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{"created":"2022-01-31T12:48:03.074901+00:00","id":"lit792","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 14: 1-118","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\nVon\nW. Wundt.\nMit 19 Figuren im Text.\nDie Beitr\u00e4ge zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen, die in den folgenden Bl\u00e4ttern mitgetheilt werden sollen, verfolgen nicht den Zweck einer systematischen oder gar ersch\u00f6pfenden Neubearbeitung dieses so oft verhandelten und noch immer so viel umstrittenen Problems. Meine Absicht bei dieser Ver\u00f6ffentlichung ist allein darauf gerichtet, theils einige Beobachtungen mitzutheilen, die mir f\u00fcr die Beurtheilung mancher noch zweifelhafter Pr\u00e4gen von Bedeutung zu sein scheinen, theils aber auch durch eine erneute kritische und theoretische Beleuchtung entscheidender Punkte vielleicht einiges zur Kl\u00e4rung der Ansichten beizutragen. Nicht eine Neubearbeitung, sondern eine Bevision der Theorien und ihrer Grundlagen ist also der Zweck dieser Studie. Vergleicht man den gegenw\u00e4rtigen Zeitpunkt mit jener Zeit, da zuerst die im Folgenden zu ber\u00fchrenden Streitfragen verhandelt wurden, so ist in der That nicht zu verkennen, dass nicht nur der sachliche Stand der Dinge vielfach ein ver\u00e4nderter geworden ist, sondern dass sich auch die allgemeinen psychologischen Gesichtspunkte, von denen aus wir die Dinge betrachten und demnach die Fragen beantworten m\u00fcssen, allm\u00e4hlich ver\u00e4ndert haben. In Anbetracht dieser Verh\u00e4ltnisse wird man, wie ich hoffe, diesem Versuch einer Revision der Thatsachen und Theorien die Berechtigung nicht versagen.\nW u n d t, Philos. Studien. XJV.\n1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nW. Wundt.\nAls mich im Sommer des Jahres 1859 zum ersten Mal die Probleme des r\u00e4umlichen Sehens eingehender besch\u00e4ftigten, fielen mir gewisse constante optische T\u00e4uschungen auf, die sich, wie ich glaubte, mit der Anordnung des Bewegungsapparates des Auges in Zusammenhang bringen lie\u00dfen. Diese Vermuthung glaubte ich best\u00e4tigt zu finden, als ich die damals vor kurzem beschriebenen merkw\u00fcrdigen Localisationsst\u00f6rungen bei partiellen Augenmuskell\u00e4hmungen aus der Literatur kennen lernte. Da \u00fcberdies die in normalen wie pathologischen Zust\u00e4nden untersuchten Verh\u00e4ltnisse des Tastsinnes auf eine Abh\u00e4ngigkeit der r\u00e4umlichen Wahrnehmungen von psychologischen Bedingungen hinwiesen, so ergaben sich hieraus die Grundz\u00fcge einer Theorie, die ich sp\u00e4ter zur Unterscheidung von andern sogenannten Localzeichentheorien die \u00bbTheorie der complexen Localzeichen\u00ab genannt habe. Im Laufe der beinahe vierzig Jahre, die seitdem verflossen sind, ist nun das damals noch sp\u00e4rliche Material an Beobachtungen nach allen Seiten erweitert worden. Der in jener Zeit nur in einigen \u00e4lteren physiologischen Hypothesen vorbereitete Streit des \u00bbNativismus\u00ab und \u00bbEmpirismus\u00ab ist seitdem gek\u00e4mpft, vielleicht darf man sogar sagen zu Ende gek\u00e4mpft worden. Denn schwerlich wird dieser Gegensatz, falls sich die Gesetze des Wandels wissenschaftlicher Anschauungen auch hier bew\u00e4hren, in den alten Formen fortdauem. Dass der Streit nutzlos gewesen sei, auch wenn sich die streitenden Theorien selber als verg\u00e4nglich erweisen sollten, wird gleichwohl Niemand behaupten. Er hat die Anschauungen gekl\u00e4rt, hat zur Sammlung und kritischen Pr\u00fcfung neuer Thatsachen angeregt, und er hat in nicht geringem Grade dazu beigetragen, der heutigen experimentellen Psychologie, die noch immer in den Wahrnehmungsproblemen ihre grundlegenden Aufgaben sehen muss, den Boden zu bereiten. Mittlerweile ist aber doch, eben durch die mehr und mehr ins Bewusstsein getretene Forderung einer psychologischen Analyse, die nicht nur mit den sonstigen Thatsachen psychologischer Erfahrung im Einklang stehen, sondern auch der allgemeinsten er-kenntnisstheoretischen Forderungen eingedenk bleiben soll, der Standpunkt der Beurtheilung ein etwas anderer geworden. Niemand, der sich \u00fcber die heutigen Wege und Ziele der Psychologie n\u00e4her orientirt hat, wird mehr glauben, dass mit den Schlagworten des \u00bbNativismus\u00ab und \u00bbEmpirismus\u00ab sonderlich viel gethan sei Auch ist es ja f\u00fcr","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen,\n3\nden Psychologen unerl\u00e4sslich, dass er die Wahrnehmungsprocesse mit der G-esammtheit der Bewusstseinsvorg\u00e4nge irgendwie in Verbindung bringe, w\u00e4hrend der Physiologe sich allenfalls mit ad hoc ersonnenen Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnden zufrieden gehen kann. Nun sind aber die Wahrnehmungstheorien zun\u00e4chst auf dem Boden der Physiologie entstanden. Eine Psychologie, die zur selbst\u00e4ndigen exacten Bearbeitung der Probleme bef\u00e4higt gewesen w\u00e4re, existirte zur Zeit der Entstehung dieser Theorien \u00fcberhaupt noch nicht. Es ist darum wohl selbstverst\u00e4ndlich, dass k\u00fcnftighin die Psychologie, wenn sie nicht fortdauernd von den Anlehen leben will, die sie hei der Physiologie macht, nicht hei jenen provisorischen, au\u00dferhalb des Zusammenhangs ihrer eigenen Arheitsaufgaben unternommenen Interpretationsversuchen stehen bleiben kann. Wenn sie gegenw\u00e4rtig diese Selbst\u00e4ndigkeit noch vermissen l\u00e4sst, so ist dies wohl bei der K\u00fcrze der Zeit, die seit ihrer Abzweigung aus der Sinnesphysiologie verflossen ist, begreiflich. Aber irgend einmal muss doch der Augenblick kommen, wo sie auch auf diesen urspr\u00fcnglich der Physiologie entlehnten Gebieten ihre eigenen Wege wandelt und sich die werthvollen Aufschl\u00fcsse nicht l\u00e4nger entgehen l\u00e4sst, die aus der Analyse der Sinnes-wahmehmungen f\u00fcr die Erkenntniss der fundamentalsten psychischen Processe zu gewinnen sind.\nWenn ich im Folgenden das Problem der r\u00e4umlichen Gesichts-wahmehmungen einer nochmaligen Revision unterziehen will, so ist es, wie ich sogleich hervorhehen m\u00f6chte, haupts\u00e4chlich der zuletzt erw\u00e4hnte Gesichtspunkt, der mir dabei im Vordergrund steht. Es ist weniger der Gegenstand um seiner seihst willen als der Gewinn, den seine Bearbeitung f\u00fcr die Erkenntniss der elementaren Vorg\u00e4nge des psychischen Lebens \u00fcberhaupt ahzuwerfen verspricht, der f\u00fcr diese Betrachtung ma\u00dfgebend sein soll. In dieser Beziehung ist, wie ich glaube, die gro\u00dfe psychologische Bedeutung der Wahrnehmungsprobleme noch lange nicht zureichend gew\u00fcrdigt. Zuweilen scheint es, als meine man die Psychologie am meisten zu f\u00f6rdern, wenn man mit den verwiekeltsten Aufgaben anf\u00e4ngt. Nun will ich gewiss nicht leugnen, dass schon jetzt die L\u00f6sung solcher Aufgaben einen praktischen und manchmal auch einen theoretischen Nutzen habe. Doch wird mindestens der letztere so lange fragw\u00fcrdig bleiben, als man sich \u00fcber die elementaren Bedingungen der untersuchten complexen","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nW. Wundt.\nPh\u00e4nomene im Ungewissen befindet. Das ist nun aber gerade der h\u00f6be Werth, der dem Wahmehmungsproblem wie keiner andern psychologischen Aufgabe zukommt, dass es sich auf die relativ einfachsten Gebilde unseres Bewusstseins und zugleich auf diejenigen bezieht, die am vollkommensten einer experimentellen Variation ihrer Bedingungen zug\u00e4nglich sind. Insbesondere sind si\u00e9 es, mit deren H\u00fclfe sich allein eine zureichende Analyse der Associationsprocesse gewinnen l\u00e4sst. Darum w\u00fcrde sich, wie ich meine, der Psychologe, der die einzelnen Wahrnehmungsinhalte wie einen ihm von der Physiologie fertig \u00fcberlieferten Besitzstand ansehen wollte, selbst der Grundlage berauben, deren er zum Verst\u00e4ndniss der verwickelteren Bewusstseinsvorg\u00e4nge n\u00f6thig hat. Ehen deshalb ist es aber auch einleuchtend, dass in diese L\u00fccke die im allgemeinen von einem ganz andern Standpunkte und zu anderen Zwecken gewonnenen Ergebnisse rein physiologischer Untersuchungen nicht als zureichender Ersatz eintreten k\u00f6nnen.\nDas Geschick hat es so gef\u00fcgt, dass der n\u00e4mliche Kreis von Thatsachen, der mir vor langer Zeit zuerst die eigent\u00fcmlichen Schwierigkeiten des Problems der Gesichtswahmehmungen nahe brachte, auch hei der folgenden Revision dieses Problems wieder die Hauptrolle spielen wird: es sind dies die Thatsachen, die wir heute mit dem von J. Oppel zuerst vorgeschlagenen, keinerlei theoretische Anticipationen in sich schlie\u00dfenden Namen der \u00bbgeometrisch-optischen T\u00e4uschungen\u00ab belegen. Vor allem diesen Erscheinungen m\u00f6chte ich eine weit \u00fcber den Umfang der Wahmehmungsvorg\u00e4nge hinausreichende allgemeine psychologische Bedeutung zuschreiben. Sie erlauben es, wie kein anderes Gebiet von Beobachtungen, die Bildung von Sinnesvorstellungen so zu sagen im \u00bbstatus nascendi\u00ab zu belauschen und sie in ihre einzelnen Associationselemente exact zu zerlegen. Was wir \u00fcberhaupt von elementaren Associationsgesetzen wissen, verdanken wir darum, wie ich meine, vorzugsweise dem Studium dieser T\u00e4uschungen, die zugleich in besonderem Ma\u00dfe geeignet sind, gewisse eingewurzelte, auf die schematische Auffassung complexer Associationswirkungen gest\u00fctzte Vorurtheile zu widerlegen.\nDa ich die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen vor kurzem an anderer Stelle1) eingehend behandelt habe, so sollen hier nur die\n1) Abhandl. d. Kgl. Sachs. Ges. d. Wiss. Math.-phys. Cl. XXIV, Nr. 2.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungeil.\t5\nallgemeinen Gesichtspunkte dieser Untersuchung er\u00f6rtert, zugleich aber soll auf diejenigen Ergebnisse derselben n\u00e4her eingegangen werden, die dort nicht oder nur andeutungsweise ber\u00fchrt wurden: auf die Folgerungen n\u00e4mlich, die sie theils f\u00fcr das Wahmehmungs-problem seihst theils f\u00fcr die allgemeine Theorie der Associationen gestatten. Im Hinblick auf den ersten dieser Zwecke sollen zugleich noch einige weitere Fragen behandelt werden, die speciell f\u00fcr die Beurtheilung der Entstehung r\u00e4umlicher Gesichtswahmeh-mungen von Interesse sind. Dahin geh\u00f6ren in erster Linie die Erscheinungen der \u00bbMetamorphopsie\u00ab, \u00fcber die ich Gelegenheit hatte selbst mehrj\u00e4hrige Beobachtungen zu machen, und sodann die \u00bbConver-genzversuche\u00ab, die einer erneuten Revision bed\u00fcrfen und eine solche zum Theil in den in diesen Studien mitgetheilten Versuchen von Max Arrer1) erfahren haben. Ich werde die Besprechung dieser Punkte, die in psychologischer Hinsicht gegen\u00fcber den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen immerhin eine untergeordnete Wichtigkeit haben, der Er\u00f6rterung der letzteren voranstellen, um dann auf Grund dieses ganzen Materials die haupts\u00e4chlichsten Theorien der r\u00e4umlichen Ge-sichtswahmehmung einer erneuten kritischen Pr\u00fcfung zu unterziehen. Bei dieser Pr\u00fcfung sollen, neben der Brauchbarkeit f\u00fcr die Wahrnehmungsprobleme selbst, etwas mehr, als es bisher geschehen ist, die psychologischen Voraussetzungen der verschiedenen theoretischen Anschauungen ber\u00fccksichtigt werden.\nI. Die Metamorphopsien.\nUnter \u00bbMetamorphopsien\u00ab verstehen die Ophthalmologen bekanntlich Bildverzerrungen, die in Folge von Netzhautabl\u00f6sungen oder von Lage\u00e4nderungen einzelner Netzhautstellen durch Exsudate der Cho-rioidea entstehen. Am auffallendsten sind diese St\u00f6rungen des Sehens dann, wenn durch zerstreute Exsudate auf der Aderhaut (sogenannte. Chorioiditis disseminata) die Netzhaut an verschiedenen Orten emporgehoben wird. Hierbei treten die mannigfaltigsten Verzerrungen der gesehenen Objecte auf, die im allgemeinen der Regel folgen, dass der Eindruck auf jeden Netzhautpunkt so in den \u00e4u\u00dferen Baum\n1) Philos. Studien. XIII, S. 116, 222.","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nW. Wundt.\nverlegt wird, wie es der urspr\u00fcnglichen, normalen Lage des Netzhautpunktes entspricht. Demnach erscheint, wenn in irgend einem Meridian der Netzhaut mehrere Erhebungen durch unterliegende Exsudate eingetreten sind, eine auf diesem Meridian sich abbildende gerade Linie mehrfach geknickt. Werden durch das Exsudat an einer Stelle die Netzhautelemente enger zusammengedr\u00e4ngt, so erscheinen Gegenst\u00e4nde, die sich hier abbilden, vergr\u00f6\u00dfert; werden die Netzhautelemente auseinandergezerrt, so erscheinen jene verkleinert. Alle diese Erscheinungen k\u00f6nnen in einem und demselben, durch Meta-morphopsien ver\u00e4nderten Sehfelde mehrfach wiederholt und verbunden Vorkommen. Der Ausgang ist in der Regel entweder Resorption der Exsudate, R\u00fcckkehr der Netzhaut in ihre normale Lage und damit auch Wiederherstellung der normalen Gesichtswahrnehmungen, oder Erblindung der betroffenen Netzhautstellen.\nEs liegt nat\u00fcrlich nahe, in diesen Thatsachen eine St\u00fctze f\u00fcr eine nativistische Auffassung des Sehactes zu sehen. In diesem Sinne ist wohl zuerst von A. Classen1) auf sie hingewiesen worden. Es ist jedoch unschwer zu sehen, dass die Erscheinungen nicht einmal gegen\u00fcber der gel\u00e4ufigen empiristischen Theorie von entscheidendem Belang sind. Denn dass die sogenannten Localzeichen der Netzhaut von Moment zu Moment ihre r\u00e4umliche Bedeutung \u00e4ndern sollten, wenn die Netzhautelemente aus ihrer gew\u00f6hnlichen Lage gerathen, das w\u00fcrde auch nach ihr kaum annehmbar sein. Auf wiederholte Erfahrung und Ein\u00fcbung legt ja diese Theorie das gr\u00f6\u00dfte Gewicht. Zu einer solchen Ein\u00fcbung ist aber bei einem pathologischen Process, der nicht stille h\u00e4lt, bis entweder der normale Zustand wieder eingetreten oder aber die Netzhaut ganz functionsunf\u00e4hig geworden ist, kaum Gelegenheit gegeben. Immerhin werden durch diese Erfahrungen jedenfalls alle diejenigen Theorien des Sehens hinf\u00e4llig, die etwa annehmen wollten, dass die r\u00e4umliche Ordnung so zu sagen in jedem einzelnen Sehacte neu erworben werden m\u00fcsse, eine Annahme, die \u00fcbrigens nur in einigen philosophischen Theorien, z. B. in derjenigen Herbart\u2019s, vorkommt, und die auch aus andern naheliegenden Erfahrungsgr\u00fcnden nicht durchf\u00fchrbar sein w\u00fcrde.\n1) Arch, f, Ophthalmologie. X, 2. Gesammelte Abhandlungen \u00fcber physiologische Optik. 1868. S. 84 ff.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesiehtswahrnehmuugen.\t7\nAbgesehen von jenen aus den Metamorphopsien wohl nicht ganz mit Recht gezogenen Folgerungen w\u00fcrde es jedoch, offenbar w\u00fcn-schenswerth sein, mit Sicherheit festzustellen, ob die aus den Beobachtungen abstrahirte Regel, dass eine Lage\u00e4nderung von Netzhautpunkten immer eine entsprechende Bildverzerrung im Gefolge habe, wirklich f\u00fcr alle F\u00e4lle zutrifft, oder ob vielleicht dann, wenn eine solche Lage\u00e4nderung w\u00e4hrend einer l\u00e4ngeren Zeit stabil geworden ist, eine Anpassung an den neuen Zustand eintritt. Sollte das letztere sich best\u00e4tigen, so w\u00fcrde das nat\u00fcrlich noch kein Beweis f\u00fcr die empiristische Theorie sein. Aber es w\u00fcrde doch ein gewichtiges Argument zu Gunsten einer genetischen Theorie abgeben, da eine solche Anpassung kaum denkbar w\u00e4re ohne die Annahme, dass die Bedingungen, die diese Anpassung herbeif\u00fchren, auch bei der urspr\u00fcnglichen Bildung der Gesichtswahmehmungen wirksam seien.\nIch bin nun in die \u2014 soll ich sagen gl\u00fcckliche oder ungl\u00fcckliche \u2014 Lage versetzt worden, \u00fcber einen solchen, wie ich vermuthe, seltenen Fall an mir selbst Beobachtungen anzustellen. Meine Augen waren, abgesehen von einer ziemlich erheblichen, aber beiderseits gleichen Myopie (von etwa 8 Dioptrien) und einem sehr geringgradigen regul\u00e4ren Astigmatismus des linken Auges, von normaler, auch durch ungew\u00f6hnliche Anstrengungen nicht leicht zu erm\u00fcdender Leistungf\u00e4higkeit gewesen. Nur das rechte Auge war, seit ich es vor mehr als 30 Jahren bei Versuchen mit Sonnenlicht einmal \u00fcber die Geb\u00fchr angestrengt hatte, f\u00fcr optische Versuche, mikroskopische Beobachtungen u. dergl. wegen rasch eintretender Erm\u00fcdung und Hyper\u00e4sthesie nicht mehr verwendbar, so dass ich mich f\u00fcr solche Zwecke stets des linken Auges bediente. Im Sommer 1885 bemerkte ich nun pl\u00f6tzlich, eines Morgens an meinen Schreibtisch tretend, starke Bild Verzerrungen, als deren Sitz sich sofort das rechte Auge erwies. Die Untersuchung mit dem Augenspiegel, zuerst von A. Graefe in Halle und dann im Lauf der Jahre wiederholt von Prof. Schr\u00f6ter hier ausgef\u00fchrt, ergab das gew\u00f6hnliche Bild der Chorioiditis disseminata. Die Erkrankung schien zuerst still zu stehen und sogar etwas r\u00fcckw\u00e4rts zu gehen, schritt dann aber immer weiter fort, so dass in den Jahren 1888\u201490 schlie\u00dflich die ganze Aderhaut von fleckenf\u00f6rmigen Exsudaten \u00fcbers\u00e4et war. Von da an gingen diese allm\u00e4hlich zur\u00fcck, w\u00e4hrend die in der ganzen Zeit vorhanden","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nW. Wundt.\ngewesene erh\u00f6hte Lichtempfindlichkeit abnahm. Zugleich waren aber im centralen Sehen zuerst punktf\u00f6rmige blinde Stellen und totale Farbenblindheit, dann endlich vollst\u00e4ndige Erblindung in einem Umfang von etwa 12\u00b0 im verticalen und 10\u00b0 im horizontalen Durchmesser symmetrisch um den Fixirpunkt herum eingetreten: dieser selbst war am l\u00e4ngsten sehend geblieben und hat noch jetzt die Empfindlichkeit nicht ganz verloren. Im Jahre 1895 war der Process abgeschlossen. Eine gro\u00dfe centrale Narbe, dem centralen Skotom entsprechend, war zur\u00fcckgeblieben, aber die andern Exsudate waren verschwunden.\nDie Bildverzerrungen im rechten Sehfelde, die w\u00e4hrend des so \u00fcber zehn Jahre sich erstreckenden Processes eintraten, waren nun von h\u00f6chst mannigfaltiger und wechselnder Art. Auf der H\u00f6he der Krankheit glich ein Gegenstand etwa einem in Sand gezeichneten Bilde desselben, dessen Oonturen beliebig nach allen m\u00f6glichen Bichtungen hin- und hergeschoben worden sind. Dennoch st\u00f6rte, da in Folge der Functionsunth\u00e4tigkeit des gelben Flecks Strabismus eintrat, dieses verzerrte Bild das gew\u00f6hnliche Sehen, das nun ganz von dem durch diese Vorg\u00e4nge nicht alterirten linken Auge \u00fcbernommen wurde, nicht allzu sehr, abgesehen davon, dass in der ersten Zeit die Orientirung \u00fcber die Bichtung der Blicklinie etwas unsicher war. Bei der Verfolgung der Bildverzerrungen im Laufe der Zeit war es augenf\u00e4llig, dass eine und dieselbe Netzhautstelle successiv zuerst Ma-kropsie, dann Mikropsie darbieten konnte oder umgekehrt, dass also z. B. ein einzelnes Feld eines quadratischen Netzes an einer und\nderselben Stelle des Sehfeldes bald mit nach au\u00dfen convexen Oonturen, wie in A (Fig. 1), bald mit nach innen convexen, wie in B, sich darstellte. Eine ungef\u00e4hre Vorstellung von den Bildverzerrungen des ganzen Sehfeldes, aus einem Stadium jedoch, wo der Process schon im B\u00fcckgang begriffen und das centrale Skotom, abgesehen von dem oben erw\u00e4hnten centralsten Punkt, perfect geworden war, gibt die Fig. 2. In diesem Stadium schien sich die Bildverzerrung bereits so langsam zu \u00e4ndern, dass ich sie als endg\u00fcltig ansah. Ich\nA \u25a0\tB\nFig. 1.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n9\nwar daher selbst in hohem Grade \u00fcberrascht, als ich, etwa ein Jahr nach der letzten Beobachtung, um das Fr\u00fchjahr 1895 das Sehfeld wieder pr\u00fcfte und alle Metamorphopsien vollst\u00e4ndig verschwunden fand, abgesehen von einer geringen Einw\u00e4rtsbiegung der Linien an der Grenze der erblindeten Stelle, \u00e4hnlich der, die sich bei Kurzsichtigen um den blinden Fleck zu finden pflegt. Die Fig. 3 stellt das Bild des quadratischen Musters in diesem Zustande dar, in dem es sich unver\u00e4ndert bis jetzt erhalten hat.\nNun l\u00e4sst sich nat\u00fcrlich diese Wiederherstellung der normalen Ordnung des Sehfeldes so deuten, dass man annimmt, es sei die Netzhaut an allen Punkten durch das Schwinden der Exsudate in ihre normale Lage zur\u00fcckgekehrt; und gewiss ist es ja auch, dass sie sich dieser wieder in hohem Grade gen\u00e4hert hat.\nAber dass nach so gewaltigen Dislocationen,wo,wie es die Fig. 1 zeigt, einzelne Theile successiv nach ganz entgegengesetzten Richtungen gezerrt worden sind, wo eine betr\u00e4chtliche Stelle durch Narben-\nFig. 3.\ngewebe ersetzt worden ist, und wo geringgradigere Textur\u00e4nderungen \u00e4hnlicher Art wohl an den \u00fcbrigen entz\u00fcndet gewesenen Aderhautstellen","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nW. Wundt.\nnicht fehlen, \u2014 dass hier jeder Netzhautpunkt genau seine urspr\u00fcngliche Lage wiedergefunden haben sollte, dies ist jedenfalls im h\u00f6chsten Ma\u00dfe unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher d\u00fcrfte es sein, dass \u00fcberhaupt kein Punkt vollst\u00e4ndig in seine fr\u00fchere Lage zur\u00fcckgekehrt, sondern dass der eine mehr, der andere weniger durch die Zerrungen und Dehnungen des Gewebes dislocirt worden ist. Dann aber werden wir zu dem Schl\u00fcsse gedr\u00e4ngt, dass eine durch die Bedingungen des Sehens erzwungene Neuordnung der r\u00e4umlichen Beziehungen der Netzhautpunkte eingetreten sei, welche Neuordnung sich nat\u00fcrlich erst von dem Augenblicke an allm\u00e4hlich entwickeln konnte, wo der Zustand wieder stabil wurde, wodurch wieder constante Bedingungen der Localisation eintraten. Daraus, dass dies f\u00fcr die unmittelbare Umgebung des centralen Skotoms nicht gilt, sondern dass hier noch eine fortw\u00e4hrende langsame Zusammenziehung des Narbengewebes stattfindet, erkl\u00e4rt es sich wohl, dass rings um die erblindete Stelle noch eine schwache Verbiegung der geraden Linien zu bemerken ist; ebenso wie sich ja auch die bei Myopischen vorkommenden \u00e4hnlichen Verbiegungen um den normalen blinden Fleck aus solchen fortdauernden Ver\u00e4nderungen erkl\u00e4ren d\u00fcrften.\nMuss nun aber immerhin zugegeben werden, dass bis jetzt \u2014 so lange nicht Beobachtungen vorliegen, bei denen die bleibenden Lage\u00e4nderungen der Netzhauttheile ophthalmoskopisch nachgewiesen sind \u2014 das Schwinden der Metamorphopsien bei l\u00e4ngerem Best\u00e4nde eine doppelte Deutung zul\u00e4sst, so ist dies anders bei Erscheinungen, die man dioptrisch erzeugte Metamorphopsien nennen k\u00f6nnte, und bei denen eine Wiederherstellung des richtigen r\u00e4umlichen Sehens, ohne dass eine entsprechende La,ge\u00e4nderung der Netzhautpunkte angenommen werden kann, au\u00dfer Zweifel steht. Prismatische Gl\u00e4ser, zuweilen aber auch die gew\u00f6hnlichen biconcaven Gl\u00e4ser f\u00fcr Myopische, wenn sie in Folge ungen\u00fcgender Centrirung zum Auge prismatisch wirken, k\u00f6nnen bekanntlich Bildverzerrungen bewirken, so dass gerade Linien gebogen, ebene Fl\u00e4chen gew\u00f6lbt erscheinen. Ich erinnere mich selbst, dass ich vor vielen Jahren, in den Anf\u00e4ngen meines Brillentragens, durch eine solche prismatisch wirkende Concavhrille au\u00dferordentlich gest\u00f6rt wurde. Ich ergab mich aber geduldig darein, und nach mehreren Tagen waren die Bildverzerrungen vollst\u00e4ndig verschwunden. Dieselbe Beobachtung ist, wie ich h\u00f6re, von Augen-","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n11\n\u00e4rzten bei der Anwendung prismatischer Brillen mehrfach gemacht worden. Ein ophthalmologischer College, Herr Dr. 0. Schwarz hier, hat aber, wie er mir mittheilte, in einem Falle, wo eine prismatische Brille wegen sogenannter \u00bbdynamischer Convergenz\u00ab l\u00e4ngere Zeit best\u00e4ndig getragen und dann pl\u00f6tzlich wieder abgelegt wurde, diese Erfahrung noch durch eine andere sehr interessante Beobachtung erg\u00e4nzt. Die zuerst gesehenen Verzerrungen verschwanden auch hier nach l\u00e4ngerem Tragen der Brille. Als jedoch die Brille abgelegt wurde, traten sie wieder ein, und zwar im entgegengesetzten Sinne wie vorher, bis nach einiger Zeit durch die Gew\u00f6hnung an das Sehen ohne prismatische Brille auch diese Verzerrungen wieder verschwanden1).\nIn diesen Beobachtungen scheint mir ein so unumst\u00f6\u00dflicher Beweis f\u00fcr die M\u00f6glichkeit der allm\u00e4hlichen Adaptation der Netzhaut an eingetretene constante Abweichungen der Bilder zu liegen, dass sich wohl nur noch \u00fcber den Umfang, in dem eine solche Adaptation stattfinden kann, nicht aber \u00fcber ihr thats\u00e4chliches Vorkommen Zweifel m\u00f6glich sind. Ueber diese secund\u00e4re Frage k\u00f6nnen nat\u00fcrlich nur weitere, eigens darauf gerichtete Beobachtungen und Versuche, zu denen es den Augen\u00e4rzten an Gelegenheit nicht fehlen d\u00fcrfte, entscheiden.\nII. Die Convergenzversuche und die Innervation der Blickbewegungen.\nDass die Convergenzbewegungen und aush\u00fclfsweise vielleicht auch die Accommodation bei der Wahrnehmung der Entfernung des fixirten Punktes eine wichtige Bolle spielen, ist eine alte Annahme der Physiologen. Um sie experimentell zu pr\u00fcfen und eventuell den Antheil beider Momente an dem Erfolg zu ermitteln, stellte ich Versuche an, die in meinen \u00bbBeitr\u00e4gen zur Theorie der Sinneswahrnehmung\u00ab beschrieben sind2). Bei monocularen Versuchen wurde ein zwischen einem entfernten wei\u00dfen Hintergrund und dem Beobachter herabh\u00e4ngender d\u00fcnner Seidenfaden in der durch die Gesichtslinie eines\n1)\tHerr Dr. Schwarz, der mir die Mittheilung dieser Beobachtung freund-lichst gestattet hat, bemerkt, dass der nach au\u00dfen gekehrte brechende Winkel der beiden prismatischen Gl\u00e4ser nach seiner Erinnerung \u20143\u00b0 betragen habe.\n2)\tBeitr\u00e4ge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. S. 105, 182 ff.","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nW. Wundt.\nAuges gelegten Verticalebene verschoben; das beobachtende Auge blickte, w\u00e4hrend das andere verdeckt war, durch eine R\u00f6hre, die nur einen Theil des Fadens und den entfernten wei\u00dfen Hintergrund sichtbar lie\u00df. Bei den binocularen Versuchen geschah das gleiche mit einem in der Medianebene gelegenen binocular fbdrten Faden. Beidemal wurde die Unterschiedsschwelle f\u00fcr Ann\u00e4herung und Entfernung bestimmt. Um den Einfluss secund\u00e4rer Kriterien, namentlich des Hin- und Herpendelns des Fadens, zu vermeiden, wurden die Versuche als \u00bbGed\u00e4chtnissver suche\u00ab ausgef\u00fchrt: zwischen dem Normalversuch und dem Vergleichsversuch blickte der Beobachter hinweg und stellte dann von\tneuem auf den\tindessen in seiner Lage\tver\u00e4nderten Faden ein.\tEs wurden also\tim einen Fall\tzwei Accommo-\ndationseinstellungen, im zweiten zwei Convergenzeinstellungen mit einander verglichen.\tTheils aus der\tverschiedenen\tAnordnung\tder\nVersuche, theils aus\tden wesentlich\tverschiedenen\tResultaten\tder\nmonocularen und der binocularen Versuche wurde geschlossen, dass in den ersteren ausschlie\u00dflich die Wirkung der Accommodation, in den letzteren die der Oonvergenz auf die Tiefenwahmehmung zur Geltung komme.