiel die Gr\u00f6\u00dfen \\mv't oder ^\nund pk, sollen sich\nauf einen Moment beziehen, und sie seien beide gleichzeitig gegeben. Nun wird ganz gewiss die Bewegungsenergie {m\u00ae* auf einen einzigen Moment bezogen. Dass aber p \u2022 h ebenfalls momentan und zwar im gleicheii Moment gegeben sei, zu dieser Behauptung kann man doch nur kommen, wenn man \u00fcber der arithmetischen die physikalische Bedeutung dieser Symbole gl\u00fccklich vergessen hat, also vergessen hat, dass p \u25a0 h eine geleistete Arbeit bedeutet, d. h. einen physikalischen Vorgang, der vorausgehen muss, und der in dem Momente ab gelaufen ist, nicht aber erst entsteht, f\u00fcr welchen die Bewegungsenergie mv\u00b0i bestimmt wird.\nDas Gleiche gilt von der der mechanischen W\u00e4rmetheorie entnommenen Gleichung, die ich als Beispiel einer \u00bbTransformationsgleichung\u00ab angef\u00fchrt habe:\nd TV= A{dM + d G + d V),\nworin die s\u00e4mmtlichen Differentialgr\u00f6\u00dfen als Differentiale nach der Zeit anzusehen sind, und die den Uebergang einer unendlich kleinen W\u00e4rmemenge dW in innere Molecularbewegung dM, bleibende Aenderung der mittleren Lage der Molek\u00fcle d G und \u00e4u\u00dfere, durch Volum\u00e4nderung geleistete Arbeit dV ausdr\u00fcckt1). Auch hier sollen\n1) Ueber psychische Causalit\u00e4t etc., diese Studien, X, S. 16. Die Polemik gegen den Ausdruck \u00bbunendlich kleine W\u00e4rmemenge\u00ab etc. lasse ich hier bei Seite. Ich habe diesen Ausdruck lediglich der \u00fcblichen, sich durch ihre K\u00fcrze empfehlenden Terminologie der mechanischen W\u00e4rmetheorie entnommen; ich hatte nicht die Absicht, hierbei zugleich im Vor\u00fcbergehen das Grundproblem der Infinitesimalrechnung zu erledigen. Meine Ansicht \u00fcber diese Frage habe ich anderw\u00e4rts\ndargelegt (Logik, II2, 1, S. 223 ff.).","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n395\ndie einzelnen Gr\u00f6\u00dfen alle zusammen einen simultan gegebenen stetigen Vorgang ausdr\u00fccken, und eben deshalb soll es unzul\u00e4ssig sein in der Gleichung selbst einen Ausdruck f\u00fcr ein causales Verh\u00e4ltnis zu sehen. W\u00e4ren Differentialgleichungen Gebilde, die uns fertig \u00fcberliefert w\u00fcrden, so dass wir uns \u00fcber ihre Entstehungsweise keine Rechenschaft geben k\u00f6nnten, so lie\u00dfe sich diese Meinung vielleicht rechtfertigen. Denn so wie die Gleichung da steht, enth\u00e4lt sie in der That nichts von Grund und Folge, sondern einen Ausdruck, der auf einen und denselben Parameter der Zeit bezogen wird. Da aber Differentialgleichungen nicht vom Himmel fallen, so ist auch ihre physikalische Interpretation nur ihrer Entstehungsweise zu entnehmen. Nun besteht das Problem, dem diese Gleichung ihren Ursprung verdankt, darin, dass, wenn man einem K\u00f6rper W\u00e4rme zuf\u00fchrt, Molecularbewegungen, bleibende Lage\u00e4nderungen der Molec\u00fcle, Aenderungen des Gesammtvolums als \u00bbWirkungen\u00ab eintreten. Diesen Gedanken von Grund und Folge, der in dem aufgegebenen Problem enthalten ist, kann auch die Differentialformel nicht beseitigen: er liegt nicht in der Formel selbst, die nat\u00fcrlich auch ein vollkommen zeit- und causalit\u00e4tsloses Geschehen ausdr\u00fccken k\u00f6nnte, sondern in der physikalischen Interpretation, die man ihr geben muss1). Uebrigens\n1) Von jenen F\u00e4llen, in denen der causale Charakter der Gleichungen unmittelbar aus der Interpretation hervorgeht, die physikalisch der in ihnen enthaltenen Functionsform gegeben werden muss, unterscheiden sich dann allerdings Lagrange\u2019s Differentialgleichungen der Bewegung dadurch, dass sich bei ihnen die causale Bedeutung erst aus dem bei ihnen vorausgesetzten Princip der Kr\u00e4fteverbindung ergibt, w\u00e4hrend diese Gleichungen, sobald man sie auf eine einzige, nur eine der Kraftcomponenten darstellende reducirt, ohne weiteres in eine blo\u00dfe Definitionsgleichung f\u00fcr den Begriff der Kraft \u00fcbergehen. (Diese Studien, X, S. 14 f.) Es ist interessant zu sehen, dass dies zugleich der Punkt ist, wo der Versuch, die Mechanik in Kirchhoff\u2019s Sinne als eine \u00bbBeschreibung der Bewegungen\u00ab zu behandeln, nach Kirchhoff\u2019s eigenem Gest\u00e4ndniss scheitert. Denn er sagt, nach der Einf\u00fchrung von Kr\u00e4ftesystemen an Stelle einfacher Kr\u00e4fte sei die Mechanik \u00bbau\u00dfer Stande eine vollst\u00e4ndige Definition des Begriffs der Kraft zu geben\u00ab. Wenn er aber fortf\u00e4hrt, es beruhe dies darauf, \u00bbdass, wie die Erfahrung gezeigt hat, bei den nat\u00fcrlichen Bewegungen sich immer solche Systeme finden lassen, deren Einzelkr\u00e4fte leichter angegeben werden k\u00f6nnen als ihre Resultanten\u00ab, so scheint das keine gl\u00fcckliche Umgehung des Eingest\u00e4ndnisses zu sein, dass eben in einem System von Kr\u00e4ften die Resultante nur aus einem Princip der Kr\u00e4fteverbindung abgeleitet werden kann, das zu den Definitionsgleichungen der Einzelkr\u00e4fte hinzukommen muss. (Kirchhoff, Vorlesungen \u00fcber Mechanik, S. 11 f.)","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nW. Wundt.\nist diese ganze Auseinandersetzung \u00fcber die Gleichzeitigkeit der causal verbundenen Vorg\u00e4nge nur eine neue Variante des alten scholas-stischen Argumentes, Ursache und Wirkung m\u00fcssten gleichzeitig sein, weil sie ihrem Begriff nach zusammengeh\u00f6rten, eines Argumentes das sogar in der modernen Logik noch dann und wann gespukt und in dem Beispiele der gesto\u00dfenen Kugel seinen bekanntesten Ausdruck gefunden hat. \u00bbUrsache und Wirkung\u00ab, so hei\u00dft es hier, \u00bbm\u00fcssen einander gleichzeitig sein ; denn die gesto\u00dfene Kugel kann erst in dem Moment in Bewegung gerathen, wo die sto\u00dfende sie trifft\u00ab1). Darauf l\u00e4sst sich nur erwidern: F\u00fcr einen ontologischen Philosophen ist dieses Argument vollkommen bindend. Denn der ontologische Philosoph kann sich m\u00f6glicher Weise denken, dass die sto\u00dfende Kugel erst in dem Moment der Ber\u00fchrung zur \u00bbUrsache\u00ab werde, und dass daher von allem, was sich mit dieser Kugel vorher ereignet hat, zu ahstrahiren sei. F\u00fcr den Physiker ist aber jenes Argument nicht zutreffend. Denn f\u00fcr den Physiker sind Ursache und Wirkung nicht leere Begriffe, sondern Vorg\u00e4nge, und demzufolge nimmt er an, dass sich der gesto\u00dfene K\u00f6rper nur bewegt, weil der sto\u00dfende selbst durch die vorangegangene Bewegung eine bestimmte Bewegungsenergie gewonnen hat.\nAlle diese Einw\u00e4nde gegen die causale Bedeutung gewisser zum Ausdruck der Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen der Naturerscheinungen verwendeter Gleichungen sind in der That Kinder einer und derselben ontologisch-metaphysischen Denkweise. Nach ihr sind es nicht die That-sachen, nach denen wir unsere Begriffe zu bilden haben, sondern nach unseren Begriffen sollen sich die Thatsachen richten. \u00bbDenn \u2014 so lautet die treffende Selbstcharakteristik dieser Auffassung \u2014 das Denken ist der Hauptsache nach begriffliches Denken; und die Bestimmtheit oder Eindeutigkeit der Vorg\u00e4nge ist die unumg\u00e4ngliche Bedingung f\u00fcr die Behauptung bez. Entwicklung der h\u00f6heren geistigen Individualit\u00e4ten\u00ab 2). Im Sinne dieses Ausspruches ist also die eindeutige Function nicht ein mathematisches H\u00fclfsmittel, dessen wir uns zur Darstellung empirischer Causalbeziehungen und der zu ihrer Interpretation eingef\u00fchrten hypothetischen S\u00e4tze bedienen, sondern ein\n1)\tVgl. meine Logik, I2, S. 599 ff.\n2)\tPetzoldt, a. a. O. S. 181.","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\t397\n*\nGrundgesetz unseres Denkens selbst, dem das Sein der Dinge gehorchen muss. Verh\u00e4lt sich dies so, dann steht aber auch nat\u00fcrlich nichts im Wege, mit dem Postulat der \u00bbEindeutigkeit\u00ab noch allerlei andere Forderungen zu verbinden, die man f\u00fcr a priori nothwendig h\u00e4lt, oder die, wie der empiriokritische Ausdruck f\u00fcr diese ontologische Nothwendigkeit lautet, \u00bbunsere geistige Individualit\u00e4t\u00ab retten und unser Centralnervensystem vor der ihm sonst drohenden Zerr\u00fcttung sch\u00fctzen sollen.\nBezeichnend ist in dieser Beziehung eine tadelnde Bemerkung, die der Urheber des \u00bbGesetzes der Eindeutigkeit\u00ab gegen H. Hertz richtet. Dieser hat in dem berechtigten Streben nach m\u00f6glichster Reduction der Principien die ganze theoretische Mechanik auf ein einziges Grundgesetz zur\u00fcckgef\u00fchrt, das als eine Art Verbindung des Tr\u00e4gheitsgesetzes mit dem Gau\u00df\u2019schen Princip des kleinsten Zwangs betrachtet werden kann1). Selbstverst\u00e4ndlich kann ein solches einheitliches Grundgesetz niemals zugleich den Charakter einer einfachen Voraussetzung haben. Vielmehr ist die Begr\u00fcndung der ganzen Mechanik auf dasselbe immer nur dadurch m\u00f6glich, dass in ihm mehrere einfachere Voraussetzungen vereinigt sind. Ebenso ist es vom empirischen Standpunkte aus selbstverst\u00e4ndlich, dass kein derartiges Princip aufgefunden werden kann, welches von dem hypothetischen Charakter der einfacheren Voraussetzungen, die in dasselbe eingehen, wie z. B. des Tr\u00e4gheitsprincipes, frei w\u00e4re. Das hat auch Hertz anerkannt, indem er ausdr\u00fccklich hervorhebt, das Grundgesetz sei \u00bbeine Hypothese oder Annahme, welche viele Erfahrungen einschlie\u00dft, welche durch keine Erfahrung widerlegt wird, welche aber mehr aussagt als durch sichere Erfahrungen zur Zeit erwiesen werden kann\u00ab. Wenn sich gegen diese Stelle irgend etwas einwenden lie\u00dfe, so w\u00e4re es h\u00f6chstens dies, dass der hypothetische Charakter dieser wie aller letzten Voraussetzungen der Mechanik blo\u00df als ein \u00bbzur Zeit\u00ab bestehender bezeichnet, dass also hier augenscheinlich jener Charakter permanenter Hypothesen verkannt wird, der allen diesen Voraussetzungen, trotz ihrer eminenten Wahrscheinlichkeit wegen ihrer Uebereinstimmung mit den allgemeinsten phoronomischen Gesetzen und mit den Folgerungen aus der Erfahrung, anhaftet2). Anders\n1)\tHertz, Principien der Mechanik, Werke Bd. in, S. 33.\n2)\tYgl. hierzu die Ausf\u00fchrungen in meinem System der Philosophie, 2. Aufl.","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nW. Wundt.\nder empiriokritische Philosoph. Er meint, hier sei \u00bbvon der einen Seite des Gesetzes, die gleichsam \u00fcber alle besondere Erfahrung erhaben ist, die gewisserma\u00dfen a priori gilt, weil sie mit der Behauptung unserer geistigen Existenz, mit der Erhaltung und Th\u00e4tigkeit unseres Centralnervensystems auch schon gegeben ist, gar nicht die Rede\u00ab. Demgem\u00e4\u00df wird die Bedeutung jenes Gesetzes darin gesehen, dass es eigentlich nur ein anderer Ausdruck f\u00fcr das Gesetz der \u00bbEindeutigkeit\u00ab sei1).\nNun hat der Begriff der \u00bbEindeutigkeit\u00ab, wenn wir ihn in seinem eigentlichen Sinne nehmen und uns an seine exacten Anwendungen auf mathematischem Gebiete halten, weder mit der Forderung, dass nur ein Princip, nicht eine Mehrheit, der Interpretation der Erscheinungen zu Grunde zu legen sei, noch mit der Frage, ob die aufgestellte Functionsheziehung eine hypothetische sei oder nicht, irgend etwas zu thun. Der Zusammenhang einer Folge mit ihren Bedingungen kann ein eindeutiger sein, auch wenn es dieser Bedingungen viele und von einander unabh\u00e4ngige gibt; und hypothetische Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen k\u00f6nnen gerade so gut wie thats\u00e4chliche in der Form eindeutiger Functionen dargestellt werden. Es ist also klar, dass hier bei dem \u00bbGesetz der Eindeutigkeit\u00ab noch zwei Voraussetzungen gemacht sind, die willk\u00fcrlich zu ihm hinzugenommen werden. Das ist erstens das Princip der \u00bbEinfachheit\u00ab, und zweitens die Forderung, dass sich die Dinge nach unseren Begriffen und insonderheit nach den \u00bb\u00f6konomischen\u00ab Bed\u00fcrfnissen unseres Denkens zu richten haben, nicht umgekehrt unsere Begriffe nach den Gegenst\u00e4nden, wie solches die empirische und die in den positiven Wissenschaften geltende kritische Erkenntnistheorie behaupten. Der Em-piriokriticismus ist demnach hier weder empirisch noch kritisch, sondern ontologisch. Jene beiden von ihm gemachten Voraussetzungen\nS. 472 ff. Dass die Aufgaben des Physikers und des Logikers bei der Untersuchung der Principien der Mechanik wesentlich verschiedene und in gewissem Sinne entgegengesetzte sind, sei hier nur beil\u00e4ufig hervorgehoben. Der Physiker wird aus methodologisch-didaktischen Gr\u00fcnden seinen Entwicklungen m\u00f6glichst wenige Principien zu Grunde legen, die aber eben deshalb keine logisch einfachen sein k\u00f6nnen. Der Logiker dagegen hat alle einfachen Voraussetzungen vollst\u00e4ndig aufzuzeigen, die der Mechanik zu Grunde liegen. Dass es solcher Voraussetzungen mehrere gibt, ist wiederum selbstverst\u00e4ndlich.\n1) Petzoldt, a. a. O. S. 187 f.","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n399\nlassen sich augenscheinlich in das eine Princip der \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab zusammenfassen, sobald man dieses nicht als eine didaktische und methodologische Regel betrachtet, als welche es eine gewisse Berechtigung hat, sondern als ein metaphysisches Grundgesetz, dem die Dinge seihst gehorchen m\u00fcssen. Dieser metaphysischen Bedeutung entspricht es auch, wenn der Ausdruck \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab, der immerhin noch deutlich die Spuren seines subjectiven Ursprungs an sich tr\u00e4gt, in den Hintergrund gedr\u00e4ngt und statt seiner objectiv verwendbarere Ausdr\u00fccke, wie \u00bbMinimumprincip\u00ab, \u00bbTendenz zur Stabilit\u00e4t\u00ab, oder endlich \u00bbGesetz der Eindeutigkeit\u00ab gebraucht werden1).