\nDa diese vor nun beinahe 40 Jahren angestellten und, wie ich schon damals hervorhob, an Zahl unzureichenden Versuche unseren gegenw\u00e4rtigen Anforderungen nicht mehr gen\u00fcgen, so war es ein verdienstliches Unternehmen von F. Hillebrand1), die Frage von neuem in Angriff zu nehmen. Die Einw\u00e4nde, die er bei dieser Gelegenheit gegen meine fr\u00fcheren Versuche richtete, kann ich aber freilich nur theilweise als berechtigte anerkennen. Diese Einw\u00e4nde sind im wesentlichen die folgenden: 1) es sei nicht unm\u00f6glich, dass die bei der Entfernung und Ann\u00e4herung stattfindende Ab- und Zunahme des Gesichtswinkels, unter dem der Faden gesehen wurde, eine entscheidende Rolle gespielt habe; 2) es sei wahrscheinlich, dass bei den binocularen Versuchen die Doppelbilder und die je nach ihrer gekreuzten oder ungekreuzten Beschaffenheit mit ihnen verbundenen \u00bbTiefengef\u00fchle\u00ab die Wahrnehmung der Entfemungs\u00e4nderung vermittelt h\u00e4tten; 3) es sei wegen des bekannten Zusammenhangs von Accommodation und Oonvergenz durchaus anzunehmen, dass bei\n1) Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, der Sinnesorgane. VII, S. 97 ff.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Sinneswahrnehmungen.\n13\nden monocularen Versuchen \u00fcberhaupt nicht die Accommodation, sondern nur die Convergenz zur Geltung gekommen sei. Da nun, um den Einfluss dieser auf die Entfemungssch\u00e4tzung zu erkl\u00e4ren, die Annahme gen\u00fcge, dass der \u00bbWille\u00ab zu einer bestimmten Einstellung der Gesichtslinien den \u00bbKernpunkt des Sehraums\u00ab bestimme, so sei damit die Existenz irgend welcher \u00bbWinkelempfindungen\u00ab nicht nachgewiesen ; wohl aber seien solche monocularen Versuche die allein geeigneten, um die Wirkung der Convergenz, losgel\u00f6st von dem der binocularen Disparation der Doppelbilder, zu bestimmen.\nUnter diesen Einw\u00e4nden ist jedoch der erste nicht stichhaltig. Dass sich hei den in Anwendung gekommenen Verschiebungen des Fadens Aenderungen des Gesichtswinkels, die \u00fcber der r\u00e4umlichen Unterschiedsschwelle lagen, geltend gemacht haben sollten, ist in Anbetracht des Umstandes, dass das Object ein d\u00fcnner Seidenfaden war, von vornherein \u00e4u\u00dferst unwahrscheinlich. Es muss aber anerkannt werden, dass, um den Gedanken an diese M\u00f6glichkeit ganz auszuschlie\u00dfen, eine Angabe \u00fcber den Durchmesser des Fadens w\u00fcnschenswerth gewesen w\u00e4re. In seinen neueren, im wesentlichen nach derselben Methode ausgef\u00fchrten Versuchen hat Max Arrer1) diesem Umstande Rechnung getragen. Dabei hat sich, wie zu erwarten war, ergehen, dass die Aenderungen des Gesichtswinkels in der That in diesem Fall innerhalb der beobachteten r\u00e4umlichen Unterschiedsschwellen v\u00f6llig verschwindende Gr\u00f6\u00dfen sind.\nDer zweite Einwand widerspricht zun\u00e4chst den hei der Ausf\u00fchrung der Versuche zu machenden subjectiven Beobachtungen. Diese bewahren den Charakter von \u00bbGed\u00e4chtnissversuchen\u00ab stets auch darin, dass man sich der wechselnden Blickbewegungen, die jeder einzelnen Fixation vorausgehen, kaum bewusst wird, dass man sich aber die bei der Fixirstellung des Normalversuchs vorhandenen dauernden Empfindungen genau einpr\u00e4gt, um nachher die die Fixirstellung des Vergleichsversuchs begleitenden damit zu vergleichen. Der ganze Vorgang spielt sich also deutlich als eine Vergleichung zweier durch ein gleichg\u00fcltiges Intervall getrennter Empfindungszust\u00e4nde ah; und damit stimmt denn auch vollkommen \u00fcberein, dass man von Doppelbildern \u00fcberhaupt nichts bemerkt, dagegen deutlich in der Umgehung\n1) Philos. Studien. XIII, S. 139.","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nW. Wundt.\ndes Auges eine Spannungsempfindung wahrnimmt, die man, wenn man \u00fcber sie Rechenschaft gehen soll, auf die vorhandene Augenstellung bezieht. So wenig wie mit den subjectiven Beobachtungen, ebenso wenig ist aber die Erkl\u00e4rung aus der Disparation der Netzhautbilder mit den objectiven Ergebnissen der Versuche vereinbar. W\u00e4re jene Erkl\u00e4rung richtig, so m\u00fcsste die Unterschiedsschwelle f\u00fcr Oonvergenzstellungen mit der Unterschiedsschwelle f\u00fcr die Disparation der Netzhautbilder identisch, und sie m\u00fcsste f\u00fcr die verschiedensten Convergenzgrade ann\u00e4hernd constant sein. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Vielmehr \u00fcbertrifft die erstere Schwelle die letztere mit wachsender Convergenz immer mehr, so dass sie schon bei einer Distanz des Eixirpunkts von 50\u201470 cm das vier- bis f\u00fcnffache der Gr\u00f6\u00dfe des kleinsten erkennbaren Netzhautbildes betr\u00e4gt. Dagegen bleibt innerhalb ziemlich weiter Grenzen die relative Unterschiedsschwelle der Entfemungssch\u00e4tzung constant, ein Resultat, das sich unter der Annahme einer mit dem Grade der Convergenz proportional an Intensit\u00e4t zunehmenden Empfindung aus der G\u00fcltigkeit des Web er\u2019sehen Gesetzes f\u00fcr Empfindungsintensit\u00e4ten erkl\u00e4rt.\nDer dritte, gegen die monocularen Versuche gerichtete Einwand w\u00fcrde ohne weiteres als ein vollkommen berechtigter anzusehen sein, wenn die Verschiebungen des Fadens in der Medianebene erfolgt w\u00e4ren. Da sie aber in der Ebene der immer die gleiche Stellung einnehmenden Gesichtslinie selbst stattfanden, so ist wohl anzunehmen, dass die gew\u00f6hnliche Synergie zwischen Convergenz und Accommodation, wo jene als das prim\u00e4re, diese als das secund\u00e4re Moment anzusehen ist, hier nicht Platz griff, sondern dass umgekehrt in diesem Fall, wenn \u00fcberhaupt jene Synergie zur Wirksamkeit kam, die passende Accommodation auf den Fixirpunkt zuerst eintrat, worauf dann erst die zugeh\u00f6rige Convergenzstellung des verdeckten Auges erfolgen konnte. Die M\u00f6glichkeit des letzteren Erfolgs muss nat\u00fcrlich anerkannt werden, und in dem Uebersehen dieses Umstandes liegt nach dem Stand unserer heutigen Kenntnisse zweifellos eine L\u00fccke meiner fr\u00fcheren Versuche. Gleichwohl ist es aber, auch wenn man dies ber\u00fccksichtigt, darum noch keineswegs gerechtfertigt, nun mit Hillebrand anzunehmen, dass die monocularen Versuche, abgesehen von der durch die Verdeckung des einen Auges verhinderten Disparation der Netzhautbilder, als vollkommen \u00e4quivalent den","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n15\nbinocularen anzusehen seien. \"Wie man auch \u00fcber das ob und das wie des Einflusses von Convergenz und Accommodation auf die Tiefenwahmehmung denken m\u00f6ge, so steht jedenfalls dies fest, dass an die Convergenz auf einen beschr\u00e4nkten Punkt eine viel bestimmtere Vorstellung seiner Tiefendistanz gekn\u00fcpft ist als an die Accommodation auf denselben. Wenn wir binocular fixiren, wo ohne Zweifel die Accommodation nach der Convergenz sich richtet, nicht umgekehrt, so wird die Accommodation \u00fcberhaupt hei der Entfernungsbestimmung gegen\u00fcber der sie an Genauigkeit weit \u00fcbertreffenden Convergenz gar nicht in Erage kommen. Wenn wir aber, wie es bei den monocularen Versuchen geschieht, die Bedingungen so stellen, dass die Accommodation zum prim\u00e4ren Moment wird, nach dem erst die Convergenz sich richten kann, so mag es zwar sein, dass bei der Entfernungsbestimmung des Eixirpunktes die Convergenzstellung des verdeckten Auges mitwirkt. Aber da diese Stellung von der Accommodation abh\u00e4ngig ist, so wird sie schwerlich genauer sein k\u00f6nnen, als die Accommodation selbst ist. Es w\u00fcrde also, wenn man voraussetzt, dass sowohl die Accommodations- wie die Convergenz-anstrengung von Empfindungen begleitet sei, auch unter dieser Voraussetzung bei der Folgerung bleiben, dass die Entfemungssch\u00e4tzung bei den monocularen Versuchen nicht sowohl ein Ma\u00df f\u00fcr das, was die Convergenz leisten kann, als vielmehr ein solches f\u00fcr die Leistung der Accommodation sei. Legt man dagegen die von Hillebrand bei dieser Gelegenheit zur Geltung gebrachte Annahme zu Grunde, dass ausschlie\u00dflich der \u00bbWille\u00ab zur Herbeif\u00fchrung irgend einer an sich gar nicht durch Empfindungen gekennzeichneten Convergenzstellung die Entfernung vom \u00bbKernpunkt\u00ab des Sehraums bestimme, so sind wieder verschiedene Interpretationsweisen m\u00f6glich. Nimmt man an, dass die Accommodation auf den Eaden unwillk\u00fcrlich erfolge, und dass verm\u00f6ge des mechanischen Zusammenhangs von Accommodation und Convergenz nun auch die Gesichtslinie des verdeckten Auges auf den accommodirten Punkt sich einstelle, so w\u00fcrde diese letztere Einstellung offenbar keine willk\u00fcrliche sein; es w\u00fcrde also angenommen werden m\u00fcssen, dass nicht blo\u00df der Wille eine Convergenzstellung herbeizuf\u00fchren, sondern dass diese Convergenzstellung selbst auch abgesehen vom Willen eine Bestimmung des Fernpunktes vermitteln k\u00f6nne. Dann w\u00e4re aber nicht abzusehen,","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nW. Wundt.\nwie wir von einer solchen unwillk\u00fcrlich eingetretenen Convergenz-stellung anders als durch irgend welche an die Augenstellung gebundene Empfindungen eine Vorstellung erhalten sollten. Es bliebe daher nur \u00fcbrig anzunehmen, dass auch die Accommodation auf den Eaden eine Wirkung des Willens sei, welche hierauf erst die Wirkung des Willens auf die Blickbewegungen ausl\u00f6se. Der Vorgang w\u00fcrde sich dann offenbar in der folgenden etwas complicirten Weise gestalten : der im ersten Moment undeutlich gesehene Eaden erweckt den Willen ihn deutlich zu sehen; in Folge dessen probirt der Beobachter seine Accommodation und mit ihr zugleich seine willk\u00fcrliche Convergenz so lange hin und her, bis sein Auge richtig accom-modirt ist, und nun erzeugt der Wille zur Einstellung der Sehlinie des verdeckten Auges auf den' deutlich gesehenen Punkt die Vorstellung der Entfernung des fixirten Punktes. Dass- sich ein so complicirter Willensprocess bei diesen Versuchen abgespielt haben sollte, scheint mir allerdings, auch abgesehen von den Bedenken, die dieser Anwendung des abstracten Willensbegriffs \u00fcberhaupt im Wege stehen, wenig wahrscheinlich. Immerhin w\u00fcrde eine derartige Hypothese an sich nicht ganz unm\u00f6glich sein, und es war daher dankenswerth, dass Hillebrand die Frage von dieser Seite aus von neuem in Angriff nahm.\nLeider erweist sich jedoch die von Hillehrand gew\u00e4hlte Versuchsanordnung nicht als geeignet, um den gestellten Zweck zu erreichen. Von der vollkommen richtigen Erw\u00e4gung ausgehend, dass eine im mathematischen Sinne lineare Grenze ein g\u00fcnstigeres Fixationsobject sein w\u00fcrde als ein Faden, der, wenn auch noch so d\u00fcnn, immerhin einen gewissen Durchmesser hat, w\u00e4hlte er n\u00e4mlich als Fixirlinie die Grenze zwischen einem schwarzen Schirm und einer von zwei Lampen erleuchteten Milchglasplatte. Nun ist aber eine solche Grenze zwischen einem dunklen und einem erleuchteten Felde, mag sie auch objectiv einer mathematischen Linie noch so nahe kommen, im suhjectiven Netzhautbilde, das hier doch allein entscheidet, nichts weniger als eine solche, wie man sich leicht bei der Herstellung dieser Versuchseinrichtung \u00fcberzeugt1). Die Grenze zwischen dem dunkeln und dem erleuchteten Felde erscheint n\u00e4mlich nicht als eine Linie, sondern in Folge der starken Wirkung der Irradiation,\n1) Vgl. Arrer, Philos. Studien. XUI, S. 280.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesiehtswahrnehmungen.\n17\ndie durch den Contrast gegen das in seinem ganzen sonstigen Umfang dunkle Gresichtsfeld noch bedeutend gehoben wird, als ein breiter Streifen, der durch eine mehr oder weniger verwaschene Zone in das helle Feld \u00fcbergeht. Da man bei keiner Accommodationsstellung im Stande ist, diese Irradiationszone zu \u00fcberwinden, so versagt hier die Accommodation v\u00f6llig, und man ist ganz au\u00dfer Stande, \u00fcberhaupt eine Aussage \u00fcber die eingetretenen Verschiebungen des schwarzen Schirmes zu machen. So ergaben denn auch sowohl die Versuche von Hillebrand wie die von Arrer, die nach dieser Methode ausgef\u00fchrt wurden, ein vollkommen negatives Resultat1).\nEtwas besser, aber immer noch \u00e4u\u00dferst unsicher gelang die Erkennung der Tiefenunterschiede, wenn abwechselnd zwei Schirme in ansehnlicher Distanz von einander in das Gresichtsfeld geschoben wurden. Hach den auf solche Weise auch von Dixon2) und Arrer3) ausgef\u00fchrten Versuchen ist es aber kaum zweifelhaft, dass dabei die Urtheile nach secund\u00e4ren Kriterien gef\u00e4llt wurden. Da nun diese wahrscheinlich nur deshalb zur Anwendung kamen, weil die normalen Bedingungen f\u00fcr die Accommodation fehlten, so bleibt das Resultat der letzteren Versuche wenigstens f\u00fcr die vorliegende Frage ebenfalls ein negatives.\nUnter diesen Umst\u00e4nden schien es w\u00fcnschenswerth, die Versuche nach der bei meinen fr\u00fcheren Beobachtungen angewandten Methode, wo die Irradiation nur einen minimalen Einfluss haben konnte und jedenfalls der genauen Accommodation kein Hindemiss in den Weg legte, zu wiederholen, dabei aber auf die Verbesserung der Methode,\n1)\tIn einer Besprechung der Arrer\u2019sehen Versuche in einem erst nach dem Abschl\u00fcsse der vorliegenden Arbeit erschienenen Aufsatze (Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, d. Sinnesorg. XVI, S. 104) bemerkt Hillebrand in Bezug auf diesen, schon von Arrer erhobenen Einwand wegen der Irradiation: diesem Uebelstande lasse sich \u00bbdoch leicht abhelfen: man macht einfach den hellen Hintergrund nicht allzu lichtstark\u00ab. Dieser Anweisung kann man nat\u00fcrlich nachkommen; trotzdem l\u00e4sst sich auch dann, wie ich glaube, solange man im \u00fcbrigen an der Hillebrand\u2019schen Versuchsanordnung festh\u00e4lt, die Irradiation nicht vermeiden. Ich bestreite nat\u00fcrlich nicht, dass es \u00fcberhaupt m\u00f6glich sei, eine Grenzlinie ohne Irradiation zu sehen; ich bestreite aber allerdings, dass dies in den Versuchen Hillebrand\u2019s und in den nach den Angaben Hillebrand\u2019s ausgef\u00fchrten Versuchen Arrer\u2019s m\u00f6glich gewesen sei.\n2)\tMind, N. S. Vol. IV. 1895. S. 200 ff.\n3)\tArrer, a. a. O. S. 283.\nWundt, Philos. Studien. XIV.\n2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nW. Wundt.\ndie Variirung der Bedingungen und die Ergebnisse der subjektiven Beobachtung so viel als m\u00f6glich Bedacht zu nehmen. Ich kann mich damit begn\u00fcgen, aus der nach diesem Plane von Max Arrer mit gro\u00dfer Sorgfalt ausgef\u00fchrten Untersuchung die Hauptergebnisse hervorzuheben. Objectiv stellten sich bei den binocularen Versuchen \u00e4hnliche, nur, wie aus der l\u00e4nger fortgesetzten Uebung der Beobachter zu erkl\u00e4ren ist, im allgemeinen etwas kleinere Schwellenwerthe heraus als in meinen fr\u00fcheren Versuchen; auch die Constanz der relativen Unterschiedsschwelle best\u00e4tigte sich. Ebenso ergaben sich f\u00fcr die monocularen Versuche etwas gr\u00f6\u00dfere Schwellenwerthe; doch zeigten diese mit, wachsender Uebung eine deutliche Tendenz, sich den binocularen W er then zu n\u00e4hern. Der fr\u00fcher gefundene Unterschied zwischen Ann\u00e4herungs- und Entfernungsschwelle best\u00e4tigte sich nicht oder fand sich doch nur bei einzelnen Beobachtern. Von besonderer Bedeutung sind unter den zugleich gemachten subjectiven Beobachtungen namentlich zwei: 1) Doppelbilder wurden durchweg bei den binocularen Versuchen nicht beobachtet; und ihre absichtliche Erzeugung f\u00f6rderte keineswegs die Tiefenwahrnehmung, sondern erwies sich als ein st\u00f6rendes Moment1). 2) Es zeigte sich allgemein, dass die Auffassung von Entfernungsunterschieden an eine, wenngleich sehr unsichere und unbestimmte absolute Entfernungsvorstellung gebunden war, die, wenn die Beobachter aufgefordert wurden, \u00fcber dieselbe n\u00e4here Rechenschaft zu geben, auf eine zusammengesetzte geometrische Vorstellung zur\u00fcckgef\u00fchrt werden konnte: die meisten Beobachter dachten sich n\u00e4mlich den fixirten Punkt als die Spitze eines Dreiecks, zu dem eine im Kopfe liegende Basis geh\u00f6rte; doch kamen auch beliebige andere Vorstellungen vor, nur nahm in dieser stets der fixirte Punkt eine ausgezeichnete Stelle ein2).\nDie erste dieser Wahrnehmungen spricht jedenfalls nicht f\u00fcr die Annahme, dass die Disparation der Netzhautbilder bei diesen Versuchen eine entscheidende Bolle spielte. Die zweite zeigt, dass von einer etwa unmittelbar an die Convergenzempfindung oder gar an die Convergenz als solche gebundenen Tiefenvorstellung nicht die Bede sein kann. Vielmehr weist diese bei allen Beobachtern Vorgefundene Thatsache der subjectiven Wahrnehmung darauf hin, dass\n1) Arrer, a. a. O. S. 225.\n2) Ebenda, S. 239 ff.","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahmebmurigen.\n19\ndie Convergenz der Blicklinien nur wirksam werden kann, indem sie associativ ein ganzes Vorstellungsbild des Raumes, in welchem sich der Fixirpunkt befindet, hervorruft. Nun bestehen unsere Wahrnehmungen oder Vorstellungen aus Empfindungen. In die Vorstellung eines Dreiecks z. B., in welchem die Distanz der Augenmittelpunkte die Grundlinie und die Sehlinien beider Augen die Seiten bilden, muss nothwendig die Richtung der Sehlinien als Partialvorstellung mit eingehen, und zu dieser gelangen wir, wie zu allen Vorstellungen \u00fcber die Lagen und Bewegungen unseres K\u00f6rpers, durch Empfindungen. Dass sich mein Arm in einer erhobenen Lage befindet, wei\u00df ich ebenso gut nur aus bestimmten Gelenk- und Muskelempfindungen, wie ich von der Existenz eines \u00e4u\u00dferen leuchtenden Objectes nur mittelst der Lichtempfindungen des Auges etwas wei\u00df. Demnach k\u00f6nnen wir uns die Entstehung jener zusammengesetzten r\u00e4umlichen Vorstellungen, an die sich die binoculare Wahrnehmung der Tiefen\u00e4nderungen gebunden zeigt, psychologisch kaum anders denken als so, dass, \u00e4hnlich wie bei allen andern psychischen Assimilationen, die an die Augenstellungen gebundenen Empfindungen eine Menge reproductiver Vorstellungselemente wach rufen, wobei namentlich f\u00fcr die aus diesen Elementen zusammengesetzte Vorstellung jene directen Empfindungen aber insofern ma\u00dfgebend sind, als sie die Entfernung des Eixirpunktes vom Sehenden bestimmen1). Nur in einer Beziehung vermag ich mich den von Arrer aus diesen geometrischen H\u00fclfsvorstellungen seiner Beobachter gezogenen Folgerungen nicht anzuschlie\u00dfen. Ich hatte bei meinen fr\u00fcheren Versuchen die absolute Entfernungssch\u00e4tzung sowohl bei den mono-cularen wie bei diesen binocularen Versuchen als eine \u00bbunbestimmte\u00ab bezeichnet, insofern man zwar nach einiger Uebung stets wahmimmt, dass sich der Faden irgendwo, nah oder fern, zwischen Hintergrund und Auge befinde, ohne jedoch \u00fcber die absolute Distanz etwas sicheres aussagen zu k\u00f6nnen, w\u00e4hrend man doch namentlich bei den binocularen Versuchen au\u00dferordentlich scharf die Ann\u00e4herung oder\n1) Experimentelle Belege f\u00fcr die Wirksamkeit solcher Assimilationen werden wir unter III. bei der Er\u00f6rterung der \u00bbgeometrisch-optischen T\u00e4uschungen\u00ab kennen lernen.\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nW. Wundt.\ndas Femerr\u00fccken auffasst. Arrer ist nun der Ansicht, dass auch die absolute Entfemungssch\u00e4tzung eine \u00bbbestimmte\u00ab sei, und er meint, dass ohne das letztere eine sichere Bestimmung der relativen Ent-femungs\u00e4nderungen ebenfalls unm\u00f6glich sein w\u00fcrde1). Der letzteren Ansicht vermag ich nicht beizupflichten. Ich meine vielmehr, dass uns die psychophysischen Versuche fortw\u00e4hrend F\u00e4lle kennen lehren, wo wir bei ganz unbestimmter absoluter Sch\u00e4tzung zu einer sehr genauen Auffassung von Empfindungsunterschieden bef\u00e4higt sind. Eine absolute Schall- oder Lichtst\u00e4rke z. B. ist eine h\u00f6chst unbestimmte Vorstellung, aber zwei nach oder neben einander wahrgenommene Schall- und Lichtst\u00e4rken kann man ziemlich genau unterscheiden. Ganz im Sinne dieser unbestimmten Auffassung absoluter Schallst\u00e4rken, Lichtst\u00e4rken, Tonh\u00f6hen u. dergl. ist nun auch die absolute Localisation hei den Oonvergenzversuchen im allgemeinen eine unbestimmte. Dass sie das ist, geht, wie mir scheint, auch z. B. aus den bekannten Versuchen von Donders2) hervor, obgleich dieser seihst aus denselben auf eine absolut genaue, also bestimmte Localisation schloss. In Wahrheit zeigen seine Beobachtungen nur, dass durch die Uehung der Grad der Unbestimmtheit solcher absoluter Entfernungssch\u00e4tzungen mehr und mehr verringert werden kann, wenn man fortw\u00e4hrend die falsch bestimmten Entfernungen an den richtig gemessenen controlirt. Zu dieser Contr\u00f4le ist aber gerade bei den Oonvergenzversuchen kein directer Anlass gegeben. Es ist darum auch, wie ich glaube, nicht anzunehmen, dass bei ihnen die Localisation jemals auf h\u00f6rt, eine unbestimmte zu sein. Augenscheinlich ist Arrer zu seiner abweichenden Auffassung durch die Aussagen seiner Beobachter \u00fcber ihre geometrischen Baumvorstellungen veranlasst worden. Aber er unterliegt hier, wie mir scheint, dem freilich auch sonst oft genug vorkommenden psychologischen Irrthum, dass er diese durch Abfragen von den Beobachtern gewonnenen Vorstellungen als urspr\u00fcnglich schon in ihren Wahrnehmungen gegebene ansieht. Das sind sie zweifellos nicht, sondern jene Angaben sind lediglich als der Ausdruck von Begriffen aufzufassen, durch welche die in geometrischen Anschauungen ge\u00fcbten Beobachter ihre allgemeinen Baum-\n1)\tArrer, Ph\u00fcos. Studien. XIII, S. 223 ff.\n2)\tArch. f. Ophthalm. XIH, 1. S. 22 ff.","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Znr Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n21\nVorstellungen w\u00e4hrend des Versuchs zu definiren suchten. Dadurch verlieren gewiss diese subjectiven Beobachtungen nicht ihren Werth. Sie beweisen vielmehr, dass die Wahrnehmungen der Lage und der Lage\u00e4nderung des Fadens stets Bestandtheile einer ganzen zusammengesetzten Raumvorstellung ausmachen. Aber die Angaben der Beobachter \u00fcber diese Raumvorstellung sind erst durch Reflexion gewonnen; sie sind also in diesem Sinne begriffliche Verarbeitungen ihrer wirklichen concreten Vorstellungen.\nZweifelhafter ist das Ergebniss der monocularen Beobachtungen. Der Verlauf der Versuche erweckt hier den Eindruck, dass zun\u00e4chst nach der Accommodationsanstrengung, ebenfalls unter Vermittelung irgend einer H\u00fclfsvorstellung, die Distanz\u00e4nderungen gesch\u00e4tzt worden seien, dass dann aber durch die zunehmende Uebung die Mitbewegung des verdeckten Auges einen wachsende Einfluss gewonnen habe, wodurch sich die Ergebnisse allm\u00e4hlich einer Grenze n\u00e4herten, hei der sich die monoculare nicht mehr allzu weit von der binocularen Auffassung entfernte. Eine sichere Entscheidung \u00fcber den relativen Antheil von Accommodation und Convergenz an dem Erfolg gestatten aber die Versuche nicht; und es muss daher die Frage, ob und in welcher Weise die Accommodation bei monocularem Sehen einen bestimmenden Einfluss auf die Tiefenvorstellung aus\u00fche, \u00fcberhaupt noch als eine offene, durch k\u00fcnftige Versuche zu entscheidende bezeichnet werden. Doch kann diese Frage hier aus dem Spiel bleiben, da sie f\u00fcr das uns an dieser Stelle besch\u00e4ftigende Problem des Einflusses der Augenbewegungen auf die Gesichtswahmehmungen keine Bedeutung hat. F\u00fcr dieses Problem ist nur der Nachweis von Wichtigkeit, dass an die Convergenzbewegungen des Doppelauges Empfindungen gebunden sind, die irgendwie eine Vorstellung von der Entfernung des Fixationspunktes vermitteln. Dieser Nachweis ist aber, wie mir scheint, durch die Versuche mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit erbracht.\nDass die an die Stellungen und Bewegungen des Auges gebundenen Empfindungen, mit denen sich die in diesen Versuchen beobachteten allgemeinen Raumvorstellungen associiren, ausschlie\u00dflich oder auch nur vorzugsweise in\" den Muskeln des Auges entstehen, ist \u00fcbrigens nach allem, was wir sonst \u00fcber den Ursprung activer und passiver Tastempfindungen kennen, nicht wahrscheinlich. Aus Gold-","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nW. Wundt.\nscheider\u2019s1) Versuchen wissen wir, dass die hei den Gelenkbewegungen zu beobachtenden Empfindungen haupts\u00e4chlich in den Gelenken selbst ihren Sitz haben. Aehnlich lie\u00dfe sich wohl die nervenreiche Orbita, in der sich das Auge wie in einem Kugelgelenk dreht, als eine Art Gelenkh\u00f6hle betrachten, die durch den bei den Augenbewegungen und Augenstellungen stattfindenden Druck und Zug des Augapfels auf das unterliegende Bindegewebspolster haupts\u00e4chlich die stattfindenden Empfindungen vermittele. Wahrscheinlich handelt es sich aber in allen diesen F\u00e4llen um Complexe von Empfindungen, an denen neben den Gelenken die Muskeln selbst, die Haut und die sonst mit sensibeln Nerven versehenen umgebenden Gewebe theilnehmen. Die Namen \u00bbMuskelempfindungen\u00ab oder \u00bbSpannungsempfindungen\u00ab2) wird man daher immerhin als abk\u00fcrzende Ausdr\u00fccke in dem Sinne beibehalten k\u00f6nnen, dass unter ihnen alle die Empfindungen zusammengefasst werden, die in Folge der Spannungen und Contractionen von Muskeln entstehen. Will man die qualitative Zugeh\u00f6rigkeit dieser Empfindungen zu den Tastempfindungen hervorheben, so d\u00fcrfte der Ausdruck \u00bbinnere Tastempfindungen\u00ab, der die Betheiligung der verschiedenen Gewebe ganz dahingestellt l\u00e4sst, der angemessenste sein3).\nUnter dem hier geltend gemachten Gesichtspunkte sind nun auch, wie mir scheint, die Einw\u00e4nde zu w\u00fcrdigen, die gegen die Existenz von Empfindungen, welche die Bewegungen des Auges begleiten, gemacht worden sind. Man hebt vor allem hervor, in der subjectiven\n1)\tDu Bois-Reymond\u2019s Archiv, 1889. S. 490ff.\n2)\tVgl. Physiol. Psychol. 4. Aufl. I, S. 422 ff.\n3)\tVgl. hierzu Physiol. Psychol. 4. Aufl. I, S. 422 ff. Grundriss der Psychologie. 2. Aufl. S. 54 ff. F\u00fcr diejenigen inneren Tastempfindungen, welche an bestimmte mit activer Leistung verbundene Ruhestellungen gebunden sind, l\u00e4sst sich dann auch der Ausdruck \u00bbKraftempfindungen\u00ab, f\u00fcr die eine Bewegung begleitenden Empfindungen der andere \u00bbBewegungsempfindungen\u00ab gebrauchen (Physiol. Psychol. 4. Aufl. I, S. 420), Ausdr\u00fccke, die ebenfalls den Vortheil haben, keinerlei Voraussetzungen \u00fcber den physiologischen Ursprung dieser Empfindungen einzuschlie\u00dfen. Selbstverst\u00e4ndlich soll dabei aber das Wort \u00bbBewegungsempfindung\u00ab ebenso wenig eine Empfindung bedeuten, die selbst schon eine Vorstellung der Bewegung enth\u00e4lt, wie man unter \u00bbGeh\u00f6rsempfindung\u00ab, \u00bbNetzhautempfindung\u00ab Empfindungen versteht, mit denen sich ein Wahrnehmungsbild des Geh\u00f6rorgans oder der Netzhaut verbindet. Leider hat die Verwirrung, die nicht nur bei Physiologen und Philosophen, sondern sogar noch bei Psychologen \u00fcber den Begriff der \u00bbEmpfindung\u00ab besteht, dieses Missverst\u00e4ndniss zuweilen entstehen lassen.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\t23\nWahrnehmung k\u00f6nnten diese Empfindungen nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Dagegen ist zun\u00e4chst zu bemerken, dass dies nur f\u00fcr kleine, nicht f\u00fcr umfangreiche Drehungen des Auges gilt. Diese, namentlich wenn dabei gerade Linien fixirend verfolgt werden, sind, wie schon J. M\u00fcller1) hervorgehohen hat, \u00bbmit eigenth\u00fcmlichen unangenehmen Spannungen in den Augenmuskeln verbunden\u00ab. Das Auge verh\u00e4lt sich auch hierin vollst\u00e4ndig wie andere bewegliche Organe. Bei ausgiebigen Armbewegungen im Ellbogen- und Schultergelenk bemerkt man z. B. sehr deutlich die localen Empfindungen, sehr kleine Bewegungen aber fasst man zwar noch als Bewegungen auf, doch eine deutliche Wahrnehmung der Gelenkempfindungen als solcher ist nicht mehr vorhanden. Es kommt eben hier die f\u00fcr alle unsere Sinneswahrnehmungen g\u00fcltige Hegel zur Anwendung, dass m\u00e4\u00dfige Empfindungen f\u00fcr uns vollst\u00e4ndig mit den Wahrnehmungserfolgen verschmelzen, die aus ihnen hervorgehen. So k\u00f6nnen wir ja hei tastenden Bewegungen mit einem Stock bekanntlich sogar \u00fcbersehen, dass die Tastempfindung in unserer Hand stattfindet, weil wir sie in der Vorstellung an das tastende Ende des Stocks verlegen2). Nun ist hei den Tastorganen die Annahme, in solchen F\u00e4llen, wo wir die bei Lage\u00e4nderungen vorkommenden Empfindungen nicht unmittelbar suhjectiv wahrnehmen, das hei\u00dft aus der zusammengesetzten Vorstellung isoliren k\u00f6nnen, seien diese Empfindungen \u00fcberhaupt nicht vorhanden, vollst\u00e4ndig ausgeschlossen. Aus Gold-scheider\u2019s Versuchen geht hervor, dass sehr kleine passive Gelenkbewegungen ebenso genau aufgefasst werden wie active, willk\u00fcrliche. Passive Bewegungen k\u00f6nnen aber unm\u00f6glich anders erkannt werden als durch Empfindungen, die an sie gebunden sind. Wenn man nun nach Goldscheider\u2019s Methode Versuche ausf\u00fchrt, so lassen sich hei kleinen, noch deutlich erkennbaren Drehungen die Gelenkempfindungen ebenso wenig isolirt wahrnehmen, wie bei kleinen Augenbewegungen: auch dort verschmilzt die Empfindung ganz und gar mit der Vorstellung der Gelenkdrehung und l\u00e4sst sich erst dann einigerma\u00dfen von dieser sondern, wenn sie eine ungew\u00f6hnliche St\u00e4rke erreicht.\n1)\tZur vergleichenden Physiologie des Gefiihlssinns. S. 242.\n2)\tE. H. Weber, Tastsinn und Gfemeingef\u00fchl. Handw\u00f6rterb. der Physiologie. HI, 2. S. 483.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nW. Wundt.\nAus alledem sieht man: es w\u00fcrde nothwendig sein, dem Auge eine sehr merkw\u00fcrdige Ausnahmestellung gegen\u00fcber den n\u00e4chstverwandten Organen anzuweisen, wollte man die Annahme aufrecht erhalten, dass seine Bewegungen nicht von Empfindungen begleitet seien, und dass daher blo\u00df der Wille als solcher seine Stellungen und Bewegungen im Baume bestimme.\nDoch nicht blo\u00df mit den auf dem verwandten Gebiet des Tastsinns gefundenen Thatsachen setzt sich die Willenstheorie in Widerspruch, auch die Functionen des Sehens seihst werden, wie ich glaube, durch diese Einmengung des psychologischen Allgemeinbegrii\u00efs \u00bbWille\u00ab von vornherein unter einen falschen Gesichtspunkt gebracht. Die Bewegungen des Auges k\u00f6nnen nach dieser Theorie von Hause aus nur willk\u00fcrliche sein. Das Kind soll von der Gehurt an sein Auge willk\u00fcrlich einem im Sehhereich auftretenden Dichte zuwenden, und, diesem Anfang entsprechend, sollen auch sp\u00e4terhin die Augenbewegungen reine Willensfunctionen sein. Falls aber etwa noch andere rein reflectorische Bewegungen des Auges angenommen werden, so sollen diese unter allen Umst\u00e4nden f\u00fcr den Sehact ohne alle Bedeutung sein, da erst der Wille zu bestimmten Bewegungen diesen selbst eine r\u00e4umliche Bedeutung verleihe.\nEs ist merkw\u00fcrdig, dass in diesem Punkte die nativistische Theorie, die von diesem abstracten Willensverm\u00f6gen den ausgiebigsten Gebrauch macht, eigentlich ebenso wenig nativistisch ist wie die empiristische, welche die Erfahrung und eventuell noch Ueber-legungen, Urtheile und Schlussfolgerungen bei jedem Sehact in Bewegung setzt. Denn so stark jene auch angeborene Eigenschaften der \u00bbSehsinnsubstanz\u00ab zu ihren Erkl\u00e4rungen herbeizieht, an den angeborenen Eigenschaften des Bewegungsmechanismus l\u00e4sst sie gerade einen entscheidenden Punkt au\u00dfer Betracht. Und doch machen es die allerseits anerkannten, bereits von J. M\u00fcller1) so stark betonten Erscheinungen der Synergie der binocularen Augenbewegungen, der Accommodation, der Oonvergenz und der Pupillenbewegungen im Grunde schon undenkbar, dass ein analoger physiologischer Zusammenhang zwischen Netzhauterregung und Blickbewegung nicht ebenfalls existiren sollte. Wenn die Bewegung des Auges eine reine Function unseres\n1) Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns. S. 207 ff.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n25\nWillens w\u00e4re, wie k\u00e4me es doch, dass wir nicht allein \u00fcberhaupt au\u00dferordentlich schwer die Verbindung einer bestimmten Convergenz-stellung mit der entsprechenden Accommodation l\u00f6sen oder auch kleine Unterschiede in der H\u00f6henlage beider Sehlinien k\u00fcnstlich hervorbringen k\u00f6nnen, sondern dass dies insbesondere auch durchaus nicht durch Willensanstrengung m\u00f6glich ist (wie es bisweilen irrth\u00fcm-lich geschildert wird), sondern nur durch einen objectiv auf das Auge ausge\u00fchten Zwang, also z. B. dadurch, dass man durch ablenkende Prismen die abweichenden Augenstellungen herbeif\u00fchrt? Oder wie w\u00e4re es m\u00f6glich, dass keine Willensanstrengung geringe Grade von Strabismus zu \u00fcberwinden vermag, w\u00e4hrend doch in solchen F\u00e4llen jedes Auge f\u00fcr sich allein willk\u00fcrlich fixiren kann, und w\u00e4hrend auch hier ein Zwang, dem man das Auge von Seiten der Gesichtsobjecte, durch geeignete Bildverschiebungen mittelst prismatischer Gl\u00e4ser, aussetzt, bei nicht allzu weitgehenden Abweichungen von Erfolg ist?\nIch bin nicht der Meinung gewisser Psychologen, dass das neugeborene Kind und das neugeborene Thier blo\u00dfe Reflexapparate seien. Diese Ansicht steht, wie ich glaube, im stricten Widerspruch mit dem was wir aus der objectiven Beobachtung berechtigter Weise folgern k\u00f6nnen '). Aber die Anerkennung urspr\u00fcnglicher Trieb- oder einfacher Willenshandlungen schlie\u00dft nicht aus, dass man anderseits auch die Ausr\u00fcstung mit Reflexapparaten, die von der vererbten Organisation des Nervensystems herstammen, nicht \u00fcbersehe. Nur eine Pr\u00fcfung der Bedingungen und der Begleiterscheinungen der Bewegungen kann im einzelnen Fall entscheiden, welchen Ursprungs sie sind. Alle Bewegungen als Willenshandlungen aufzufassen, ist darum ebenso wenig erlaubt, wie sie samt und sonders als Reflexe zu deuten. F\u00fcr die sp\u00e4tere Entwicklung eines individuellen Wesens wird dieses Verh\u00e4ltniss \u00fcberdies noch dadurch erheblich complicirt, dass urspr\u00fcngliche Reflexe allm\u00e4hlich der Beherrschung durch psychische Motive, also nach dem gew\u00f6hnlichen Ausdruck der \u00bbLenkung des Willens\u00ab anheimfallen, w\u00e4hrend auf der andern Seite willk\u00fcrliche Bewegungen mechanisirt, in reine Reflexe umgewandelt werden k\u00f6nnen. Bei den bekannten Augenbewegungen neugeborener Kinder, wo diese\n1) Vgl. \u00fcber diese Frage den Aufsatz \u00fcber die Entwickelung des Willens in meinen Essays, S. 286 ff., und Grundriss der Psychologie. 2. Aufl. S. 339.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nW. Wundt.\neinem im Sehbereich auftretenden Licht das Auge zuwenden, fehlt uns jedes Merkmal, nach dem wir solche Bewegungen als willk\u00fcrliche ansprechen k\u00f6nnten. Auch Preyer1), der sonst sehr zu psychologischen Deutungen geneigt ist, fasst sie nicht als willk\u00fcrliche auf. Wenn aber hier die Blickrichtung mit einer Art von mechanischem Zwang dem Lichte folgt, so kann die Erscheinung nicht wohl anders als aus einer urspr\u00fcnglichen Reflexbeziehung zwischen der Centralgrube der Netzhaut und dem Muskelapparat des Auges erkl\u00e4rt werden, wie wir ja solche specielle Reflexverbindungen zwischen der Reizung bestimmter Sinnesnerven und den Muskeln der zugeh\u00f6rigen Bewegungsorgane aus den Reflexversuchen an enthaupteten Thieren kennen. Aber die n\u00e4mliche Reflexverbindung scheint mir auch noch fortan nachweisbar zu sein, wenngleich sie sp\u00e4terhin leichter durch dazwischentretende willk\u00fcrliche Bewegungen oder durch willk\u00fcrliche Hemmung intendirter Bewegungen unterdr\u00fcckt werden kann. Wenn ich in einen dunkeln Raum blicke und irgendwo im Bereich des indirecten Sehens einen elektrischen Funken zwischen zwei Elektroden \u00fcberspringen lasse, so entsteht eine Blickhewegung nach dem gesehenen Funken hin, die durchaus nicht willk\u00fcrlich ist, und die sehr schwer durch den Willen unterdr\u00fcckt werden kann. Nicht blo\u00df Lichteindr\u00fccke im Dunkeln, sondern \u00fcberhaupt irgend welche distincte Eindr\u00fccke in einem sonst gleichf\u00f6rmigen Gesichtsfelde \u00fcben aber einen \u00e4hnlichen Zwang auf die Blickbewegung aus, und wenn diese dem Zwang nicht immer folgt, so scheint das nicht selten blo\u00df deshalb zu geschehen, weil sich mehrere solche Eindr\u00fccke, die in entgegengesetzten Richtungen wirken, wechselseitig compensiren. Diese Reflexbeziehungen des gelben Flecks zu distincten Eindr\u00fccken im Gesichtsfeld ordnen sich auf solche Weise durchaus der Gesammtheit jener centralen Anpassungen des Bewegungsapparates an die Zwecke des Sehens unter, die in der Synergie der hinocularen Augenbewegungen und in der Synergie von Accommodation und Convergenz ihren Ausdruck finden. Eine Theorie des Sehens wird daher allen diesen urspr\u00fcnglichen Eigenschaften des Sehorganes, denen des Bewegungsmechanismus ebenso gut wie denen des Sehnervenapparates, und neben ihnen zugleich den Einfl\u00fcssen der sogenannten \u00bbErfahrung\u00ab, Rechnung tragen m\u00fcssen.\n1) Die Seele des Kindes. 3. Aufl. S. 30.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n27\nIII. Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\nDa ich, wie fr\u00fcher (S. 4) bemerkt wurde, die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen anderw\u00e4rts eingehend er\u00f6rtert habe, so besteht bei der folgenden Uebersicht durchaus nicht die Absicht einer irgendwie vollst\u00e4ndigen Beschreibung dieser Erscheinungen. Ebenso werde ich auf literarische Nachweise \u00fcber die Auffindung und bisherige theoretische Behandlung der einzelnen T\u00e4uschungen verzichten, indem ich in dieser Beziehung hier ein f\u00fcr allemal auf jene ausf\u00fchrlichere Darstellung verweise. E\u00fcr den vorliegenden Zweck mag es deshalb gen\u00fcgen, aus der F\u00fclle der Erscheinungen einzelne typische Beispiele herauszugreifen, wobei selbstverst\u00e4ndlich solche bevorzugt werden sollen, die sich zur Nachweisung der Bedingungen der T\u00e4uschungen sowie der bei ihnen stattfindenden Associationsvorg\u00e4nge besonders eignen.\nDass der Name \u00bbgeometrisch-optische T\u00e4uschungen\u00ab ein rein conventioneller ist, braucht wohl kaum noch besonders bemerkt zu werden. Weder enth\u00e4lt er ein Merkmal, das diese Erscheinungen von anderen optischen T\u00e4uschungen streng unterscheidet, noch ein solches, das f\u00fcr sie in allen F\u00e4llen zutrifft. Astigmatismus und Irradiation z. B. k\u00f6nnen ebenfalls in der Auffassung geometrischer Objecte T\u00e4uschungen hervorhringen, gleichwohl rechnen wir sie nicht zu den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen. Anderseits aber k\u00f6nnen die zu dieser Classe geh\u00f6rigen Erscheinungen auch an anderen Gegenst\u00e4nden als an geometrischen Zeichnungen auftreten; diese bieten nur die g\u00fcnstigste Gelegenheit zu ihrer Wahrnehmung und namentlich zu genaueren Messungen \u00fcber ihre Gr\u00f6\u00dfe. Dennoch w\u00fcrde auch der Ausdruck \u00bbT\u00e4uschungen des Augenma\u00dfes\u00ab, obgleich f\u00fcr alle geometrisch-optischen T\u00e4uschungen zutreffend, wiederum zu weit sein, da das Augenma\u00df auch durch irgend welche dioptrische Anomalien, sowie endlich durch die Einfl\u00fcsse der zeichnerischen und malerischen Perspective get\u00e4uscht werden kann. Eine Definition der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen l\u00e4sst sich daher vorl\u00e4ufig nur negativ geben: sie sind solche T\u00e4uschungen des Augenma\u00dfes, die weder durch dioptrisch erzeugte Abweichungen des Netzhauthildes noch durch eindeutige perspectivische Merkmale der k\u00f6rperlichen Gegenst\u00e4nde bedingt sind. Dabei ist dann aber freilich nicht aus-","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nW. Wundt.\ngeschlossen, dass sich diese beiden Momente mit den eigentlichen Motiven der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen verbinden k\u00f6nnen. Namentlich gilt das von dem zweiten, von jenen gel\u00e4ufigen Eigenschaften der Gegenst\u00e4nde, welche in den Motiven der Perspective zur Geltung kommen. Gegen\u00fcber diesen sind die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen wiederum nur negativ ahzugrenzen, insofern wir zu ihnen ausschlie\u00dflich solche perspectivische T\u00e4uschungen rechnen, hei denen die eindeutig wirkenden Motive der Perspective, der Gesichtswinkel, die Entwerfung der Schatten und die Conturen- wie Earben\u00e4nderungen ferner Objecte, keine Rolle spielen.\nDie Untersuchung der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen hat haupts\u00e4chlich unter zwei Uebeln zu leiden gehabt. Das erste bestand darin, dass sie oder wenigstens einzelne unter ihnen mit irgend welchen jener anderen Formen optischer T\u00e4uschungen zusammengeworfen wurden, was sich aus der Verbindung und dem nicht selten gleichartigen Effect solcher T\u00e4uschungen erkl\u00e4rt; das andere darin, dass die einzelnen Erscheinungen vielfach ziemlich planlos und au\u00dfer Zusammenhang untersucht wurden, was aus der meist zuf\u00e4lligen Auffindung derselben nicht minder begreiflich ist. Damit steht denn auch in Verbindung, dass man sich \u00fcber die Deutung dieser Erscheinungen noch nicht im allermindesten geeinigt hat, ja dass es wohl wenige andere Gebiete der Physiologie und Psychologie der Sinnesfunctionen gibt, wo eine so gro\u00dfe Zerfahrenheit der Meinungen herrscht wie hier1).\nUnter diesen Umst\u00e4nden erscheint es als das erste und dringendste Erfordemiss, die gro\u00dfe Zahl der hier sich darhietenden Erscheinungen nach bestimmten Gesichtspunkten in gewisse Gruppen zu ordnen. Dabei d\u00fcrfen freilich diese Gesichtspunkte nicht bereits irgend einer Theorie entnommen werden, sondern sie m\u00fcssen sich aus den Erscheinungen selber ergehen, demnach in Merkmalen bestehen, die sich leicht und unzweifelhaft nachweisen lassen, und die zugleich durch ihr Vorhandensein oder Fehlen oder durch ihre Ver\u00e4nderlichkeit\n1) Ich verweise in dieser Beziehung auf meine Uehersicht der haupts\u00e4chlichsten Theorien in der angef\u00fchrten Abhandlung S. 157 ff., wobei noch zu beachten ist, dass in dieser Uehersicht alle jene singul\u00e4ren Erkl\u00e4rungsversuche, die sich nur auf einzelne Erscheinungen beziehen, Versuche, deren Zahl beinahe unabsehbar ist, unber\u00fccksichtigt geblieben sind.\t0","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Zar Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\t29\nin verschiedenen F\u00e4llen sicher anzuwendende Eintheilungsgr\u00fcnde abgeben.\nUeberblickt man, von dieser Forderung ausgehend, das ganze Gebiet dieser T\u00e4uschungen, so sondert sich von vornherein eine Classe derselben durch eine Gruppe charakteristischer Merkmale von allen anderen ah: es ist dies die Classe der umkehrbaren per-spectivischen T\u00e4uschungen. Sie grenzen am n\u00e4chsten an die nicht unter die optischen T\u00e4uschungen zu rechnenden perspectivischen Vorstellungen, bei denen die gew\u00f6hnlichen Motive der zeichnerischen und malerischen Perspective oder die stereoskopischen Unterschiede der Netzhautbilder wirksam sind. Sie unterscheiden sich aber von ihnen dadurch, dass diejenigen Merkmale fehlen, die hei der gew\u00f6hnlichen perspectivischen Wirkung eine eindeutige Perspective erzeugen, da im Gegentheil hier die in der Zeichnung vorhandenen Motive das Bild in der perspectivischen Vorstellung mehrdeutig machen. Durch diese letztere Eigenschaft charakterisirt sich demnach in diesem Falle auch allein die Erscheinung als eine T\u00e4uschung. Kein Gegenstand kann in Wirklichkeit ohne Aenderung der objectiven Bedingungen verschiedene r\u00e4umliche Formen annehmen, also z. B. gleichzeitig erhaben und vertieft sein. Kann er trotzdem sowohl als das eine wie als das andere erscheinen, so muss ihm also jedesmal diese Eigenschaft durch subjective Motive beigelegt werden, im Unterschiede von einer in eindeutiger Perspective ausgef\u00fchrten Zeichnung, hei der die subjective Vorstellung durch das Object ebenso zwingend bestimmt wird wie beim Anblick eines wirklichen k\u00f6rperlichen Gegenstandes. Ein weiteres negatives Merkmal, durch das sich diese Classe von den anderen Formen geometrisch-optischer T\u00e4uschungen unterscheidet, und das hinwiederum mit der Umkehrbarkeit der Vorstellung eng zusammenh\u00e4ngt, besteht sodann darin, dass die Gr\u00f6\u00dfe der in dem Bilde vorkommenden Strecken und Winkel in einer der objectiven Zeichnung entsprechenden Weise aufgefasst wird, und dass sich diese Auffassung der Strecken- und Winkelgr\u00f6\u00dfen auch durch die etwa eintretenden Umkehrungen der Perspective nicht \u00e4ndert.\nGeht man von den angegebenen Merkmalen der umkehrbaren perspectivischen T\u00e4uschungen aus, so stellt sich ihnen nun durch eine fest bestimmte Abweichung von diesen Merkmalen eine zweite","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nW. Wundt.\nnicht minder scharf abzugrenzende, aber in ihren einzelnen Formen mannigfaltigere Classe von T\u00e4uschungen gegen\u00fcber: wir bezeichnen sie als die variabeln Strecken- und Richtungs- (oder Winkel-) T\u00e4uschungen mit eindeutigen perspectivischen Nebenvorstellungen. Sie unterscheiden sich von der vorigen Classe wesentlich durch zwei Eigenschaften: 1) durch eine stets vorhandene ver\u00e4nderte Auffassung der Gr\u00f6\u00dfe von Strecken oder Winkeln, und 2) dadurch, dass die perspectivische Auffassung, sobald sie ein-tritt, immer nur in einer bestimmten Richtung vorhanden ist. Dazu kommen dann noch die zwei weiteren Eigenschaften: 3) die perspectivische Auffassung kann bei geeigneter Modification des Versuchs ganz verschwinden, w\u00e4hrend die Strecken- oder Richtungst\u00e4uschung erhalten bleibt; 4) die Gr\u00f6\u00dfe der letzteren T\u00e4uschungen und der mit ihnen verbundenen eindeutigen Perspective variirt mit der Einf\u00fchrung bestimmter, experimentell leicht herzustellender Bedingungen. Wegen des letzteren Merkmals bezeichnen wir diese T\u00e4uschungen \u00fcberhaupt als variable; wegen der meistens leicht zu erzielenden Aufhebung der perspectivischen T\u00e4uschung aber ist diese oben eine perspectivische Nebenvorstellung genannt worden.\nGehen wir von den beiden zuletzt erw\u00e4hnten Merkmalen der variabeln T\u00e4uschungen aus, so sondert sich von ihnen weiterhin eine dritte Classe von T\u00e4uschungen durch ihren wesentlichen Unterschied in eben diesen Merkmalen. Es ist dies die Classe der con-stanten Strecken- und Richtungst\u00e4uschungen. Sie wird gegen\u00fcber den vorigen dadurch gekennzeichnet, dass sie eine experimentelle Variation ihrer Bedingungen und demnach ihrer Gr\u00f6\u00dfe nicht zulassen. Auch sind sie in der Regel nicht mit perspectivischen Nebenvorstellungen verbunden. Wo die letzteren auftreten, da begleiten sie zum Theil nicht die Strecken- und Richtungst\u00e4uschungen selbst, sondern vielmehr die unter gewissen Umst\u00e4nden eintretende Aufhebung derselben, ein Fall, der \u00fcbrigens nur hei einer dieser T\u00e4uschungen vorkommt, bei der, wie wir sehen werden, Bedingungen mitwirken, die mit der constanten T\u00e4uschung seihst nur indirect Zusammenh\u00e4ngen.\nVon den genannten drei Classen von T\u00e4uschungen scheidet sich endlich eine vierte durch das Merkmal, dass bei ihr die T\u00e4uschung nicht durch die Eigenschaften des von ihr betroffenen","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen (lesichtswahrnehmuugen.\n31\nBildes allein, sondern zugleich durch die eines anderen, von ihm unabh\u00e4ngig einwirkenden erzeugt wird. Hierbei muss nat\u00fcrlich dieses zweite Bild die geeigneten Formverh\u00e4ltnisse im Vergleich mit dem ersten darhieten. Als solche erweisen sich aber einerseits ein sehr kleiner, anderseits ein bedeutender Gr\u00f6\u00dfenunterschied, indem beide in entgegengesetztem Sinne die Auffassung des inducirten Bildes ver\u00e4ndern. Die auf solche Weise entstehenden T\u00e4uschungen wollen wir demnach solche durch Angleichung und Contrast nennen. Da man diese beiden einander entgegengesetzten Vorg\u00e4nge als Vorg\u00e4nge einer Association auffassen kann, die zwischen dem inducirenden und dem inducirten Bilde stattfindet, so lassen sich beide zusammen auch als Associationst\u00e4uschungen bezeichnen. Doch muss man bei diesem Ausdruck beachten, dass damit durchaus nicht etwa eine Beschr\u00e4nkung der Associationsprocesse auf die hier vorliegende Classe von T\u00e4uschungen ausgesprochen sein soll, sondern dass hier lediglich der Begriff der Association in jenem engeren Sinne gebraucht wird, in welchem man ihn nicht selten auf die associative Beziehung zwischen gesondert gegebenen Vorstellungen einschr\u00e4nkt. In diesem Sinne will er eben das oben angegebene, die Angleichungs- und Contrastt\u00e4uschungen von allen andern unterscheidende Merkmal andeuten. Verm\u00f6ge dieses Merkmals besitzen \u00fcbrigens zugleich diese T\u00e4uschungen den drei vorangegangenen gegen\u00fcber einen secund\u00e4ren Charakter, \u00e4hnlich wie der Begriff der Association zwischen zwei von einander gesonderten Vorstellungen seihst secund\u00e4r ist gegen\u00fcber dem der Association der die einzelne Vorstellung constituirenden Vorstellungselemente. Die T\u00e4uschungen der drei ersten Classen betheiligen sich unmittelbar an der Bildung des einzelnen Wahrnehmungsinhaltes: das k\u00f6nnen sie nat\u00fcrlich nur, indem hei ihnen jene elementaren Associationsprocesse eine Bolle spielen, aus denen jede aus einer Vielheit von Empfindungen bestehende Wahrnehmung entsteht. Die den Begriff der complexen Association voraussetzenden, im engeren Sinne so genannten \u00bbAssociationst\u00e4uschungen\u00ab dagegen ver\u00e4ndern stets solche Wahrnehmungsinhalte, die zuvor als einzelne bereits gegeben sind. Sobald das inducirende Bild hinweggenommen wird, verschwindet daher in diesem Falle auch die unter seiner Wirkung entstandene T\u00e4uschung, w\u00e4hrend die T\u00e4uschungen der drei vorangehenden","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nW. Wundt.\nClassen immer nur durch Ver\u00e4nderungen des Objectes selbst, das sie darbietet, irgend wie ver\u00e4ndert werden k\u00f6nnen. Der Vorgang bei dieser letzten Classe von T\u00e4uschungen erscheint daher als eine Art \u00e4u\u00dferer Associationswirkung, gegen\u00fcber den inneren Associationen, die in den vorangegangenen F\u00e4llen mitwirken. Wie \u00fcbrigens bei den meisten \u00e4u\u00dferen Associationswirkungen, so kann auch hier die Wirkung der verschiedenen Bilder auf einander eine wechselseitige sein. Bezeichnen wir daher, wie oben, das Bild, von dem die Wirkung ausgeht, als das inducirende, das, welches sie empf\u00e4ngt, als das inducirte, so k\u00f6nnen beide Bilder inducirend und inducirt zugleich sein, \u00e4hnlich wie bei den bekannten Erscheinungen des Licht- und Farbencontrastes, denen diese Bezeichnungen entlehnt sind. Doch bringen es allerdings auch bei den Associationst\u00e4uschungen die Versuchsbedingungen meistens mit sich, dass nur an dem einen der in Wechselwirkung stehenden Objecte die eintretende Ver\u00e4nderung nachzuweisen ist.\n1. Die umkehrbaren perspectivischen T\u00e4uschungen.\nSie entstehen bei der Betrachtung geometrischer Conturenzeich-nungen, die als Begrenzungslinien r\u00e4umlicher Figuren von entgegengesetzter Beschaffenheit gedeutet werden k\u00f6nnen. In der unmittelbaren Wahrnehmung wird dann das Bild bald im Sinne der einen, bald in dem der andern dieser Deutungen gesehen. Der Wahrnehmungsact selbst darf dabei jedoch nimmermehr als eine \u00bbDeutung\u00ab bezeichnet werden, wenigstens nicht in dem \u00fcblichen Sinne dieses Wortes, in welchem dasselbe auf irgend welche logische Ueber-legungen hinweist. Vielmehr erscheint in allen diesen F\u00e4llen das Object ebenso als unmittelbare plastische Wirklichkeit wie etwa ein stereoskopisches Object oder eine mit starken perspectivischen Wirkungen ausgef\u00fchrte Zeichnung. Von diesen beiden unterscheidet sich die Erscheinung nur durch ihre Umkehrbarkeit, und diese kann dann zugleich in Folge des nicht selten vorkommenden Uebergangs der einen in die andere Form eine lebhafte Unruhe des Bildes bewirken, wie sie bei eindeutigen stereoskopischen Objecten oder Zeichnungen nicht vorkommt. Um die Erscheinungen m\u00f6glichst lebhaft zu sehen, ist \u00fcbrigens, wie bei der Wahrnehmung perspectivischer Effecte ebener Zeichnungen \u00fcberhaupt, mono culare Betrachtung erforderlich.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\t33\nAls die entscheidende und in allen F\u00e4llen unweigerlich wirksame unmittelbare Bedingung f\u00fcr die Beschaffenheit der k\u00f6rperlichen Vorstellung erweist sich hierbei die Richtung der Blickbewegung und der Augenstellung. Denn alle diese umkehrbaren per-spectivischen T\u00e4uschungen folgen der Regel: die Theile des Bildes, von denen die Blickbewegung ausgeht, erscheinen dem Beschauer n\u00e4her als jene, nach denen hin die Blickbewegung erfolgt; und hei ruhendem Auge: die Grenzpunkte des Objectes, die der Blick fixirt, erscheinen n\u00e4her als solche Punkte, die sich im indirecten Sehen befinden, sofern die letzteren nicht etwa nach der Beschaffenheit der Zeichnung in gleicher Entfernung mit dem Fixirpunkte liegen m\u00fcssen.\nNicht an allen Figuren, die \u00fcberhaupt Anlass zur Beobachtung umkehrbarer T\u00e4uschungen geben, ist diese Abh\u00e4ngigkeit der Perspective von Blickbewegung und Augenstellung mit gleicher Leichtigkeit nachweisbar. Denn diese Nachweisung setzt unter allen Umst\u00e4nden sichere Beherrschung der Augenbewegungen, also Uehung im starren Fixiren von Punkten und in der sicheren fixirenden Verfolgung vorgezeichneter Linien voraus. Wo diese Uehung nicht besteht, da kann daher durch unwillk\u00fcrliches Abirren der Blicklinie von der vorgezeichneten Bewegung oder Stellung eine pl\u00f6tzliche Umkehrung des Reliefs entstehen. Ist man sich aber des bestimmenden Einflusses von Blickbewegung und Blickrichtung \u00fcberhaupt noch nicht bewusst geworden, so treten nat\u00fcrlich solche durch irgend welche Zuf\u00e4lligkeiten veranlasste Ab\u00e4nderungen der Augenstellungen und Augenbewegungen sehr h\u00e4ufig ein, auch wenn man sonst die zureichende Uehung im willk\u00fcrlichen Fixiren besitzt. Es begreift sich daher, dass diese Umkehrungen meist f\u00fcr reine Aeu\u00dferungen des Spiels der \u00bbEinbildungskraft\u00ab gehalten wurden, oder dass man, wo etwa Spuren jener Wirkung der Augenhewegungen zur Beobachtung kamen, allenfalls noch dem \u00bbWillen\u00ab oder der \u00bbInnervationstendenz\u00ab einen Einfluss auf dies Spiel der Einbildungskraft zuschrieb. Hat man erst einmal an einem dazu geeigneten Object die oben formu-lirten Regeln in ihrer ausnahmslosen G\u00fcltigkeit erkannt, so l\u00e4sst sich aber diese leicht auch an andern Objecten constatiren, bei denen dies schwieriger ist. Ein solches in besonderem Ma\u00dfe zum Studium der Umkehrungserscheinungen geeignetes Object ist die Figur 4. Sie ist schon von Thi\u00e9ry in seiner Arbeit \u00fcber die geometrisch-optischen\nWundt, Philos. Studien. XIV\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nW. Wundt.