\nDiese ontologische Umwandlung speculativer Postulate in wirkliche Thatsachen spielt noch hei einer andern Folgerung aus dem \u00bbGesetz der Eindeutigkeit\u00ab eine bemerkenswerthe Rolle, n\u00e4mlich bei der Ablehnung einer Unendlichkeit des \u00bbCausalregressus\u00ab. Ich habe anderw\u00e4rts ausgef\u00fchrt, dass das Causalprincip die Forderung in sich schlie\u00dfe, jeden Vorgang vollst\u00e4ndig determinirt durch seine causalen Bedingungen zu denken, dass aber wegen der mit eben dieser Forderung nothwendig verbundenen Unendlichkeit des causalen Regressus die empirische Nachweisung der eindeutigen Bestimmtheit eines Naturvorgangs in verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig enge Grenzen eingeschlossen bleibe. Insbesondere bei den Producten des organischen Lebens, die auf eine unabsehbar gro\u00dfe Reihe auf einander folgender und einander voraussetzender Entwicklungsbedingungen zur\u00fcckweisen, finde sich in jedem gegebenen Zustand eine unbestimmbar gro\u00dfe Summe cau-saler Momente derart verdichtet, dass f\u00fcr unsere empirische Nachweisung jeder gegebene Zustand mit dem ihm vorausgehenden oder folgenden in vieldeutiger Weise verkn\u00fcpft sei. Das Postulat der eindeutigen Verkn\u00fcpfung von Grund und Folge bleibe darum hier eine Regel, von der zwar die naturwissenschaftliche Forschung im Einzelnen beherrscht sei, die aber auf das Ganze \u00fcbertragen v\u00f6llig inhaltsleer werde, weshalb denn auch eine solche inhaltsleere Forderung nicht als ein Princip betrachtet werden d\u00fcrfe, dem die in der unmittelbaren Erfahrung gegebenen Verh\u00e4ltnisse der psychischen Vorg\u00e4nge irgend-\n1) Petzoldt, Maxima, Minima und Oekonomie, Vierteljahrsschr. f. wissenschaftliche Philos. XIV, S. 355 ff.","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nW. Wundt.\nwie unterzuordnen w\u00e4ren, um so mehr, da sich ja diese auf eben den Inhalt der Erfahrung beziehen, der hei der naturwissenschaftlichen Abstraction geflissentlich au\u00dfer Betracht blieb1). Gegen diese Ausf\u00fchrungen, wonach der Causalbegriff, umesinKantischer Terminologie auszudr\u00fccken, nur in der unmittelbaren und wirklichen Verkn\u00fcpfung der Thatsachen eine \u00bbconstitutive\u00ab Bedeutung hat, auf jede ins Unendliche oder auch nur ins unbestimmbar Gro\u00dfe verlaufende Reihe angewandt aber zu einer blo\u00df \u00bbregulativen\u00ab Idee wird, bemerkt Petz old: \u00bbDieser Unterschied w\u00fcrde ja auf den von begreifbaren und unhegreifbaren, also von bestimmten und unbestimmten Ereignissen hinauskommen .... Was soll die Wissenschaft, wenn sie nicht an die Erforschbarkeit dessen glaubt, wonach sie forscht? . . . Welche Qual w\u00e4re f\u00fcr den denkenden Geist eine gr\u00f6\u00dfere, als die Besch\u00e4ftigung mit Dingen, die nie verstanden werden k\u00f6nnten? Wer k\u00f6nnte im Emst noch den Lebens- und Gehimvorg\u00e4ngen nachgehen, der von vornherein \u00fcberzeugt w\u00e4re, dass sein Forschen niemals zum Begreifen f\u00fchren k\u00f6nnte?\u00ab2) Man sieht aus diesen rhetorischen Fragen, es gibt heut zu Tage immer noch Philosophen, f\u00fcr die der alte Kant auch mit dem Theil seiner Leistung, die man gew\u00f6hnlich f\u00fcr unverg\u00e4nglich h\u00e4lt, n\u00e4mlich mit der Kritik der dogmatischen Metaphysik, umsonst gelebt hat. Dass das Causalprincip in seinen empirischen Anwendungen auf die Verkn\u00fcpfung des Einzelnen mit dem Einzelnen beschr\u00e4nkt bleibt, und dass eben deshalb zwar nirgends ein Ende dieser Causalverkn\u00fcpfung zu finden, aber nicht minder auch das Durchlaufen einer wirklichen Causalreihe in infinitum oder auch nur in indefinitum keine Idee ist, die jemals bei der L\u00f6sung empirischer Aufgaben eine Rolle spielen darf \u2014 diese einfache Erw\u00e4gung, die im Grunde nur das thats\u00e4chliche Verhalten der empirischen Forschung ausdr\u00fcckt, gen\u00fcgt dem dogmatischen Philosophen nicht. Er will entweder alles \u00bbsub specie aetemitatis\u00ab betrachten oder nichts. Er steht auf dem Standpunkt der L api a ce\u2019sehen Weltformel, denn er meint selbst im Besitz dieser Weltformel zu sein. Einen Unterschied zwischen logischen Forderungen und empirischen Ergebnissen l\u00e4sst er nicht gelten, weil er fortw\u00e4hrend beide mit einander verwechselt. Da das Causalprincip als logische Maxime der natur-\n1)\tUeber psychische Causalit\u00e4t etc. S. 90, und Ethik2, S. 467ff.\n2)\tA. a. O. S. 182.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Deber naiven und kritischen Realismus.\n401\nwissenschaftlichen Forschung die Forderung der eindeutigen Verkn\u00fcpfung einer gegebenen Erscheinung mit ihren n\u00e4chsten Bedingungen einschlie\u00dft, deshalb soll es keine Erscheinungen geben, deren empirische Interpretation vieldeutig ist, und noch weniger solche, deren Interpretation empirisch immer eine vieldeutige bleiben muss, weil der Zusammenhang causaler Bedingungen, der zu einer eindeutigen L\u00f6sung erforderlich sein w\u00fcrde, ins Unendliche f\u00fchrt. Nun ist es freilich wahr, dass \u00bbdie unendliche Vergangenheit nie einen gegenw\u00e4rtigen Zustand direct bestimmen kann\u00ab *). Auch glaube ich nicht, dass irgend Jemand, der in dem obigen Sinne auf die Unendlichkeit der Causalreihen verweist, sich zugleich dem phantastischen Gedanken hingehen wird, es k\u00f6nne aus unendlicher Ferne irgend ein magischer Einfluss direct auf ein gegebenes Ereigniss her\u00fcberwirken. \u00bbVerdichtet\u00ab hat sich eine, zwar im strengsten Sinne des Worts nicht in infinitum, aber, was f\u00fcr alle praktischen Fragen auf das n\u00e4mliche hinauskommt, in indefinitum gehende Causalreihe in einem complicirten organischen Gebilde wie dem menschlichen Gehirn insofern, als zwar auch hier der einem gegebenen Zustande A folgende Zustand B aus jenem A und den etwa hinzutretenden \u00e4u\u00dferen Bedingungen unmittelbar hervorgeht, als aber A selbst wieder unter einem solchen Einfluss causaler Momente entstanden ist, dass die eindeutige Ableitung von B aus ihm eine ins Unendliche f\u00fchrende Analyse erfordern w\u00fcrde.\nUebrigens kann sich nat\u00fcrlich auch der Empiriokriticismus der in dem Causalprincip gelegenen Forderung eines Regressus in infinitum oder indefinitum1 2) nicht ganz entziehen; er sucht daher dieser Forderung wenigstens in den F\u00e4llen, wo sie ihm unbequem wird, durch eine zweckgem\u00e4\u00dfe Verwendung seines \u00bbOekonomieprincips\u00ab ledig zu werden. Die vollst\u00e4ndige causale Erkenntniss seihst eines so complicirten Gebildes wie des menschlichen Gehirns ist, so behauptet man, stets in endliche Grenzen eingeschlossen. \u00bbDenn es m\u00fcsste nur ein derart gro\u00dfer Theil des Universums in Rechnung gestellt werden, dass die Summe der Wirkungen des ausgeschlossenen unendlichen \u00fcbrigen Theils unter jeder vorgegebenen noch so kleinen Gr\u00f6\u00dfe bliebe,\n1)\tPetzoldt, a. a. O. S. 183.\n2)\tUeber das Verh\u00e4ltniss dieser beiden Begriffe vgl. mein System der Philosophie, 2. Aufl., S. 353.","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nW. Wundt.\ndass diese Wirkungen also sich aufh\u00f6ben. Das w\u00fcrde aber stets m\u00f6glich sein, da um jedes noch so gro\u00dfe endliche Theilsystem des Universums (also z. B. um ein menschliches Gehirn herum) von einer f\u00fcr jeden Fall besonders zu bestimmenden Entfernung ab die Zahl und Masse der jenseits dieser Entfernung gelegenen \u00fcbrigen Theile des Universums nach allen Richtungen hin in gleicher Ordnung als ,unendlich' angenommen werden d\u00fcrfen, ihre Wirkungen auf das betrachtete abgegrenzte System also als sich gegenseitig aufhebend gedacht werden m\u00fcssen\u00ab1). Es ist der M\u00fche werth, Sinn und Inhalt dieser Stelle etwas n\u00e4her zu analysiren. Das Universum liegt nach dieser Auseinandersetzung \u00bbum das Gehirn herum\u00ab. Da nun das Universum in dem gegenw\u00e4rtig vorliegenden Gedankenzusammenhang nothwendig ebensowohl die r\u00e4umlich ausgedehnte Welt wie den zeitlichen Verlauf der Begebenheiten bezeichnen muss, welcher letztere sogar in diesem Fall vorzugsweise in Betracht kommt, so entsteht die Frage, was diese Lage \u00bbum das Gehirn herum\u00ab und die daran gekn\u00fcpfte Voraussetzung, dass nur endliche Entfernungen zu ber\u00fccksichtigen seien, bedeuten kann. Betrachten wir das Universum zun\u00e4chst als ein r\u00e4umlich unendliches, so muss offenbar angenommen werden, das Gehirn Hege irgendwo in dem unendlichen Raum derart, dass es allerseits von Materie und ihren Einwirkungen umgehen sei. Nun wird man sich, wenn man sich diese etwas grobe mechanische Vorstellung, die das Gehirn ungef\u00e4hr wie einen einsam im Weltraum schwebenden Meteoriten betrachtet, f\u00fcr einen Augenblick gefallen l\u00e4sst, zwei M\u00f6glichkeiten ausdenken k\u00f6nnen. Es k\u00f6nnten 1) die St\u00f6\u00dfe und sonstigen Einwirkungen, die das Gehirn von allen Seiten empf\u00e4ngt, s\u00e4mmt\u00fcch sich ausgleichen, wodurch f\u00fcr dasselbe ein zwar vom Standpunkt der Oekonomie des Denkens aus vielleicht angenehmer, sonst aber unbrauchbarer Zustand absoluter StabiHt\u00e4t eintreten w\u00fcrde; oder 2) man k\u00f6nnte eine Ungleichheit jener St\u00f6\u00dfe je nach der Seite, von der sie kommen, und daneben zugleich annehmen, dass sie mit der Entfernung immer kleiner und zuletzt un-endhch klein werden. Merkw\u00fcrdiger Weise werden aber diese beiden Annahmen verschm\u00e4ht zu Gunsten einer dritten ganz unglaublichen, nach welcher die in unendlicher Entfernung befindHchen Massen an\n1) Petzoldt, Einiges zur Grundlegung der Sittenlehre, Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. XVIII, S. 50 Anm.","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n403\nsich noch auf das Gehirn einwirken, jedoch, weil sie Unendlichkeiten gleicher Ordnung seien, sich compensiren sollen. Da ferner das Universum, vor allem den Entwicklungsproblemen gegen\u00fcber, auch ein zeitliches ist, so ist es wohl unumg\u00e4nglich, den Ausdruck \u00bbEntfernung\u00ab in diesem Pall nicht minder auf Zeitgr\u00f6\u00dfen anzuwenden. Hier w\u00fcrde aber die obige Ausf\u00fchrung zu der wunderbaren Vorstellung f\u00fchren, dass die Zeit entweder \u00fcberhaupt oder wenigstens in ihrem fr\u00fcheren Verlauf eine in sich zur\u00fccklaufende Linie sei. Denn wie sollte mau es sich anders denken, dass auch in diesem Fall Wirkungen \u00bbsich aufheben\u00ab? Nat\u00fcrlich w\u00fcrde es dem scharfsinnigen Verfasser dieser Abhandlung nicht entgangen sein, dass er hier blo\u00df mit phantastischen Analogien operirt, die zu absurden Folgerungen f\u00fchren, h\u00e4tte er sich nicht verpflichtet gef\u00fchlt, die Unendlichkeit der causalen Verkn\u00fcpfung, koste es was es wolle, der \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab zum Opfer zu bringen. Daraus folgte f\u00fcr ihn: \u00bbdas Unendliche muss ausgeschlossen bleiben, denn ,unendlich' und ,bestimmt' sind einander ausschlie\u00dfende Gegens\u00e4tze\u00ab. Gegen diesen Befehl hilft freilich kein Widerstreben. Nur ist dieser Befehl selbst und das ihm Ausdruck gehende \u00bbGesetz der Eindeutigkeit\u00ab in der hier vertretenen Auffassung eine Maxime, die ebenso sehr mit den thats\u00e4chlich ge\u00fcbten Methoden der empirischen Naturforschung wie mit der relativen Bedeutung, welche die wissenschaftliche Erkenntnistheorie den verschiedenen Unendlichkeitsbegriffen anweisen muss, im Widerspruch steht. Sie beruht, wie die ganze Naturphilosophie des Empiriokriticismus, auf Postulaten einer speculativen Metaphysik, die trotz ihrer mathematischen Verzierungen im Grunde nicht weniger willk\u00fcrlich ist wie die Potenzenlehre Schelling\u2019s und manche \u00e4hnliche Sch\u00f6pfung vergangener Tage.\nNat\u00fcrlich ist nun vom rein empirischen Standpunkte aus die Frage, ob die Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen solcher Erscheinungen, die in der Erfahrung nicht eindeutig gegeben sind, an und f\u00fcr sich nur durch vieldeutige Functionsformen dargestellt werden k\u00f6nnten, oder ob jene empirische Vieldeutigkeit blo\u00df aus einer Verwicklung der Bedingungen entspringt, die es uns unm\u00f6glich macht sie in ihre eindeutigen Bestandtheile aufzul\u00f6sen, nicht zu beantworten. Wenn man daher mathematische Functionsformen nicht als H\u00fclfsmittel betrachtet, um empirisch gefundene oder geforderte Abh\u00e4ngigkeits-\nWundt, Philos. Studien XIII.\t27","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"464\n\u2022W. Wundt.