\nT\u00e4uschungen er\u00f6rtert worden1). Aber da dieser Beobachter durchgehende von der Voraussetzung ausgeht, dass bei den geometrisch-optischen T\u00e4uschungen die perspectivische Vorstellung die prim\u00e4re Ursache der T\u00e4uschung sei (nur in einigen wenigen F\u00e4llen statuirt er die Wirksamkeit anderer Ursachen), so wird dadurch auch seine Untersuchung dieser Figur beeinflusst. Es scheint mir deshalb nicht \u00fcberfl\u00fcssig, dieselbe hier nochmals eingehend zu er\u00f6rtern, um so mehr, da sie nicht nur als typisches Beispiel f\u00fcr die umkehrbaren T\u00e4uschungen \u00fcberhaupt gelten kann, sondern da sie auch, wie bemerkt, f\u00fcr die Nachweisung der Bedingungen dieser T\u00e4uschungen besonders g\u00fcnstige Chancen bietet. Dies hegt zun\u00e4chst darin begr\u00fcndet, dass sie eine Doppelfigur ist, deren beide H\u00e4lften sich derart erg\u00e4nzen, dass, wenn die eine H\u00e4lfte eine bestimmte Art des Beliefs zeigt, die andere stets im umgekehrten Belief erscheint. Dadurch wird hier das hei vielen andern Objecten vorhandene Ueber-gewicht einer der \u00fcberhaupt m\u00f6glichen perspectivischen Vorstellungen vermieden, wie man deutlich erkennt, wenn man z. B. die Fig. 4 mit\nder bekannten Schroeder\u2019schen Treppe, die in Fig. 5 (S. 37) wiedergegeben ist, vergleicht. Bei der letzteren ist die Vorstellung der Treppe so \u00fcberwiegend, dass es, so lange man sich in der Beherrschung der\n1) Philos. Studien. XI, 3. S. 319 f.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmnngen.\t35\nbestimmenden Blickbewegungen nicht die zureichende Uebung verschafft hat, verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig schwer gelingt, das umgekehrte Relief, das dem Bilde eines oben \u00fcberh\u00e4ngenden, unten ausgebrochenen M\u00e4uerst\u00fccks entspricht, hervorzurufen. Bei der Fig. 4 f\u00e4llt diese Schwierigkeit von vornherein weg, weil sich in Folge der Symmetrie der Figur die Neigungen, irgend eines der beiden Prismen erhaben oder vertieft zu sehen, vollst\u00e4ndig das Gleichgewicht halten. Dazu kommt dann noch als ein weiterer beg\u00fcnstigender Umstand die H\u00e4ufung der Fixationslinien, die die Festhaltung bestimmt gerichteter Blickbewegungen erleichtern, au\u00dferdem aber eine gro\u00dfe Variation und daneben eine planm\u00e4\u00dfigere Beherrschung dieser Bewegungen gestatten, als sie ohne vorgezeichnete Fixationslinien m\u00f6glich w\u00e4re.\nDie Erscheinungen, die man an der Fig. 4 wahrnimmt, sind nun die folgenden. Fixirt man die unten links gelegene quadratische Fl\u00e4che in irgend einem gegen die vordere Ecke gelegenen Punkte, so erscheint die Zeichnung als die Combination eines links liegenden erhabenen Prismas und eines rechts liegenden Hohlprismas, denen die mittlere verticale Fl\u00e4che gemeinsam ist. Dasselbe plastische Bild bleibt erhalten, wenn man irgend einen Punkt der mittleren Kante des links liegenden Prismas fixirt, oder wenn man an dieser Kante mit dem Blick aufw\u00e4rts, oder wenn man an irgend einer der von dieser Kante nach rechts und links abgehenden schr\u00e4gen Linien mit dem Blick abw\u00e4rts geht. Endlich bleibt auch das gleiche Relief bestehen, wenn man auf den diese schr\u00e4gen Linien halbirenden oder auf den sie begrenzenden \u00e4u\u00dfersten seitlichen Verticallinien den Blick nach aufw\u00e4rts bewegt. In allen diesen F\u00e4llen verbindet sich zugleich mit der Vorstellung der erhabenen Beschaffenheit des linken und der- vertieften des rechten Prismas die andere einer geringen Drehung der ganzen Figur um eine horizontale Achse in dem Sinne, dass die quadratische Basis links etwas dem Beschauer zugekehrt ist, und dass sich demnach die beiden Kanten des Convex- und des Hohlprismas von unten nach oben von ihm zu entfernen scheinen. Dieses ganze Relief kehrt sich nun in sein Gegentheil um, das hei\u00dft das Prisma links wird zum Hohl- und das rechts zum Convexprisma, wenn man entweder die quadratische Grundfl\u00e4che links an einem der unteren Ecke nahe liegenden Punkte oder bei dieser selbst, oder wenn man irgend einen Punkt einer der beiden verticalen\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nW. Wundt.\nGrenzlinien dieser Grundfl\u00e4che fixirt, von welchen Grenzlinien die rechts liegende zugleich die mittlere Kante des rechtshegenden Prismas ist; oder endlich wenn man den Blick auf irgend einer der verticalen Linien von oben nach unten oder auf einer der schr\u00e4gen Linien von au\u00dfen nach innen, diese letztere Bichtung im Sinne der mittleren Kante des rechten Prismas genommen, bewegt. Mit dem Uebergang der Figur aus der einen in die andere Form ist zugleich eine scheinbare Drehung um ihre horizontale Achse verbunden. Sobald n\u00e4mlich das Prisma links vertieft erscheint, wird der obere Theil der Figur dem Beschauer zugekehrt, der untere von ihm weggekehrt gesehen. Bemerkenswerth ist schlie\u00dflich noch der Einfluss, den die Fixation irgend eines Punktes der die Seitenfl\u00e4chen der Prismen halbirenden Verticallinien aus\u00fcbt. So lange man einen solchen Punkt vollkommen starr fixirt, so tritt ein bestimmtes Belief \u00fcberhaupt nicht hervor. Freilich ist es aber auch ungemein schwierig, eine derartige Fixirstellung festzuhalten, weil man fortw\u00e4hrend geneigt ist, entweder auf der Verticalen seihst den Blick auf und ah zu bewegen oder namentlich ihn auf eine der sie durchschneidenden Schr\u00e4gen hin\u00fcbergleiten zu lassen. Beides ist aber dann mit deutlichen Reliefvorstellungen verbunden, die gem\u00e4\u00df den vorhin erw\u00e4hnten Beobachtungen derart eintreten, dass hei der Bewegung auf der Verticalen nach oben und auf der Schr\u00e4gen nach ausw\u00e4rts das erhabene, bei der Bewegung auf der Verticalen nach abw\u00e4rts und auf der Schr\u00e4gen nach einw\u00e4rts dagegen das vertiefte Relief erscheint. Da diese Motive besonders bei der Blickbewegung l\u00e4ngs der schr\u00e4gen Linien sehr rasch mit einander wechseln k\u00f6nnen, so bietet die Betrachtung dieser Linien ein au\u00dferordentlich unruhiges Bild dar.\nDie Erscheinungen, die hei der Fixation der verschiedenen Theile der rechten H\u00e4lfte der Figur und bei der Blickhewegung entlang den einzelnen Linien derselben beobachtet werden, gehen vollst\u00e4ndig denen an der linken H\u00e4lfte parallel, nur dass sie in Bezug auf die Orientirung zum Beschauer die Umkehrungen derselben bilden. Fixirt man also einen nach vorn von der Mitte liegenden Punkt der oberen quadratischen Fl\u00e4che, so erscheint das Prisma rechts erhaben, fixirt man innerhalb derselben Fl\u00e4che einen nahe der oberen Ecke hegenden Punkt oder den Eckpunkt seihst, so erscheint es vertieft, u. s. w.\nMan \u00fcbersieht ohne weiteres, dass die geschilderten Umkehrungen","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n37\ndes Reliefs der Figur 4 den oben aufgestellten allgemeinen S\u00e4tzen \u00fcber den Einfluss der Blickstellung und Blickbewegung entsprechen. Dabei bietet aber die Figur 4 zugleich das Eigenth\u00fcmliche, dass bei ihr wegen der H\u00e4ufung und der ann\u00e4hernd gleich leichten Wirksamkeit der verschiedenen Motive der Eintritt der Umkehrungen au\u00dfer or dentlich erleichtert wird, daher denn auch, wenn man etwa den Blick, ohne besondere Achtsamkeit auf die Augenbewegungen zu haben, auf der Figur verweilen oder \u00fcber sie schweifen l\u00e4sst, ein fortw\u00e4hrender Wechsel der verschiedenen Reliefs einzutreten pflegt, so dass nicht selten, ehe noch das eine Zeit gehabt hat sich auszuhilden, bereits das andere erscheint. Man sieht in solchen F\u00e4llen zuweilen st\u00fcckweise eine bestimmte Reliefvorstellung aus ihren Be-standtheilen sich aufbauen. Dabei nimmt man wahr, dass es stets einer gewissen Zeit bedarf, bis sich eine bestimmte Vorstellung vollst\u00e4ndig ausgebildet hat; aber man bemerkt zugleich, dass die einzelnen Theile derselben untrennbar zusammengeh\u00f6ren, so dass der in einem bestimmten Sinne einmal begonnene Aufbau eines Reliefs unfehlbar zu Ende gef\u00fchrt wird, wenn sich nicht, was freilich bei einem so viele sich durchkreuzende Motive enthaltenden Bilde h\u00e4ufig geschieht, irgend welche entgegengesetzte Wirkungen geltend machen.\nSo g\u00fcnstige Bedingungen f\u00fcr das Ueberspringen der einen Vorstellung in die andere bieten nun freilich nicht alle Figuren, die umkehrbare perspectivische T\u00e4uschungen zulassen. Als charakteristisches Beispiel des im ganzen h\u00e4ufiger vorkommenden entgegengesetzten Verhaltens, wo die Bedingungen so beschaffen sind, dass eine der m\u00f6glichen Reliefformen vorzugsweise, die andere nur mit einer gewissen Schwierigkeit zur Geltung kommt, mag die oben schon erw\u00e4hnte S ehr oe der\u2019sehe Treppe dienen (Fig. 5). So viel ich beobachten konnte, gelingt es Jedermann leicht, namentlich bei monocularer Betrachtung, die Figur als Treppe zu sehen. Aber vielen Personen wird es sehr schwer das umgekehrte Relief des oben \u00fcber-","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nW. Wundt.\nh\u00e4ngenden Mauerst\u00fccks wahrzunehmen. Um dieses deutlich sichtbar zu machen, bedient man sich am besten eines von Schroeder selbst schon empfohlenen Kunstgriffs : man dreht, w\u00e4hrend man fortdauernd die Figur, und zwar am zweckm\u00e4\u00dfigsten einen der in der Ausgangsstellung nach unten gekehrten Winkel, wie a, fixirt, die ganze Figur um 180 Grad. Ist die Umdrehung vollendet, so hat man deutlich das umgekehrte Relief vor Augen, und hat man dieses einmal gewonnen, so ist es dann nicht schwer es k\u00fcnftig ohne ein solches \u00e4u\u00dferes H\u00fclfsmittel wieder hervorzurufen. Hat man sich durch Uebung die zureichende Beherrschung der Blickstellungen angeeignet, so gelingt es \u00fcbrigens auch leicht, das Mauerrelief ohne weiteres zu erzeugen: man braucht zu diesem Zweck nur, statt, wie es gew\u00f6hnlich geschieht, die schr\u00e4gen die Treppenstufen bezeichnenden Linien in Richtungen wie a\u00df, umgekehrt in Richtungen \u00dfa zu durchlaufen oder einen oberen Grenzpunkt \u00df dieser schr\u00e4gen Linien, nicht, wozu man mehr geneigt ist, einen Punkt a oder einen a nahe gelegenen Punkt zu fixiren. Ferner wird das umgekehrte Relief beg\u00fcnstigt, wenn man die Linie d zieht und das \u00fcber \u00f6 liegende kleine Dreieck hinwegl\u00e4sst. Es ist augenscheinlich, dass alle diese das Sehen des Mauerreliefs unterst\u00fctzenden Bedingungen im gleichen Sinne wirken, n\u00e4mlich im Sinne der Fixation eines oberen Grenzpunktes der schr\u00e4gen Treppenlinien oder einer diese Linien nach abw\u00e4rts verfolgenden Blickbewegung, wogegen das Treppenrelief durch die Fixation eines unteren Grenzpunktes jener Linien oder durch ihre Aufw\u00e4rtsverfolgung mit der Blickbewegung hervorgerufen wird. Die Drehung um 180 Grad erzeugt in der einfachsten Weise diese Vertauschung des Fixirpunktes, indem sie unmittelbar denjenigen Fixirpunkt, der vorher der untere war, zum oberen macht. Darum tritt aber auch hier die Umkehrung nur dann mit Sicherheit ein, wenn man w\u00e4hrend der Drehung die Blickstellung festh\u00e4lt; sie wird unsicher, wenn sich w\u00e4hrend derselben das Auge beliebig bewegt. In anderer Weise wirkt die Ziehung der Linie \u00f6 und die damit verbundene Beseitigung des \u00fcber ihr hegenden kleinen rechtwinkeligen Dreiecks. Sie lenkt den Blick auf die dicht darunter hegende Ecke, beg\u00fcnstigt also dadurch unmittelbar eine Fixationsstellung, bei welcher die Fl\u00e4che b vor der Fl\u00e4che a zu hegen scheint, wodurch wiederum das Mauerrehef hervorgerufen wird. In allen diesen Erscheinungen best\u00e4tigt die Fig. 5 lediglich die an Fig. 4","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n39\nnachgewiesenen Einfl\u00fcsse der Blickstellung und Blickbewegung. Sie lehrt aber au\u00dferdem noch eine weitere Thatsache, die an Fig. 4 wegen des in ihr stattfindenden Gleichgewichts der Motive nicht zu bemerken war. Wenn n\u00e4mlich beim gew\u00f6hnlichen Sehen das Treppenrelief ein so gro\u00dfes Uehergewicht \u00fcber das Mauerrelief hat, so kann dies nach Ma\u00dfgabe eben jenes Einflusses von Blickstellung und Blickbewegung nur darin seinen Grund haben, dass wir bei der unbefangenen Betrachtung dieser Figur im allgemeinen viel mehr geneigt sind, die zu je einer der kleinen horizontalen Fl\u00e4chen geh\u00f6rigen unteren Horizontallinien und die entsprechenden unteren Winkel a zu fixiren, sowie die die horizontalen und verticalen Fl\u00e4chen begrenzenden schr\u00e4gen Linien in Richtungen a \u00df mit dem Blick zu durchlaufen,' als umgekehrt die oberen Grenzlinien jener horizontalen Fl\u00e4chen und die oberen Eckpunkte \u00df zu fixiren oder die Grenzlinien in Richtungen \u00dfa zu durchlaufen. Dass dies der gewohnheitsm\u00e4\u00dfigen Richtung der Blickstellungen und Blickbewegungen entspricht, l\u00e4sst sich nun in der That an der Fig. 5 ebenso wie an andern umkehrbaren Relieffiguren mit bevorzugter einseitiger Reliefvorstellung best\u00e4tigen. Hierher geh\u00f6ren z. B. die Umrisszeichnungen eines W\u00fcrfels, eines Tetraeders, zweier in einem Winkel an einander sto\u00dfender ebener Fl\u00e4chen, und als einfachster Fall irgend wie schr\u00e4g verlaufende gerade Linien1). Bei allen solchen Figuren ist dieser Zusammenhang der bevorzugten Reliefvorstellung mit der gewohnheitsm\u00e4\u00dfigen Richtung der Blickstellungen und Blickbewegungen zu constatiren. Dass aber jene Stellungen die h\u00e4ufigeren sind, bei denen wir einen nach unten liegenden Grenzpunkt irgend einer im Sehfelde schr\u00e4g verlaufenden Contur fixiren, und ebenso jene Bewegungen, bei denen wir eine solche Contur in der Richtung von ihrem unteren nach ihrem oberen Grenzpunkte verfolgen, diese Regel steht in klar ersichtlichem Zusammenhang mit der Bedeutung, die in dem uns umgebenden r\u00e4umlichen Gesichtsfeld dem Verlauf der Fixationslinien zukommt. Im allgemeinen ist n\u00e4mlich in unserem Gesichtsfeld f\u00fcr alle unter dem Horizont liegenden Gegenst\u00e4nde, also f\u00fcr die ungeheure Mehrzahl der Gegenst\u00e4nde, denen sich \u00fcberhaupt der Blick zuwendet, die schr\u00e4g von unten nach oben gehende Richtung der Begrenzungslinien der Ausdruck einer Aus-\n1) Vergl. Fig. 1, 2, 3, 4, 5 (S. 59\u201468) der oben angef\u00fchrten Abhandlung. .","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nW. Wundt.\ndehnung nach der Tiefe des Raumes, wobei der untere Punkt einer solchen Linie der uns n\u00e4here, der obere der von uns entferntere ist; und ebenso allgemein sind es, wenn k\u00f6rperliche Objecte unserem Auge geboten werden, die uns n\u00e4heren, die wir zuerst, oder die wir auch, wenn wir uns auf einmalige Fixation beschr\u00e4nken, ausschlie\u00dflich zu fixiren pflegen, und von denen aus dann unsere weitere Auffassung des Gegenstandes mittelst der Bewegung des Blickpunktes entlang bestimmten Conturen, die als Fixationslinien dienen, vor sich geht.\nIn den bisher betrachteten und durch die Figuren 4 und 5 erl\u00e4uterten Beispielen umkehrbarer perspectivischer T\u00e4uschungen sind die Relief Vorstellungen, die durch Fixation bestimmter Punkte einer Zeichnung, und diejenigen, die durch bestimmte Bewegungen entlang gegebenen Fixationslinien entstehen, von gleicher Beschaffenheit, so dass gewisse ruhende Blickstellungen und gewisse Blickbewegungen immer als gleichsinnig wirkende Bedingungen zusammengeh\u00f6ren. So sind z. B. bei Fig. 4 Fixation irgend eines Punktes der mittleren Kante des links gelegenen Prismas und Blickbewegung l\u00e4ngs dieser Kante von unten nach oben von \u00fcbereinstimmender Wirkung, oder in entgegengesetztem Sinne Fixation der mittleren Kante des rechts gelegenen Prismas und Blickbewegung entlang derselben von oben nach unten. Aehnlich bei Fig. 5 Fixation eines Punktes a und Blickbewegung in der Richtung \u00ab \u00df, oder anderseits Fixation eines Punktes \u00df und Blickbewegung in der Richtung \u00df a. Solche Correlationen zwischen bestimmten Blickstellungen und Blickbewegungen sind verm\u00f6ge der oben er\u00f6rterten Wirkungen beider bei jeder Figur nothwendig vorhanden : zu jeder Blickbewegung muss es eine Blickstellung oder eine Mehrheit von Blickstellungen geben, denen die gleiche perspectivische Wirkung zukommt, und ebenso umgekehrt. Daneben gibt es aber auch Conturenzeichnungen, deren Beschaffenheit au\u00dfer einem bestimmten, durch gewisse Blickbewegungen und entsprechende Blickstellungen zu erzeugenden Relief und seiner Umkehrung noch eine andere, davon ganz verschiedene perspectivische Vorstellung und deren Umkehrung gestattet. Wir wollen diese dritte und vierte Perspective, da sie auch da, wo sie \u00fcberhaupt m\u00f6glich sind, immer als die selteneren auftreten, der K\u00fcrze halber die \u00bbungew\u00f6hnlichen\u00ab nennen. Die Beobachtung lehrt nun, dass solche ungew\u00f6hnliche Reliefs nur bei starrer Fixation bestimmter Punkte einer dazu geeigneten Figur, niemals","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n41\ndurch Blickbewegungen hervorgerufen werden k\u00f6nnen. Sobald die Fixation durch eine Blickbewegung abgel\u00f6st wird, geht daher das ungew\u00f6hnliche Relief in eine der gew\u00f6hnlichen Reliefformen \u00fcber. Au\u00dferdem aber kann das ungew\u00f6hnliche Relief immer nur durch Fixation solcher Punkte der Figur hervorgerufen werden, die keiner der Fixationslinien angeh\u00f6ren, deren Durchwanderung mit dem Blick, oder deren Fixation eine der gew\u00f6hnlichen Reliefformen erzeugt. In der Regel treten daher die ungew\u00f6hnlichen Formen bei der Fixation imagin\u00e4rer Punkte der Figur hervor, d. h. solcher, die an und f\u00fcr sich zu keiner Fixationslinie geh\u00f6ren. Dies sowie das damit zusammenh\u00e4ngende seltenere Vorkommen ist wohl der Grund, weshalb die ungew\u00f6hnlichen Reliefs bisher fast ganz \u00fcbersehen worden sind, und weshalb auch da, wo man sie gelegentlich wahmahm, ihr Zusammenhang mit bestimmten festen Blickstellungen nicht beachtet wurde.\nEin sehr einfaches Beispiel einer solchen ungew\u00f6hnlichen per-spectivischen Vorstellung mit ihrer Umkehrung bietet die Fig. 6 dar. Die beiden gew\u00f6hnlichen perspectivischen T\u00e4uschungen bestehen bei dieser Figur darin, dass sie als das Bild eines cylindrischenRinges erscheint. Bei der einen Form des Reliefs sind die Bogen A und B dem Beschauer zu-, die Bogen II und S'von ihm abgekehrt; bei der zweiten sind umgekehrt R und S dem Beschauer zu-, A und B von ihm abgekehrt. Dort scheint der Ring so gegen den Beschauer\ngeneigt,, dass dieser von oben in den Cylinder zu blicken glaubt; hier scheint er von ihm weggeneigt, so dass er durch die untere Oeffnung in ihn zu blicken glaubt. Die erste Perspective wird, wie man leicht beobachten kann, durch Fixatidn irgend eines Punktes der Bogen A oder B, am besten eines mittleren Punktes, oder durch eine Blickbewegung l\u00e4ngs dieser Bogen von der Mitte aus nach rechts oder links hervorgebracht; die zweite Perspective entsteht, wenn man einen nahe der Mitte gelegenen Punkt der Bogen R oder S fixirt, oder wenn man von solchen Punkten aus eine Blickbewegung den gleichen Bogen entlang nach rechts oder links ausf\u00fchrt. Dass diese Entstehungsbedingungen beider Vorstellungen wieder ganz der oben aufgestellten allgemeinen Regel und den an den Figuren 4 und 5 wahr-\n\u00a3\nKg. 6.","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nW. Wundt.\nzunehmenden Erscheinungen entsprechen, ist ohne weiteres ersichtlich. Au\u00dferdem l\u00e4sst aber die Pig. 6 noch zwei ungew\u00f6hnliche perspecti-vische Vorstellungen zu, die sich ebenfalls wie Umkehrungen zu einander verhalten, und die \u00fcbrigens offenbar nur darum ungew\u00f6hnliche sind, weil sie allein hei der Fixation imagin\u00e4rer, nicht in den Con-turen der Figur enthaltener Punkte auftreten, solcher Punkte also, deren Fixation durch die Figur selbst nicht herausgefordert wird, darum schwieriger ist und nur in eigens darauf gerichteten Versuchen vorkommt. Fixirt man n\u00e4mlich starr einen in dem Raume zwischen den Bogen A und S nicht allzu weit von der Mitte der Figur gelegenen Punkt, so erscheinen einerseits die Bogen A und S, anderseits die Bogen R und B als zusammengeh\u00f6rige Conturen eines Ringes, der sich auf seiner dem Beschauer zugekehrten Seite AS sehr verschm\u00e4lert, auf der abgekehrten Seite AB aber stark verbreitert. Fixirt man dagegen einen in dem leeren Raum zwischen A und R oder in dem zwischen B und S gelegenen imagin\u00e4ren Punkt, so sieht man den Cylinder als einen mit den Conturen B und R gegen den Beschauer gekehrten, hier sehr breiten, mit den Conturen A und S von ihm abgekehrten, hier sich stark perspectivisch verk\u00fcrzenden Ring. Demnach ist auch in diesen F\u00e4llen wieder die zweite Perspective die einfache Umkehrung der ersten. Beide sind aber nur hei vollkommen starrer Fixation von Punkten in der angegebenen Lage zu beobachten. Sobald man dagegen mit dem Blick auf eine der Conturen der Figur \u00fcbergeht, so pflegen sie einem der beiden ersten Reliefs zu weichen1). Aehnliche ungew\u00f6hnliche perspectivische T\u00e4uschungen von umkehrbarer Beschaffenheit beobachtet man an andern Figuren, z. B. an der\n1) An der Figur 6 hat bereits Thi\u00e9ry die zweite dieser ungew\u00f6hnlichen perspectivischen T\u00e4uschungen [BR dem Beschauer zu-, AB von ihm abgekehrt) beobachtet. Dagegen hat er die Umkehrung dieser Form (AS nach vorn, BR in die Tiefe gerichtet) nicht gesehen. Statt dessen beschreibt er noch eine weitere Auffassung, eine solche n\u00e4mlich, bei der sich A und S hervor-, R und B aber nach oben und unten w\u00f6lben, so dass das Glanze wie eine biconvexe Linse erscheint, die an ihrer dem Beschauer zugewandten Seite abgeschliffen ist (Thi\u00e9ry, Philos. Studien. XI, S. 318f.). Ich finde bei genauerer Untersuchung, dass ich mir zwar die Figur so \u00bbdeuten\u00ab, dass ich sie aber eigentlich nicht unmittelbar so \u00bbsehen\u00ab kann; d. h. so lange ich sie mir als biconvexe Linse denke, sehe ich sie in Wirklichkeit als eine ebene Zeichnung. Sobald dagegen eines der ungew\u00f6hnlichen Beliefs mit stereoskopischer Lebendigkeit hervortritt, so sehe ich nur die eine oder die andere der oben beschriebenen beiden k\u00f6rperlichen Formen.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n43\nConturenzeichnung eines W\u00fcrfels, eines Tetraeders u. s. w.1). Die Bedingungen zur Entstehung dieser T\u00e4uschungen l\u00e4sst das in Fig. 6 gegebene Beispiel deutlich erkennen. Sie bestehen darin, dass in Folge der Art der Fixation solche \u00c7onturen als zusammengeh\u00f6rig erscheinen, die hei einer der gew\u00f6hnlichen Formen des Beliefs als nicht zusammengeh\u00f6rige gesehen werden. Dazu ist aber erstens unverr\u00fccktes Festhalten der hierzu geeigneten Fixirstellung des Auges und zweitens eine Lage des Fixirpunktes zwischen den zu einem gleichsinnigen Belief zu verbindenden Conturen erforderlich. Damit sind die oben angef\u00fchrten'Bedingungen starrer Fixation und eines imagin\u00e4ren Fixirpunktes von seihst gegeben. Das Weitere ist dann von der auch f\u00fcr diese T\u00e4uschungen g\u00fcltigen Begel abh\u00e4ngig, dass der fixirte Theil des Objectes dem Beschauer zugekehrt erscheint. Bei dem ersten der ungew\u00f6hnlichen Beliefs der Fig. 6 wird demnach zun\u00e4chst durch die Fixirung eines zwischen A und S gelegenen Punktes die Vorstellung einer Zusammengeh\u00f6rigkeit von A und S erweckt, woran sich dann in Folge der Nahelocalisation des Fixirpunktes das Verh\u00e4ltniss der Bogenpaare AS und RB zu einander von selbst anschlie\u00dft. Etwas schwieriger ist im ganzen die Herstellung des umgekehrten Beliefs; doch wird sie anderseits durch die Analogie der Verschm\u00e4lerung der hier in die Tiefe verlegten Bogen A und S mit den gew\u00f6hnlichen Erscheinungen der perspectivischen Verj\u00fcngung entfernter Objecte etwas beg\u00fcnstigt. Urspr\u00fcnglich erschwert ist n\u00e4mlich hier das Belief, weil der zwischen A und R oder zwischen B und S gew\u00e4hlte Fixirpunkt wegen der ungleichen Entfernung von diesen Bogen nicht in gleicher Weise wie im vorigen Falle die Vorstellung der r\u00e4umlichen Zusammengeh\u00f6rigkeit beg\u00fcnstigt. In der That scheint es mir, dass dabei auch die Vorstellung der Zusammengeh\u00f6rigkeit der indirect gesehenen Bogen A und S wesentlich mitwirkt. Da diese dabei gleichzeitig im Verh\u00e4ltniss zum fixirten Punkte als ferner liegend auf gefasst werden, so ist dann mit ihrer Tiefenprojection die Auffassung, dass umgekehrt B und R dem Beschauer zugekehrt seien, gegeben. Um dieses Belief sicher hervorzubringen, ist es daher auch zweckm\u00e4\u00dfig, den Fixirpunkt n\u00e4her einem der Bogen B oder II als S oder A zu w\u00e4hlen.\n1) Vergl. die angef\u00fchrte Abhandlung Fig. 3, Fig. 5 (S. 66 ff.).","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nW. Wundt.\n*\nDie Schl\u00fcsse, die aus den er\u00f6rterten Beobachtungen \u00fcber umkehrbare perspectivische T\u00e4uschungen an den Figuren 4, 5 und 6 und an \u00e4hnlichen Objecten gezogen werden k\u00f6nnen, sind von doppelter Art. Zun\u00e4chst gehen sie das specielle Problem der Gesichtswahrnehmungen an. Denn da alle diese perspectivischen Vorstellungen offenbar Gesichtswahmehmungen sind, die unter bestimmten, in diesem Fall ausnahmsweise genau zu controlirenden experimentellen Bedingungen zu Stande kommen, so geh\u00f6rt ihre Untersuchung nat\u00fcrlich mit zur experimentellen Analyse der \"Wahmehmungsprocesse; ja psychologisch betrachtet bilden sie besonders wichtige H\u00fclfsmittel dieser Analyse, weil es sich hei ihn\u00e7n um Erscheinungen handelt, bei denen die objectiven Bedingungen der Wahrnehmung hei den Ver\u00e4nderungen des Wahrnehmungsinhaltes v\u00f6llig constant bleiben, so dass diese Ver\u00e4nderungen mit Sicherheit bestimmten suhjectiven Bedingungen zugeschrieben werden k\u00f6nnen, welche subjective Bedingungen denn auch, wie die Beobachtung uns gelehrt hat, nach ihrer physiologischen Seite leicht in den Wirkungen der Blickstellungen und Blickbewegungen nachzuweisen sind. Au\u00dferdem aber haben diese Beobachtungen noch eine allgemeinere Tragweite. Da jene durch Blickstellungen und Blickbewegungen hervorzurufenden perspectivischen Vorstellungen offenbar nicht entstehen k\u00f6nnten, ohne dass in uns irgend welche Anlagen zu ihnen vorhanden w\u00e4ren, die allein in mannigfachen vorangegangenen Wahrnehmungen ihre urspr\u00fcngliche Quelle haben k\u00f6nnen, so sind, von diesem allgemeineren Standpunkte aus betrachtet, alle diese Erscheinungen nichts anderes als Reproductions- und Associationswirkungen. Sie sind aber vor andern \u00e4hnlichen Wirkungen durch den g\u00fcnstigen Umstand ausgezeichnet, dass hei ihnen speciell jene Associationen, die unmittelbar an Sinneseindr\u00fccke gekn\u00fcpft, und die wegen ihrer Verschmelzung mit den aus den \u00e4u\u00dferen Eindr\u00fccken stammenden Empfindungen besonders schwierig zu erforschen sind, in Folge der hier obwaltenden, leichter zu beherrschenden Bedingungen einer genaueren Analyse zug\u00e4nglich werden.\nF\u00fcr die Frage der Entstehung r\u00e4umlicher Gesichtswahrnehmungen sind die umkehrbaren perspectivischen T\u00e4uschungen deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil durch sie der oft angenommene und ebenso oft bestrittene Einfluss der Blickbewegungen auf das","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n45\nr\u00e4umliche Sehen nicht blo\u00df \u00fcber allen Zweifel gestellt, sondern auch in genauerer Weise, als es durch die Convergenzversuche und durch gewisse pathologische Beobachtungen m\u00f6glich ist, n\u00e4her bestimmt wird. Hierbei m\u00fcssen wir uns aber, um die perspectivischen Versuche richtig w\u00fcrdigen zu k\u00f6nnen, daran erinnern, dass unser wirkliches Sehen im allgemeinen stets ein k\u00f6rperlich-r\u00e4umliches Sehen ist, und dass daher die gel\u00e4ufige Unterscheidung von Fl\u00e4chenwahrnehmung und Tiefenwahmehmung, mag sie auch f\u00fcr die psychologische Untersuchung der Wahmehmungsprocesse n\u00fctzlich sein, doch weder als eine zeitliche Scheidung noch \u00fcberhaupt als eine Scheidung der Vorg\u00e4nge seihst angesehen werden darf. Wie vielmehr der Raum der Tiefe objectiv kein anderer ist als der Raum der Ebene, und wie in die urspr\u00fcnglichsten r\u00e4umlichen Unterscheidungen der Objecte schon ihre Verh\u00e4ltnisse zum Sehenden, also Tiefenbestimmungen ein-gehen, so w\u00fcrde auch die Annahme einer Verschiedenheit der hier und dort wirksamen physiologischen und psychologischen Bedingungen eine \u00e4u\u00dferst unwahrscheinliche Annahme sein, da sie eben in nichts anderem als in jener im Grunde willk\u00fcrlichen psychologischen Abstraction ihren Grund hat.\nNicht minder unstatthaft ist die wohl noch verbreitetere Voraussetzung, es handle sich bei der perspectivischen Auffassung eines ebenen Bildes und ihrer Umkehrung um Ver\u00e4nderungen, die ein urspr\u00fcnglicherer, an sich dem ebenen Object seihst, wie es in der Zeichnung beschaffen ist, gleicher Wahmehmungsinhalt durch eine nachtr\u00e4glich mit ihm vorgenommene F\u00e4lschung erfahre, also um eine so genannte \u00bbUrtheilst\u00e4uschung\u00ab. So wenig es eine Urtheilst\u00e4uschung ist, wenn wir in Folge der Irradiation einen hellen Streifen auf dunklem Grunde verbreitert sehen, oder wenn wir im Stereoskop zwei ebene Zeichnungen als einen K\u00f6rper erblicken, gerade so wenig ist es eine Urtheilst\u00e4uschung, wenn uns ein Bild wie die Figur 5 bald als Treppe bald als \u00fcherh\u00e4ngendes Mauerst\u00fcck erscheint. Alle solche Vorstellungen geh\u00f6ren zum unmittelbaren Inhalt der Wahrnehmung selbst. Sehen wir eine wirkliche Treppe oder ein wirkliches Mauerst\u00fcck, so m\u00f6gen ja au\u00dfer den in Fig. 5 durch die Zeichnung angedeuteten Motiven noch einige andere, wie die verschiedene Ver-theilung von Licht und Schatten, einwirken. Jedenfalls wirken aber auch die in der Zeichnung enthaltenen reinen Umrisslinien, und","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nW. Wundt.\ndiese sogar in erster Linie. Ebenso wenig wie beim wirklichen Gegenstand k\u00f6nnen diese daher bei der Zeichnung eine \u00bbUrtheilst\u00e4uschung\u00ab genannt werden. Vielmehr ist diese Bezeichnung offenbar aus zwei falschen Annahmen hervorgegangen. Nach der ersten soll in uns, sei es in unseren Sinnesorganen, sei es in unserem Gehirn oder sonst irgendwo, stets eine ziemlich genaue Kenntniss der \u00e4u\u00dferen Gegenst\u00e4nde existiren, die aber nachtr\u00e4glich durch allerlei Irrth\u00fcmer, zu denen wir verf\u00fchrt werden, gef\u00e4lscht werden k\u00f6nne. Nach der zweiten soll jeder Wahmehmungsinhalt, wie \u00fcberhaupt jeder Inhalt unseres Bewusstseins, ein Urtheil sein. Eigentlich braucht man diese beiden Annahmen nur deutlich auszusprechen, um zu erkennen, dass sie falsch sind. Sie k\u00f6nnen eben nur deshalb ihr Dasein fristen, weil man sie nicht ausspricht, sondern stillschweigend, so als wenn sie selbstverst\u00e4ndlich w\u00e4ren, allen Er\u00f6rterungen zu Grunde legt. Gewiss kann unsere Wahrnehmung nachtr\u00e4glich Gegenstand eines Urtheils werden. So k\u00f6nnen wir denn auch, indem wir einen unmittelbaren Wahmehmungsinhalt mit der aus andern Erfahrungen bekannten objectiven Beschaffenheit des Objectes vergleichen, urtheilen, dass die Wahrnehmung unrichtig sei, das hei\u00dft dass sie nicht mit der wirklichen Beschaffenheit ihres Objectes \u00fcbereinstimme. Nicht die Wahrnehmung selbst, sondern erst diese unsere Aussage \u00fcber sie ist dann aber ein Urtheil. Und nicht unser Urtheil ist get\u00e4uscht, sondern wir urtheilen, dass uns die Wahrnehmung get\u00e4uscht habe. Der Wahrnehmungsinhalt als solcher ist weder wahr noch falsch. Wenn wir die einzelne Wahrnehmung ohne R\u00fccksicht auf jene nachtr\u00e4glichen Vergleichungen betrachten, so sind daher alle ihre Bestandteile gleich urspr\u00fcnglich, diejenigen die sich an der objectiven Wirklichkeit gemessen als T\u00e4uschungen herausstellen gerade so gut wie diejenigen, bei denen dies nicht der Fall ist. Wenn wir darum nachweisen k\u00f6nnen, dass irgend welche Motive bei einer bestimmten Wahrnehmung als sogenannte T\u00e4uschungsursachen gewirkt haben, so werden wir mit Fug und Recht annehmen d\u00fcrfen, dass die n\u00e4mlichen Motive in andern Oombinationen auch f\u00fcr solche Wahrnehmungen und deren Bestandteile ma\u00dfgebend sind, die f\u00fcr unser nachtr\u00e4gliches Urtheil als reale Wahrnehmungen bestehen bleiben.\nGehen wir von dieser, sobald man sich des er\u00f6rterten falschen Begriffs der \u00bbUrtheilst\u00e4uschung\u00ab bewusst geworden ist, vollkommen","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\t47\nselbstverst\u00e4ndlichen Folgerung aus, so ist nun klar, dass die umkehrbaren perspectivischen T\u00e4uschungen ein werthvolles Material f\u00fcr die Beurtheilung der bei den G-esichtswahmehmungen wirksamen subjec-tiven Einfl\u00fcsse \u00fcberhaupt enthalten. Der Werth dieses Materials liegt vornehmlich in der Umkehrung der Erscheinungen und in der damit verbundenen vollkommenen Beherrschung der Bedingungen dieser Umkehrung. Sehen wir daher zun\u00e4chst noch ab von der Beschaffenheit der mitwirkenden Associationsvorg\u00e4nge, so steht angesichts der oben nachgewiesenen Beziehungen der perspectivischen Vorstellung zu bestimmten Blickrichtungen und Blickbewegungen jedenfalls dieses fest, dass in die Wahrnehmung selbst Elemente eingehen m\u00fcssen, die diese Einfl\u00fcsse der Stellungen und Bewegungen des Auges zur Geltung bringen. Welches sind diese Elemente?\nAn und f\u00fcr sich lassen sich hier drei Annahmen als m\u00f6glich denken. Man k\u00f6nnte erstens voraussetzen, wir bes\u00e4\u00dfen ein nat\u00fcrliches \u00bbBewusstsein\u00ab von jeder Blickrichtung und Blickhewegung, mag diese nun willk\u00fcrlich sein oder nicht, ein Bewusstsein, welches demnach weder durch den Willen noch auch durch irgend welche Empfindungen vermittelt werde, sondern unmittelbar da sei, einen Bestandteil angeborener Baumanschauung und in uns hegender intuitiver Kenntniss der Zust\u00e4nde unseres eigenen Leibes bildend. Man kann sodann zweitens annehmen, wir w\u00fcrden uns bei jeder Stellung und bei jeder Bewegung des Auges einer bestimmten Willensrichtung bewusst: der \u00bbWille\u00ab die Blicklinie irgendwie einzustellen oder zu bewegen bewirke also bei normalem Sehorgan unmittelbar die erforderliche Einstellung und Bewegung, und diese w\u00fcrden uns demnach lediglich durch das auf sie gerichtete Wollen bewusst. Endlich kann man drittens annehmen, mit den Stellungen und Bewegungen des Auges seien bestimmte Empfindungen verbunden, verschieden je nach Kichtung und Umfang der Bewegungen, und diese Empfindungen seien es, durch welche Blickstellung und Blickbewegung erst ihren Einfluss auf die perspectivische Vorstellung gewinnen.\nDie erste dieser drei Annahmen wird nun gegenw\u00e4rtig, so viel mir bekannt ist, von Niemanden mehr vertreten. Sie w\u00fcrde in der That so ernsten Schwierigkeiten begegnen, dass man sich, um sie aufrecht zu erhalten, entschlie\u00dfen m\u00fcsste, die Ergebnisse der physiologischen und psychologischen Untersuchung der Sinneswahmehmungen","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nW. Wundt.\nso ziemlich s\u00e4mmtlich \u00fcber den Haufen zu werfen. Setzt sie doch nicht etwa blo\u00df eine angeborene Raumanschauung voraus, sondern eine Raumanschauung ohne alle Empfindungen, w\u00e4hrend doch alle Erfahrung lehrt, dass stets nur irgend ein Empfindungssubstrat, nicht aber irgend ein \u00bbNicht-Seiendes\u00ab im platonischen Sinne r\u00e4umlich geordnet Vorkommen k\u00f6nne; ja noch mehr, sie setzt auch eine angeborene und wieder durch keinerlei Empfindungen vermittelte Kenntniss der eigenen K\u00f6rperorgane und ihrer Lage im Raum voraus. Diese Zumuthungen sind so hart, dass man diese Hypothese, die h\u00f6chstens in einigen \u00e4lteren speculativen Erkenntnisstheorien vorkommt, innerhalb der heutigen Psychologie wohl als g\u00e4nzlich verlassen betrachten darf.\nAnders steht es mit der zweiten Annahme. Dass wir von unserem Willen, eine bestimmte Bewegung auszuf\u00fchren oder einem Organ wie dem Auge eine bestimmte Stellung anzuweisen, eine unmittelbare, nicht durch Empfindungen vermittelte Kenntniss besitzen sollen, ist eine heute noch bei Physiologen und Psychologen verbreitete Hypothese. Es ist aber schon oben bei der Besprechung der \u00bbConvergenz-versuche\u00ab bemerkt worden, dass man sich hier, angesichts der bei den Gelenkbewegungen gewonnenen Yersuchsergebnisse, entschlie\u00dfen m\u00fcsste, dem Auge eine Ausnahmestellung unter allen Bewegungsorganen anzuweisen, da ja die Gelenkbewegungen, denen sonst die Bewegungen des Auges in der Orbita gleichen, bei activen wie bei passiven, also vom Willen v\u00f6llig unabh\u00e4ngigen Bewegungen dieselbe Unterschiedsempfindlichkeit zeigen (siehe oben S. 23). Die Beobachtungen bei den umkehrbaren T\u00e4uschungen lehren nun au\u00dferdem, dass alle jene Einfl\u00fcsse der Blickstellung und Blickbewegung ganz in der gleichen Weise wirken, ob der Wille dabei eine Rolle spielt, oder ob die Bewegungen g\u00e4nzlich unwillk\u00fcrlich erfolgen. Ueberaus belehrend sind hier vor allem die Beobachtungen an Eig. 4 wegen der au\u00dferordentlichen Neigung dieser Eigur zu einem pl\u00f6tzlichen Wechsel des Reliefs. Ein solcher Wechsel tritt bei den gew\u00f6hnlichen, ohne besondere Aufmerksamkeit auf die Bewegungen des Auges ausgef\u00fchrten Beobachtungen ganz ohne Wissen und Wollen des Beobachters ein. Wohl aber bemerkt man, dass das unwillk\u00fcrliche Gleiten des Blicks bestimmten Fixationslinien entlang oder das Ueberspringen in eine neue Eixirstellung stets das Relief in der durch die fr\u00fcher formulirte Regel gegebenen Weise bestimmt. Versucht man dagegen","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n49\numgekehrt, durch Anstrengung der willk\u00fcrlichen \u00bbEinbildungskraft\u00ab die Vorstellung irgend eines Reliefs hervorzurufen, so tritt diese niemals ein, wenn nicht zugleich eine entsprechende Blickbewegung erfolgt. Der Wille kann also immer erst indirect, dadurch dass er die geeignete Blickrichtung oder Blickbewegung erzeugt, die perspec-tivische Vorstellung bestimmen. Wo er dies nicht thut, da bleibt trotz aller Willensanstrengung die Vorstellung unge\u00e4ndert. Ueber-zeugend sind in dieser Beziehung auch die Versuche an Figuren, hei denen eine \u00fcberwiegende Neigung zu einer bestimmten Reliefvorstellung besteht, wie an Fig. 5. Wenn man diese Figur in der oben' beschriebenen Weise um 180 Grad dreht, w\u00e4hrend man einen Punkt a fixirt, so tritt die Umkehrung des Reliefs ein, man mag wollen oder nicht. Ebenso kehrt sich aber das so entstandene Relief wieder in das vorige um, wenn man nun unwillk\u00fcrlich zu der entgegengesetzten Fixationsweise zur\u00fcckkehrt. Auch das zuweilen neben dem Willen zu H\u00fclfe gerufene zuf\u00e4llige Spiel der sogenannten Einbildungskraft erweist sich demnach als nicht stichhaltig. Die ausschlie\u00dfliche Ursache einer bestimmten perspectivischen Vorstellung ist vielmehr stets die zu dieser nach jener fr\u00fcheren Regel in Beziehung stehende Blickstellung oder Augenbewegung. Ob die letztere willk\u00fcrlich oder unwillk\u00fcrlich erfolgt, und ob ihr eine Neigung sich ein gewisses Relief vorzustellen vorausgeht oder nicht, ist aber dabei vollkommen gleichg\u00fcltig.\nNeben diesen negativen Beobachtungen \u00fcber die Einflusslosigkeit des Willens und der willk\u00fcrliehen Einbildungskraft lassen sich jedoch bei diesen Versuchen noch andere, positive Beobachtungen machen. Wenn ich an Fig. 4 irgend einen Punkt fixire, und wenn dann, wie es nach l\u00e4ngerer Fixation in Folge der Erm\u00fcdung stets geschieht, ein pl\u00f6tzliches Gleiten der Blicklinie auf irgend eine der vom fixirten Punkt ausgehenden Fixationslinien eintritt, so glaube ich eine ganz bestimmte Empfindung dieser Bewegung zu haben, ebenso wie mir auch die Fixation selbst von einer deutlichen Spannungsempfindung im Auge begleitet zu sein scheint. Nun muss man ja zugeben, \u00fcber die Existenz solcher an und f\u00fcr sich schwacher subjectiver Empfindungen kann man sich m\u00f6glicher Weise t\u00e4uschen. Immerhin gewinnt diese subjective Beobachtung eine gr\u00f6\u00dfere Bedeutung, wenn sie mit andern Thatsachen in \u00fcbereinstimmendem Sinne zusammentrifft. Bei stark excentrischen Stellungen und sehr umfangreichen Bewegungen\nWundt, Philos. Studien. XIV.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nW. Wundt.\nexistiren \u00fcberdies solche Empfindungen ganz unzweifelhaft. Wenn sie bei wenig umfangreichen Bewegungen weniger merklich werden, so erkl\u00e4rt sich dies im vorliegenden Fall, abgesehen von ihrer geringeren Intensit\u00e4t, eben daraus, dass sie mit andern Empfindungen, namentlich mit den hei der Betrachtung eines Gesichtsobjectes vorhandenen Netzhautempfindungen verschmelzen.\nNach allem dem bleibt die dritte der oben als m\u00f6glich hingestellten Annahmen als die allein haltbare \u00fcbrig. Nach ihr gewinnen die Blickstellungen und Blickhewegungen den nachgewiesenen Einfluss auf die r\u00e4umliche Wahrnehmung und demnach auch speciell auf die hei den umkehrbaren T\u00e4uschungen vorkommenden Reliefvorstellungen durch die Empfindungen, die an sie, \u00e4hnlich wie an die Stellungen und Bewegungen unserer sonstigen Bewegungsorgane, gebunden sind. Sie k\u00f6nnen aber diesen Einfluss offenbar nur \u00e4u\u00dfern, wenn zu ihnen nicht blo\u00df die an dem vorhandenen Object gegebenen Wahmehmungs-elemente hinzukommen, sondern wenn sich au\u00dferdem auch noch solche Bestandtheile geltend machen, die fr\u00fcher vollzogenen Wahrnehmungen angeh\u00f6ren. Damit erhalten jene mit den Augenbewegungen verbundenen Empfindungen die Bedeutung ausl\u00f6sender psychischer Kr\u00e4fte, die erst zusammen mit den durch sie erweckten Elementen fr\u00fcherer Gesichtswahrnehmungen die perspectivische Auffassung des Bildes bestimmen. Diese reproducirten Elemente spielen dabei insofern eine abh\u00e4ngige Bolle, als durch die Beschaffenheit des Objectes einerseits und durch die Blickstellungen oder Blickbewegungen anderseits die allgemeine Richtung der eintretenden Reproductionen vollst\u00e4ndig bestimmt wird. Dies f\u00fchrt uns auf die zweite oben hervorgehobene Bedeutung der Umkehrungsversuche: auf die ihnen zu entnehmenden Aufschl\u00fcsse \u00fcber die allgemeine Natur der Associationsprocesse.\nDass jene vollkommen plastische Auffassung, wie wir sie bei geeigneter Betrachtung der Figuren 4, 5 oder 6, namentlich bei vollkommen starrer Fixation derselben, gewinnen, nur auf der Mitwirkung von Associationen beruhen kann, ist einleuchtend. Ohne vorangegangene Vorstellungen k\u00f6rperlicher Objecte von irgendwie analoger Beschaffenheit w\u00fcrde eine solche Auffassung ganz undenkbar sein. Wenn es noch eines besonderen Zeugnisses hierf\u00fcr bed\u00fcrfte, so w\u00fcrde ein solches jedenfalls in der Mehrdeutigkeit der Formen liegen, die","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n51\nbald zwei, bald sogar vier verschiedene Auffassungen m\u00f6glich macht, jenes z. B. bei Fig. 4 und 5, dieses bei Fig. 6. Entscheidend ist hierbei namentlich, dass der Einfluss der Blickstellung wie der Blickbewegung im Sinne der gewohnheitsm\u00e4\u00dfigen Betrachtung k\u00f6rperlicher Objecte stattfindet. Nat\u00fcrlich ist es aber ausgeschlossen, dass diese Art der Betrachtung anders zur Wirkung gelangen kann als eben durch die Association der in dem \u00e4u\u00dferen Eindruck und in den Spannungsempfindungen des Auges gegebenen Wahmehmungsbestand-theile mit fr\u00fcheren Wahrnehmungen, bei denen dieselben Blickstellungen und Blickbewegungen mit den n\u00e4mlichen begleitenden Spannungsempfindungen vorhanden gewesen waren.\nHinsichtlich der n\u00e4heren Beschaffenheit dieser Associationen lehren nun die Umkehrungserscheinungen zun\u00e4chst, dass sie simultane Yorg\u00e4nge sind, das hei\u00dft, dass sie nicht zu jenen aus der Beobachtung der Erinnerungserscheinungen gel\u00e4ufigen und gew\u00f6hnlich allein dem Associationsbegriff zugerechneten Vorg\u00e4ngen geh\u00f6ren, bei denen sich eine inducirende und eine inducirte Vorstellung in zeitlicher Folge an einander anschlie\u00dfen, sondern dass sie Vorg\u00e4nge sind, bei denen diese beiden Bestandtheile zusammen ein gleichzeitig gegebenes Vorstellungsganzes bilden. Betrachten wir gleichwohl auch hier die in dem objectiven Eindruck gegebenen Merkmale und die sich mit diesen verbindenden Spannungsempfindungen des Auges als inducirende, die reproducirten Vorstellungselemente dagegen, welche das zur Wahrnehmung gelangende Belief endg\u00fcltig constituiren, als inducirte Elemente, so sind, wie man unmittelbar sieht, die perspec-tivischen Umkehrungserscheinungen dadurch charakterisirt, dass bei ihnen unter den inducirenden Bestandtheilen ausschlie\u00dflich die Spannungsempfindungen die Bichtung der Beproduction bestimmen, im Gegens\u00e4tze zu der gro\u00dfen Mehrzahl r\u00e4umlicher Wahrnehmungen, wo beide, Netzhautbild und Stellung oder Bewegung des Auges eindeutig und in gleichem Sinne Zusammenwirken. Ist aber auch das so zu Stande kommende Associationsproduct ein simultanes, das darum inducirende und inducirte Elemente f\u00fcr die unmittelbare Wahrnehmung ununterscheidbar enth\u00e4lt, so bedarf doch auch hier die Entstehung eines derart zusammengesetzten Wahmehmungsinhaltes stets einer gewissen Zeit, wie sich darin verr\u00e4th, dass zu jeder Umkehrung eines Beliefs eine zwar kurze, aber immerhin merkliche Zeit verbraucht\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nW. Wundt.\nwird, w\u00e4hrend deren es, wie man besonders bei dem Studium der Pig. 4 wahmimmt, Vorkommen kann, dass der Uebergang in die neue Vorstellung an einem Theil der Figur bereits erfolgt, an einem andern The\u00fce aber noch zur\u00fcckgeblieben ist, womit auch zusammenh\u00e4ngt, dass gelegentlich ein solcher Umkehrungsvorgang gar nicht zur Vollendung gelangt, weil er durch einen r\u00fcckl\u00e4ufigen Process unterbrochen wird. So viel sich beobachten l\u00e4sst, gehen aber diese zeitlichen Vorg\u00e4nge genau parallel den in den Spannungsempfindungen sich verrathenden Bhckbewegungen. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Umkehrungserscheinungen mit diesen als den entscheidenden inducirenden Factoren genau gleichzeitig erfolgen.\nWeiterhin tragen dann die simultanen Associationen hier, \u00e4hnlich wie im allgemeinen bei den unmittelbaren sinnlichen \u00bbEr-kennungs-\u00ab und \u00bbWiedererkennungsvorg\u00e4ngen\u00ab, den Charakter der Assimilationen an sich, insofern die inducirenden und die indu-cirten Wahrnehmungsbestandtheile einander angeglichen werden, so dass sie in der neu gebildeten Vorstellung vollst\u00e4ndig verschmelzen k\u00f6nnen, auch da wo wir allen Grund haben vorauszusetzen, dass sie in den urspr\u00fcnglichen Wahmehmungsinhalten zum Theil von einander verschieden waren. Diese Angleichung kann aber wieder durch einen doppelten Process erfolgen, und sie erfolgt wahrscheinlich stets durch einen solchen: erstens durch Verdr\u00e4ngung ungleicher Bestandteile, und zweitens durch positive Angleichung von ann\u00e4hernd \u00fcbereinstimmenden Bestandteilen. Dabei k\u00f6nnen im allgemeinen, wie die Erscheinungen bei den Wiedererkennungsvorg\u00e4ngen lehren, an beiden Processen, den Eliminationen oder Verdr\u00e4ngungen und den eigentlichen Angleichungen, sowohl die inducirten wie die inducirenden Elemente theilnehmen. Bei der Wahrnehmung und Wiedererkennung sehr gel\u00e4ufiger Gegenst\u00e4nde, z. B. beim H\u00f6ren gel\u00e4ufiger Worte, beim Sehen bekannter Objecte, wie der Schriftbilder der Worte, kann sogar diese assimilirende Elimination, wie die bekannten Thatsachen des Verh\u00f6rens und Verlesens beweisen, vorzugsweise die Elemente des Sinneseindrucks treffen. In solchen F\u00e4llen wird man daher sagen m\u00fcssen, dass sich auch die Richtung der Induction umkehrt, indem reproductive Bestandteile inducirend auf unmittelbar gegebene einwirken. Daraus ergibt sich aber zugleich, dass \u00fcberhaupt die Assimilation nicht ein einseitiger Process ist, sondern dass sie in","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n53\neiner assimilirenden Wechselwirkung besteht, bei der bald mehr der unmittelbare Wahmehmungsinhalt fr\u00fcheren Vorstellungen, bald mehr der Inhalt dieser den gegebenen Empfindungen assimilirt wird, bald aber auch beides ann\u00e4hernd in gleichem Grade stattfindet. Bei den \u00bbErkennungsvorg\u00e4ngen\u00ab \u00fcberwiegt im allgemeinen, besonders bei sehr gel\u00e4ufigen Objecten, die assimilirende Kraft der reproductiven Elemente, bei den Wiedererkennungsvorg\u00e4ngen die der directen Sinneseindr\u00fccke, und das um so mehr, je weniger gel\u00e4ufig der Gegenstand ist, immerhin aber so, dass ein gewisser Grad assimilirender Wirkung auch den reproductiven Elementen verbleibt1).\nDem gegen\u00fcber bilden nun die Umkehrungserscheinungen einen ausgepr\u00e4gten Fall von Assimilationen, bei denen ausschlie\u00dflich die Elemente des Eindrucks, Netzhautbild und Spannungsempfindungen, eine activ assimilirende Wirkung aus\u00fcben, und also auch allein in dem oben angegebenen Sinne alS die inducirenden bezeichnet werden k\u00f6nnen. Die reproductiven Elemente richten sich hier unbedingt nach diesen unmittelbaren Empfindungsbestandtheilen. Bei gegebener Beschaffenheit des Netzhautbildes und der Spannungsempfindungen ist daher auch die Beschaffenheit der perspectivischen Vorstellung eindeutig bestimmt.\nWegen dieser einseitigen Wirkung der Vorstellungsinduction, die in den Eigenschaften der Zeichnungen und in der festen Association bestimmter Augenstellungen und Blickbewegungen zu den gewohnten Gesichtsobjecten ihren begreiflichen Grund hat, bieten nun aber auch die perspectivischen Umkehrungserscheinungen eine besonders g\u00fcnstige, weil in hohem Ma\u00dfe durch Einfachheit und Uebersichtlichkeit der Bedingungen sich auszeichnende Gelegenheit zum Studium der Assi-milationsvorg\u00e4nge und damit der Associationen \u00fcberhaupt dar. Namentlich gilt dies f\u00fcr die Frage nach dem Verh\u00e4ltnis der unmittelbar empfundenen zu den reproductiven Elementen. In dieser Beziehung beweisen sie vor allem schlagend, dass die in der alten Associationslehre herrschende Annahme, eine Association sei jedesmal eine Verkn\u00fcpfung zwischen je zwei oder mindestens zwischen irgend einer beschr\u00e4nkten Anzahl fertiger Vorstellungen, eine aus der blo\u00dfen\n1) Ueber Erkermungs- und Wiedererkennungsvorg\u00e4nge \u00fcberhaupt vergl. Grundriss der Psychologie. 2. Aufl. S. 278 ff.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nW. Wundt.\noberfl\u00e4chlichen Betrachtung der Erinnerungsprocesse entsprungene Meinung ist, bei der man eben nur auf das allgemeine, so zu sagen schematische Yerh\u00e4ltniss des inducirenden Eindrucks zur erinnerten Vorstellung, nicht aber auf die n\u00e4here Beschaffenheit dieser achtete. Den bei den umkehrbaren perspectivischen T\u00e4uschungen sich bietenden Erscheinungen gegen\u00fcber ist diese rohe Vorstellungsweise absolut hinf\u00e4llig. Niemand wird der Meinung sein, dass wir ein Object, das genau der Fig. 4 gliche, mit den bestimmten k\u00f6rperlichen Eigenschaften behaftet, die wir ihm bei einer der beiden Relief Vorstellungen beilegen, jemals fr\u00fcher genau in dieser Beschaffenheit gesehen h\u00e4tten; und ebenso l\u00e4sst sich von Objecten wie Fig. 5 und 6 h\u00f6chstens behaupten, dass uns irgend welche Ann\u00e4herungen an sie, nicht aber ihnen v\u00f6llig gleichende Objecte gel\u00e4ufig seien. In jedem dieser F\u00e4lle ist es daher augenscheinlich nicht eine einzelne Vorstellung, sondern eine unbestimmte Menge fr\u00fcherer Vorstellungen, die auf die Entstehung eines bestimmten, der vorhandenen Augenstellung und Augenbewegung entsprechenden Reliefs wirkt. Au\u00dferdem ist aber klar, dass solche fr\u00fchere Vorstellungen nicht in ihrer Totalit\u00e4t zur Wirkung kommen, sondern dass dies immer nur von gewissen Bestandteilen derselben gilt, von solchen, die eben dem vorhandenen Eindruck zureichend sich n\u00e4hern, damit sie dem Netzhautbilde angeglichen werden und daher mit diesem zusammen eine perspectivische Vorstellung erzeugen k\u00f6nnen. Den direct gegebenen Sinnesempfindungen verdankt so diese Vorstellung den Eindruck unmittelbarer Wirklichkeit, w\u00e4hrend doch die in ihr enthaltene Tiefenanschauung ganz und gar reproductiven Ursprungs ist. Nicht zwischen Vorstellung und Vorstellung, sondern zwischen Vorstellungselementen vollzieht sich also der Assimilationsprocess, oder mit andern Worten: die Assimilation, wie die Association \u00fcberhaupt, besteht in jedem einzelnen Falle aus einer Menge elementarer Verbindungsprocesse zwischen den Bestandteilen der Vorstellungen. Diese Verbindungsprocesse sind ihrem entscheidenden Charakter nach Angleichungsprocesse, die jedoch selbst erst in Folge von gleichzeitig stattfindenden elementaren Verdr\u00e4ngungs- oder Eliminationsprocessen wirksam werden k\u00f6nnen.\nDieser Charakter der Vorg\u00e4nge bringt es mit sich, dass die endg\u00fcltig entstehende Vorstellung im allgemeinen keiner einzigen irgend","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\t55\neinmal fr\u00fcher dagewesenen Vorstellung vollst\u00e4ndig gleicht, sondern dass sie den fr\u00fcheren Vorstellungen gegen\u00fcber stets ein neues, ihnen nur mehr oder minder \u00e4hnliches Gebilde darstellt. Auf diese Weise beth\u00e4tigt sich hei diesen Wahrnehmungsvorg\u00e4ngen schon, wenngleich in einer sehr einfachen Form, die sch\u00f6pferische Natur der synthetischen Processe des seelischen Lebens. Auch darin aber sind wohl diese synthetischen Processe der Wahrnehmung vorbildlich f\u00fcr alle zusammengesetzteren psychischen Vorg\u00e4nge \u00e4hnlicher Art, dass sie trotz dieser ihrer sch\u00f6pferischen Natur durch die Bedingungen ihrer Entstehung vollst\u00e4ndig determinirt sind. Auch in diesem Sinne also l\u00e4sst sich hei ihnen von jenem planlosen Schaffen der sogenannten Einbildungskraft, das man so oft gerade in die umkehrbaren perspec-tivischen Vorstellungen hineindeutet, gar nichts erkennen. Eine solche Einbildungskraft existirt \u00fcberhaupt nicht. Sie ist nur ein abstracter und vager Allgemeinbegriff f\u00fcr Vorg\u00e4nge, von deren wirklicher Natur man sich keine Rechenschaft gibt. Hier, bei dem Aufbau der Sinnesvorstellungen ist aber Gelegenheit gegeben, die Associationsvorg\u00e4nge, die hei dem Walten der Einbildungskraft wirksam sind, unter ihren einfachsten Bedingungen zu analysiren.\nDie umkehrbaren perspectivischen T\u00e4uschungen verdanken diese Bedeutung f\u00fcr das Studium der Associationen dem verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig weiten Spielr\u00e4ume, den bei ihnen die im Netzhautbilde gegebenen Motive der Gestaltung der Vorstellungen gew\u00e4hren. Dies ist wesentlich anders bei den im Folgenden zu er\u00f6rternden weiteren Formen geometrisch-optischer T\u00e4uschungen, bei denen die Bedingungen zur Entstehung bestimmter Vorstellungen fester begrenzt sind. Eben deshalb ist nun die Untersuchung dieser im allgemeinen eindeutig bestimmten T\u00e4uschungen von um so gr\u00f6\u00dferer Bedeutung f\u00fcr die Analyse der speciellen Processe der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmung.\n2. Die variaheln Strecken- und Richtungst\u00e4uschungen mit eindeutigen perspectivischen Nebenvorstellungen.\nDa alle r\u00e4umlichen Bestimmungen auf die Messung der Gr\u00f6\u00dfe geradliniger Strecken und der Richtung gerader Linien im Raum oder der Gr\u00f6\u00dfe der von solchen geraden Linien eingeschlossenen","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nW. Wundt.