\nbeziehungen darzustellen, sondern als a priori g\u00fcltige \u00bbGesetze\u00ab, die dann, wie alle Gesetze, ausnahmslos gelten m\u00fcssen, so kann man ebenso gut mit Mach der Meinung sein, dass ein \u00bbGesetz der Vieldeutigkeit\u00ab die Welt beherrsche, wie mit Petzoldt, dass diese W\u00fcrde dem \u00bbGesetz der Eindeutigkeit\u00ab geb\u00fchre. Ist man dagegen der Meinung, dass mathematische Functionen passende H\u00fclfsmittel zum Ausdruck von Gesetzen, nicht seihst Gesetze sind, nach denen sich che Erfahrung zu richten habe, so gewinnt die Sache ein anderes Ansehen. Dann muss es von vornherein als ein verfehltes, einen Grundirrthum ontologischer Metaphysik und Naturphilosophie erneuerndes Beginnen bezeichnet werden, wenn man das Causalprincip oder irgend ein anderes rein formales Princip, wie z. B. das der Eindeutigkeit oder Vieldeutigkeit, als ein Gesetz bezeichnet, das in analogem Sinne die Gesammtheit der Naturerscheinungen beherrsche, wie etwa das Gravitationsgesetz die Bewegungen schwerer K\u00f6rper, oder wie das Gesetz der Erhaltung der Energie die Verwandlungen der Energieformen. Gesetze im eigentlichen Sinne des Wortes, das hei\u00dft Hegeln, aus denen sich bestimmte Naturerscheinungen ihrem Inhalte nach ableiten lassen, m\u00fcssen sich stets auf den materiellen Inhalt der Erfahrung beziehen; und da dieser ein au\u00dferordentlich mannigfaltiger ist, so ist es schlechterdings undenkbar, dass <es ein oberstes \u00bbGesetz\u00ab gebe, dem die Gesammtheit der Naturerscheinungen s\u00fcbsumirt werden (k\u00f6nnte. Ein solches Gesetz ist in der That weder das Gravitationsgesetz noch das Energiegesetz noch eines der mechanischen \u00abGesetze. Sie alle bringen immer mur bestimmte Theile der in der Erfahrung gegebenen Erscheinungen zum Ausdru\u00f6k und k\u00f6nnen daher nur zusammen mit andern Gesetzen das Ganze der Natur einigerma\u00dfen ersch\u00f6pfen. Eben darum nun weil das \u00bbGausalgesetz\u00ab einerseits einen rein formalen Charakter hat, anderseits aber, was damit bn Zusammenhang steht, den Anspruch erhebt f\u00fcr alle Naturerscheinungen zu gelten, ist es kein Naturgesetz bn eigentlichen Sinne des Wortes: man kann unmittelbar aus ihm nichts erkl\u00e4ren, und man kann ihm ebenso wenig unmittelbar eine 'einzelne That-sache subsumiren. Vielmehr enth\u00e4lt es lediglich eine formale logische Forderung, der alle realen Naturgesetze gehorchen, die Forderung n\u00e4mlich, die in der Erfahrung gegebenen Thatsachen in ein System von Gr\u00fcnden und Folgen zu ordnen. In diesem Sinne","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n405\nist das Causalprincip (nichts von dem allgemeineren logischen Princip des Grundes Verschiedenes. Aber da die Erfahrung dem Princip des Grundes bestimmte Schranken auf erlegt, die f\u00fcr andere Anwendungen desselben, namentlich die mathematischen, nicht existiren, so hat die 'Unterscheidung dieser besonderen Anwendung jenes logischen Princips ihren guten Sinn; und es ist unvermeidlich, dass die Nichtachtung dieser wohlmotivirten Unterscheidung auch im \u00fcbrigen wieder die der Vermengung jener Begriffe zu Grunde liegende ontologische Denkweise erneuert. Ob das dadurch geschieht, dass der Begriff der Causalit\u00e4t durchg\u00e4ngig durch den der logischen Bedingung ersetzt wird, wie hei Avenarius, oder durch den an und f\u00fcr sich ebenfalls der directen Beziehung auf die Erfahrung entbehrenden Begriff der mathematischen Function, wie hei .der Aufstellung des so genannten \u00bbGesetzes der Eindeutigkeit\u00ab, dies macht hier keinen principiellen Unterschied. Beide Ausdrucksweisen kommen darin \u00fcberein, dass sie die Wirklichkeit nach Denkgesetzen construiren wollen, statt die Denkgesetze als die H\u00fclfsmittel zu betrachten, mittelst deren wir die Wirklichkeit nach den >in ihr gegebenen Beziehungen zu begreifen suchen.\nIst das Causalprincip eine logische Forderung, mach der wir schlie\u00dflich Naturgesetze finden, nicht seihst ein Naturgesetz, aus dem sich irgend eine einzelne Thatsache begreifen lie\u00dfe, so gewinnt nun auch hierdurch die Vorausetzung, dass alle einzelnen Beziehungen der Naturcausalit\u00e4t, wenn sie uns vollst\u00e4ndig gegeben w\u00e4ren, in der Form eindeutiger Functionen darstellbar sein w\u00fcrden, ihren richtigen Sinn. Auch diese Voraussetzung kann, so wenig wie das Causal-gesetz selbst, als ein thats\u00e4chlich f\u00fcr jede einzelne Erscheinung nachweisbares Gesetz, sondern abermals nur als eine Forderung betrachtet werden, die wir der causalen Analyse der Erscheinungen entgegenbringen. Diese zweite Forderung ist aber, gegen\u00fcber der ersten, der der Causalit\u00e4t seihst, eine secund\u00e4re, insofern sie sich auf die hei der Analyse der einfachsten Naturerscheinungen gewonnene Ueberzeugung von deren eindeutiger Verkn\u00fcpfung und auf das logische Postulat, dass schlie\u00dflich alle noch so verwickelten Erscheinungen in einfache aufzul\u00f6sen seien, gr\u00fcndet. Alle diese Postulate gelten aber selbstverst\u00e4ndlich nur in den Grenzen, innerhalb deren die Voraussetzungen g\u00fcltig sind, aus denen sie abgeleitet wurden,\n27*","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nW. Wundt.\nnicht weiter. Wir betrachten jede einzelne Erscheinung als eindeutig bestimmt durch die Bedingungen, auf die wir sie empirisch zur\u00fcckf\u00fchren k\u00f6nnen; wir k\u00f6nnen aber niemals voraussetzen, dass die unendliche Totalit\u00e4t der Naturerscheinungen in gleichem Sinne, das hei\u00dft in einer bis zu den letzten Bedingungen des Geschehens zur\u00fcckreichenden causalen Verkn\u00fcpfung, eindeutig bestimmt sei, weil eine solche Voraussetzung die begriffsm\u00e4\u00dfige Erkenntniss einer vollendeten Unendlichkeit in sich schlie\u00dfen w\u00fcrde. Ebenso ist es selbstverst\u00e4ndlich, dass die Principien der Naturcausalit\u00e4t nicht \u00fcber solche Thatsachen und ihre Beziehungen Bechenschaft geben k\u00f6nnen, die in dem Begriff der \u00bbNatur\u00ab, in dem Sinne, in welchem sich die Naturwissenschaft desselben bedient, \u00fcberhaupt nicht enthalten sind. Denn die Naturwissenschaft abstrahirt geflissentlich von allen den Bestandteilen der Erfahrung, die dem erfahrenden Subject und der Art und Weise angeh\u00f6ren, wie dieses sich zur Au\u00dfenwelt und zu andern Subjecten unmittelbar verh\u00e4lt. Sie betrachtet demnach die Natur als einen Inbegriff reiner .Objecte und ihrer \u00e4u\u00dferen Belationen. Es ist widersinnig anzunehmen, dass causale Gesetze, die auf Grund dieser Abstraction zu Stande gekommen sind, auch f\u00fcr den Zusammenhang derjenigen Thatsachen g\u00fcltig sein sollten, die bei ihrer Feststellung grunds\u00e4tzlich au\u00dfer Betracht blieben. Ein Fehler wie dieser ist in der That nur aus der sch\u00e4dlichen Wirkung metaphysischer Vorurtheile zu begreifen. Diese sind es denn auch, die den psychologischen Standpunkt des Empiriokriticismus durchgehends als einen speculativen und erfahrungsfeindlichen, darum aber auch wissenschaftlich unfruchtbaren kennzeichnen.\n6. Der psychologische Standpunkt des Empiriokriticismus.\na. Definition der Psychologie.\nIn seinem Hauptwerk sowie in der erg\u00e4nzenden Schrift \u00fcber den \u00bbWeltbegriff\u00ab hat Avenarius directe Erl\u00e4uterungen \u00fcber Aufgabe und Inhalt der Psychologie nicht gegeben. Er konnte es unterlassen, da seine Auffassung dem, was das erste Werk an ^tats\u00e4chlicher Be-urtheilung psychischer Zust\u00e4nde und Vorg\u00e4nge, das zweite in der Theorie der \u00bbIntrojection\u00ab an kritischer Beleuchtung seitheriger Psychologie enthielt, hinreichend klar entnommen werden konnte.","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n407\nGleichwohl hat er in den \u00bbBemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie\u00ab, die vornehmlich dieser und einigen weiteren daran sich anschlie\u00dfenden Fragen gewidmet sind, das in jenen Werken formell Vers\u00e4umte nachgeholt. Die hier gegebene Begriffsbestimmung der Psychologie entspricht durchaus dem, was die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab erwarten He\u00df. Nachdem nochmals die verschiedenen Phasen, welche die Introjection zur\u00fcckgelegt hat, und die damit im Zusammenh\u00e4nge stehenden Auffassungen der Psychologie besprochen sind, und nachdem die Auffassung des \u00bbpsychophysischen Parallelismus\u00ab als die letzte nunmehr \u00fcberwundene dieser \u00bb duaKstischen\u00ab L\u00f6sungen des psychologischen Problems erkannt ist, wird als das Schlussergebniss der Kritik hervorgehoben, dass das \u00bbPsychische\u00ab weder eine besondere Substanz, noch eine besondere \u00bbErfahrung\u00ab, noch endlich eine besondere \u00bbBetrachtungsweise\u00ab der Erfahrung sei. Bietet hiernach der Inhalt der Psychologie in keiner Art, nicht einmal unter dem zuletzt erw\u00e4hnten Gesichtspunkt, einen Anlass zur Unterscheidung dieses Wissenschaftsgebietes, so kann ein solcher nur noch der Form der Betrachtung entnommen werden. Dies ist nun in der That zutreffend. Die Psychologie ist diejenige Sonderwissenschaft, welche die \u00bb,Erfahrungen* unter dem besonderen Gesichtspunkt ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Individuum (vom System C)\u00ab betrachtet1). Sie hat \u00bbbestimmte Aenderungen des Systems C als logische Bedingungen\u00ab und \u00bbFarben und T\u00f6ne, Lust und Unlust, mit einem Wort: Elemente und Charaktere als logische Abh\u00e4ngige dieser gestimmten Aenderungen des Systems C\u2018 darzu-steHen\u00ab2). Man darf somit annehmen, dass Avenarius in seiner\n1)\tBemerkungen, Art. Ill, S. 16.\n2)\tEine analoge Auffassung des Gegenstandes der Psychologie hat schon Mach in seinen 1886 [erschienenen \u00bbBeitr\u00e4gen zur Analyse der Empfindungen\u00ab (S. 3 ff.) entwickelt. Unter den neueren Psychologen hat K\u00fclpe, wie er selbst hervorhebt, seine Darstellung der Psychologie auf die von Mach und Avenarius gegebenen Begriffsbestimmungen gegr\u00fcndet (Einleitung in die Philosophie, S. 63). In den einleitenden Bemerkungen seines Grundrisses definirt K\u00fclpe allerdings zun\u00e4chst unbestimmter, indem er die Eigenschaft der \u00bbAbh\u00e4ngigkeit der Erlebnisse von erlebenden Individuen\u00ab als den Gesichtspunkt der psychologischen Untersuchung hervorhebt. Er bezeichnet dann aber sofort auf den n\u00e4chsten Seiten des gleichen Buches diese Abh\u00e4ngigkeit als eine solche vom \u00bbk\u00f6rperlichen Individuum\u00ab, und bemerkt, dass der Begriff eines \u00bbgeistigen Individuums\u00ab ebenso wie die Annahme einer Abh\u00e4ngigkeit der geistigen Vorg\u00e4nge von einander","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nW. Wundt.\n> Theorie der abh\u00e4ngigen Yitakeihe\u00ab im wesentlichen die Aufgabe einer erkl\u00e4renden Psy\u00e8hologie als prioeipiell gel\u00f6st betrachten konnte, da die Hauptabsicht dieser Theorie eben darauf gerichtet ist, alle Aussagen \u00fcber \u00bbE-Werthe\u00ab auf die in der Theorie der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab entwickelten Gesetze der Schwankungen des Systems 0 zur\u00fcckzuf\u00fchrew. Freilich ist dann nicht zu sehen, wie sich diese psychologische Aufgabe von der gew\u00f6hnlich der \u00bbErkenntnisstheorie\u00ab zugeschriebenen sondern soll. Man wird aber die L\u00f6sung dieser Schwierigkeit wohl darin finden m\u00fcssen, dass es im Sinne des Em-piriokriticismus \u00fcberhaupt nur eine Philosophie gibt, welche Er-kenntnisstheorie, Psychologie und was man etwa sonst noch unterscheiden m\u00f6chte, mit einem Mal ist: diese eine Philosophie ist eben die \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab selbst. F\u00fcr den objectiven Kritiker, der au\u00dferhalb dieser Philosophie steht, wird das wiederum aus ihrem \u00fcberall zum Vorschein kommenden Charakter als sp\u00e9culatives System begreiflich. Denn dies ist ja der Grundzug jeder speculativen Metaphysik, des Spinozismus so gut wie des Herbartia-nismus und der verschiedenen Gestaltungen des Materialismus, dass ihnen alle Sondergebiete Anwendungen ihrer Metaphysik sind, und dass ihnen ganz besonders die Psychologie als das geeignete Terrain erscheint, um auf ihm ihren metaphysischen Pegasus spazieren zu f\u00fchren. Das erkl\u00e4rt sich hinreichend aus der alten historischen Verbindung der psychologischen mit den philosophischen Problemen und\nunhaltbar sei (Grundriss der Psychologie, S. 2 ff.). Dem entsprechend wird dann an einer sp\u00e4teren Stelle auch ausdr\u00fccklich gesagt, der Unterschied zwischen Physiologie und Psychologie bestehe darin, dass es die erstere nicht (wie die Psychologie' \u00bbmit den Erlebnissen in ihrer Abh\u00e4ngigkeit von den erlebenden Individuen\u00ab, sondern mit den \u00bbin Abh\u00e4ngigkeit von einander und von der Umgebung stehenden Lebenserscheinungen\u00ab zu thun habe (S. 19). Hiernach kann, selbst abgesehen von jener Berufung auf Av en arius, nicht der leiseste Zweifel obwalten, dass K\u00fclp e wirklich, wie ich es, die erw\u00e4hnten Umschreibungen seiner Definition zusammen-fassend, in meiner Abhandlung \u00fcber die Definition der Psychologie ausgedr\u00fcckt habe, \u00bbdie Erlebnisse in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom k\u00f6rperliehen Individuum\u00ab gemeint hat. Wenn daher Ebbinghaus (Grundz\u00fcge der Psychologie, S. 8) glaubt, ich sei \u00bbdem Missverst\u00e4ndniss verfallen\u00ab, Erlebnisse, \u00bbdenen die gemeinsame Eigenschaft zukommt, von erlebenden Individuen abh\u00e4ngig zu sein\u00ab, mit \u00bbErlebnissen in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom k\u00f6rperliehen Individuum\u00ab zu verwechseln, so irrt er. Mir ist kein Missverst\u00e4ndniss, wohl aber ist ihm das Versehen begegnet, dass er einen Satz herausgegriffen hat, ohne zu beachten, wie der Autor selbst, den er citirt, diesen Satz interpretirt hat.","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n409\n\u00fcberdies aus dem auch heute noch minder gesicherten Bestand dieser Wissenschaft, der sie gegen willk\u00fcrliche Behandlungen und Misshandlungen weniger widerstandsf\u00e4hig macht, als es die l\u00e4ngst ihrer Unabh\u00e4ngigkeit sich erfreuenden Naturwissenschaften sind.