\nWinkel zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, so lassen sich auch alle r\u00e4umlichen Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen des Gesichtssinnes in Streckent\u00e4uschungen und in Bichtungs- oder Winkelt\u00e4uschungen unterscheiden. T\u00e4uschungen \u00fcber die Gr\u00f6\u00dfe von geraden Linien oder Winkeln lassen sich aber im allgemeinen nur dadurch als solche erkennen, dass wir eine gegebene Gerade oder einen gegebenen Winkel mit einer andern Geraden oder mit einem andern Winkel von bekannter objectiver Gro\u00dfe vergleichen; und eine solche Vergleichung begegnet wieder den einfachsten Bedingungen dann, wenn die den Vergleichungsma\u00dfstab abgebende Gr\u00f6\u00dfe objectiv der zu messenden gleich ist. Hiernach bezeichnen wir es als eine \u00bbStreckent\u00e4uschung\u00ab, wenn eine Strecke oder die ihr entsprechende gerade Linie gr\u00f6\u00dfer oder kleiner erscheint als eine ihr objectiv gleiche Strecke. Eine \u00bbRichtungst\u00e4uschung\u00ab dagegen nennen wir es, wenn eine durch eine gerade Linie bestimmte Richtung von einer andern ihr objectiv gleichen abzuweichen scheint, oder wenn ein einen bestimmten Richtungsunterschied messender Winkel gr\u00f6\u00dfer oder kleiner erscheint als ein anderer ihm objectiv gleicher Winkel. Wir wollen ferner diese Strecken- und Richtungst\u00e4uschungen \u00bbvariabel\u00ab nennen, wenn die Gr\u00f6\u00dfe der T\u00e4uschung durch die willk\u00fcrliche Variation ihrer Bedingungen ver\u00e4ndert und eventuell auf Null herabgesetzt oder in eine T\u00e4uschung von der entgegengesetzten Beschaffenheit \u00fcbergef\u00fchrt werden kann, im Gegens\u00e4tze zu den nachher zu er\u00f6rternden \u00bbconstanten\u00ab Strecken- und Richtungst\u00e4uschungen, bei denen eine derartige willk\u00fcrliche Variation nicht m\u00f6glich ist.\nAlle die so definirten variabeln Strecken-und Richtungst\u00e4uschungen zeichnen sich durch das gemeinsame Merkmal aus, dass sie sich mit eindeutigen perspectivischen Nebenvorstellungen verbinden k\u00f6nnen und unter geeigneten Bedingungen der Beobachtung dies regelm\u00e4\u00dfig thun. Die perspectivischen Vorstellungen sind in diesem Falle \u00bbeindeutig\u00ab im Gegens\u00e4tze zu den umkehrbaren T\u00e4uschungen, bei denen sie mindestens zweideutig und nicht selten in Folge des besonderen Einflusses gewisser Fixirstellungen sogar vierdeutig sein k\u00f6nnen. Die perspectivischen Vorstellungen sind hier au\u00dferdem \u00bbNebenvorstellungen\u00ab, weil sie erstens unter bestimmten Bedingungen ganz verschwinden, und weil sich zweitens durch die Variation der Versuche nachweisen l\u00e4sst, dass die perspectivische T\u00e4uschung insofern \u00abine secund\u00e4re Bedeutung hat, als sie lediglich eine Folge der vor-","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlieheu Gesichtswahrnehmungen.\n57\nhandenen Gr\u00f6\u00dfen- oder Bichtungst\u00e4uschung ist, nicht etwa umgekehrt diese aus jener abgeleitet werden kann.\nDie regelm\u00e4\u00dfigen Erscheinungen der variabeln Strecken- und Bichtungst\u00e4uschungen lassen sich nun in folgende allgemeine S\u00e4tze zusammenfassen: 1) Ausgef\u00fcllte Strecken werden \u00fcbersch\u00e4tzt gegen\u00fcber unausgef\u00fcllten, eingetheilte im Vergleich mit nicht eingetheilten. 2) Unbestimmt abgegrenzte Strecken werden \u00fcbersch\u00e4tzt im Vergleich mit bestimmt abgegrenzten. 3) Kleine Bichtungsunterschiede (spitze Winkel) werden \u00fcbersch\u00e4tzt im Verh\u00e4ltnis zu gro\u00dfen (zu stumpfen Winkeln). 4) Jede Uebersch\u00e4tzung einer Baumgr\u00f6\u00dfe, sei es einer geradlinigen Strecke oder eines Winkels, verbindet sich, wenn nicht bestimmte Hindernisse im Wege stehen, mit der perspectivischen Nebenvorstellung einer weiteren Entfernung des \u00fcbersch\u00e4tzten Baumgebildes vom Auge. Hierzu ist noch zu bemerken, dass die Uebersch\u00e4tzung spitzer Winkel wabrscbeinbch nur der specielle Fall der relativen Uebersch\u00e4tzung kleiner Gr\u00f6\u00dfen \u00fcberhaupt ist, einer T\u00e4uschung zu deren unmittelbarer Best\u00e4tigung in der Wahrnehmung jedoch Winkel wegen des auffallenderen Eindrucks gewisser Bichtungsunterschiede im allgemeinen geeigneter sind als lineare Strecken. Endlich bedarf es wohl kaum der besonderen Bemerkung, dass die entsprechenden T\u00e4uschungen auch an Baumgebilden auftreten, die aus mehreren geraden Linien und Winkeln zusammengesetzt sind.\nDie mittelst der experimentellen Variation der Bedingungen leicht vorzunehmende Analyse dieser T\u00e4uschungen ergibt, dass als die prim\u00e4re Ursache derselben stets der Aufwand an Energie betrachtet werden kann, der bei der Blickbewegung \u00fcber eine gegebene Strecke erforderlich ist, mag nun die Strecke wirklich durchlaufen werden oder hei fixirendem Blick einen entsprechenden Antrieb auf die Bewegungsinnervation aus\u00fcben. Setzt man n\u00e4mlich voraus, dass jede relativ gr\u00f6\u00dfere actuelle oder in dem eben angef\u00fchrten Sinne virtuelle Bewegungsenergie des Auges die bei der Blickbewegung durchmessene oder zu durchmessende Baumgr\u00f6\u00dfe ausgedehnter erscheinen l\u00e4sst, so sind alle variabeln Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen aus den folgenden S\u00e4tzen abzuleiten: 1) Eine auf vorgezeichneter Bahn stattfindende Bewegung fordert mehr Bewegungsenergie als eine freie Bewegung; eine durch mehrfache Haltepunkte unterbrochene Bewegung mehr als eine ununterbrochene Bewegung. 2) Eine Bewegung ohne fest bestimmte","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nW. Wundt.\nEndpunkte -fordert mehr Bewegungsenergie als eine solche, die durch bestimmte Begrenzungen eingeschr\u00e4nkt, oder durch einen einzelnen Eixirpunkt inmitten der zu durchmessenden Strecke gehemmt wird. 3) Eine Bewegung von kleinerem Umfange fordert im Vergleich mit einer umfangreicheren relativ, d. h. im Verh\u00e4ltnis zur jedesmal durchmessenen^ Strecke, mehr Bewegungsenergie. Aus den beiden ersten S\u00e4tzen erkl\u00e4ren sich im allgemeinen die Streckent\u00e4uschungen, aus dem dritten die Winkelt\u00e4uschungen. Zu beiden T\u00e4uschungen stehen sodann die perspectivischen Nebenvorstellungen in dem Verh\u00e4ltnis, dass diese die T\u00e4uschung mit den Eigenschaften des Netzhautbildes in Einklang bringen oder doch einer solchen Ueberein-stimmung ann\u00e4hern. Dadurch best\u00e4tigen die Nebenvorstellungen indirect, was sich \u00fcbrigens auch aus sonstigen Thatsachen ergibt, dass das Netzhautbild als solches an den Strecken- und Winkelt\u00e4uschungen nicht betheiligt ist. R\u00fccksichtlich des Verh\u00e4ltnisses dieser beiden Bestandtheile der T\u00e4uschung zu einander gilt die Regel, dass, sofern die Bedingungen zur Entstehung perspectivischer Nebenvorstellungen \u00fcberhaupt gegeben sind, diese bei starrer Fixation der Objecte am deutlichsten hervortreten, w\u00e4hrend umgekehrt bei bewegtem Blick die Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen merklicher zu sein pflegen. Zugleich tritt aber auch hei starrer Fixation das compensatorische Verh\u00e4ltnis der perspectivischen Vorstellung zu jenen T\u00e4uschungen unmittelbar hervor. Bei g\u00fcnstiger Ausf\u00fchrung der Beobachtungen fasst man n\u00e4mlich bei solchen Fixirversuchen die Bildgr\u00f6\u00dfen der mit einander verglichenen objectiv gleichen Objecte als gleich, ihre wirklichen Gr\u00f6\u00dfen aber in dem der Projection in verschiedene Entfernungen entsprechenden Verh\u00e4ltnisse als verschieden auf, so dass in diesem Falle zwar die Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung bestehen bleibt, jedoch durch die perspectivische Nebenvorstellung vollst\u00e4ndig mit den Eigenschaften der Netzhauthilder in Einklang gebracht ist.\nIndem ich r\u00fccksichtlich der n\u00e4heren Analyse dieser Verh\u00e4ltnisse wiederum auf die angef\u00fchrte ausf\u00fchrlichere Arbeit verweise, beschr\u00e4nke ich mich hier auf die Erl\u00e4uterung der oben aufgestellten S\u00e4tze an den einfachsten Beispielen. An den drei Zeichnungen der Fig. 7 \u00fcbersieht man zun\u00e4chst alle wesentlichen Erscheinungen derjenigen Streckent\u00e4uschungen, die durch die Forderung fixirender oder freier, eingetheilter oder ununterbrochener Bewegung hervorgehracht werden.","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umliehen Gesichtswahrnehmungen.\n59\nIn Fig. 7 A sind drei Strecken von gleicher Gr\u00f6\u00dfe neben- einander gezeichnet: eine einfache lineare Strecke, eine leere und eine mehrfach eingetheilte. Man sieht sofort, dass die leere Strecke unter ihnen als die kleinste erscheint, nach ihr kommt die einfache Gerade, am l\u00e4ngsten erscheint die eingetheilte Linie. Mit dieser verglichen erscheint aber\nA\tB\n----\u2014\u2014------ H-H H-H-t I I\t---------H-H-H-4-H\nC\nFig. 7.\ndie nicht eingetheilte Linie zugleich als die dem Beschauer n\u00e4here, wie man namentlich bei starrer monocularer Fixation eines zwischen beiden gelegenen Punktes erkennt. Zuweilen gelingt es schon an dieser Figur hei solcher Fixation die Bildgr\u00f6\u00dfe beider Linien als gleich aufzufassen. Dass jedoch nicht, wie man hiernach m\u00f6glicher Weise vermuthen k\u00f6nnte, diese Projection der eingetheilten Linie in gr\u00f6\u00dfere Entfernung die Ursache der Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung ist, dagegen spricht die scheinbare Verkleinerung auch des leeren Zwischenraumes, bei dem gar kein Motiv vorhegt, ihn in eine bestimmte Tiefe zu verlegen. N\u00e4her noch zeigt das n\u00e4mliche die Fig. 7 B, in der eine einzige Gerade in der Mitte getheilt und die eine H\u00e4lfte dann weiterhin in mehrere St\u00fccke eingetheilt ist, die andere nicht, und wo nun die eingetheilte H\u00e4lfte gr\u00f6\u00dfer erscheint als die nicht eingetheilte. Bei dieser Figur kommt wegen der unmittelbar ersichtlichen Zusammengeh\u00f6rigkeit der beiden H\u00e4lften die verschiedene Tiefenprojection ebenfalls nicht zu Stande: dieser Fall geh\u00f6rt also zu denen, bei welchen, wie oben bemerkt, bestimmte Motive die Entstehung perspectivischer Nebenvorstellungen verhindern; gleichwohl ist auch hier die Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung deutlich zu bemerken. Dass endlich nicht die im Netzhautbilde sich geltend machende Ausf\u00fcllung einer Strecke, wie mehrfach geglaubt wurde, sondern dass Motive der Blick-Bewegung die Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung verursachen, daf\u00fcr bildet noch die %. 7 C einen Beleg. Sie besteht genau wie die Fig. 7 A aus drei","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nW, Wundt.\ngleich gro\u00dfen Strecken, einer einfach linearen, einer leeren und einer eingetheilten: der Unterschied der letzteren von der eingetheilten Strecke in Fig. 7 A und B besteht nur darin, dass blo\u00df ein einziger Theilpunkt beibehalten worden ist. Damit hat sich aber das scheinbare Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltniss der drei Strecken v\u00f6llig ver\u00e4ndert: als die l\u00e4ngste erscheint nun die einfach ausgezogene Linie rechts, dann kommt die leere Strecke, am kleinsten erscheint die durch den mittleren Theilpunkt gegliederte Strecke links. Als der Grund dieser Umkehrung dr\u00e4ngt sich der subjectiven Beobachtung die wesentlich verschiedene Art der Blickbewegung auf, zu der diese Figur herausfordert: bei der Betrachtung der ausgezogenen Linie ist man geneigt, die ganze Linie mit dem Blick zu verfolgen, bei der Betrachtung der in der Mitte getheilten haftet der Blick an dem Theilpunkt, und man pflegt daher die Linie mit relativ ruhendem Blick aufzufassen. Finden secund\u00e4ren Charakter der perspectivischen Nebenvorstellungen spricht es endlich, dass sich auch diese im vorliegenden Fall umkehren: hier scheint n\u00e4mlich bei starrer Fixation eines zwischen beiden gelegenen Punktes die ungetheilte Linie die fernere und die eingetheilte die n\u00e4here zu sein.\nDie an den beiden Linien der Fig. 7 G zu beobachtenden Erscheinungen bilden zugleich einen Uebergang von diesen Streckent\u00e4uschungen durch Eintheilung zu denen, die durch verschiedene Begrenzung zu Stande kommen, und f\u00fcr welche die von M\u00fcller-Lyer zuerst beobachtete, in Fig. 8 wiedergegebene Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung das auffallendste Beispiel bietet. Von den beiden objectiv gleichen\nPig. 8.\ngeraden Linien erscheint die links liegende mit den nach r\u00fcckw\u00e4rts laufenden schr\u00e4gen Ansatzst\u00fccken viel kleiner als die rechts liegende, bei der die angesetzten schr\u00e4gen St\u00fccke im Sinne der Verl\u00e4ngerung der Linie selbst verlaufen. Hier wird der Blick bei der Durchmessung der Linie angetrieben \u00fcber ihre Endpunkte hinauszuschweifen, dort wird er umgekehrt durch die Ansatzst\u00fccke festgehalten, analog","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n61\nwie er in der einmal getheilten Linie C der Fig. 7 durch den mittleren Punkt festgehalten wird; und dieses Motiv wirkt, wie alle diese Blickmotive, nicht blo\u00df hei wirklich bewegtem Blick, sondern auch auf das ruhende Auge, das \u00fcberall, wie namentlich noch gewisse unten zu besprechende constante T\u00e4uschungen zeigen, Richtungen und Strecken nach Ma\u00dfgabe seiner Bewegungen auffasst.\nBei der T\u00e4uschung der Figur 8 sind in Folge ihrer bedeutenden Gr\u00f6\u00dfe die perspectivischen Nebenvorstellungen viel deutlicher als bei den Streckent\u00e4uschungen durch Eintheilung: die kleiner erscheinende Linie links erscheint n\u00e4her, die gr\u00f6\u00dfer erscheinende rechts ferner. Auch hier kann man aber diese T\u00e4uschung durch starre Fixation verst\u00e4rken und, wenn man ein g\u00fcnstiges Lageverh\u00e4lt-niss der Linien herstellt, die Gleichheit der Bildgr\u00f6\u00dfe zur unmittelbaren Anschauung bringen. Zu diesem Zweck zeichnet man am besten beide Linien horizontal so unter einander, dass ihre Endpunkte genau vertical \u00fcber einander liegen, und fixirt dann einen zwischen beiden gelegenen Punkt. Es tritt jetzt die gr\u00f6\u00dfer gesehene Linie weit in die Tiefe des Raumes zur\u00fcck, und man sieht deutlich, wie die Endpunkte beider Linien ihrer Bildgr\u00f6\u00dfe nach zusammenfallen.\nZu diesen Erscheinungen der Streckent\u00e4uschungen bieten die Richtungs- oder Winkelt\u00e4uschungen ein durchaus paralleles Verhalten dar. Die einfachsten Grundformen derselben sind in Fig. 9 und 10\nc\nFig. 9. d\nFig. 10.\ndargestellt. In Fig. 9 sieht man wegen der vergr\u00f6\u00dfert erscheinenden spitzen Winkel die Gerade a b in dem Punkte c nach unten geknickt. In Fig. 10 scheinen wegen der entgegengesetzten Lage der spitzen Winkel die beiden H\u00e4lften ac und cb der Geraden ab in c etwas nach oben geknickt zu sein. So h\u00e4ufig auch schon seit Oppel, der diese Scheinvergr\u00f6\u00dferungen spitzer Winkel und kleiner Raumgr\u00f6\u00dfen","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nW. Wandt.\n\u00fcberhaupt zuerst beobachtete, die vorliegenden T\u00e4uschungen beschrieben sind, so hat man doch die gerade bei ihnen h\u00f6chst bezeichnenden perspectivischen Nebenvorstellungen bis jetzt nicht oder nur unvollst\u00e4ndig beachtet, wahrscheinlich deshalb, weil auch sie nur bei starrer monocularer Fixation hervortreten. Bei Figur 9 besteht die perspectivische Vorstellung darin, dass sich die beiden H\u00e4lften ac und cb der Linie ab von c aus vom Beschauer nach der Tiefe des Baumes zu entfernen scheinen, so dass die Knickung-ganz in die Tiefendimension verlegt wird und in der Projection auf die Ebene der Zeichnung verschwindet. Leicht l\u00e4sst sich auch eine secund\u00e4re Wirkung dieser Perspective constatiren, wenn man, wie es in Fig. 9 geschehen ist, die Grundlinie oder eine ihrer H\u00e4lften von der Mitte c an in gleiche kleine Strecken eintheilt: dann erscheinen n\u00e4mlich die c n\u00e4heren Strecken kleiner als die ferneren, eine Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung, die sich in diesem Fall unmittelbar aus der angegebenen Perspective ergibt, da Strecken, die im Netzhautbilde gleich sind, als in Wirklichkeit kleinere Objecte erscheinen, wenn sie n\u00e4her localisirt werden. Eine andere perspectivische Vorstellung gewinnt man bei starrer monocularer Fixation der Fig. 10: die Linie cd erscheint hier wie eine dem Auge zugekehrte convexe Kante, die zugleich mit ihrem oberen Ende d etwas gegen den Beschauer geneigt ist, w\u00e4hrend sich die Dreiecke cad und cbd nach der Tiefe des Baumes erstrecken. Bei dieser Perspective ist die Angleichung der Winkelt\u00e4uschungen an das Netzhautbild besonders deutlich, weil sie sich in zwei Eigenschaften der gesehenen Figur \u00e4u\u00dfert. Durch die Projection der Winkel a und b in gr\u00f6\u00dfere Entfernung wird n\u00e4mlich die Vergr\u00f6\u00dferung dieser spitzen Winkel mit dem unver\u00e4nderten Netzhautbilde derselben, und durch die Verlegung der in c stattfindenden Knickung der Linie ab in eine die Zeichnungsebene in ah schneidende Tiefenebene wird ebenso diese scheinbare Knickung mit dem geradlinigen Netzhautbilde der Linie in Einklang gebracht.\nVon den mannigfachen auffallenden T\u00e4uschungen, die man durch mehrfache Wiederholung dieser Winkelmotive gewinnen kann, seien hier nur wenige angef\u00fchrt, bei denen die an Figur 9 und 10 wahrzunehmende compensatorische Bedeutung der perspectivischen Vorstellungen besonders deutlich ist. In Figur 11 scheinen, da die von den Punkten A und B aus gezogenen Strahlen mit der Ent-","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmuugen.\n63\nfernung von der Mitte der Figur zunehmend spitzere Winkel mit den beiden parallelen Geraden ab und cd bilden, in Folge der Schein-\nFig. 11.\nVergr\u00f6\u00dferung der spitzen Winkel die horizontalen Geraden seihst nach beiden Seiten von der Mitte der Figur aus zu divergiren. Bei dieser Figur wird wohl schon durch die an bekannte r\u00e4umliche Darstellungen erinnernde Construction der beiden Strahlenb\u00fcschel die Entstehung einer perspecti-vischen Vorstellung beg\u00fcnstigt.\nIn plastischer Lebendigkeit tritt aber diese auch hier erst ein, wenn man im monocularen Sehen einen in der Mitte der Figur gelegenen Punkt fixirt. Dann erscheinen die beiden parallelen Geraden wie ein um die Figur geschlungener Ring, der mit seiner convexen Mitte dem Beschauer\nzugekehrt ist, w\u00e4hrend er sich nach beiden Seiten in einem mit der Erstreckung in die Tiefe proportional zunehmenden Ma\u00dfe verbreitert. Noch auffallender tritt das n\u00e4mliche Verh\u00e4ltnis an der in Fig. 12\nFig. 12.","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nW. Wnndt.\ndargestellten Modification der sogenannten Zoellner\u2019scheii T\u00e4uschung hervor. Hier wirkt das Motiv der Vergr\u00f6\u00dferung der spitzen Winkel wegen der wechselnden Richtung der kurzen, die parallelen Geraden durchsetzenden Streifen von einem zum andern dieser Streifen jedesmal in entgegengesetzter Richtung ein, so dass, wenn man von oben links nach unten rechts die Figur verfolgt, zun\u00e4chst die ersten beiden Linien nach oben, dann die zweite und dritte nach unten divergiren, hierauf die dritte und vierte wieder nach oben u. s. w. So lange man die Figur mit bewegtem Blick verfolgt, tritt zwar gelegentlich die Neigung auf, einzelne Linien perspectiviseh zu sehen, doch kommt es im ganzen nicht zu einer deutlichen Perspective. Dies wird anders, sobald man die Figur in monocularer Fixation betrachtet: dann erscheinen alle Linien in die Tiefe sich erstreckend, und zwar derart, dass, wenn man wieder von links nach rechts geht, zun\u00e4chst die oberste Linie links mit ihrem oberen, dann die zweite mit ihrem unteren Ende dem Beschauer n\u00e4her liegt, hierauf die dritte wieder mit ihrem oberen u. s. w. Deutlich hat man dabei aber zugleich den Eindruck der gleichen Bildgr\u00f6\u00dfe, indem die scheinbare abwechselnde Convergenz und Divergenz der Linien ausschlie\u00dflich auf ihre wechselnde Erstreckung nach der Tiefe des Raumes bezogen wird. Es ist unschwer zu sehen, dass auch hier wieder die so zu Stande kommende r\u00e4umliche Vorstellung die einzig m\u00f6gliche ist, bei der Netzhautbild und scheinbare Richtungs\u00e4nderung der Linien mit einander in Einklang gebracht sind.\nDa das Winkelmotiv in der in Fig. 11 und 12 verwendeten Form noch au\u00dferordentlich oft und manchmal in verdeckterer Weise zur Wirkung gelangt, so m\u00f6gen hier noch einige hierher geh\u00f6rige Beispiele erw\u00e4hnt werden, bei denen die gleiche T\u00e4uschung in Folge von spitzen Winkeln beobachtet wird, die nur durch gewisse in der Construction der Figur gegebene Richtlinien angedeutet sind, weshalb gerade in diesem Fall der Zusammenhang mit den Winkelt\u00e4uschungen leicht \u00fcbersehen werden kann. F\u00fcr die Ueberleitung zu diesen F\u00e4llen ist die in Fig. 13 dargestellte T\u00e4uschung belehrend. Die \u00fcber einander beschriebenen, einander objectiv vollkommen gleichenden Kreisbogen erscheinen nicht ganz gleich, sondern die unteren kleiner als die oberen. Zugleich ist man geneigt die Figur im entsprechenden Sinne perspectiviseh zu sehen, indem die oberen Bogen weiter entfernt zu","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungeii.\n65\nsein scheinen als die unteren. Die T\u00e4uschung h\u00e4ngt offenbar damit zusammen, dass die Endpunkte der Bogen auf jeder Seite derart in einer verticalen geraden Linie liegen, dass, wenn man sich beide Gerade gezogen denkt, dieselben zu einander parallel sind. Dabei bilden nun aber die Bogen beiderseits mit ihrer Convexit\u00e4t spitze Winkel mit diesen Bichtungslinien : in Folge dessen m\u00fcssen die letzteren nach Ma\u00dfgabe der in Figur 11 und 12 dargestellten T\u00e4uschungen nach oben divergirend erscheinen, was die scheinbare Vergr\u00f6\u00dferung der oberen Bogen und mit dieser die perspectivische Nebenvorstellung liervorbringt. Wenn man von dieser Figur ausgeht, so ergibt sich\nKg. 13.\tFig. 14.\nnun weiterhin die Interpretation der in Fig. 14 dargestellten T\u00e4uschung von selbst. Die beiden \u00fcber einander gezeichneten Trapeze sind ob-jectiv gleich, erscheinen aber ungleich, das obere gr\u00f6\u00dfer als das untere, und dem entsprechend erscheint, namentlich bei starrer monocularer Fixation, das untere n\u00e4her als das obere. Man sieht sofort, dass hier die \u00fcber einander gelegenen Punkte A und a, C und c u. s. w. als zugeh\u00f6rig zu Bichtlinien erscheinen, die, \u00e4hnlich wie die in Fig. 13 die Endpunkte der Bogen verbindenden Bichtlinien, wegen der spitzen Winkel, welche die schr\u00e4gen Linien A C und ac sowie BD und bd mit ihnen bilden, nach oben divergirend erscheinen m\u00fcssen. Sind bei dieser Figur der Punkte, durch welche die Bichtlinien bestimmt werden,\nWnndt, Philos. Studien. XIV.\tk","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nW. Wuhdt.\nauch weniger als hei der vorigen, so wiederholt sich dagegen das dort jed\u00e9rseits von der Mitte nur einmal gegebene Motiv hier zweimal, wodurch ebensowohl die Neigung zur Orientirung nach solchen Richtlinien wie die durch die letzteren bewirkte T\u00e4uschung verst\u00e4rkt werden kann.\nAngesichts der gro\u00dfen Regelm\u00e4\u00dfigkeit, mit der namentlich an die Richtungst\u00e4uschungen perspectivische Vorstellungen gebunden sind, k\u00f6nnte man zweifeln, ob nicht vielleicht hier das umgekehrte Oausalverh\u00e4ltniss anzunehmen sei, da, wenn man die jedesmal stattfindende perspectivische Vorstellung als gegeben annimmt, dann eben in Folge der Beschaffenheit des Netzhauthildes die Richtungs- und Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung als nothwendige Folge sich ergeben m\u00fcsste, gerade so gut, wie sich die perspectivische T\u00e4uschung aus der Richtungsund Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung ableiten l\u00e4sst. Aber erstens w\u00fcrde sich f\u00fcr eine prim\u00e4re Neigung, gewisse Richtlinien in einer bestimmten und in keiner andern Weise perspectivisch zu sehen, kaum ein positiver Grund anf\u00fchren lassen. Sollte jedoch nur \u00fcberhaupt eine Tendenz zu k\u00f6rperlicher Wahrnehmung in Frage kommen, so w\u00fcrde eine bestimmte Form des Reliefs ebenso gut wie die entgegengesetzte erwartet werden k\u00f6nnen: die T\u00e4uschungen m\u00fcssten also dann umkehrbare sein. Dass sie dies nicht sind, das erkl\u00e4rt sich nun vollst\u00e4ndig, wenn man die perspectivische T\u00e4uschung als Folge, nicht als Ursache ansielit. Ueberdies tritt daf\u00fcr noch der besondere Umstand ein, dass hier, ebenso wie bei den Streckent\u00e4uschungen, zwar die perspectivische Vorstellung, niemals aber die ihr zu Grunde Hegende Richtungst\u00e4uschung verschwinden kann. Wenn bei einzelnen dieser T\u00e4uschungen, z. B. bei Figur 12, von manchen Beobachtern behauptet worden ist, sie verminderten sich oder verschw\u00e4nden sogar ganz bei starrer Fixation oder bei momentaner Erleuchtung durch den elektrischen Funken, so ist kaum zu bezweifeln, dass von solchen Beobachtern die Compensation der T\u00e4uschung durch perspectivische Nebenvorstellungen theilweise, jedoch nicht vollst\u00e4ndig genug gesehen worden ist, um das Fortbestehen der T\u00e4uschung in Bezug auf die Auffassung der wirkhchen Objecte zu erkennen.\nEinen \u00fcberzeugenden Beleg f\u00fcr die Richtigkeit dieser Auffassung bieten schhe\u00dflich die an Figur 15 wahrzunehmenden Erscheinungen. Wenn man den schwarzen verticalen Streifen in Figur 15 A","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n67\nfixirend auf- und abw\u00e4rts verfolgt, so sieht man meist unmittelbar die Vergr\u00f6\u00dferung der spitzen Winkel, welche die den Streifen durchsetzende schr\u00e4ge Linie mit diesem bildet: es erscheinen n\u00e4mlich die an den Streifen sto\u00dfenden Enden der schr\u00e4gen Linie eingeknickt, so wie es in Eig. 15 B etwas \u00fcbertrieben abgebildet ist.\nVerfolgt man aber statt des schwarzen Streifens die schr\u00e4ge Linie selbst mit fixirenden Bewegungen, so verschwinden diese Einknickungen: statt dessen ist man nun geneigt, die Schr\u00e4ge perspectivisch zu sehen, so, als wenn ihr unterer Theil dem Beschauer zugekehrt, ihr oberer von ihm weg nach der Tiefe des Raumes gerichtet w\u00e4re. Diese perspectivische Vorstellung wird dann noch plastischer, wenn man irgend einen Punkt der Zeichnung in monocularem Sehen fixirt. In diesen Erscheinungen tritt die secund\u00e4re Bedeutung der perspectivischen Vorstellungen schlagend hervor. So lange man die ganze Zeichnung auf die Ebene bezieht, tritt die Vergr\u00f6\u00dferung des spitzen Winkels als Knickung auf, da sich im weiteren Verlauf der schr\u00e4gen Geraden deren wahre Richtung im Netzhautbilde geltend macht. Im Moment dagegen, wo man die Figur perspectivisch sieht, erscheint die Vergr\u00f6\u00dferung der Winkel als nothwendiger Bestandtheil der Tiefenvorstellung, die Knickung verschwindet daher, da die Angleichung an das Netzhautbild durch die Verlegung der Winkel in eine nach der Tiefe des Raumes gerichtete Ebene eingetreten ist1).\n1) Man kann bei dem schwarzen Streifen der E\u00efg. 15 auch an einen Einfluss der Irradiation denken. Die T\u00e4uschung ist aber auch noch zu bemerken, wenn man statt des schwarzen Streifens je zwei einander parallele feine Linien auf wei\u00dfem Grunde zeichnet, wo an Irradiation nicht gedacht werden kann (vergl. Eig. 38, S. 123 meiner angef. Abhandl.). Allerdings ist die T\u00e4uschung bei dem schwarzen Streifen, wie in Eig. 15, etwas auffallender. Eine Mitwirkung der Irradiation ist also in der That nicht ausgeschlossen. Immerhin ist es dann f\u00fcr den secund\u00e4ren Charakter der perspectivischen Vorstellung nicht minder beweisend, wenn der durch prim\u00e4re Winkelvergr\u00f6\u00dferung und Irradiationswirkung hervorgebrachte Effect durch die eintretende Perspective vollst\u00e4ndig aufgehoben wird.