\nNun kann es nach alLem, was wir \u00fcber den Inhalt des empirio-kritischen Systems erfahren haben, keinem Zweifel unterliegen, dass die obige Definition der Psychologie eine, zwar in eigenth\u00fcmlieher Verbr\u00e4mung auftretende, aber doch darum deutlich genug erkennbare Spielart derjenigen Auffassung ist, welche die materialistische Metaphysik stets zur Geltung gebracht hat. Aus den \u00bbSchwankungen des Systems \u20ac*, das hei\u00dft aus den Functionen des centralen Nervensystems oder, correcter gesprochen, aus d'en hypothetischen Voraussetzungen, die \u00fcber diese Functionen gemacht werden, sind alle psychischen Zust\u00e4nde, Vorg\u00e4nge und Aussagen \u00fcber solche abzuleiten. Dass es nach dieser Auffassung nicht einmal eigentlich eine besondere \u00bbBetrachtungsweise\u00ab ist, die der sogenannten \u00bbpsychologischen Erfahrung\u00ab entspricht, ist vollkommen zutreffend. Auch darin stimmt die empiriokritische Psychologie mit ihren materialistischen Vorg\u00e4ngern \u00fcberein. Was sie von diesen einigerma\u00dfen unterscheidet, ist. nur erstens ihre eigenth\u00fcmliche Definition der Erfahrung, wonach diese stets, auch in ihren \u00bbphysikalischen\u00ab Bestandteilen, ein \u00bbCentralglied\u00ab, n\u00e4mlich ein System C, und ein \u00bbGegenglied\u00ab enthalten soll; und zweitens die eigenth\u00fcmliche Theorie der \u00bbSchwankungen des Systems CV, welche Theorie man aber doch nur als eine speeielle, nicht als eine generelle Eigent\u00fcmlichkeit der empiriokritischen Philosophie betrachten darf, da sie, was ihren Erkl\u00e4rungswert den Thatsachen der Psychologie gegen\u00fcber betrifft, den sonst etwa vorgekommenen Hypothesen \u00e4hnlicher Richtung vollkommen ebenb\u00fcrtig ist. Denn erstens ist jene Schwankungstheorier genau so> hypothetisch, wie es diese waren; und zweitens ist ihr realer Erkl\u00e4rungswerth ein ebenso unzul\u00e4nglicher, da sie sich hier durchg\u00e4ngig jener \u00bbMethode der psycho-physischen Analogien\u00ab bedient, deren wissenschaftliche Un-haltbarkeit wir genugsam kennen gelernt haben1).\nIn der That ist ohne weiteres ersichtlich, dass die empiriokritische Definition der Psychologie in keiner Weise als die begriffliche\n1) Vgl. den zweiten Artikel, S. 57 ff.","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nW. Wundt.\nAbgrenzung eines selbst\u00e4ndigen \"Wissenschaftsgebietes betrachtet werden kann. Die Untersuchung des \u00bbSystems C\u00ab, falls unter demselben, wie wir ja nicht zweifeln k\u00f6nnen, das wirkliche centrale Nervensystem oder ein Theil desselben verstanden wird, ist Aufgabe der Anatomie und der Physiologie. Die letztere insbesondere hat \u00fcber alle Functionen dieses Systems Rechenschaft zu geben. Wenn die sogenannten \u00bbpsychischen Functionen\u00ab ausschlie\u00dflich als \u00bbAbh\u00e4ngige des Systems U\u00ab aus den Gesetzen der Schwankungen desselben begriffen werden k\u00f6nnen, so ist die Disciplin, die das zu leisten hat, die Gfehimphysiologie, und selbst die k\u00fcnstlich aufgebaute formale Berechtigung des Standpunktes psychologischer Betrachtung wird hinf\u00e4llig. Nur dann hat die Psychologie eine selbst\u00e4ndige Aufgabe, wenn das, was wir \u00bbpsychische Thatsachen\u00ab, \u00bbgeistige Vorg\u00e4nge\u00ab oder \u00e4hnliches nennen, in sich selbst einen Zusammenhang darbietet, der uns n\u00f6thigt, mindestens in weitem Umfange psychische Erfahrungsinhalte aus andern psychischen Erfahrungsinhalten zu begreifen und auf solche Weise besondere Formen psychischer Causalit\u00e4t zu statuiren. Gibt es solche nicht, ist alles, was wir Inhalt der Psychologie nennen, schlechterdings nichts als \u00bbFunction des Systems C\u00ab, so kann auch als Aufgabe einer Psychologie der Zukunft nur die hingestellt werden, die Psychologie selbst langsam oder schnell, auf alle F\u00e4lle aber so schnell wie m\u00f6glich, vom Leben zum Tode zu bringen und sie der Physiologie als ihrer Mutterwissenschaft zu incorporiren ; und eine Definition der Psychologie kann unter diesen Umst\u00e4nden nur den Zweck haben, deutlich zu machen, dass der zu bestimmende Begriff von Rechtswegen nicht existiren sollte. Dass die empiriokritische Definition das letztere leistet, wird ihr nicht abzustreiten sein.\nGleichwohl enth\u00e4lt die empiriokritische Auffassung in einer Beziehung eine partielle Wahrheit; und diese ist es wohl auch, die ihr da und dort Zustimmung verschafft hat, wo man eigentlich nicht die Absicht hatte, damit nun zugleich die ganze Theorie der Vitalreihen mit in den Kauf zu nehmen. Diese partielle Wahrheit besteht darin, dass der Empiriokriticismus den einheitlichen Zusammenhang aller Erfahrung betont, und dass er daher den Unterschied zwischen Psychologie und Naturwissenschaft nicht in der Verschiedenheit der Objecte, sondern im wesentlichen in der Verschiedenheit der Standpunkte sieht. Aber diese richtige Erkenntniss f\u00e4lscht er sofort wieder","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n411\ndadurch, dass er den psychologischen Standpunkt f\u00fcr eine blo\u00dfe Abzweigung des naturwissenschaftlichen h\u00e4lt, w\u00e4hrend er, wenn er wirklich der \u00bbreinen Erfahrung\u00ab folgen wollte, anerkennen m\u00fcsste, dass das Interesse der Psychologie \u00fcberall darin besteht, die Erfahrungsinhalte unmittelbar in der concreten, anschaulichen Beschaffenheit zu begreifen, in der sie dem erfahrenden Subjecte gegeben sind, wogegen das Absehen der Naturwissenschaft gerade darauf gerichtet ist, von diesem erfahrenden Subject so viel als m\u00f6glich zu abstrahiren. Indem der Empiriokriticismus das verkennt, wird bei ihm die Stellung der Psychologie zur Naturwissenschaft nicht eine coordinirte, sondern eine subordinirte: sie wird zu einem Zweige der Physiologie. Dass damit die Anerkennung einer selbst\u00e4ndigen \u00bbpsychischen Causalit\u00e4t\u00ab unvertr\u00e4glich ist, und dass daher alles, was auf diese bezogen werden k\u00f6nnte, irgendwie umgedeutet werden muss, versteht sich von selbst. In der That bilden daher die Versuche, jede Art von Causalit\u00e4t auf geistigem Gebiete \u00bbauszuschalten\u00ab, einen weiteren wesentlichen Bestandtheil der empiriokritischen Theorie der Psychologie, und gewisserma\u00dfen eine negative Erg\u00e4nzung der in der Abh\u00e4ngigkeit von den \u00bbSchwankungen des Systems C\u00ab enthaltenen positiven Definition1).\n1) Auf die Auseinandersetzungen einzugehen, die R. Willy in einem Artikel \u00fcber \u00bbdie Krisis in der Psychologie\u00ab gegen die von mir gegebene Definition der Psychologie richtet (Yierteljahrsschr. f\u00fcr wissensch. Philosophie, XXI, S. 79 ff.), sehe ich mich nicht veranlasst. \u00bbWer als Psycholog etwas leisten will\u00ab, versichert der Verf., \u00bbdarf der philosophischen Weltanschauung nicht blo\u00df keinen freien, sondern sogar \u00fcberhaupt gar keinen Spielraum gew\u00e4hren, weil nur eine einzige Weltanschauung, n\u00e4mlich diejenige, welche nichts als reine Erfahrung zul\u00e4sst\u00ab \u2014 und dass ist der Empiriokriticismus \u2014 \u00bbsich mit wissenschaftlicher Philosophie vertr\u00e4gt\u00ab. Und \u00bbsobald wir unser Antlitz vom Staub und Russ der Metaphysik rein gewaschen haben, sind wir auch soweit gest\u00e4rkt und f\u00fchlen uns so sehr durchkl\u00e4rt, dass wir nicht in den Fehler fallen, aus Angst vor Metaphysik den Zusammenhang mit dem Ganzen zu verlieren\u00ab. Das letztere geht nat\u00fcrlich gegen die psychologischen Specialforschungen, die dem Verf., wie den meisten seiner speculativen Collegen, leider allzu sehr \u00bbins Kraut schie\u00dfen\u00ab. Das erfrischende Bad, dessen heilkr\u00e4ftige Wirkungen er r\u00fchmt, hat ihm denn auch offenbar f\u00fcr alles, was au\u00dferhalb des empiriokritischen Gedankenkreises liegt, das Verst\u00e4ndniss benommen. \u00bbUnmittelbar\u00ab und \u00bbanschaulich\u00ab h\u00e4lt er, auf die Erfahrung angewandt, f\u00fcr zwei g\u00e4nzlich auseinanderfallende Pr\u00e4dicate, von denen das zweite als eine Art Nothanker f\u00fcr das erste von mir herbeigeholt worden sei. Weil ich darauf hinweise, dass sich die Naturwissenschaft des Substanzbegriffs","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nW. Wundt.\nb. Psychische Causalit\u00e4t.\nDa Avenarius den Begriff der Causalit\u00e4t aus seinem System \u00bbausgeschaltet\u00ab hat, so haben wir nach einem andern Begriff oder, wie man vielleicht besser sagen w\u00fcrde, nach einem andern Wort zu suchen, das sich mit dem ausgeschalteten deckt. In der That ist das augenscheinlich der Ausdruck \u00bbAbh\u00e4ngigkeit\u00ab oder, wie er der ontologischen Richtung des Systems angemessen auch genannt wird, die \u00bblogische Abh\u00e4ngigkeit\u00ab. In diesem Sinne ist nat\u00fcrlich die im zweiten Bande des Hauptwerkes enthaltene Theorie der \u00bbabh\u00e4ngigen Yitalreihe\u00ab ein Ersatz f\u00fcr das, was man etwa sonst auf eine geistige Causalit\u00e4t zur\u00fcckf\u00fchrt. Das Wesen dieser Theorie besteht aber, wie wir gesehen haben, selbst eigentlich wiederum in der \u00bbAusschaltung\u00ab der geistigen und in der Substitution einer, wie man es in der sonst \u00fcblichen Terminologie ausdr\u00fccken w\u00fcrde, \u00bbpsychophysischen\u00ab Causalit\u00e4t, jedoch' mit der ausschlie\u00dflichen Richtung vom Physischen zum Psychischen. Im gleichen Sinne hat denn auch Avenarius in seinen das Hauptwerk mit R\u00fccksicht auf die allgemeinen Fragen der Psychologie erg\u00e4nzenden \u00bbBemerkungen\u00ab der sonst sogenannten \u00bbpsychischen Causalit\u00e4t\u00ab ihre Stelle angewiesen. Drei Formen \u00bb logischer Abh\u00e4ngigkeit\u00ab werden hier unterschieden: 1) diejenige, \u00bbwelche unter das Gesetz der Erhaltung der Energie f\u00e4llt\u00ab, die physische oder besser die \u00bbphysikalische\u00ab, 2) diejenige, \u00bbin welcher mathematische Gr\u00f6\u00dfen rein als solche betrachtet zu einander stehen, wie z. B. Logarithmen und Grundzahlen\u00ab, die \u00bbmathematische\u00ab, und endlich 3) \u00bbdiejenige der ,Elemente* und ,Charaktere\u2018 von den ,bestimmten Aenderungen des Systems C*\u00ab1).\nbedient, der in ihr ein allezeit hypothetischer Begriff bleibe, soll ich. bei ihrer Abgrenzung von der Psychologie bereits meine \u00bbganze Erkenntnisstheorie und Metaphysik\u00ab voraussetzen. Nat\u00fcrlich hat der Verf. daneben auch die Entdeckung gemacht, dass ich selbst eine \u00bbspirituelle Seelensubstanz\u00ab annehme, u. s. w. Warum, so wiederholt er eine bekannte, schon von Ludwig B\u00fcchner und lange vor diesem gestellte Frage, \u2014 warum, wenn wir die einfachen psychischen Elemente mit physiologischen Vorg\u00e4ngen in Zusammenhang bringen, sollen wir. nicht auch \u00bbdie physiologische Methode auf die ,Werth- und Zweckbestimmungen1 \u00fcbertragen? Was sollte ihnen dies den mindesten Schaden zuf\u00fcgen, und was hindert, dass sie nicht ganz dasselbe bleiben, was. sie zuerst waren?\u00ab Gewiss wird ihnen das nicht den mindesten Schaden bringen. Die Frage ist nur, ob es ihnen irgend einen Nutzen bringt.\n1) Bemerkungen, Art. Ill, S. IT.","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n413\nMan kann nicht sagen, dass diese Eintheilung eine logisch musterhafte sei. Die drei F\u00e4lle der \u00bbAbh\u00e4ngigkeit\u00ab sind offenbar mehr zuf\u00e4llig aufgegriffen als nach irgend einem Princip abgeleitet. Fast scheint es, als sei die \u00bbmathematische\u00ab Abh\u00e4ngigkeit nur deshalb zwischen die erste und die dritte Form geschoben, damit der Versuch, diese beiden etwa als Unterformen einer empirischen \u00bbCausa-lit\u00e4t\u00ab der dem rein logischen Erkenntnissgrund n\u00e4her liegenden mathematischen \u00bbFunction\u00ab gegen\u00fcberzustellen, fern bleibe. Auch w\u00fcrde die unmittelbare Aneinanderreihung der dem Gesetz der \u00bbErhaltung der Energie\u00ab unterworfenen Abh\u00e4ngigkeit und der der \u00bbElemente\u00ab und \u00bbCharaktere\u00ab vom \u00bbSystem U\u00ab eher noch die Frage herausgefordert haben, warum denn die Elemente und Charaktere nicht ebenfalls dem Gesetz der Erhaltung der Energie unterworfen seien. Denn da die Aenderungen des System C jedenfalls im Einklang mit diesem Gesetz erfolgen, und da die Elemente und Charaktere wieder Functionen, und zwar eindeutige Functionen der Aenderungen des Systems C sind1), so begreift man nicht recht, warum sie nicht auch im Einklang mit demselben Gesetz sein sollen. Lassen wir jedoch diese Bedenken bei Seite und ergeben wir uns darein, dass nun einmal die Abh\u00e4ngigen von den Aenderungen des Systems C, weil sie ja alles Denken, F\u00fchlen und Wollen der Menschen in sich schlie\u00dfen, aus praktischen Gr\u00fcnden eine Art Ausnahmestellung verdienen m\u00f6gen, die ihnen theoretisch eigentlich nicht zukommt, so muss man sich nun um so mehr dar\u00fcber wundem, dass positive, direct und unzweideutig der Erfahrung zu entnehmende Kriterien f\u00fcr die Unterscheidung dieser dritten Art der Abh\u00e4ngigkeit von den beiden ersten gar nicht angegeben sind, w\u00e4hrend diese beiden zwar nicht logisch scharf, aber doch immerhin zureichend von einander unterschieden werden. Dass eine rein mathematische Function etwas anderes ist als die Abh\u00e4ngigkeit von Naturgesetzen, ist man gern bereit zuzugeben, und vollends die G\u00fcltigkeit der mathematischen Functionsbeziehungen zu bestreiten, wird Niemandem beikommen. Ebenso wird man im allgemeinen einr\u00e4umen k\u00f6nnen, dass das Gesetz der Erhaltung der Energie hinreichend durch die Erfahrung sicher gestellt sei, um an seiner Hand die einzelnen\n1) Petzoldt, Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. XIX, S. 199.","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nW. Wundt.\nAbh\u00e4ngigkeitsbeziehungen in der Natur zu interpretiren. \"Wo sind aber die entsprechenden \u00bbGesetze\u00ab, nach denen in analoger Weise aus bestimmten \u00bbAenderungen des Systems (7\u00ab die zugeh\u00f6rigen \u00bbElemente und Charaktere\u00ab abzuleiten w\u00e4ren? Sollte es solche Gesetze geben, so w\u00fcrde dazu zweierlei erforderlich sein: 1) es m\u00fcssten uns die \u00bbSchwankungen des Systems (7\u00ab unter den \u00e4u\u00dferen und inneren Bedingungen, unter denen es sich befindet, bekannt sein; und 2) es m\u00fcsste jeder solchen Schwankung ein bestimmter A-Werth, ein \u00bbElement\u00ab und \u00bbCharakter\u00ab, in eindeutiger Weise zugeordnet sein. In Wirklichkeit ist nat\u00fcrlich weder das erste noch das zweite der Fall. An Stelle der ersten Bedingung besitzen wir aber wenigstens eine Hypothese, n\u00e4mlich die Theorie der \u00bbunabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab, die man, wenn man sich f\u00fcr einen Augenblick auf den Standpunkt des Empiriokriticismus versetzt denkt, statt einer wirklichen Nachweisung gelten lassen k\u00f6nnte. Von der zweiten Bedingung kann nicht einmal der Empiriokriticismus behaupten, dass sie erf\u00fcllt sei. Denn Niemand kann die Art und Weise, wie in der Theorie der \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab den \u00bbSchwankungen des Systems C\u00ab entsprechende \u00bbA-Werthe\u00ab zugeordnet werden, f\u00fcr etwas einer mathematischen Function oder der Subsumtion von Naturerscheinungen unter die sie beherrschenden Gesetze Analoges halten. In Wahrheit handelt es sich hier, wie wir gesehen haben, weder um Functionen noch um Subsumtionen, sondern um ganz \u00e4u\u00dferliche schablonenhafte Analogien, die, selbst wenn nachgewiesen w\u00e4re, dass die angenommenen Schwankungen des Systems C existiren, nicht den entferntesten Wahrscheinlichkeitsgrund in sich enthalten w\u00fcrden, dass sie \u00bbFunctionen\u00ab dieser Schwankungen sind. Denn bei diesen Gliedern der abh\u00e4ngigen Vitalreihe wird regelm\u00e4\u00dfig gerade von den Bestandtheilen der Vorg\u00e4nge abstrahirt, die ihre eigentliche Bedeutung ausmachen, \u2014 was begreiflich, ja nothwendig ist, da sich diese als angebliche Functionen verwendeten Analogien auf die Vergleichung der formalen Seite der Vorg\u00e4nge beschr\u00e4nken m\u00fcssen1). Wenn diese Classe der \u00bbAbh\u00e4ngigkeiten von den Aenderungen des Systems (7\u00ab den mathematischen Functionen auf der einen und der Anwendung der Naturgesetze auf der andern Seite coordinirt wird,\n1) Vgl. den zweiten Artikel, S. 57 ff., sowie die Beispiele ebend. S. 30 ff.","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n415\nso ist dies also im h\u00f6chsten Grade willk\u00fcrlich. Wenn aber vollends diese Abh\u00e4ngigkeit als eine \u00bblogische\u00ab, ja gegen\u00fcber den beiden andern sogar vorzugsweise als eine logische bezeichnet wird, so kann das nur unter dem Gesichtspunkt des ontologischen Gedankens, dass schlie\u00dflich alles und darum auch das, was man nicht auf bestimmte Bedingungen zur\u00fcckf\u00fchren kann, logisch nothwendig sei, einigerma\u00dfen begriffen werden. Vom Standpunkte der gew\u00f6hnlichen Logik aus m\u00fcsste man sagen, dass gerade das logische Band, das bei den mathematischen Functionen und, so weit eine strenge Deduction der Erscheinungen m\u00f6glich ist, auch bei den Naturvorg\u00e4ngen Bedingungen und Folgen verkn\u00fcpft, hier fehle.\nL\u00e4sst sich nun Avenarius durch diese fundamentalen Unterschiede nicht abhalten, jene drei F\u00e4lle der \u00bblogischen Abh\u00e4ngigkeit\u00ab ganz auf gleiche Linie zu stellen, so kann man es auch nur begreifen, dass er den sogenannten \u00bbpsycho-physischen Parallelismus\u00ab als eine \u00bbunhaltbare und widersinnige\u00ab Annahme zur\u00fcckweist1). In der That w\u00fcrde es ja herzlich wenig Sinn haben, z. B. von einem Parallelismus der Logarithmen und ihrer Grundzahlen oder von einem solchen der mechanischen Arbeit und der ihr \u00e4quivalenten W\u00e4rmemenge zu sprechen. Es ist daher vollkommen klar, dass der Ausdruck \u00bbParallelismus\u00ab als ein ungeeigneter verworfen werden muss, welchen Sinn man ihm auch geben mag, \u2014 ob einen metaphysischen, wie Spinoza, oder einen empirischen, wie in der Hegel die heutige Psychologie. Hier ereignet sich nun aber das Merkw\u00fcrdige, dass Avenarius den \u00bbebenso ber\u00fchmten und beliebten als unhaltbaren und widersinnigen Parallelismus\u00ab, nachdem er ihn in aller Form aus der Vorderth\u00fcre seines Systems hinausgeworfen hat, durch eine Hinter-th\u00fcre wieder hereinkommen l\u00e4sst. Die \u00bbAnalyse der vollen Erfahrung\u00ab soll n\u00e4mlich einen gewissen \u00bbempirischen Parallelismus\u00ab ergeben, als dessen \u00bbEntstellung und Verf\u00e4lschung\u00ab nur sich der metaphysische Parallelismus erweise; und dieser \u00bbempirische Parallelismus\u00ab soll sogar ein zweifacher sein: erstens ein solcher, der zwischen der mechanischen und der \u00bbamechanischen\u00ab Bedeutung der menschlichen Bewegungen bestehe, eine Beziehung, f\u00fcr die, da weder die amechanische die mechanische Bedeutung, noch diese jene im Sinne des Gesetzes\n1) Bemerkungen, Art. II, S. 13.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nW. Wundt.\nder Erhaltung der Energie hervorbringe, der Ausdruck Parallelismus anwendbar sei; und zweitens ein solcher, der sich auf zwei Seiten der \u00bbErfahrung\u00ab beziehe, n\u00e4mlich einerseits auf \u00bbbestimmte Aender-ungen des Systems C* und andererseits auf \u00bbElemente und Charaktere als logische Abh\u00e4ngige dieser ,bestimmten Aenderungen des Systems C1\u00ab1).\nDiese Ausf\u00fchrungen enthalten zun\u00e4chst ein arges Missverst\u00e4nd-niss des Sinnes, in welchem durchg\u00e4ngig in der neueren Psychologie das sogenannte Princip des \u00bbParallelismus\u00ab angewandt worden ist. Nach den oben angef\u00fchrten Worten ist Avenarius offenbar der Meinung gewesen, es sei hier der von ihm verp\u00f6nte \u00bbmetaphysische Parallelismus\u00ab heute noch der vorherrschende. Aber selbst Fe ebner, bei dem man wegen der eigenth\u00fcmlichen Stellung, die er dem \u00bbpsychophysischen Grundgesetz\u00ab anweist, und bei der Art und Weise, in der er \u00fcberhaupt das Verh\u00e4ltniss von Leib und Seele auffasst, vielleicht am ehesten an eine metaphysische Deutung denken k\u00f6nnte, gr\u00fcndet doch in seiner Psychophysik den Begriff des \u00bbParallelismus\u00ab nur auf die Erw\u00e4gung, dass ein Hervorgehen psychischer aus physischen Vorg\u00e4ngen nach den Naturgesetzen nicht denkbar erscheine, und er betont ausdr\u00fccklich den empirischen Charakter desselben2). Vollends in andern Darstellungen der neueren Psychologie kann man Aeu\u00dfer-ungen genug finden, die einen metaphysischen Par\u00e4llelismus im Sinne Spinoza\u2019s ausdr\u00fccklich zur\u00fcckweisen, so dass die Meinung, ein solcher \u00bbParallelismus\u00ab sei eine \u00bbbeliebte\u00ab Anschauung, jedenfalls ungerechtfertigt ist. Vielmehr, was man heute als \u00bbpsychophysischen Parallelismus\u00ab bezeichnet, ist etwas dem Analoges, was Avenarius selbst in seiner ersten Anwendung des Begriffs, nur beschr\u00e4nkt auf die Bewegungen, die gleichzeitig eine mechanische und eine \u00bbamechanische\u00ab Bedeutung haben sollen, so nennt. Auch die Begr\u00fcndung, die daf\u00fcr gegeben wird, ist meistens dieselbe, die n\u00e4mlich, dass die mechanischen Vorg\u00e4nge f\u00fcr sich allein schon dem Princip der Erhaltung der Energie gen\u00fcgen, und dass es daher nicht angehe, die \u00bbamechanischen\u00ab Vorg\u00e4nge mit in die Leihe der mechanischen Naturvorg\u00e4nge aufzunehmen. Wenn dann aber weiterhin Avenarius die Beziehungen zwischen\n1)\tBemerkungen, Art. II, S. 14 f.\n2)\tElemente der Psychophysik, I, S. 1 ff. Revision S. 4.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und \u2019kritischen Realismus.\n417\nden Aenderungen des Systems C und den von diesen abh\u00e4ngigen \u00bbElementen und Charakteren\u00ab auch noch einen Parallelismus nennt, so kann dies nur dann einen Sinn haben, wenn das n\u00e4mliche, was f\u00fcr die \u00bbBewegungen der menschlichen G-lieder\u00ab gelten soll, auch f\u00fcr die \u00bbAenderungen des Systems (7\u00ab anzunehmen ist, dass n\u00e4mlich diese Aenderungen einerseits mechanische Erfolge \u00bbim Sinne des Gesetzes der Erhaltung der Energie\u00ab sind und anderseits von \u00bbamechanischen\u00ab Erfolgen, \u00bbElementen und Charakteren\u00ab, begleitet werden. Ist das der Sinn dieses zweiten \u00bbParallelismus\u00ab, dann ist jedoch die Unterscheidung beider Anwendungen des Begriffs von zweifelhafter Berechtigung, und die \u00fcbliche Auffassung w\u00fcrde jedenfalls die einfachere und zweckm\u00e4\u00dfigere sein. Au\u00dferdem ist aber auch der Gedanke, auf den im zweiten Falle ein besonderer Werth gelegt wird, dass n\u00e4mlich das eine der \u00bbparallelen\u00ab Glieder, die \u00bbElemente und Charaktere\u00ab, Abh\u00e4ngige des andern Gliedes, der \u00bbAenderungen des Systems C\u00ab, seien, eine Anwendung des Begriffs, die offenbar der eigentlichen Bedeutung desselben diametral entgegengesetzt ist. Hier kann n\u00e4mlich .das Bild der parallelen Linien nur daran erinnern wollen, dass beide Glieder zwar einander entsprechen, dass aber nicht das eine aus dem andern abgeleitet werden k\u00f6nne. Wo eine solche Ableitung m\u00f6glich ist, da bezeichnen wir eben das Verh\u00e4ltniss als \u00bbAbh\u00e4ngigkeit\u00ab, als \u00bbBedingung und Folge\u00ab, \u00bbFunction\u00ab u. dergl. Es kann aber nur die ohnehin schon 'betr\u00e4chtliche Verwirrung der Begriffe vermehren, wenn man darauf auch noch den Begriff des \u00bbParallelismus\u00ab anwenden will. In Wahrheit kann man sich diese Inconsequenz kaum anders als dadurch erkl\u00e4ren, dass Avenarius bei dem Begriff der \u00bbAbh\u00e4ngigkeit von den Aenderungen des Systems C\u00ab eine gewisse L\u00fccke empfinden musste, wenn er sie mit der physikalischen und der mathematischen Abh\u00e4ngigkeit verglich. 'Diese L\u00fccke entspringt eben daraus, dass zwar eine mechanische Bewegung mit einer andern mechanischen Bewegung, eine mathematische Gr\u00f6\u00dfe mit einer andern, mit der sie in Beziehung steht, unmittelbar verglichen und unter geeigneten Bedingungen sogar stetig in dieselbe \u00fcbergef\u00fchrt werden kann, wogegen \u00bb Aenderungen des Systems C* und \u00bbElemente und Charaktere\u00ab g\u00e4nzlich heterogene Begriffe sind. Diese L\u00fccke sollte augenscheinlich der Begriff des \u00bbParallelismus\u00ab zudecken, den doch auch Avenarius schwerlich gew\u00e4hlt h\u00e4tte, um etwa das Verh\u00e4ltniss der","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nW. Wundt.\nOrdinaten und der Abscissen einer geometrischen Curve zu einander auszudr\u00fccken. Gleichwohl war dann das Wort \u00bbParallelismus\u00ab keine gl\u00fcckliche Wahl. Es bezeichnet, mit dem Begriff der Abh\u00e4ngigkeit verbunden, so recht eigentlich ein h\u00f6lzernes Eisen, eine Eunction, welche die Eigenschaft hat, im Grunde keine Eunction zu sein.\nIst die zweite Anwendung des Parallelismusbegriffes eine unstatthafte, nur aus der Nothlage erkl\u00e4rbare, in der sich hier das em-piriokritische System bei der Aufsuchung eines den eigentlichen Eunctionsbeziehungen analogen Verh\u00e4ltnisses befand, so ist nun aber auch die erste, der gew\u00f6hnlichen mehr angen\u00e4herte Bedeutung nicht ohne Bedenken; und zwar entspringen diese Bedenken gerade aus den Momenten, in denen hier die empiriokritische von der gew\u00f6hnlichen Auffassung abweicht. Die letztere nimmt bekanntlich an, dass irgend welche physische Processe im Gehirn regelm\u00e4\u00dfig den psychischen Elementarvorg\u00e4ngen parallel gehen. Sie beschr\u00e4nkt sich, insofern sie auf dem empirischen Standpunkte steht, auf die psychischen Elemente, weil f\u00fcr diese, die einfachen Empfindungen und Gef\u00fchle, wirklich begleitende physische Processe, hei den Empfindungen in den Sinnescentren, bei den Gef\u00fchlen in den Centren der Herz-, Gef\u00e4\u00df-und Athmungsinnervation, theils mit Sicherheit, theils wenigstens mit gro\u00dfer Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sind, w\u00e4hrend sich das Gleiche von einem Parallelismus zwischen der Art, wie die physischen Elemente auf der einen, und wie die psychischen Elemente auf der andern Seite jeweils unter einander verbunden sind, nicht sagen l\u00e4sst. Das wird nun wesentlich anders hei der beschr\u00e4nkteren und doch zugleich allgemeineren Passung, die Avenarius dieser Seite des Parallel-princips gibt. Die \u00bbBewegung der menschlichen Glieder\u00ab hat eine \u00bbmechanische und eine amechanische Bedeutung\u00ab f\u00fcr das Individuum seihst. Diese zwei Bedeutungen sollen daher, \u00bbwenn menschliche Bewegung in Bezug auf das bewegte menschliche Individuum selbst ,Erfahrung' ist, parallel gehen\u00ab. Nun kann man jedenfalls nur dann von einem \u00bbParallelismus\u00ab reden, wenn die Beziehung des Physischen zum \u00bbPsychischen\u00ab oder des \u00bbMechanischen\u00ab zum \u00bbAmechanischen\u00ab, die man meint, eine eindeutige ist. Dass aber eine bestimmte Bewegung der menschlichen Glieder immer dieselbe amechanische Be-^ deutung habe, d. h. dass die psychologischen Motive und Begleiterscheinungen einer und derselben Bewegung immer die n\u00e4mlichen","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n419\nseien, das ist vom Standpunkt der Erfahrung aus so handgreiflich falsch, dass dar\u00fcber kein Wort mehr zu verlieren ist. Man begreift jedoch einigerma\u00dfen, wie eine Erkenntnisstheorie, die den psychologischen Erfahrungsinhalten die Aussagen der Mitmenschen substi-tuirt (Art. II, S. 53 f.), in diesen Irrthum verfallen kann; denn dieser Substitution liegt in Bezug auf die \u00bbAussagen\u00ab, die ja auch mit zu den \u00e4u\u00dferen Bewegungen geh\u00f6ren, der n\u00e4mliche Irrthum zu Grunde, die Meinung n\u00e4mlich, dass das was in einem Menschen vor sich geht dem was er \u00fcber sich aussage immer parallel gehe \u2014 ein Naturgesetz, das zwar im Interesse der Wahrhaftigkeit der Welt dringend zu w\u00fcnschen w\u00e4re, leider aber selber nicht wahr ist. So erweist sich denn auch dieser Satz, dass die \u00bbmechanische und die amechanische Bedeutung\u00ab der Bewegungen menschlicher Glieder einander \u00bbparallel gehen\u00ab, als eine ganz und gar metaphysische Behauptung, die an den spinozistischen Parallelismus stark anklingt, von der aber der empirische der heutigen Psychologie nichts wei\u00df. Man wird nach allem dem nicht umhin k\u00f6nnen, Avenarius\u2019 Anwendung des Parallelprincips mit seinen eigenen Worten als eine \u00bbunhaltbare und widersinnige\u00ab zu bezeichnen. Widersinnig ist die Substitution f\u00fcr den Begriff der Abh\u00e4ngigkeit oder Function, weil es nur dann einen Sinn hat von \u00bbParallelismus\u00ab zu reden, wo ein eigentliches Functionsverh\u00e4ltniss nicht statuirt werden kann. Unhaltbar ist die Behauptung eines Parallelgehens unserer Bewegungen und ihrer \u00bbamechanischen\u00ab Bedeutung, weil sie, insofern dieses Parallelgehen eine eindeutige Beziehung voraussetzt, in offenkundigem Widerspruch mit der Erfahrung steht.