\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\nW. Wundt.\nErscheinungen, wie sie die Fig. 15 darbietet, sowie \u00fcberhaupt die Beziehungen, die bei den Strecken- und Bichtungst\u00e4uschungen zwischen den Erscheinungen bei bewegtem und bei fixirendem Blick hervortreten, w\u00fcrden an und f\u00fcr sich schon keine andere Deutung zulassen als die, dass die Bedingungen, die eine gegebene Form der Durchmessung mit bewegtem Blick darbietet, neben dem Netzhautbilde f\u00fcr die Entstehung der T\u00e4uschungen bestimmend sind. Beweisend f\u00fcr diese Auffassung ist aber namentlich die Thatsache, dass sich bei der zuvor betrachteten Classe der \u00bbumkehrbaren T\u00e4uschungen\u00ab in einer durch die isolirte Variirbarkeit der subjectiven Bedingungen vollkommen eindeutigen Weise die Blickbewegung als die ausschlaggebende Bedingung f\u00fcr die Auffassung r\u00e4umlicher Formen ergab. Nun gilt weiterhin der f\u00fcr jene umkehrbaren T\u00e4uschungen hervorgehobene Satz, dass die sogenannte T\u00e4uschung nicht eine Zugabe zu einem zuvor unabh\u00e4ngig bestehenden Wahmehmungs-inba.lt bildet, sondern dass sie selbst zu dem unmittelbaren Wahrnehmungsinhalte geh\u00f6rt, selbstverst\u00e4ndlich gerade so gut f\u00fcr die variabeln Strecken- und Bichtungst\u00e4uschungen. Erw\u00e4gt man dieses, so besteht der wichtige Ertrag, den die Untersuchung dieser T\u00e4uschungen mit eindeutigen perspectivischen Nebenvorstellungen dem allgemeinen Problem der r\u00e4umlichen Gesichtswahmehmungen entgegenbringt, darin, dass diese Wahrnehmungen im allgemeinen \u00fcberall zwei H\u00fclfsmittel erfordern: das durch die Gesetze der Lichtbrechung im Auge bestimmte Netzhautbild, und die durch die Gesetze der Blickbewegung bestimmte Auffassung des Gegenstandes, oder, wie wir nach der Analogie mit dem Netzhautbilde diese Auffassung kurz nennen wollen, das \u00bbBewegungsbild des Auges\u00ab. Die r\u00e4umliche Wahrnehmung ist im allgemeinen eine Besultante aus diesen beiden Factoren, von denen vorauszusetzen ist, dass niemals einer f\u00fcr sich allein das \u00bbWahrnehmungsbild\u00ab des Gegenstandes erzeugt, weil eben beide in ihrem Zusammenwirken erst die Wahrnehmung consti-tuiren. Darum ist der Ausdruck \u00bbBild\u00ab, auf irgend eines jener Theil-bilder allein angewandt, nur unter dem Vorbehalt zul\u00e4ssig, dass man darunter nicht das Wahmehmungsbild selbst, sondern blo\u00df einen der beiden Factoren versteht, aus deren Zusammenwirken dieses zu Stande kommt.\nUnter bestimmten Bedingungen kann aber immerhin bald mehr der","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umliehen Gesichtswahrnehmungen.\t69\neine bald mehr der andere dieser Factoren zur Gleitung kommen. So \u00fcberwiegt bei bewegtem Blick im ganzen der Einfluss des \u00bbBewegungsbildes\u00ab, nat\u00fcrlich nicht ohne dass daneben das Netzhautbild f\u00fcr die allgemeine Auffassung der Form mitbestimmend w\u00e4re; doch k\u00f6nnen gewisse nur dem ersteren angeh\u00f6rige Eigenschaften, die dem Netzhautbilde widerstreiten, hier ohne weiteres in die Wahrnehmung \u00fcbergehen. Bei fixirendem Blick dagegen kommt in Folge der genaueren simultanen Vergleichung bestimmter Bildstrecken das Netzhautbild zu st\u00e4rkerer Mitwirkung; und indem zugleich die Motive, die bei bewegtem Blick die Auffassung der Zeichnungsebene erleichtert, verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig zur\u00fccktreten, kommt es vorzugsweise hier zu jenen perspectivischen H\u00fclfsvorstellungen, die das Bewegungsbild und das Netzhautbild vollkommen mit einander in Einklang bringen k\u00f6nnen. Hierbei treten dann bei der Entstehung dieser H\u00fclfsvorstellungen die n\u00e4mlichen Gesetze der Assimilation mit ihren elementaren Angleichungs- und Verdr\u00e4ngungsWirkungen auf, wie sie bei den umkehrbaren T\u00e4uschungen er\u00f6rtert worden sind. In letzterer Beziehung bieten jedoch die vorliegenden T\u00e4uschungen, abgesehen von der in den gegebenen Verh\u00e4ltnissen des Bewegungsbildes begr\u00fcndeten eindeutigen Natur der perspectivischen Vorstellung, keine besondere Eigent\u00fcmlichkeit dar. Um so wichtiger ist das in jener Unterscheidung von Netzhautbild und Bewegungsbild angedeutete Ergebniss f\u00fcr das Problem der Entstehung r\u00e4umlicher Gesichtswahrnehmungen \u00fcberhaupt. Denn hier enth\u00e4lt dieses Ergebniss, wie mir scheint, den entscheidenden Beweis daf\u00fcr, dass keine Theorie den Anforderungen der Erfahrung gen\u00fcgen kann, die eines der beiden Theilbilder ausschlie\u00dflich ber\u00fccksichtigt. Nicht aus dem Netzhautbilde, nicht aus dem Bewegungsbilde allein, sondern nur aus beiden in ihrer gesetzm\u00e4\u00dfigen Wechselwirkung k\u00f6nnen die Erscheinungen des r\u00e4umlichen Sehens erkl\u00e4rt werden.\n3. Die constanten Strecken- und Richtungst\u00e4uschungen.\nGegen\u00fcber den umkehrbaren und den variabeln T\u00e4uschungen, die im Vorangegangenen besprochen worden sind, besitzen die constanten T\u00e4uschungen im ganzen ein untergeordnetes psychologisches Interesse. Sie bed\u00fcrfen darum hier nur der Vollst\u00e4ndigkeit dieser","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nW. Wundt.\nUebersicht wegen, und weil einige dieser T\u00e4uschungen immerhin auf den Zusammenhang der Bewegungsfunctionen und der Sehfunctionen des Auges ein bemerkenswerthes Licht werfen, einer kurzen Betrachtung. Dass \u00fcberhaupt constante T\u00e4uschungen existiren, ist so zu sagen selbstverst\u00e4ndlich. So wenig das Auge in dioptrischer Beziehung ein vollkommener Apparat ist, gerade so wenig ist es dies in motorischer Beziehung. Sobald man daher, wie es auf Grund der Untersuchung der umkehrbaren und der variaheln T\u00e4uschungen geschehen muss, dem Begriff des \u00bbBewegungshildes\u00ab neben dem des Netzhautbildes seine Stellung einr\u00e4umt, so werden von vornherein ebenso gut irgend welche Abweichungen in der Beschaffenheit des ersteren zu erwarten sein, wie solche bekannterma\u00dfen in der des letzteren Vorkommen. Die constanten geometrisch-optischen T\u00e4uschungen r\u00fccken dann vollkommen auf gleiche Linie mit den auf dioptrischem Wege, z. B. durch sph\u00e4rische und chromatische Abweichungen oder durch Accomodationsm\u00e4ngel, eintretenden T\u00e4uschungen. Wie aber einige der haupts\u00e4chlichsten unter diesen dioptrischen T\u00e4uschungen durch den asymmetrischen optischen Bau des Auges bedingt sind, so st wohl auch zu erwarten, dass die asymmetrische Anordnung des an den Functionen des Sehens offenbar ebenfalls betheiligten Muskelapparates nicht ohne Einfluss auf das Bewegungsbild und damit auf das resultirende Wahrnehmungsbild sein werde.\nIn der That gibt es eine constante optische T\u00e4uschung, von der es mir scheint, dass sie kaum eine andere Deutung zul\u00e4sst als diese: sie besteht in der regelm\u00e4\u00dfigen Uebersch\u00e4tzung verticaler gegen\u00fcber horizontalen geraden Linien oder der Verticaldimension aus geraden Linien zusammengesetzter Figuren gegen\u00fcber ihrer Horizontaldimension. Das regelm\u00e4\u00dfige Vorkommen dieser T\u00e4uschung in immer gleicher Richtung weist ebenso auf constante im Auge hegende Bedingungen hin, wie es einer Ableitung aus irgend welchen dioptrischen Abweichungen im Wege steht. Von den umkehrbaren und den variabeln T\u00e4uschungen scheidet diese T\u00e4uschung zun\u00e4chst ihre, dem allgemeinen Verhalten psychop'hysischer Constanten entsprechende individuelle Constanz und die verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig nur unerhebliche Breite der Schwankungen bei verschiedenen Individuen. Dazu kommt dann das g\u00e4nzliche Fehlen perspeetivischer Nebenvorstellungen, welches sich leicht daraus erkl\u00e4rt, dass eben wegen dieser Constanz eine variable","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtsvvahrnehmungen.\n71\nAnpassung des Bewegungsbildes an das Netzhautbild, wie es bei den variabeln T\u00e4uschungen durch die Ver\u00e4nderlichkeit der Bedingungen gefordert ist, hier hinwegf\u00e4llt, so dass sich in diesem Falle ein f\u00fcr allemal Netzhautbild und Bewegungshild zu einem 'Wahrnehmungsbilde vereinigt haben, das die constanten Beziehungen beider Theil-bilder zum Ausdruck bringt. Mit dieser Interpretation stimmt die physiologische Thatsache \u00fcberein, dass wirklich der Bewegungsapparat des Auges in Bezug auf die Anordnung der das Auge nach auf- und abw\u00e4rts und der dasselbe nach au\u00dfen und innen bewegenden Muskeln die gr\u00f6\u00dften Abweichungen zeigt, Abweichungen zugleich in dem Sinne, dass in Folge der partiellen Gegenwirkung der Energie der Eecti und der Obliqui bei der Auf- und Abw\u00e4rtsbewegung ein gr\u00f6\u00dferer Aufwand von Muskelkr\u00e4ften zur Erzeugung einer Drehung von gleichem Umfange erforderlich ist, als bei der Aus- und Einw\u00e4rtsbewegung. Entsprechend werden wir dann die kleineren constanten Streckent\u00e4uschungen in Bezug auf oben und unten, au\u00dfen und innen, die in der Begel in dem Sinne stattfinden, dass nach auf- und ausw\u00e4rts gehende Raumstrecken \u00fcbersch\u00e4tzt werden im Vergleich mit solchen, die nach abw\u00e4rts und nach einw\u00e4rts gehen, auf analoge kleinere Asymmetrien der motorischen Functionen in den entsprechenden Richtungen beziehen k\u00f6nnen. Dem kommt in diesem Falle noch der Umstand zu H\u00fclfe, dass functionell zweifellos die Abw\u00e4rts- gegen\u00fcber den Aufw\u00e4rts- und die Einw\u00e4rts- gegen\u00fcber den Ausw\u00e4rtsbewegungen bevorzugt sind, da die Augen in Folge der gewohnheitsm\u00e4\u00dfigen Beschaffenheit und Lage der Gesichtsobjecte vorzugsweise in der Einstellung auf abw\u00e4rts gelegene nahe Fixirpunkte ge\u00fcbt sind1).\nEbenso weisen die constanten Richtungst\u00e4uschungen, die sich bei der Vergleichung von geraden Linien im Sehfelde theils bei bewegtem theils bei fixirendem Blick nachweisen lassen, auf constante Bedingungen der Blickbewegungen hin. So l\u00e4sst sich vor allem die Erscheinung, dass im monocularen Sehen die scheinbare Verticale f\u00fcr jedes Auge mit ihrem oberen Ende um einen geringen Betrag (1 bis 3 Winkelgrade) nach au\u00dfen geneigt ist, auf die durch den gew\u00f6hnlichen Verlauf der Fixationslinien im Sehfelde bestimmte Norm der\n1) N\u00e4heres \u00fcber diese constanten Streckent\u00e4uschungen vergl. in der angef\u00fchrten Abhandl. S. 105 ff., dazu meine Physiol. Psychol. 4. Aufl. II. S. 113.","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nW. Wundt.\nBlickbewegungen beziehen. Nach dieser pflegen sich die beiden Augen bei der Aufw\u00e4rtsbewegung zugleich auf fernere, bei der Abw\u00e4rtsbewegung auf n\u00e4here Punkte einzustellen, so dass Aufw\u00e4rtsbewegung und verminderte Convergenz, Abw\u00e4rtsbewegung und verst\u00e4rkte, Con-vergenz fest mit einander associirt sind, eine Association die auf die Anordnung und die Ausbildung der die Bewegungen beherrschenden Muskulatur zur\u00fcckwirken musste.\nNicht minder tritt in einer zweiten constanten Richtungst\u00e4uschung dieser Zusammenhang der Gesetze der Blickbewegung mit der regelm\u00e4\u00dfigen Orientirung im Sehfelde zu Tage. Dabei ist diese T\u00e4uschung besonders noch deshalb bemerkenswerth, weil sie augenf\u00e4llig zeigt, dass jene Einfl\u00fcsse, die oben als die des \u00bbBewegungsbildes\u00ab bezeichnet wurden, durchaus nicht blo\u00df bei bewegtem Auge wirksam sind, sondern sich auch bei fixirendem Blick in der Auffassung der\nI------------------------------H\nFig. 16.\nRaumverh\u00e4ltnisse des Sehfeldes geltend machen, ja dass sie unter Umst\u00e4nden, wenn n\u00e4mlich die Blickbewegung Motive mit sich f\u00fchrt, welche die. T\u00e4uschung aufheben, nur bei der Fixation beobachtet","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Zar Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n73\nwerden. Eine solche constante Bichtungst\u00e4uschung ist die nach ihrem ersten Entdecker so genannte von Recklinghausen\u2019sehe [T\u00e4uschung. Sie besteht darin, dass hei starrer monocularer Fixation eines Punktes verticale und horizontale Linien im indirecten Sehfelde nur im mittleren L\u00e4ngs- und Querschnitt desselben vertical und horizontal, dagegen in allen andern Richtungen in geneigter Lage erscheinen, oder auch, dass in diesen andern Richtungen die scheinbar verticalen und horizontalen Linien in Wirklichkeit eine geneigte Lage haben m\u00fcssen, in dem Sinne, in welchem dies die Fig. 16 darstellt, wobei die unter der Figur gezeichnete Linie der Fixationsdistanz proportional zu setzen, hei gr\u00f6\u00dferer Distanz also das dar\u00fcber befindliche Schachbrettmuster im entsprechenden Ma\u00dfe vergr\u00f6\u00dfert nachzubilden ist. Hier stimmen nun die Abweichungen der scheinbaren von der wirklichen Richtung dem Sinne und im allgemeinen auch der Gr\u00f6\u00dfe nach mit denjenigen Richtungs\u00e4nderungen \u00fcberein, welche die zum Fixirpunkt senkrechten verticalen und horizontalen Linienelemente des Netzhauthildes bei der Ablenkung der Blicklinie in die betreffende seitliche Stellung in Folge der Projection des Bildes von der Netzhaut auf die Sehfeldehene erfahren w\u00fcrden. Mit andern Worten: bei starrer Fixation wird die Auffassung seitlicher Richtungen gleichzeitig durch das Netzhautbild und durch das \u00bbBewegungsbild\u00ab des Auges bestimmt, dieses in dem oben ausgef\u00fchrten Sinne genommen1).\nDer Zusammenhang dieser constanten Richtungst\u00e4uschung mit den Gesetzen der Augenbewegungen ist ein so augenf\u00e4lliger, dass sich in diesem Fall deren Einfluss auf das Wahrnehmungsbild eigentlich mit unmittelbarer Evidenz aufdr\u00e4ngt. Daneben ergibt sich aber aus den Bedingungen der T\u00e4uschung noch eine directe Best\u00e4tigung einer Folgerung, die bereits aus den variabeln T\u00e4uschungen gezogen werden musste, der Folgerung n\u00e4mlich, dass das Bewegungsbild nicht blo\u00df bei bewegtem, sondern auch bei ruhendem Blick seinen Einfluss \u00e4u\u00dfert, und dass daher die zuweilen aufgestellte Regel, eine T\u00e4uschung, die von der Bewegung des Auges herr\u00fchre, m\u00fcsse bei starrer Fixation verschwinden, jedenfalls unrichtig ist, wie das \u00fcbrigens schon die perspectivischen Nebenvorstellungen hei den variabeln\n1) Vergl. hierzu die Erl\u00e4uterung dieser T\u00e4uschung durch Versuche mit Nachbildprojectionen in der angef\u00fchrten Abhandl. Eig. 44 (S. 133 ff.) und Physiol. Psychol. 4. Aufl. II. S. 118, 129 ff.","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nW. Wundt.\nGr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen, die nur aus einem solchen Fortwirken der Be-\u25a0wegungseinfl\u00fcsse hei fixirendem Blick erkl\u00e4rlich sind, beweisen. Bei der von Recklinghausen\u2019schen Richtungst\u00e4uschung ist nun das Verh\u00e4ltnis ein solches, dass die in den Bewegungsgesetzen des Auges begr\u00fcndete T\u00e4uschung sogar erst hei starrer Fixation entsteht. Dieser Fall ist jedoch insofern allerdings nicht ganz isolirt, als ja auch hei den variabeln T\u00e4uschungen die perspectivischen Nebenvorstellungen, die ebenfalls auf eine Mitwirkung des Bewegungshildes bezogen werden m\u00fcssen, erst bei fixirendem Blick auffallender werden. Immerhin sind diese Nebenvorstellungen zugleich Symptome einer st\u00e4rkeren Geltendmachung des Netzhautbildes, gegen\u00fcber der die reinen Strecken- und Richtungst\u00e4uschungen mehr zur\u00fccktreten, weil sie eben in das perspectivische Bild aufgenommen, durch dasselbe, wenn wir uns den Associationsvorgang ins Logische \u00fcbersetzt denken, in ad\u00e4quater Weise interpretirt werden. Hier aber ist es ja umgekehrt gerade die Richtungst\u00e4uschung, die hei bewegtem Blick fehlt und hei fixirendem erst entsteht. Um diesen Gegensatz zu vollenden, kommt bei der vorliegenden T\u00e4uschung noch die weitere Erscheinung vor, dass sich beim pl\u00f6tzlichen Uebergang von starrer Fixation zur Bewegung gleichzeitig mit dem Verschwinden der Richtungst\u00e4uschung vor\u00fcbergehend eine perspectivische T\u00e4uschung einstellt. Sie besteht darin, dass der soeben verlassene Fixirpunkt in gr\u00f6\u00dfere Feme als die von ihm ausgehenden Linien zu r\u00fccken scheint, und dass nun diese, die zuvor vertical und horizontal erschienen, jetzt wieder gebogen gesehen werden, wobei aber zugleich diese Biegung so aufgefasst wird, als wenn sich Linien, die in Wirklichkeit horizontal und vertical sind, nach der Tiefe des Raumes erstreckten. Diese vor\u00fcbergehende Perspective hat demnach die Bedeutung einer wechselseitigen Compensation der im ersten Moment der Bewegung noch andauernden Richtungst\u00e4uschung und der nun zugleich deutlicher hervortretenden Neigungen der Linien im Netzhautbilde. Diese Compensation ist aber hier in anderem Sinne wirksam als hei den variaheln T\u00e4uschungen : denn bei den letzteren wird durch die Perspective das Bewegungsbild nach dem ruhenden Netzhautbilde, hier wird dasselbe nach den bei der Bewegung eintretenden Verschiebungen des Netzhautbildes berichtigt. Der Effect f\u00fcr das Wahmehmungsbild ist dabei ein entgegengesetzter, indem das Relief hier von umgekehrter Beschaffenheit ist","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\t75\nals dort. Eine Correctin' nach dem ruhenden Netzhautbilde m\u00fcsste n\u00e4mlich nothwendig bewirken, dass in dem Schachbrettmuster der Fig. 16 die mittleren Felder, weil sie objectiv kleiner sind, n\u00e4her, und die seitlichen als die gr\u00f6\u00dferen ferner gesehen w\u00fcrden. In der That hat man w\u00e4hrend der starren Fixation der Figur diese Vorstellung; doch ist sie nur hei den seitlichsten, am meisten indirect gesehenen und darum undeutlichsten Feldern wahrzunehmen. Deshalb beobachtet man hier einen Wechsel des Reliefs beim Uebergang von der Fixation zur Bewegung. Die von Recklinghausen\u2019sche T\u00e4uschung ist aber in Folge dieser Verh\u00e4ltnisse wohl die einzige constante T\u00e4uschung, hei der sich begleitende perspectivische Vorstellungen geltend machen. Trotzdem scheidet sie sich nicht nur durch den constanten, eben in bleibenden Functionsbedingungen begr\u00fcndeten Charakter der T\u00e4uschung, sondern auch durch die in dem angegebenen Sinne abweichenden Verh\u00e4ltnisse der perspectivischen Nebenvorstellungen durchaus von den variabeln Richtungst\u00e4uschungen.\n4. Die Associationst\u00e4uschungen.\nDie Associationst\u00e4uschungen oder, wie sie oben nach ihren beiden Grundformen bezeichnet wurden, die Angleichungs- und die Contrast-t\u00e4uschungen haben gegen\u00fcber den bisher er\u00f6rterten drei Classen geometrisch-optischer T\u00e4uschungen in jeder Beziehung eine blo\u00df secund\u00e4re Bedeutung. Erstens ist im ganzen seltener Anlass zu ihrer Entstehung gegeben; zweitens sind sie in der Regel unbedeutender; und drittens betheiligen sie sich, dem bei ihnen zur Verwendung kommenden engeren Associationsbegriff entsprechend, nicht bei dem Aufbau der einzelnen Wahrnehmungen, sondern beziehen sich immer erst auf das Verh\u00e4ltniss verschiedener Wahmehmungsinhalte zu einander. Eben deshalb haben sie f\u00fcr das Wahmehmungsproblem keine directe Wichtigkeit; dagegen sind sie f\u00fcr die W\u00fcrdigung der Associationseinfl\u00fcsse \u00fcberhaupt von Interesse, und insofern es sich bei ihnen um allerdings gr\u00f6bere, darum aber auch leichter zug\u00e4ngliche Totalwirkungen der Association handelt, erl\u00e4utern sie zugleich die Wirksamkeit der weniger direct zu beobachtenden, als aus den Erscheinungen zu erschlie\u00dfenden elementaren Associationen, wie wir sie bei der Analyse der umkehrbaren T\u00e4uschungen kennen lernten.","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nW. Wnndt.\nInsbesondere sind die \u00bb Angleichungst\u00e4uschungen \u00ab, so geringf\u00fcgig die Ver\u00e4nderungen zu sein pflegen, die sie verursachen, als im Gro\u00dfen sich darbietende Beispiele der in ihren elementaren Formen bei allen Wahmehmungsassimilationen eine so wichtige Bolle spielenden Angleichungsprocesse von nicht geringem Interesse. Sie lehren uns gewisserma\u00dfen handgreiflich, dass solche Angleichungsprocesse, wie sie aus jenen Wahmehmungsassimilationen gefolgert werden m\u00fcssen, thats\u00e4cblich stattfinden, und dass sie sogar noch unter Bedingungen stattfinden k\u00f6nnen, die ihre Wirkung wegen der Unabh\u00e4ngigkeit der mit einander verglichenen Wahrnehmungsinhalte noth-wendig erschweren. Die reinen \u00c4ngleichungst\u00e4uschungen bestehen n\u00e4mlich im allgemeinen darin, dass Objecte, die wenig verschieden sind, einander gleich erscheinen. Wegen des unabh\u00e4ngigen Bestehens der einzelnen Wahrnehmungsinhalte widersetzen sich aber diese der Angleichung, sobald die Grenze des ebenmerklichen Unterschieds irgend erheblich \u00fcberschritten wird. Es kann sich also hier der Natur der Sache nach immer nur um T\u00e4uschungen von sehr geringem Betrage handeln. Der Charakter derselben als T\u00e4uschungen tritt d\u00e4mm in der Begel dann erst deutlich hervor, wenn das durch die Angleichung ver\u00e4nderte Object entweder mit einem gleichen, nicht ver\u00e4nderten Objecte oder aber mit einem andern, das im entgegengesetzten Sinne durch Angleichung ver\u00e4ndert ist, verglichen wird. So erscheinen zwei lineare Strecken zwischen zwei andern eingeschlossen, die um einen minimalen Betrag gr\u00f6\u00dfer oder kleiner sind, diesen gleich. Umgibt man daher eine Strecke mit zwei um einen minimalen Werth gr\u00f6\u00dferen, und in ihrer N\u00e4he eine gleich gro\u00dfe mit zwei minimal kleineren, so k\u00f6nnen die zwei objectiv gleichen Strecken im Sinne dieser verschiedenen Angleichung verschieden erscheinen. Dasselbe beobachtet man in noch etwas augenf\u00e4lligerer Weise hei Winkeln, die man in entsprechender Weise construirt. Doch ist in allen diesen F\u00e4llen directer Angleichung der Grad der T\u00e4uschungen ein sehr geringer, und sobald man die kleinen Strecken- und Bichtungsunterschiede, die zur Erzeugung der Angleichungserscheinungen geeignet sind, \u00fcberschreitet, so pflegen diese pl\u00f6tzlich in ihr Gegentheil, in den Contrast, \u00fcberzuspringen *).\n1) Yergl. hierzu die in der angef\u00fchrten Abhandlung mitgetheilten Beispiele Fig. 45 und Fig. 47, S. 140 f.","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n77\nEtwas g\u00fcnstiger liegen die Bedingungen f\u00fcr die Beobachtung von Angleichungsassociationen, wenn man au\u00dferdem weitere T\u00e4uschungsursachen einwirken l\u00e4sst, welche irgendwie die Entstehung der Angleichung beg\u00fcnstigen. Ein Beispiel einer solchen Complication bietet die Fig. 17. Sie ist in Wirklichkeit ein unvollst\u00e4ndig beschriebener Kreis, an dem zwei Bogenst\u00fccke rechts und links von dem kleinen unteren Bogen weggelassen sind, so dass nur ein \u00fcber die H\u00e4lfte des Kreisumfangs umfassender oberer Bogen und das kleine untere Bogenst\u00fcck \u00fcbrig blieben. Dieses letztere scheint nun au\u00dferhalb der Peripherie der oberen Kreislinie zu liegen, so als wenn es zu einem mit gr\u00f6\u00dferem Badius vom selben Mittelpunkte aus beschriebenen Kreise geh\u00f6rte. Diese T\u00e4uschung besteht nun offenbar aus\nFig. 17.\nFig. 18.\neiner Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschung und einer Angleichung. Zun\u00e4chst wird n\u00e4mlich das kleine Bogenst\u00fcck im Yerh\u00e4ltniss zum gro\u00dfen Bogen \u00fcbersch\u00e4tzt, und dem entsprechend erscheint seine Kr\u00fcmmung geringer. Gleichwohl wird es dem n\u00e4mlichen Mittelpunkte angeglichen, so dass es nun als au\u00dferhalb des gr\u00f6\u00dferen Kreisbogens liegend gesehen wird. Ist hier die Angleichung an den Kreismittelpunkt an sich- eine richtige, nur mit den \u00fcbrigen Eigenschaften, welche die Figur im Bewegungsbilde annimmt, im Widerspruche liegende, so verh\u00e4lt es sich umgekehrt bei der Fig. 18, bei der es sich ebenfalls um eine Angleichung an einen gemeinsamen Mittelpunkt handelt, der aber in diesem Fall 'in Wirklicheit gar kein gemeinsamer ist. Zun\u00e4chst enth\u00e4lt n\u00e4mlich die Fig. 18, die aus zwei objectiv gleichen und einander parallel construirten Kreissegmenten besteht, eine Richtungst\u00e4uschung, die vollst\u00e4ndig der bei den Trapezen in Fig. 14 (Seite 65)","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nW. Wundt.\nwahrzunehmenden entspricht. In Folge dessen wird, wie dort das untere Trapez, so hier das untere Segment kleiner gesehen als das obere. Zugleich ist man aber geneigt, beide Segmente als zugeh\u00f6rig zu einem und demselben Kreis aufzufassen. Darum erscheint hier die T\u00e4uschung sehr viel gr\u00f6\u00dfer als hei den Trapezen, wie sich noch durch verschiedene Modificationen des Versuchs direct erweisen l\u00e4sst. Diese zeigen n\u00e4mlich, dass, sobald man die M\u00f6glichkeit der Angleichung an einen gemeinsamen Mittelpunkt beseitigt, die Gr\u00f6\u00dfe der T\u00e4uschung auf das hei den Trapezen beobachtete Ma\u00df herabsinkt1).\nDie hei den fr\u00fcher besprochenen elementaren Assimilationswirkungen erw\u00e4hnten Verdr\u00e4ngungserscheinungen lassen sich nat\u00fcrlich nicht in \u00e4hnlicher Weise wie die AngleichungsVorg\u00e4nge auf Verh\u00e4ltnisse selbst\u00e4ndiger Wahrnehmungsinhalte \u00fcbertragen, es sei denn dass man jene Verdr\u00e4ngungen hierher rechnen will, die hei der Combination einander widerstreitender monocularer Bilder zu einer hinocularen Wahrnehmung beobachtet werden, Erscheinungen die hier, weil hei ihnen zugleich die Wechselwirkungen der Netzhautempfindungen beider Augen in Frage kommen, nicht n\u00e4her verfolgt werden sollen2). Dagegen kommt, eine andere Erscheinung vor, die innerhalb der complex en Wahrnehmungsph\u00e4nomene einen \u00e4hnlichen Gegensatz zur Angleichung bildet wie hei den elementaren Associationen die Verdr\u00e4ngung: dies ist die Hebung der Unterschiede durch den Contrast. Ein solcher Contrast ist hinwiederum nur zwischen selbst\u00e4ndig bestehenden Wahmehmiungsinhalten m\u00f6glich, weil er, ebenso wie die complexen Angleichungsvorg\u00e4nge, eine associative Wechselbeziehung verschiedener, also eventuell auch unabh\u00e4ngig von einander wahrzunehmender Objecte voraussetzt. Der so entstehende Contrast r\u00e4umlicher Gesichtsobjecte entspricht in den ihm unterzuordnenden Erscheinungen, ebenso wie in seinen allgemeinen Bedingungen, vollst\u00e4ndig dem Contrast auf andern Sinnesgehieten, insoweit er hier neben den f\u00fcr jeden Contrast geltenden psychologischen oder centralen Bedingungen nicht etwa, wie zweifellos der Licht- und Farhencontrast, gleichzeitig auch noch auf physiologischen Miterregungen beruht. Am n\u00e4chsten steht der\ns 1) Vergl. a. a. O. S. 154, Fig. 60.\n2) Yergl. \u00fcbrigens r\u00fccksichtlich der psychologischen Seite dieser hinocularen oder stereoskopischen Verdr\u00e4ngungserscheinungen meine Vorlesungen \u00fcber die Menschen- und Thierseele, 3. Aufl. S. 207 ff. (Yorles. XIII.)","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":".Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n79\nRaumcontrast in dieser Beziehung den Contrastph\u00e4nomenen im Gebiete der zeitlichen Vorstellungen. Wie im allgemeinen eine kleine Zeitstrecke im Verh\u00e4ltniss zu einer unmittelbar vor- oder nachher einwirkenden erheblich gr\u00f6\u00dferen untersch\u00e4tzt, und im Verh\u00e4ltniss zu einer erheblich kleineren \u00fcbersch\u00e4tzt wird, so erscheint ein r\u00e4umliches Gebilde gr\u00f6\u00dfer, wenn man es mit einem viel kleineren, als wenn man es mit einem gr\u00f6\u00dferen vergleicht. So ist in Fig. 19 eine Strecke von objectiv gleicher Gr\u00f6\u00dfe oben von zwei gr\u00f6\u00dferen, unten von zwei kleineren umgeben: demnach erscheint sie dort kleiner als hier. Aehnlich erscheint ein Winkel von gr\u00f6\u00dferen Winkeln ------------\u2014\u2014-----\u2022------\u2666--------------\numgeben kleiner, von kleineren umgeben gr\u00f6\u00dfer1).