\nHat sich nun schon der scharfsinnige Urheber des empiriokri-tischen Systems \u00fcberall in Widerspr\u00fcche verwickelt, wo er den Versuch machte den Thatsachen der \u00bbpsychischen Causalit\u00e4t\u00ab oder den ihnen naheliegenden psychophysischen Grundfragen n\u00e4her zu treten, so ist es seinen Sch\u00fclern wom\u00f6glich noch weniger gelungen, eine Uebereinstimmung zwischen den Forderungen des von ihnen vertretenen Systems und denen der Erfahrung herzustellen. Nach allem Vorangegangenen wird es gen\u00fcgen, wenn ich mich hier auf einige Beispiele beschr\u00e4nke.\nIn einem Aufsatze \u00bbzur Grundlegung der Sittenlehre\u00ab bemerkt Petzoldt1): der \u00bbnur auf Quantit\u00e4ten bez\u00fcgliche Satz von der Er-\n1) Yierteljahreschr. f. wissensch. Philos. XVIII, S. 43 ff.\nWundt, PMlos. Studien Xm.\n28","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nW. Wundt.\nhaltung der Energie\u00ab bed\u00fcrfe, wie schon Fechner bemerkt habe, einer \u00bbqualitativen Erg\u00e4nzung\u00ab durch ein Princip, das \u00bbdie Formen ins Auge fasse, in die sich die constanten Stoff- und Kraftmengen f\u00fcgen\u00ab. Als ein solches schl\u00e4gt er das \u00bbPrincip der Ann\u00e4herung an station\u00e4re Zust\u00e4nde\u00ab vor, welches ihm als eine Anwendung des allgemeinen \u00bbStabilit\u00e4tsprincips\u00ab gilt, das der Yerf. nach anderweitigen Ausf\u00fchrungen als eine Art objectiven Correlats und zugleich Ersatzes f\u00fcr das Princip der \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab vorschl\u00e4gt*). Diesem Princip der Ann\u00e4herung an die Stabilit\u00e4t habe man das zuzuschreiben, was von mir \u00bbZunahme der geistigen Energie\u00ab genannt werde. Dahei ist aber der Yerf. geneigt, weder Zunahme noch Abnahme noch Erhaltung der geistigen Energie anzunehmen, sondern,\n1) lieber Maxima, Minima und Oekonomie, ebend. XIV, S. 206, 354, 417 ff. Die Abhandlungen sind belehrend, weil sie in der Willk\u00fcrlichkeit, mit der hier vom \u00bbStreben nach Stabilit\u00e4t\u00ab, von \u00bbTendenzen\u00ab und \u00bbNebentendenzen\u00ab u. s. w. geredet wird, eine merkw\u00fcrdige Verwandtschaft mit der \u00e4sthetisirenden Teleologie der Schelling\u2019schen Naturphilosophie bekunden,\u2014 eine Verwandtschaft, die nur f\u00fcr den in der Geschichte der philosophischen Metamorphosen und \u00bbPseudometamorphosen\u00ab Unerfahrenen durch die Anlehnung an exacte Rede- und Denkweisen verh\u00fcllt werden kann. Von einer logischen oder empirischen oder \u00fcberhaupt von irgend einer Begr\u00fcndung aller dieser teleologischen Principien ist ebenso wenig wie von einer solchen der \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab die Rede, aus dem sie entsprungen sind. Es ist aber merkw\u00fcrdig zu sehen, wie die empiriokritische Naturphilosophie, nachdem sie eben erst die \u00bbKraft\u00ab zu ihren \u00bbM\u00fcttern im Reich der Fetische\u00ab versto\u00dfen hat, nun in jenen mit einander streitenden Tendenzen und Nebentendenzen die Spukgestalten der Lebenskr\u00e4fte und Verm\u00f6gensbegriffe fr\u00fcherer Zeiten wieder zum Leben erweckt. Wir werden zwar ermahnt, es sei nicht n\u00f6thig sich vor diesen Gespenstern zu f\u00fcrchten. \u00bbMit den ,inneren Kr\u00e4ften1 oder ,Ursachen1, der ,Anlage1, ,Neigung1 u. s. w. d\u00fcrfen nicht irgend welche metaphysische Vorstellungen in Zusammenhang gebracht werden . . . Nur Thatsachen sollen mit diesen Begriffen beschrieben werden.\u00ab (Ebend. S. 355 f.) Wie man \u00bbTendenzen\u00ab, \u00bbNeigungen\u00ab u. s. w. \u00fcberhaupt \u00bbbeschreiben\u00ab, oder wie in einem \u00bbPrincip der Stabilit\u00e4t\u00ab eine allgemeine Beschreibung des Weltverlaufs gegeben werden kann, ist aber unerfindlich. Wie mir scheint, dr\u00fccken derartige Begriffe immer eine Deutung von Thatsachen aus, eine Deutung, die sich um so weiter von den Thatsachen selbst zu entfernen pflegt, mit je gr\u00f6\u00dferem Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit sie auftritt. Das Bedenkliche bei den erw\u00e4hnten \u00bbTendenzbegriffen\u00ab ist \u00fcbrigens nicht sowohl dies, dass sie \u00fcberhaupt eine Deutung der Thatsachen versuchen, als vielmehr, dass das, ganz im Sinne der falschen Teleologie der alten Naturphilosophie, lediglich auf dem Wege der Uebertragung sub-jjectiver Zweckbegriffe auf die Objecte geschieht. Ein solches subjectives Princip ist in diesem Fall eben das der \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab in seiner falschen metaphysischen Anwendung. (Vgl. Art. II, S. 73 f.)","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n421\nsofern sich der Begriff der geistigen Energie festhalten lasse, unregelm\u00e4\u00dfige Ver\u00e4nderungen. Nun ist es offenbar, dass, wenn die Aufstellung eines \u00bbPrincips der Ann\u00e4herung an stabile Zust\u00e4nde\u00ab \u00fcberhaupt einen Sinn haben kann, eine gewisse Pegelm\u00e4\u00dfigkeit der Ver\u00e4nderungen dadurch ausgedr\u00fcckt werden soll. Dieser Sinn wird aber sofort durch die Behauptung \u00bbunregelm\u00e4\u00dfiger Ver\u00e4nderungen\u00ab wieder aufgehoben. Noch Wunderbareres bekommen wir jedoch \u00fcber den Ursprung geistiger Causalit\u00e4t zu h\u00f6ren. \u00bbEs gibt urspr\u00fcnglich, d. h. am Anfang individuellen geistigen Wachsthums, bez. geistiger Neuerwerbungen oder Fortbildungen gar keine ,psychische Causalit\u00e4t' : soweit wir von einer solchen reden d\u00fcrfen, ist sie immer erst das Resultat einer l\u00e4ngeren geistigen Entwicklung und Uebung\u00ab1). Nun scheint mir klar zu sein: wenn man der \u00bbpsychischen Causalit\u00e4t\u00ab \u00fcberhaupt bedarf, um damit irgend etwas anzufangen, so ist es dazu, um mit ihrer H\u00fclfe geistige Entwicklung und Uebung zu erkl\u00e4ren. Hier verh\u00e4lt es sich aber umgekehrt: die geistige Causalit\u00e4t soll erst entstehen, indem man sich auf sie ein\u00fcbt, ohne dass sie bei dieser Ein\u00fcbung selber schon da ist. Dieser Behandlung der Begriffe gegen\u00fcber kann man dem Verf. wahrlich nur zustimmen, wenn er unmittelbar daran die Bemerkung kn\u00fcpft, es d\u00fcrfte \u00bbf\u00fcr das Verst\u00e4ndniss des psychischen Geschehens f\u00f6rderlicher sein, auf jede Anwendung des Causalbegriffs zu verzichten\u00ab.\nDem letzteren Programm ist er denn auch in seiner sp\u00e4teren Abhandlung \u00fcber \u00bbdas Gesetz der Eindeutigkeit\u00ab nachgekommen, nur dass er jetzt die Forderung der \u00bbAusschaltung\u00ab des Causalbegriffs, wie wir oben (S. 388) gesehen haben, auch auf die physische Causalit\u00e4t ausdehnt, indem er ihm hier den allgemeineren Begriff der eindeutigen Function substituirt. Der Unterschied zwischen \u00bbphysischer\u00ab und \u00bbpsychischer Causalit\u00e4t\u00ab soll aber nunmehr wesentlich darin bestehen, dass psychische Vorg\u00e4nge zwar Beziehungen unter einander darbieten, dass diese aber \u00bbvieldeutiger\u00ab Art seien. So entspreche z. B. einer und derselben Empfindung keineswegs immer ein und dasselbe Lust- oder Unlustgef\u00fchl; ebenso mangle den psychischen Vorg\u00e4ngen die Stetigkeit. Da wir nun durch alles Vieldeutige in jene fr\u00fcher geschilderte Unruhe und Verwirrung des Gem\u00fcths ver-\n1) A. a. O. XVIII, S. 44.\n28*","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nW. Wundt.\nsetzt werden, die uns zwinge zu dem \u00bbGesetz der Eindeutigkeit\u00ab unsere Zuflucht zu nehmen, so seien wir gen\u00f6thigt, auch das \u00bbgeistige Geschehen\u00ab eindeutig bestimmt zu denken: das sei aber nur m\u00f6glich, wenn wir es in seiner Abh\u00e4ngigkeit vom Centralnervensystem betrachten. So entstehe die Forderung: \u00bbwenn wir das psychische Lehen voll verstehen wollen, so m\u00fcssen wir es in allen seinen Phasen eindeutig Vorg\u00e4ngen des Centralnervensystems zuordnen\u00ab, wie das Avenarius in seiner \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab gethan habe1).\nTrotz dieser ausdr\u00fccklichen Berufung auf Avenarius scheint es mir zweifelhaft, ob diese Begr\u00fcndung des Standpunktes der \u00bbKritik der reinen Erfahrung\u00ab mit den Grundgedanken des Werkes \u00fcbereinstimme. Avenarius hatte seinen Standpunkt als eine Voraussetzung eingef\u00fchrt, die er durch den \u00bburspr\u00fcnglichen Welthegriff\u00ab und die daran sich anschlie\u00dfende \u00bbempiriokritische Substitution\u00ab hinreichend motivirt glaubte, den anzunehmen oder nicht er aber im \u00fcbrigen Jedem freistellte. Hier wird derselbe Standpunkt als eine unabweisbare Folgerung aus dem \u00bbGesetz der Eindeutigkeit\u00ab oder, vielleicht zutreffender gesagt, aus der Verlegenheit \u00fcber die vieldeutige Verkn\u00fcpfung der psychischen Vorg\u00e4nge unter einander abgeleitet. Ob das im Sinne von Avenarius ist, kann man deshalb bezweifeln, weil dieser gerade in den F\u00e4llen, die hier als ausgepr\u00e4gte Beispiele von Vieldeutigkeit angef\u00fchrt werden, eindeutige Verkn\u00fcpfungen der psychischen Vorg\u00e4nge angenommen zu haben scheint und nach seinen allgemeinen Voraussetzungen wohl auch annehmen musste. Denn wenn einer bestimmten Aenderung des Systems C ein bestimmter i?-Werth (Aussageinhalt eines Mitmenschen) eindeutig zugeordnet ist, und wenn dieser A-Werth regelm\u00e4\u00dfig wieder in die zwei Bestandtheile \u00bbElement\u00ab und \u00bbCharakter\u00ab (Empfindung und Gef\u00fchl) zerf\u00e4llt, so muss auch jeder eindeutigen Beziehung des E zu der Aenderung von C eine eindeutige Beziehung zwischen \u00bbElement\u00ab und \u00bbCharakter\u00ab entsprechen. Es ist nicht denkbar, dass, wenn /j eine eindeutige Function einer Aenderung A und f2 ebenfalls eine eindeutige Function derselben Aenderung A ist, nunmehr /j und ft durch eine vieldeutige Function cp mit einander verbunden seien, sondern cp muss ebenfalls eine eindeutige Function sein. Also f\u00fcr diesen einfachsten Fall der\n1) Vierteljahrsschr. XIX, S. 196\u2014201.","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"lieber naiven und kritischen Realismus.\n423\nBeziehung der \u00bbElemente\u00ab zu den \u00bbCharakteren\u00ab steht, wie mir scheint, die Annahme der \u00bbVieldeutigkeit\u00ab der Beziehungen der psychischen Vorg\u00e4nge zu einander in \"Widerspruch mit den Grundvoraussetzungen des empiriokritischen Systems. Aber auch f\u00fcr irgend welche andere Vorg\u00e4nge, die verschiedenen Aenderungen des Systems C zuzuordnen sind, scheint es mir zweifelhaft, ob die eindeutige Zuordnung hier mit einer vieldeutigen dort vereinbar sei. Falls nur \u00fcberhaupt eine Beziehung besteht, sollte man vielmehr meinen, dass sie wegen der eindeutigen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit aller Aenderungen des Systems C auch wieder eine eindeutige sein m\u00fcsse. Denn nehmen wir an, es seien zwei A-Werthe A, und A2 gegeben, die irgend welche \u00bbpsychische Beziehungen\u00ab zu einander erkennen lassen, so kann dies doch nur dadurch geschehen, dass auch die entsprechenden Aenderungen Av und \u00c42 des Systems C zu einander Beziehungen darbieten. Diese m\u00fcssen aber, da wir sonst, wie wir oben geh\u00f6rt haben, in die allergr\u00f6\u00dfte Unruhe, wenn nicht geradezu in moralischen Verfall ge-rathen w\u00fcrden, nothwendig eindeutige sein. Eindeutig auf einander bezogenen Aenderungen des Systems C k\u00f6nnen aber doch auch wieder nur eindeutig auf einander bezogene A-Werthe entsprechen. Man sieht, die Annahme einer vieldeutigen Beziehung der psychischen Vorg\u00e4nge zu einander f\u00fchrt zu den gr\u00f6\u00dften Widerspr\u00fcchen mit den Voraussetzungen des Systems, und sie lie\u00dfe sich eigentlich nur unter einer Annahme halten, unter der n\u00e4mlich, dass auch das Functions-verh\u00e4ltniss der Aenderungen von C zu den A-Werthen kein eindeutiges, sondern ein vieldeutiges sei. Wie Avenarius selbst zu dieser Frage steht, dar\u00fcber hat er sich nirgends ausgesprochen. Aber wenn man nicht blo\u00df die allgemeinen Forderungen, sondern die Art der Durchf\u00fchrung seiner Theorie in Betracht zieht, so scheint es mir nicht zweifelhaft zu sein, dass die Beziehungen bestimmter Aenderungen des Systems C zu bestimmten Werthen A der \u00bbabh\u00e4ngigen Vitalreihe\u00ab durchaus den Charakter vieldeutiger Functionen besitzen. Der ganze zweite Band des Avenarius\u2019sehen Hauptwerkes bildet dazu einen sprechenden Beleg. Den verschiedenen Formen der \u00bbSchwankung\u00ab innerhalb der unabh\u00e4ngigen Vitalreihe und ihrer \u00bbModificationen\u00ab wird hier eine F\u00fclle von Beispielen aus dem Gebiet der Psychologie und Geistesgeschichte zugeordnet, wobei jedesmal einer einzigen ganz bestimmten und eindeutig definirten Aenderung des Systems C eine gro\u00dfe Menge","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nW. Wundt.\nabh\u00e4ngiger psychischer Werthe entspricht, die sich noch dazu fast beliebig vermehren lie\u00dfen. Es ist also ganz Har, in Wahrheit besteht gar keine eindeutige Beziehung zwischen den von der Theorie entwickelten \u00bbAenderungen des Systems C\u00ab und den AWerthen, sondern eine \u00e4u\u00dferst vieldeutige, ja vielleicht eine unendlich vieldeutige. Das ist aber eine nothwendige Folge davon, dass die aufgestellten Schwankungsgesetze, wie bemerkt, einen rein formalen Charakter besitzen und daher \u00fcber das was an den psychischen \u00bbWerthen\u00ab unser Hauptinteresse ausmacht gar nichts aussagen, so dass eben die eigentliche \u00bbpsychische Causalit\u00e4t\u00ab ganz au\u00dferhalb dieser formalen Betrachtungen liegt. Gegen\u00fcber diesem widerspruchsvollen Schwanken der eigentlichen Empiriokritiker nehmen daher einzelne, ihnen zugeneigte, aber unabh\u00e4ngigere Vertreter des psychophysischen Materialismus immerhin einen correcteren Standpunkt ein, wenn sie \u00fcberhaupt alle und jede Beziehung zwischen den psychischen Vorg\u00e4ngen als solchen leugnen. Diese Behauptung ist in der That im Grunde ebenso unwiderlegbar wie das ber\u00fchmte Argument des Pierre Bayle gegen das \u00bbCogito ergo sum\u00ab: Niemand k\u00f6nne wissen, ob nicht ein Anderer statt seiner denke, oder ob es im n\u00e4chsten Moment noch dasselbe Ich sei, das im vorangegangenen gedacht habe. Das halbwegs Absurde kann man allenfalls widerlegen. Das ganz Absurde erfreut sich stets des Privilegiums der Unwidcrlegbarkeit. Aber Halbheiten m\u00fcssen dann auch ganz vermieden werden, und die auch von Petzoldt wiederholte Bemerkung, die logischen Gesetze seien nicht eigentliche Gesetze, sondern \u00bbNormen\u00ab, ist eine solche Halbheit. Gewiss sind die logischen Normen nicht so, wie sie von der Logik als Postulate verwendet werden, unmittelbar in dem Verlauf des psychischen Geschehens zu finden. Aber da diese Normen immerhin aus dem Verlauf des psychischen Geschehens entstanden sein m\u00fcssen, so muss es doch Verlaufsgesetze geben, die eine solche Entstehung m\u00f6glich machen. Die Bemerkung, sie seien \u00bbder zusammenfassende Ausdruck f\u00fcr Regelm\u00e4\u00dfigkeiten, die wir als Entwicklungsresultate auf fassen m\u00fcssen\u00ab, ist offenbar nur ein Verlegenheitsausdruck, der dieses Zugest\u00e4ndnis verh\u00fcllen und nebenbei auf den Retter in aller Noth, auf das \u00bbStabilit\u00e4tsprincip\u00ab, hinweisen soll. Denn \u00bbRegelm\u00e4\u00dfigkeiten\u00ab sind doch Gesetze irgend welcher Art, und \u00bbEntwicklungsresultate\u00ab sind, da von Entwicklung nur die Rede sein kann,","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Geber naiven und kritischen Realismus.\n425\nwo irgend ein gesetzm\u00e4\u00dfiger Verlauf vorliegt, Erzeugnisse von Gesetzen. Von was f\u00fcr andern Gesetzen sollen sie dann aber die Erzeugnisse sein, als eben von denen, die sieb in der geistigen Entwicklung zu erkennen geben?\nErscheinen diese Ausf\u00fchrungen \u00fcber die Entstehung der logischen Normen als der Ausdruck einer gewissen Eathlosigkeit einem nun einmal nicht abzuleugnenden psychischen Thatbestand gegen\u00fcber, so gilt das n\u00e4mliche von den gesammten Er\u00f6rterungen, die ein anderer Sch\u00fcler des empiriokritischen Systems, C. Hauptmann, in seinem Buche \u00fcber \u00bbdie Metaphysik in der modernen Physiologie\u00ab der psychischen Causalit\u00e4t widmet1). \u00bbWir m\u00fcssen die Gesetze des k\u00f6rperlichen Verhaltens\u00ab, so hei\u00dft es hier, \u00bbnicht mehr aus der ,Seele', sondern aus einer speciellen dynamischen Structur der lebenden K\u00f6rper begreifen, und die Gesetze des psychischen Lebens nicht mehr an dem Begriff, sondern allein an den gegebenen, speciellen psychischen Bildungen studiren, diese in parallelem Bezug auf jene \u00ab. Ferner: \u00bbdas Object der Physiologie ist die physiologische Individualit\u00e4t, wie das der Psychologie die psychische Individualit\u00e4t; und nur indem wir die psychische Individualit\u00e4t in innigem Bez\u00fcge auf den individuellen lebenden Organismus betrachten, gelangen wir zu einer einheitlichen Gesammtauffassung des biologischen Individuums \u00fcberhaupt\u00ab. Man kann nicht sagen, dass in diesem Satze irgend etwas gesagt w\u00e4re, was sich nicht in der heutigen Psychologie bereits ziemlich allgemeiner Anerkennung erfreute. Darum ist an ihm eigentlich nur das eine auffallend, dass der Verfasser ihn aussprechen und gleichzeitig in der empiriokritischen Theorie die L\u00f6sung der gestellten Aufgabe sehen kann. Auf der folgenden Seite erfahren wir freilich, dass als Ausgangspunkt die \u00bbobjective Betrachtung\u00ab zu w\u00e4hlen sei, in deren Ergebnissen mau \u00bbeinen wissenschaftlichen St\u00fctzpunkt f\u00fcr die sub-jectiven Thatbest\u00e4nde zu gewinnen suchen\u00ab m\u00fcsse. Immerhin wird auch hier noch der Verdacht zur\u00fcckgewiesen, als wenn den \u00bbso\n1) C. Hauptmann, Beitr\u00e4ge zu einer dynamischen Theorie der Lebewesen, Bd. I, 1893, S. 306 ff. Das Buch enth\u00e4lt \u00fcbrigens in seinen ersten Theilen eine zum Theil scharfsinnige und treffende Kritik der modernen Theorien \u00fcber Gehirn-localisation, namentlich der Arbeiten Munk\u2019s. Der Verf. verf\u00e4llt erst von dem Punkte an selbst der Kritiklosigkeit, wo er mit H\u00fclfe der empiriokritischen Theorie seine eigenen Anschauungen zu entwickeln beginnt.","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nW. Wundt.\ngenannten ,objectiven\u201c vor den ,subjectiven\u2018 Sachverhalten eine h\u00f6her-werthige Bedeutung\u00ab zuerkannt werden solle1). Indem aber der Verfasser schlie\u00dflich dazu \u00fcbergeht, den \u00bbparallelen Bezug\u00ab der psychischen Bildungen auf die \u00bbdynamische Structur\u00ab des lebenden K\u00f6rpers n\u00e4her zu definiren, bemerkt er, dass \u00bbBau und Verlauf der ,psychischen Pers\u00f6nlichkeit\u201c, das ist das sogenannte Bewusstsein mit seinen Grundfunctionen, sich nur als parallele Abh\u00e4ngige bestimmter derartiger Systeme (Systeme k\u00f6rperlicher Processe) auffassen lassen\u00ab2). Das ist dann allerdings der Standpunkt der em-piriokritischen Theorie, und auch hier ist es wieder der Begriff der \u00bbparallelen Abh\u00e4ngigen\u00ab, der die eigenth\u00fcmliche Stellung, die diese Theorie dem Begriff des Parallelismus anweist, treffend wiedergibt. Parallel nennen wir zwei Thatsachen, die einander entsprechen, ohne dass die eine als abh\u00e4ngig von der andern betrachtet werden kann. \u00bbParallele Abh\u00e4ngige\u00ab sind also Abh\u00e4ngige, die nicht abh\u00e4ngig, und Parallele, die nicht parallel sind: hier haben wir das h\u00f6lzerne Eisen, von dem oben die Bede war, in der b\u00fcndigsten Form vor uns. Auch ist es klar, dass der Leser, der die Gleichwerthigkeit der \u00bbsubjectiven\u00ab und der \u00bbobjectiven Sachverhalte\u00ab etwa auf den wissenschaftlichen Erkl\u00e4rungswerth dieser Sachverhalte bezog, auf falscher Spur war. Einen solchen hat hier offenbar nur die Darstellung der \u00bbpsychischen\u00ab Thatsachen in der Form der \u00bbparallelen Abh\u00e4ngigen\u00ab von den k\u00f6rperlichen Processen. Dass daneben die \u00bbso genannten Bewusstseinsvorg\u00e4nge\u00ab einen gewissen Affectionswerth behalten, mag ihnen wohl zugestanden werden.\nDie Arbeiten der empiriokritischen Schule sind namentlich an den Stellen, in denen sie sich mit der Frage der \u00bbpsychischen Causalit\u00e4t\u00ab besch\u00e4ftigen, vielfach durchsetzt von polemischen Ausf\u00fchrungen gegen die Vertreter abweichender Standpunkte. Unter den letzteren sind es meine Arbeiten, die in besonders hohem Ma\u00dfe das Missfallen der Empiriokritiker erregt zu haben scheinen. Sie werfen mir Widerspr\u00fcche der mannigfachsten Art vor, und sie ermangeln nicht dies\n1)\tC. Hauptmann, Beitr\u00e4ge zu einer dynamischen Theorie der Lebewesen, Bd. I, S. 310.\n2)\tEbend. S. 317.","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n427\ndurch Ausschreiben von S\u00e4tzen, die den verschiedensten Stellen meiner psychologischen und philosophischen Arbeiten entlehnt sind, zu bekr\u00e4ftigen. Ich kann trotz solcher Zeugnisse die Richtigkeit dieser Behauptung nicht anerkennen, glaube vielmehr im Gegcntheil, dass meine empiriokritischen Gegner in diesem Falle in einen betr\u00e4chtlichen Irrthum und zwar vorzugsweise deshalb verfallen sind, weil sie ganz au\u00dfer R\u00fccksicht lie\u00dfen, in welchem Zusammenhang sich jene S\u00e4tze befanden, ob inmitten physiologischer oder empirisch-psychologischer oder endlich metaphysischer Er\u00f6rterungen, oder ob sie etwa ausdr\u00fccklich als provisorische H\u00fclfsannahmen im letzteren Sinne bezeichnet waren. Es w\u00fcrde nicht schwer sein, dies in jedem einzelnen Fall nachzuweisen. Aber es w\u00fcrde doch eine solche Er\u00f6rterung nicht nur ein ziemlich umf\u00e4ngliches Unternehmen sein, weil mir dabei die Verpflichtung obliegen w\u00fcrde, eben das was meine Kritiker verabs\u00e4umt haben nachzuholen, n\u00e4mlich die Nachweisung des Zusammenhangs, in dem sich die betreffenden Stellen befinden, sondern es w\u00fcrde auch, wie ich glaube, ein unn\u00fctzes Unternehmen sein, weil ich den Empiriokritikern zugeben muss, dass sie von ihrem Standpunkte aus Recht haben. Denn eine der wesentlichen Verschiedenheiten ihres Standpunktes und des meinigen besteht eben darin, dass S\u00e4tze, die sich auf gewisse empirische Verh\u00e4ltnisse beziehen, f\u00fcr jenen einen Widerspruch enthalten, w\u00e4hrend sie f\u00fcr diesen einen solchen nicht in sich schlie\u00dfen, ebenso wie ja augenscheinlich umgekehrt gewisse logische Begriffe, wie wir es soeben an dem Beispiel des \u00bbParallelismus\u00ab und der \u00bbAbh\u00e4ngigkeit\u00ab gesehen haben, bei den Empiriokritikern neben einander bestehen k\u00f6nnen, w\u00e4hrend ich sie f\u00fcr absolut unvereinbar halte. Ich ziehe es aus diesem Grunde vor, die angeregte Frage nicht casuistisch, sondern generell zu behandeln. Warum findet der Empiriokriticismus, und von seinem Standpunkte aus mit Recht, in gewissen F\u00e4llen da Widerspr\u00fcche, wo sie von einem andern und, wie ich glaube, von dem allgemeinen wissenschaftlichen Standpunkte aus nicht vorhanden sind?\nZur Beantwortung dieser Frage wird es am dienlichsten sein,1 wenn ich zun\u00e4chst versuche, den methodologischen Charakter des empiriokritischen Systems, wie er sich aus der vorangegangenen Analyse desselben nach meiner Meinung klar und deutlich ergibt, in gewisse Grunds\u00e4tze zusammenzufassen. Nach dem ersten empiriokritischen","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nW. Wundt.\nGrunds\u00e4tze hat man alles, auch das Einzelnste, stets und in jedem Zusammenhang, in dem es Vorkommen mag, im Lichte der allgemeinen metaphysischen Voraussetzungen zu betrachten, die man sich gebildet hat. Nach dem zweiten muss man sich ein m\u00f6glichst einfaches Schema der Wirklichkeit machen und dann auf dasselbe allen Inhalt der Erfahrung zur\u00fcckf\u00fchren, gleichg\u00fcltig ob er urspr\u00fcnglich der Gewinnung jenes Schemas zu Grunde lag oder nicht. Dazu l\u00e4sst sich als dritter Grundsatz wohl noch der hinzuf\u00fcgen, dass man von allen Thatsachen, die etwa den beiden ersten Grunds\u00e4tzen widerstreiten sollten, m\u00f6glichst zu abstrahiren habe.\nIch kann nun keinen dieser Grunds\u00e4tze f\u00fcr mich als ma\u00dfgebend anerkennen, nicht einmal den ersten, obgleich er in dem ber\u00fchmten Worte Spinoza\u2019s \u00bbSumma mentis virtus est res intelligere sub specie aetemitatis\u00ab sein erhabenes Vorbild hat. Nicht weil ich auf Metaphysik \u00fcberhaupt und unter allen Umst\u00e4nden verzichte; auch nicht, weil ich der Metaphysik zwar officiell die Th\u00fcre weise, sie aber dann in der Form von angeblich nothwendigen Voraussetzungen oder von Hypothesen unter einem andern Namen wieder einf\u00fchre, wie das beispielsweise die Empiriokritiker thun. Vielmehr bin ich der Meinung, dass es n\u00fctzlich sei, wissenschaftliche Annahmen, die sich nicht aus den Thatsachen selbst als zwingende Folgerungen ergeben, und deren wir dennoch bed\u00fcrfen, wenn wir nicht auf einen Zusammenhang aller Erfahrung verzichten wollen, Annahmen also, die irgendwie hypothetische Erg\u00e4nzungen der Wirklichkeit sind, ruhig als Metaphysik zu bezeichnen, damit man dann um so sicherer davor bewahrt bleibe, derartige metaphysische Elemente mit den Thatsachen selbst zu verwechseln. Ich glaube dann aber allerdings auch, dass einer . solchen Metaphysik eine ganz andere Stelle anzuweisen sei, als es die Philosophie fr\u00fcherer Tage that, und als es die empiriokritische Philosophie mit ihren Voraussetzungen noch jetzt thut. Nicht an den Anfang geh\u00f6rt sie, sondern an das Ende, an die Stelle, von der aus man in der Lage ist beurtheilen zu k\u00f6nnen, was f\u00fcr jedes der Probleme, die uns die Erfahrung aufgiht, noth thut. Hierdurch komme ich nun f\u00fcr jede Art wissenschaftlicher Arbeit zu einer Regel, die genau das Gegentheil zu dem oben formulirten Grunds\u00e4tze ist, zu der Regel n\u00e4mlich: \u00bbHalte von jeder Einzeluntersuchung jede Art metaphysischer Annahmen ferne; stelle dich jeweils genau auf den","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n429\nStandpunkt des Erfahrungsgebietes, mit dem du dich besch\u00e4ftigen willst; dann erst siehe zu, wie sich dieser Standpunkt zu andern wissenschaftlichen Standpunkten verhalte; und zu allerletzt endlich betrachte die Dinge im Zusammenhang aller der Anforderungen, die menschliche Wissenschaft befriedigen soll!\u00ab Eine unmittelbare Folge dieser Regel ist es z. B., dass ich nicht anstehe, da wo es sich um eine erste empirische Behandlung sogenannter psycho-physischer Probleme handelt, eine Wirkung physischer Einfl\u00fcsse auf die psychischen Vorg\u00e4nge und psychischer Vorg\u00e4nge auf die physische Organisation einzur\u00e4umen, dass ich mich ferner im Zusammenhang physiologischer Betrachtungen zun\u00e4chst ganz und gar auf den naturwissenschaftlichen, von dem empfindenden und f\u00fchlenden Subject ahstrahirenden Standpunkt stelle, um, wo es sich darum handelt das Recht der empirischen Psychologie geltend zu machen, diesen objectiven mit dem \u00bbsubjectiven\u00ab Standpunkt der Betrachtung zu vertauschen, \u2014 worauf ich mir dann erst zu allerletzt Vorbehalte zu erw\u00e4gen, wie diese verschiedenen Standpunkte, deren jeder auf seinem Gebiete berechtigt ist, mit einander vereinbar sein m\u00f6gen. Erst diese letzte ist nach meiner Auffassung die metaphysische Frage; und es liegt hier schon in der Art der Fragestellung, dass mir nicht nur jede Umkehrung dieses Weges, sondern auch jedes vorzeitige Eingehen auf den Inhalt jener Frage als ein unwissenschaftliches, zu willk\u00fcrlicher \u00bbBegriffsdichtung\u00ab verf\u00fchrendes Verfahren erscheint. Es versteht sich aber von selbst, dass sich die Sache f\u00fcr Denjenigen anders verhalten muss, der, wie die empiriokritischen Philosophen, den umgekehrten Weg einschl\u00e4gt, indem er sich zun\u00e4chst seine metaphysische Theorie zurecht macht und dann nachtr\u00e4glich pr\u00fcft, wie sich die Dinge im Lichte dieser Theorie ausnehmen. Da ihm diese Denkweise zur Gewohnheit geworden ist, so ist es \u00fcbrigens auch begreiflich, dass ihm, wo er einem dem seinigen entgegengesetzten Verfahren begegnet, alles h\u00f6chst widerspruchsvoll Vorkommen muss. Von seinem Standpunkte aus sind diese Widerspr\u00fcche in der That und mit Recht vorhanden.\nWas den zweiten der oben formulirten Grunds\u00e4tze betrifft, so ist hei der Er\u00f6rterung des Princips der sogenannten \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab (Art. II, S. 73 ff.) \u00fcber ihn schon alles erforderliche gesagt worden. Gerade dadurch, dass der Empiriokriticismus dieses Princip in jener falschen metaphysischen Bedeutung anwendet, in der es, wie","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nW. Wundt.\n\u25a0wir gesehen haben, unter allen Umst\u00e4nden verwerflich ist, kommt die eigenth\u00fcmliche Richtung der empiriokritischen Metaphysik zu Stande. Wenn es darauf ankommt, die Welt in der denkbar einfachsten Weise zu construiren, so wird man immer auf ein einfaches mechanisches Schema, z. B. auf ein stabiles, um eine gewisse Gleichgewichtslage oscillirendes System, zun\u00e4chst verfallen; und man wird immer geneigt sein, vor allem auf die ungeheure Mannigfaltigkeit der geistigen Entwicklungen, die in dieses einfache Schema nicht passen, keine R\u00fccksicht zu nehmen. Einem so entstandenen System kann ja auch ein gewisser subjectiver Werth nicht abgesprochen werden. Wenn es keinen andern Dienst leistet, so leistet es mindestens den, seine Anh\u00e4nger mit dem gr\u00f6\u00dftm\u00f6glichen Ma\u00df subjectiver Genugthuung zu erf\u00fcllen. Nur f\u00fchrt diese subjective Befriedigung zugleich den Nachtheil mit sich, dass sie das Urtheil \u00fcber die Kriterien objectiver Wahrheit zu tr\u00fcben pflegt.\nAm allerwenigsten kann ich mich schlie\u00dflich mit dem dritten Grunds\u00e4tze befreunden, so sehr ich anerkenne, dass er eine beinahe nothwendige Consequenz des vorigen ist. Ohne Zweifel ist es nicht nur bequem, von solchen Thatsachen, die in eih aufgestelltes System nicht passen, zu abstrahiren, sondern eine weitgehende Abstraction dieser Art bildet sogar die einzige M\u00f6glichkeit, um das \u00bbOekonomie-princip\u00ab im metaphysischen Sinne wirklich durchzuf\u00fchren. Aber gerade hier liegt, wie mir scheint, doch zugleich der Punkt, wo sich diese Philosophie am allermeisten von der Denkweise trennt, die sich sonst in der Wissenschaft als . die erfolgreichste bew\u00e4hrt hat. Ich m\u00f6chte diese Denkweise in die Regel zusammenfassen: \u00bbDu sollst immer bereit sein, dich von den Thatsachen eines besseren belehren zu lassen, immer bereit sein, selbst gewohnte oder liehgewordene Vorst\u00f6llungsweisen aufzugehen, wenn sie sich der Erfahrung gegen\u00fcber als unzul\u00e4nglich oder gar als falsch erweisen. Mit einem Wort: beflei\u00dfige dich der gr\u00f6\u00dften Achtung vor der Welt der Thatsachen in allen ihren Theilen, aber einer m\u00f6glichst kleinen vor der Welt der subjectiven Meinungen und Hypothesen!\u00ab\nIch kann es mir nur aus der Missachtung dieser Regel oder sogar aus einer Umkehrung in ihr Gegentheil erkl\u00e4ren, dass der Empiriokriticismus und andere ihm verwandte Geistesrichtungen in der modernsten Philosophie offenbar auf das starre Festhalten an","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Deber naiven und kritischen Realismus.\n431\neinmal gewonnenen Vorstellungen den allergr\u00f6\u00dften Werth legen, und zwar nicht blo\u00df auf Gebieten wie der Metaphysik, wo dies ja einen gewissen Grund f\u00fcr sich hat, weil man eigentlich von Jedem erwarten sollte, dass er mit metaphysischen Ueberzeugungen erst hervortrete, wenn er sich die Sache auf das allergr\u00fcndlichste und nach allen Seiten \u00fcberlegt hat. Die Philosophen, die ich meine, gehen weiter. Sie legen diesen Ma\u00dfstah der Unab\u00e4nderlichkeit der Vorstellungen auch an so ganz und gar empirische Gebiete an, wie die Psychologie. Diese Philosophen und ihre Anh\u00e4nger, in erster Linie wieder die Empiriokritiker, bezeichnen es z. B. als eine- ihnen sichtlich anst\u00f6\u00dfige \u00bbalte Gewohnheit\u00ab, dass ich in den verschiedenen Auflagen meiner \u00bbGrundz\u00fcge der physiologischen Psychologie\u00ab nicht blo\u00df die jedesmal neu hinzugekommenen wesentlicheren Thatsachen nachzutragen versucht, sondern auch die Pr\u00fcfung der Frage, inwiefern dadurch unsere allgemeinen psychologischen Anschauungen den wichtigsten Problemen gegen\u00fcber ver\u00e4ndert oder vervollst\u00e4ndigt werden m\u00fcssen, nicht verabs\u00e4umt habe1). Was w\u00fcrde man wohl von einem Physiker sagen, der im Jahre 1893 die Lehren/\u00fcber Licht, Elektricit\u00e4t, Magnetismus u. s. w. genau in derselben Weise vortragen wollte wie im Jahre 1874? Oder der sich zwanzig Jahre mit einem Problem besch\u00e4ftigt h\u00e4tte, um am Ende dieser Zeit befriedigt einzugestehen, dass er genau das n\u00e4mliche \u00fcber die Sache denke wie am Anfang? Dass man bei einem Psychologen das ganz nat\u00fcrlich f\u00e4nde, ist, wie ich meine, ein trauriges Zeichen \u2014 nicht von dem Zustand dieser Wissenschaft, davon denke ich besser, wohl aber von der g\u00e4nzlichen Verst\u00e4ndniss-losigkeit, in der sich immer noch die meisten Philosophen und ihre J\u00fcnger, darunter auch ein Theil derer, die sich Psychologen nennen, ihr gegen\u00fcber befinden. Gewiss, die Psychologie und vor allen Dingen die experimentelle Psychologie ist kein fertiges System, sondern ein Arbeitsgebiet, welches in fortw\u00e4hrender Entwicklung begriffen ist, in welchem sich von Tag zu Tag die Thatsachen mehren und in Folge --------\u2019---- / '\n1) Ygl. z. B. W. Heinrich, Die moderne physiologische Psychologie in Deutschland. Eine historisch-kritische Untersuchung etc. 1895. S. 116. Als kritische Leistung ist dies Buch deshalb bemerkenswerth, weil es alle Arbeiten nach dem Ma\u00dfe ihrer Uebereinstimmung mit der empiriokritischen Theorie misst. Untersuchungen haben nach ihm regelm\u00e4\u00dfig dann unumst\u00f6\u00dfliche Ergebnisse geliefert, wenn sie mit dieser Theorie \u00fcbereinstimmen.","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nW. Wundt.\ndessen auch die allgemeinen Anschauungen allm\u00e4hlich sich ver\u00e4ndern und entwickeln m\u00fcssen. Auch hier bedingt freilich der verschiedene Standpunkt eine verschiedene Beurtheilung. Mir hat es immer als h\u00f6chste Begel wissenschaftlicher Arbeit gegolten, sich nicht durch einmal gefasste Meinungen gefangen nehmen zu lassen; und das Eingest\u00e4ndnis des Irrthums schien mir stets ein gr\u00f6\u00dferes Zeugniss der Wahrhaftigkeit zu sein als die Beharrlichkeit in der Wiederholung einmal aufgestellter Behauptungen. Doch ich gebe zu, dass es auch hier auf den Standpunkt der Betrachtung ankommt. Ich w\u00fcsste z. B. in der That nicht, wie die \u00bbTheorie' der reinen Erfahrung\u00ab im Laufe der Zeit eine wesentliche Entwicklung und erhebliche Ver\u00e4nderungen erfahren sollte. Da dieses System das \u00bbWeltr\u00e4thsel\u00ab gel\u00f6st hat, so ist nicht einzusehen, was k\u00fcnftigen Generationen etwa noch anderes zu thun \u00fcbrig bleibt, als etwa dies, auf neue Thatsachen die Theorie der \u00bbSchwankungen des Systems (7\u00ab anzuwenden.\nMit diesen Unterschieden der Auffassung h\u00e4ngt es wohl auch zusammen, dass der Begriff von \u00bbWissenschaft\u00ab hier und dort ein anderer ist. Den Empiriokritikem ist die Wissenschaft und speciell die wissenschaftliche Philosophie ein abgeschlossenes System. Was nicht in dieses System passt, ist \u00bbunwissenschaftlich\u00ab. Mir dagegen d\u00fcnkt die Wissenschaft Lehen und Bewegung, ja unendlich vielgestaltiges Lehen und Bewegen zu sein; und ich m\u00f6chte von diesem allgemeinen Lehen der Wissenschaft auch die Philosophie nicht ausgeschlossen wissen. Mir ist daher wissenschaftlich gerade diejenige Art zu philosophiren, die der Empiriokriticismus mit so vielen seiner metaphysischen Vorg\u00e4nger zur\u00fcckweist. Die Philosophie soll, wie ich meine, die Fackel der Erkenntniss nicht den \u00fcbrigen Wissenschaften voraustragen, sondern sie soll mit ihr hinter ihnen herleuchten, damit sie durch ihren Schatten nicht diesen das Licht nehme und sich seihst auf bodenlose Abwege verirre. Darum hin ich, so sehr ich es begreife, dass sich der Empiriokriticismus von seinem Standpunkte aus f\u00fcr eine specifisch wissenschaftliche Philosophie, ja f\u00fcr die \u00bbeinzig m\u00f6gliche wissenschaftliche Philosophie\u00ab h\u00e4lt, meinerseits geneigt, dieser Philosophie das Pr\u00e4dicat \u00bbwissenschaftlich\u00ab in meinem Sinne zu versagen. Ich hin aber toleranter als die Empiriokritiker. Ich bin zwar weit entfernt, die ernstliche Gefahr zu untersch\u00e4tzen, die namentlich der Psychologie von einer so durch und durch speculativen Richtung","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber naiven und kritischen Realismus.\n433\ndroht; und ich meine, diese Gefahr spricht laut genug aus den verderblichen Wirkungen, die das Bekenntniss zu den empiriokritischen Grundanschauungen hei solchen Psychologen, die sonst empirisch und sogar experimentell zu verfahren willens waren, auf ihre Art der Behandlung der Probleme ausge\u00fcht hat. Eine Disciplin, die seit so kurzer Zeit erst den Weg exacter Beobachtung einschlug, ist ja begreiflicher Weise solchen verwirrenden philosophischen Einfl\u00fcssen mehr ausgesetzt als eine bereits lange ihre sicheren Wege gehende wie die Naturwissenschaft. Dennoch bin ich durchaus nicht gewillt, der empiriokritischen Philosophie all\u00e8n und jeden Werth f\u00fcr die Wissenschaft abzusprechen. Gerade durch ihre Irrth\u00fcmer, durch die g\u00e4nzlich einseitige und schiefe Behandlungsweise der Probleme, die sie sich zu eigen gemacht hat, regt sie wiederum in f\u00f6rderlicher Weise zur Selbstbesinnung \u00fcber die Grundfragen der Erkenntnistheorie und Psychologie an. Je consequenter und scharfsinniger ein im Grunde willk\u00fcrliches, aber doch im Ganzen einheitliches Gedankensystem ausgef\u00fchrt ist, um so gr\u00f6\u00dfer ist dieser sein mittelbarer Werth. Ich m\u00f6chte darum diese Abhandlung nicht schlie\u00dfen, ohne noch einmal die Bedeutung hervorzuheben, die in dieser Beziehung nach meiner Meinung der Lebensarbeit von B,. Avenarius zukommt, eine Werthsch\u00e4tzung, f\u00fcr die schon der Umfang, den diese Betrachtungen gewonnen haben, als ein \u00e4u\u00dferes Zeugniss gelten mag.","page":433}],"identifier":"lit790","issued":"1898","language":"de","pages":"323-433","startpages":"323","title":"\u00dcber naiven und kritischen Realismus, Dritter Artikel","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:47:22.524074+00:00"}