\nDass diese relativen Verkleinerungen und V ergr\u00f6\u00df e-\t\u2014*------1\u2014\nrungen nicht auf irgend\tFig. 19-\nwelchen peripheren physiologischen Wirkungen, sondern auf associativen Wechselwirkungen beruhen, kann man auch in diesem Falle leicht dadurch nachweisen, dass der Contrast verschwindet, wenn man die Objecte in eine Lage zu einander bringt, die eine directe Gr\u00f6\u00dfenvergleichung m\u00f6glich macht. So verschwindet z. B. die Contrasterscheinung der Fig. 19, -wenn man die beiden zu vergleichenden kleinen Strecken direct \u00fcber einander zeichnet, oder auch nur wenn man eine Anzahl gleicher Vergleichsstrecken zwischen ihnen anhringt, durch die eine successive oder simultane Vergleichung m\u00f6glich wird. \u2014\nF\u00fcr die Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahmehmungen sind begreiflicher Weise die Associationst\u00e4uschungen, ebenso wie die Associationsvorg\u00e4nge, auf die sie hinweisen, nur insofern von Interesse, als bei jeder concreten Wahrnehmung directe und reproductive Elemente Zusammenwirken. Immerhin stehen die letzteren gegen\u00fcber den directen Einfl\u00fcssen erst in zweiter Linie. Diesen directen Einfl\u00fcssen, die besonders durch das Studium der umkehrbaren und der variabeln T\u00e4uschungen dargelegt werden, und die wir oben vorl\u00e4ufig in den Begriffen \u00bbNetzhautbild\u00ab und \u00bbBewegungsbild\u00ab zu fixiren versucht\n1) Yergl. a. a. 0. Kg. 48, S. 141.","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nW. Wundt.\nhaben, muss aber jede Theorie, falls sie Anspruch auf Ueberein-stimmung mit der Erfahrung machen will, gerecht zu werden suchen.\nIV. Die nativistische Theorie.\nAls Helmholtz1) f\u00fcr die Gegens\u00e4tze der Anschauungen, die sich hei der Erkl\u00e4rung der Gesichtswahmehmungen geltend machen, die Namen der nativistischen und der empiristischen Theorie einf\u00fchrte, waren diese Bezeichnungen zweifellos ein gl\u00fccklicher Ausdruck der wesentlichsten Unterschiedsmerkmale der Theorien. Auf der einen Seite hatte sich in der von Johannes M\u00fcller aufgestellten Lehre von der unmittelbaren Raumempfindung jedes Netzhautpunktes und von der Identit\u00e4t der Netzh\u00e4ute beider Augen, sowie in den verschiedenen Versuchen einer Weiterbildung dieser Lehre, die Ansicht, dass das r\u00e4umliche Sehen eine angeborene Eigenschaft der \u00bbSehsinnsubstanz\u00ab sei, deutlich ausgepr\u00e4gt. Auf der andern Seite entsprachen die Anschauungen, denen sich Helmholtz seihst zuneigte, durchaus dem Begriff der \u00bbErfahrung\u00ab, wie ihn vornehmlich die englische Erfahrungsphilosophie ausgebildet hatte.\nAber wie in so manchen andern F\u00e4llen, so scheinen sich auch hier jene zur ersten kritischen Sichtung zweckdienlichen Bezeichnungen allm\u00e4hlich* in Schlagw\u00f6rter verwandelt zu haben, die die Eigent\u00fcmlichkeiten der verschiedenen Theorien eher zu verh\u00fcllen als zu erleuchten geeignet sind. So hat die nativistische Theorie gegenw\u00e4rtig eine Gestalt gewonnen, hei der die Annahme angeborener Raum-empfindungen nicht mehr ihr einziges, ja vielleicht nicht einmal ihr ausschlaggebendes Merkmal ist. Nicht minder lehrt eine n\u00e4here Analyse der sogenannten empiristischen Theorie, dass sie auf den Einfluss urspr\u00fcnglicher, in der angeborenen Organisation begr\u00fcndeter Momente keineswegs verzichtet. Namentlich aber erscheint vom Standpunkte heutiger Erkenntniskritik aus ihr Begriff der \u00bbErfahrung\u00ab als ein unklarer, mit inneren Widerspr\u00fcchen behafteter, der darum auch zur Anwendung auf speciellere Probleme wenig geeignet ist.\nNun ist es nicht meine Absicht, hier in eine kritische Analyse der verschiedenen Hypothesen \u00fcber die Entstehung der Gesichtswahr-\n1) Physiol. Optik, 1. Aufl. S. 435.","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesiehtswahrnehmungen.\n81\nnehmungen einzutreten. Eine solche Kritik w\u00fcrde, da sie eine eingehende Darstellung der Theorien selbst erforderte, ein sehr umfangreiches, sie w\u00fcrde aber auch im Hinblick auf den Zweck dieser Untersuchung ein \u00fcberfl\u00fcssiges Unternehmen sein. Denn dieser Zweck besteht darin, diejenige theoretische Anschauung \u00fcber die Vorg\u00e4nge der Gesichtswahrnehmungen zu entwickeln, die dem allgemeinen Stand unserer gegenw\u00e4rtigen physiologischen und psychologischen Kenntnisse entspricht, und die sich speciell, wie mir scheint, bei der Interpretation der mannigfachen Erscheinungen geometrisch-optischer T\u00e4uschungen bew\u00e4hrt. Dass die nativistische und die empiristi-sche Theorie diese Aufgabe heute nicht mehr erf\u00fcllen, das zu erweisen ist, wie ich glaube, eine Beleuchtung der leitenden Grundgedanken geeigneter als eine ausf\u00fchrliche Er\u00f6rterung der einzelnen Probleme und ihrer L\u00f6sungsversuche. Immerhin werden die letzteren insofern auch f\u00fcr uns ma\u00dfgebend bleiben, als selbstverst\u00e4ndlich hier nur solche theoretische Ausf\u00fchrungen in Betracht kommen k\u00f6nnen, die wirklich und im wissenschaftlichen Sinne \u00bb Theorien\u00ab, also ernstlich bem\u00fcht sind, \u00fcber den gesammten Zusammenhang der Gesichtswahrnehmungen Bechenschaft zu geben. Blo\u00dfe Bekenntnisse zu theoretischen Anschauungen dagegen, die sich z. B. damit begn\u00fcgen zu versichern, die \u00bbRaumempfindung\u00ab sei etwas urspr\u00fcngliches, neben Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t ein besonderer \u00bbModus\u00ab gewisser Empfindungen, die sich aber im \u00fcbrigen jedes n\u00e4heren Eingehens auf die eigentlichen Probleme des r\u00e4umlichen Sehens enthalten, \u2014 solche Behauptungen k\u00f6nnen f\u00fcglich unber\u00fccksichtigt bleiben, da sich nun einmal \u00fcber blo\u00dfe Glaubensbekenntnisse nicht discutiren l\u00e4sst. Unter den in dem angedeuteten Sinne wirklich ausgef\u00fchrten Theorien k\u00f6nnen nun bei dem heutigen Stand der Wissenschaft als ausgesprochene Vertretungen des \u00bbNativismus\u00ab und des \u00bbEmpirismus\u00ab \u00fcberhaupt nur zwei in Betracht kommen, auf die man denn auch jene von Helmholtz aufgestellten Begriffe vorzugsweise anzuwenden pflegt: das ist die auf der Grundlage der M\u00fcller\u2019schen Identit\u00e4tslehre entstandene Theorie von Hering1), und die unter Anlehnung an manche fr\u00fchere unvoll-\n1) Vergl. namentlich deren endg\u00fcltige Fassung in Hermann\u2019s Handbuch der Physiologie, IH, 1. S. 343 ff.\nWundt, Philos. Studien. XIV.\n6","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\nW. Wundt.\nst\u00e4ndigere Versuche ausgef\u00fchrte empiristische Theorie von Helmholtz1).\nDie nativistische Theorie geht von den zwei sicherlich zutreffenden Thatsachen aus, dass wir erstens in unserer Erfahrung keine Gesichtsempfindung kennen, die nicht r\u00e4umlich w\u00e4re, und dass zweitens das normale Sehen des Menschen von Anfang an ein doppel\u00e4ugiges Sehen ist. Da wir nun bei diesem im allgemeinen, von gewissen Ausnahmef\u00e4llen abgesehen, die Gegenst\u00e4nde einfach und mit k\u00f6rperlichen Eigenschaften ausgestattet sehen, so ergibt sich daraus von selbst als n\u00e4chstes Problem: die Art der Zuordnung der Netzhautpunkte beider Augen zu einander und zum \u00e4u\u00dferen Raum zu bestimmen. Die Zuordnung der Netzh\u00e4ute zu einander ist aber nach dieser Auffassung eine anatomische, d. h. in den urspr\u00fcnglichen Lageverh\u00e4ltnissen der einzelnen Punkte begr\u00fcndete. Allerdings gilt heute nicht mehr die auf die rein anatomische Lagebeziehung gegr\u00fcndete Zuordnung Johannes M\u00fcller\u2019s, sondern es wird der oben (S. 71 f.) unter den optischen T\u00e4uschungen erw\u00e4hnten Abweichung der scheinbaren Verticalen Rechnung getragen, wonach zwar je zwei einander zugeordnete Querschnitte einer Netzhaut in eine und dieselbe Ebene fallen, je zwei einander zugeordnete L\u00e4ngsschnitte aber in ihren oberen H\u00e4lften nach au\u00dfen geneigt sind. Die Fl\u00e4che, auf der die von correspondirenden Punkten der L\u00e4ngsschnitte aus gezogenen Richtungslinien sich schneiden, bildet so die \u00bbKemfl\u00e4che des Sehraums\u00ab, welche die urspr\u00fcngliche und nat\u00fcrliche Ordnung unserer Raumempfindungen enth\u00e4lt. Was vor ihr liegt wird n\u00e4her als die Kemfl\u00e4che, was hinter ihr liegt wird ferner als dieselbe empfunden, gleichg\u00fcltig ob es einfach oder, was zumeist erst bei gr\u00f6\u00dferem Distanzunterschied eintritt, in Doppelbildern, im ersten Fall in gekreuzten, im zweiten in ungekreuzten, gesehen wird. Auch die Tiefe des Raumes ist also Inhalt unmittelbarer Empfindung; ebenso die gemeinsame Sehrichtung der Netzhautcentren, durch die der Fixir-punkt als der Kernpunkt des Sehraums bestimmt wird.\nDiese auf der urspr\u00fcnglichen Zuordnung der Netzhautpunkte beruhenden Raumempfindungen k\u00f6nnen nun durch zwei psycho-\n1) Physiologische Optik. 1. Aufl. S. 427 ff., 2. Aufl. S. 576 ff. Die 2. Auflage weist nur in den allgemeinen Er\u00f6rterungen einige, \u00fcbrigens f\u00fcr die Hauptfragen nicht wesentliche Zus\u00e4tze auf.","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\t83\nlogische Momente mannigfache Ver\u00e4nderungen erfahren: das erste dieser Momente ist die \u00bbErfahrung\u00ab, das zweite die \u00bbAufmerksamkeit\u00ab oder, was damit zusammenf\u00e4llt, der \u00bbWille\u00ab. Die Erfahrung vermittelt einerseits eine genauere Orientirung im Raume, namentlich bei den im allgemeinen sehr unsicheren Tiefensch\u00e4tzungen; anderseits aber veranlasst sie uns \u00fcberhaupt, gegenw\u00e4rtige nach fr\u00fcheren Eindr\u00fccken zu beurtheilen: in diesem Sinne werden namentlich die meisten optischen T\u00e4uschungen auf durch die Erfahrung entstandene Gewohnheiten des perspectivischen Sehens zur\u00fcckgef\u00fchrt. Gegen\u00fcber diesem durchweg secund\u00e4ren Einfl\u00fcsse der Erfahrung kommt der \u00bbAufmerksamkeit\u00ab eine mehr prim\u00e4re Bedeutung zu. Sie ist es n\u00e4mlich, die das einzige, was in dem System urspr\u00fcnglicher Raumempfindungen noch nicht hinreichend bestimmt ist, fest bestimmt: das ist die Lage des Fixirpunktes und damit des ganzen Sehraums zum Sehenden. Wir haben eine urspr\u00fcngliche Empfindung der r\u00e4umlichen Ausdehnung unseres eigenen K\u00f6rpers, und wir besitzen die F\u00e4higkeit, unsere Aufmerksamkeit beliebig in dem umgebenden Raume wandern zu lassen. Einer solchen Wanderung der Aufmerksamkeit folgt dann stets die Wanderung des Blickpunktes, und diese ist wieder von Bildver\u00e4nderungen begleitet, die die Orientirung immer vollkommener machen. Als beweisend f\u00fcr diese prim\u00e4re Bedeutung der Aufmerksamkeit werden gewisse pathologische Erfahrungen angesehen, nach denen bei Augenmuskell\u00e4hmungen die Patienten die sonst nur durch bestimmte Blickhewegungen auszul\u00f6senden Aenderungen der absoluten Raum-werthe eintreten sehen, ohne dass doch in Wirklichkeit Blickbewegungen stattfinden. Hieraus folgert man, dass es \u00fcberhaupt nicht die Augenstellung sei, welche die Loealisirung des Fixationspunktes und damit den scheinbaren Ort des Objectes vermittele, sondern dass vielmehr die \u00bbAufmerksamkeit\u00ab beides zugleich leite, die Loealisirung des Fixationspunktes und die diesem entsprechende Augenstellung. Die Aufmerksamkeit seihst aber wird hei dieser fundamentalen Raumfunction als identisch mit dem \u00bbWillen\u00ab betrachtet1). \u00bbDer blo\u00dfe Wille rechts zu blicken\u00ab, sagt Mach2) im Sinne dieser Ausf\u00fchrungen, \u00bbgibt den Netzhautbildem an bestimmten Netzhautstellen einen gr\u00f6\u00dferen\n1)\tHering, a. a. O. S. 534 ff.\n2)\tMach, Beitr\u00e4ge zur Analyse der Empfindungen, S. 57.\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\nW. Wundt.\nRechtswerth\u00ab. Daraus folgt, wie derselbe Autor bemerkt: \u00bbder Wille Blickbewegungen auszuf\u00fchren oder die Innervation ist die Raumempfindung selbst\u00ab.\nJede Theorie der Gesichtswahrnehmungen, mag sie sich nati-vistisch oder empiristisch nennen, bedarf nun, da eine Sinneswahrnehmung weder ein blo\u00df physischer noch ein rein psychischer, sondern ein aus beiden Factoren gemischter \u00bbpsycho-physischer\u00ab Vorgang ist, ebensowohl physiologischer wie psychologischer Voraussetzungen. In der Beschaffenheit dieser beiderlei Voraussetzungen und in der Art, wie sie mit einander verbunden sind, liegen die charakteristischen Eigenschaften einer Theorie. Dass dem gegen\u00fcber die Frage, oh \u00bbangeboren\u00ab oder nicht, erst eine secund\u00e4re und vielleicht sogar eine h\u00f6chst zweifelhafte Rolle spielt, zeigt die obige Skizze der Grundgedanken der \u00bbnativistischen Theorie\u00ab wohl hinl\u00e4nglich. Ihr wesentlicher Charakter liegt vielmehr darin, dass sie als die physiologische Grundbedingung der Wahrnehmung die anatomische Anordnung und Zuordnung der Netzhautpunkte betrachtet, w\u00e4hrend sie auf psychologischer Seite der individuellen Erfahrung mannigfach mo-dificirende, bald berichtigende bald auch irref\u00fchrende Einfl\u00fcsse zugesteht, zugleich aber den Willen (wir werden uns, da die Identit\u00e4t der Aufmerksamkeit mit ihm ausdr\u00fccklich betont wird, auf diesen Terminus beschr\u00e4nken k\u00f6nnen) als einen \u00e4hnlich prim\u00e4ren Raumfactor auffasst wie die anatomische Anordnung der Netzhautpunkte. Denn es l\u00e4sst sich nicht wohl annehmen, dass die \u00bbKernfl\u00e4che des Sehraums\u00ab oder irgend etwas vor ihr oder hinter ihr jemals gesehen werde, ohne dass jene zugleich irgendwo gesehen wird. Letzteres geschieht aber, wie wir geh\u00f6rt haben, durch den Willen, daher denn auch Mach ganz folgerichtig sagt: \u00bbDer Wille Blickbewegungen auszuf\u00fchren ist die Raumempfindung selbst\u00ab. Wollten wir die Theorie in nativistische und empiristische Bestandtheile zerlegen, so w\u00fcrden daher die ersteren wieder in einen physiologischen, die Anordnung und Correspondenz der Netzhautelemente, und in einen psychologischen, das angeborene Willensverm\u00f6gen, zu unterscheiden sein. Aber so klar sich von diesen prim\u00e4ren Factoren die Erfahrungseinfl\u00fcsse auf den ersten Blick als secund\u00e4re zu sondern scheinen, so erweist sich doch bei n\u00e4herem Zusehen auch dieser Unterschied in jeder Hinsicht als ein flie\u00dfender.","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n85\nDies zeigt sich in der That schon an demjenigen Bestandteil der Theorie, der ihren nativistischen Charakter am deutlichsten zur Schau tr\u00e4gt, und auf den er daher auch haupts\u00e4chlich bezogen worden ist: an der Lehre von der unmittelbaren r\u00e4umlichen Beziehung und binocularen Zuordnung der Netzhautpunkte. Bei Johannes M\u00fcller war diese noch eine rein anatomische gewesen: die identischen\u00ab Punkte waren unmittelbar durch ihre anatomische Lage gegeben; sie konnten auch ohne R\u00fccksicht auf eine etwaige physiologische Pr\u00fcfung ihrer identischen Raumfunction aufgefunden werden. Dieser Identit\u00e4tsbegriff M\u00fcller\u2019s ist jetzt aufgegeben, weil die Erscheinungen des Sehens dazu n\u00f6thigten. Als \u00bbcorrespondirend\u00ab gelten nicht mehr Punkte von identischer Lage in beiden Augen, sondern solche, die sich bei der physiologischen Functionspr\u00fcfung als \u00bbDeckstellen\u00ab erweisen; diese Deckstellen sind aber, wie wir gesehen haben, nicht Stellen von identischer Lage. Nun erweckt jene Neigung der scheinbaren Yerticalen oder der \u00bbL\u00e4ngsschnitte\u00ab der Netzhaut unvermeidlich die Frage nach der Bedeutung dieser Abweichung von der vollkommenen anatomischen Symmetrie ; und bei dem engen Zusammenhang zwischen Structur und Function, der uns \u00fcberall im Organismus begegnet, wird man offenbar dazu gedr\u00e4ngt, jene Ursache in irgend welchen func-tionellen Verh\u00e4ltnissen zu suchen. Helmholtz hat dieselbe darin gesehen, dass in Folge einer solchen Neigung die in der Medianebene gelegene Horopterlinie in die Fu\u00dfbodenfl\u00e4che falle. Wir haben uns, da nach den bei andern Beobachtern ausgef\u00fchrten Bestimmungen diese Beziehung sehr zweifelhaft ist, oben darauf beschr\u00e4nkt jene Asymmetrie zu bekannten Gesetzen der Augenbewegungen in Beziehung zu setzen, die ihrerseits wieder in dem Zusammenhang der Auf- und Abw\u00e4rtsbewegung der Blickebene mit der Einstellung auf nahe und ferne Objecte eine naheliegende functioneile Erkl\u00e4rung finden. Wie dem aber auch sein m\u00f6ge, jedenfalls wird man geneigt sein, in dem er\u00f6rterten Verh\u00e4ltniss nicht einen anatomischen Zufall, sondern den Ausdruck irgend einer functionellen Zweckm\u00e4\u00dfigkeit zu erblicken. Ist nun dies der Fall, so mag man vielleicht annehmen, dass die Zuordnung der Deckstellen nicht erst w\u00e4hrend des individuellen Lebens entstanden, sondern dass sie innerhalb der generellen Entwicklung mindestens bereits vorbereitet sei. Immerhin, irgend einmal muss sie, und zwar unter der Wirkung von Erfahrungsmotiven,","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nW. Wundt.\nentstanden sein. Es scheint mir nicht unwahrscheinlich, dass die Anh\u00e4nger des \u00bbNativismus\u00ab selbst gerne bereit sind das zuzugehen. Was sie ausdr\u00fccklich bek\u00e4mpfen, das ist in der That \u00fcberall nur die Entstehung der prim\u00e4ren Raumbeziehungen w\u00e4hrend des individuellen Lebens. Durch jenes Zugest\u00e4ndnis r\u00fccken dann aber auch sofort die in Wirklichkeit zugelassenen secund\u00e4ren Erfahrungseinfl\u00fcsse in eine andere Beleuchtung. Sie treten jenen urspr\u00fcnglichen Raum-functionen nicht als v\u00f6llig ungleichartige Vorg\u00e4nge gegen\u00fcber, sondern es setzen sich in ihnen eigentlich nur Entwicklungsmotive fort, die hei den ersteren schon wirksam gewesen sind. Ja die Wahrscheinlichkeit ist dann nicht mehr abzuweisen, dass selbst an jenen con-stanten Raumfunctionen, die im allgemeinen von den specielleren, von Fall zu Fall wirkenden Erfahrungsmotiven unabh\u00e4ngig sind, die w\u00e4hrend des individuellen Lebens wirkenden dauernderen Einfl\u00fcsse ihre Spuren znr\u00fcckgelassen haben. Gerade die individuellen Schwankungen in der Abweichung der Deckstellen k\u00f6nnten ja hierauf bezogen werden. Wie man sieht, wird auf diese Weise der Unterschied zwischen Nativismus und Empirismus ein flie\u00dfender. Der Nativismus wandelt sich so zu sagen in einen auf die generelle Entwicklung erweiterten Empirismus um, und da ein Glied innerhalb dieser Entwicklung immerhin auch das Individuum ist, so wird die Frage, inwieweit in den vererbten und angeborenen Functionen individuelle Ab\u00e4nderungen m\u00f6glich seien, \u00fcberall selbst erst durch die Erfahrung entschieden werden k\u00f6nnen.\nEtwas anders verh\u00e4lt es sich mit jenem Bestandteil der Theorie, der als ihr psychologischer Nativismus bezeichnet werden k\u00f6nnte. Nach diesem gibt es kein wirkliches Sehen, bei dem wir nicht die Sehdinge in irgend einer Richtung erblicken, durch die ihr Verh\u00e4ltnis zu unserem eigenen unmittelbar r\u00e4umlich empfundenen K\u00f6rper ausgedr\u00fcckt werde: diese Richtungsbestimmung soll aber durch unsern \u00bbWillen\u00ab geschehen, der, weil es ohne solche Richtungsbestimmung keinen Raum gibt, von Mach consequenter Weise die \u00bbRaumempfindung selbst\u00ab genannt wird. Nun ist es klar, dass dieser psychologische Nativismus zun\u00e4chst mit dem physiologischen der Netzhautelemente in einen schwer l\u00f6sbaren Conflict tritt. Entweder gewinnen die letzteren die ihren Empfindungen anhaftende r\u00e4umliche Eigenschaft erst dadurch, dass der Wille die Empfindungen irgendwohin localisirt:","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmuugen.\n87\ndann ist ihre angeborene Raumfunction hinf\u00e4llig, der Raum ist, wie es das obige Wort Mach\u2019s andeutet, ausschlie\u00dflich eine Function des Willens und, weil der Wille eine urspr\u00fcngliche, selbst ohne jedes Empfindungssubstrat zu denkende Function ist (Muskelempfindungen werden ausdr\u00fccklich abgelehnt), eine sogenannte \u00bbreine Anschauung a priori\u00ab, in welche die Netzhautempfindungen eingetragen werden. Oder die r\u00e4umliche Ordnung kommt, was allerdings mit den erw\u00e4hnten Aeu\u00dferungen \u00fcber die Raumfunctionen des Willens kaum mehr \u00fcbereinstimmen w\u00fcrde, \u00fcberall nur durch ein Zusammenwirken des Willens mit den Netzhautempfindungen zu Stande: dann ist die Raumanschauung, da ein solches Zusammenwirken erst w\u00e4hrend des individuellen Lebens entstehen kann, selbst ein Product der individuellen Entwicklung, und der Boden der nativistischen Theorie ist g\u00e4nzlich verlassen.\nZu diesen augenf\u00e4lligen Schwierigkeiten kommt endlich, psychologisch betrachtet nicht als die geringste, der eigent\u00fcmliche Willensbegriff, dessen sich die Theorie bedient. Dieser die Richtungen im Raum bestimmende und die Blickbewegungen lenkende Wille ist ein reiner \u00bbActus purus\u00ab : er besteht weder aus Empfindungen noch aus Gfef\u00fchlen, er ist nichts als \u00bbreiner Wille\u00ab. Nat\u00fcrlich kann er darum auch in den verschiedenen F\u00e4llen seiner Wirksamkeit nicht einen verschiedenen Inhalt haben. Er ist also augenscheinlich nichts als ein abstracter Begriff. Es ist, dar\u00fcber kann man sich nicht t\u00e4uschen, das Willensverm\u00f6gen der alten Verm\u00f6genspsychologie, das hier wiederaufersteht. Hier, wie \u00fcberall, besteht aber der Fehler des Ver-m\u00f6gensbegriffs darin, dass er lediglich eine Abstraction aus einer Anzahl concreter Vorg\u00e4nge ist, und dass er dann nachtr\u00e4glich wie eine \u00bbKraft\u00ab oder \u00bbUrsache\u00ab betrachtet wird, welche diese Vorg\u00e4nge erkl\u00e4ren soll. Darum ist die Behauptung, dass der \u00bbWille\u00ab dies oder jenes zu Stande bringe, f\u00fcr uns heute gerade so nichtssagend, wie f\u00fcr den Physiker der Satz sein w\u00fcrde: \u00bbdas thut die Elektricit\u00e4t\u00ab. Uebrigens ist es merkw\u00fcrdig, dass die nativistische Theorie, indem sie hier im Sinne der psychologischen Verm\u00f6genstheorie einen ab-stracten Begriff in eine wirkende Kraft umwandelt, ihrerseits nichtachtend an Organisationsbedingungen vor\u00fcbergeht, die ebenso gut wie die Anordnung der Netzhautelemente angeborene sind. Die Beziehungen der Augenbewegungen zu den Netzhauteindr\u00fccken sind","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nW. Wundt.\nnach ihr w\u00e4hrend des Lebens unter der Lenkung der Aufmerksamkeit und des Willens entstanden, w\u00e4hrend doch gerade heim Auge urspr\u00fcngliche, rein physiologische Reflexverbindungen, wie zwischen den Irisbewegungen und den Lichteindr\u00fccken, so auch zwischen diesen und den Augenbewegungen existiren.\nDie M\u00e4ngel der nativistischen Theorie lassen sich demnach, wenn wir hier von den Einzelausf\u00fchrungen absehen, wesentlich auf drei Momente zur\u00fcckf\u00fchren. Erstens h\u00e4lt sie an der rein anatomischen Begr\u00fcndung des M\u00fcll er\u2019sehen Identit\u00e4tsprincips fest, obgleich der Versuch der Anpassung dieses Princips an die Erfahrung in der Nothigung, den sogenannten \u00bbidentischen Punkten\u00ab der Netzhaut die \u00bbDeckpunkte\u00ab zu substituiren, zwingend auf functioneile Motive hinweist. Zweitens arbeitet sie mit dem unhaltbaren Willensbegriff der Verm\u00f6genspsychologie, der hier, wie in so vielen andern E\u00e4llen, an die Stelle der wirklichen Analyse der Erscheinungen ein blo\u00dfes Wort treten l\u00e4sst. Drittens schr\u00e4nkt sie, durch eben diesen falschen Verm\u00f6gensbegriff verf\u00fchrt, das nativistische Princip einseitig und vollkommen willk\u00fcrlich auf die sensorische Seite der Sehfunctionen ein, statt es in den ihm zukommenden berechtigten Grenzen auch auf die motorischen Functionen des Auges auszudehnen. Trotz dieser M\u00e4ngel hat di@ nativistische Theorie ein nicht zu verkennendes Verdienst. Es besteht darin, dass sie, gegen\u00fcber einer einseitigen Uebersch\u00e4tzung der w\u00e4hrend des individuellen Lebens einwirkenden Bedingungen der Wahrnehmungsprocesse, eindringlich, wenn auch in dem oben angedeuteten Sinne einseitig, auf die Bedeutung der urspr\u00fcnglichen psychophysischen Organisation der Sinnesapparate hinweist.\nV. Die empiristische Theorie.\nDie empiristische Theorie geht von der allgemeinen methodologischen Pegel aus, dass nichts in unsern Sinneswahrnehmungen als Empfindung anerkannt werden k\u00f6nne, \u00bbwas durch Momente, die nachweisbar die Erfahrung gegeben hat, im Anschauungsbilde \u00fcberwunden und in sein Gegentheil verkehrt werden kann\u00ab. Diese Pegel ergibt, wenn man ihr folgt, dass \u00bbnur die Qualit\u00e4ten der Empfindung als wirklich reine Empfindung zu betrachten sind\u00ab, dass also insbesondere die Raumanschauungen ein \u00bbProduct der Erfahrung und","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n89\nEin\u00fcbung\u00ab sind1). Nun setzen aber Erfahrung und Ein\u00fcbung auf physiologischer Seite wiederholte Sinneseindr\u00fccke, auf psychologischer Ged\u00e4chtniss, Aufmerksamkeit, und namentlich Urtheils- und Schlussverm\u00f6gen voraus, wenn sich auch das letztere bei der Anschauung nicht, wie beim Denken, in bewusster Weise, sondern in der Form unbewusster Urtheile und Schl\u00fcsse \u00e4u\u00dfern soll. In solchen oft wiederholten unbewussten Denkoperationen, zu denen uns die Eindr\u00fccke der Au\u00dfenwelt veranlassen, wird demnach haupts\u00e4chlich das Wesen dessen gesehen, was wir \u00bbErfahrung\u00ab und, angewandt auf die in der Anschauung zu Stande kommende Ordnung der Eindr\u00fccke, \u00bbSinneswahrnehmung\u00ab nennen. Jene Denkoperationen sind ihrer logischen Beschaffenheit nach \u00bbInductionsschl\u00fcsse\u00ab, bei denen wir nach fr\u00fcheren Erfahrungen neue Eindr\u00fccke beurtheilen2). Den Resultaten aller solcher auf Associationen beruhenden Schl\u00fcsse wird aber, eben weil sie nicht bewusste Denkacte sind, die Eigenschaft zugeschrieben, dass man ihren Inhalt nicht angeben k\u00f6nne, ohne das, was in ihm ausgesprochen ist, eigentlich schon vorauszusetzen. Ich kann immer nur sagen: \u00bblinks ist etwas helles, weil ich es dort sehe\u00ab, oder: \u00bbwenn ich das Auge rechts dr\u00fccke, so sehe ich links einen Schein\u00ab u. dergl., Urtheile in denen die durch die Wahrnehmung gewonnenen r\u00e4umlichen Bestimmungen schon enthalten sind3). Der vom Standpunkte der realistischen Welthypothese aus angenommenen Wirklichkeit gegen\u00fcber sind daher die Empfindungen \u00bbZeichen\u00ab, die auf die Wirklichkeit hindeuten, nicht diese selbst. Indem aber in der Ordnung dieser Zeichen eine ebensolche Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit herrscht, wie wir sie f\u00fcr die Wirklichkeit voraussetzen, soll jenes unbewusste Denken der sinnlichen. Wahrnehmungen, ebenso wie die Welt au\u00dfer uns, dem \u00bbCausalgesetz\u00ab folgen, das demnach \u00bbein a priori gegebenes, ein transcendentales Gesetz\u00ab sei4).\n1)\tHelmholtz, Physiol. Optik. 2. Aufl. S. 611. Helmholtz sagt allerdings nur \u00bbdie meisten Raumanschauungen\u00ab. Da aber unmittelbar vorher der Inhalt der reinen Empfindung unbedingt auf die Qualit\u00e4ten derselben eingeschr\u00e4nkt wird, so ist wohl die Raumanschauung \u00fcberhaupt gemeint.\n2)\t\u00bbAnalogieschl\u00fcsse\u00ab nennt sie darum auch Helmholtz ausdr\u00fccklich in der 1. Aufl. (S. 430). In der 2. Aufl. ist dieser Name hinweggelassen. Die Schilderung des bei den Sinneswahrnehmungen stattfindenden Schlussverfahrens ist \u00fcber im \u00fcbrigen unver\u00e4ndert geblieben.\n3)\ta. a. 0. 2. Aufl. S. 582 f.\t4) Ebenda, S. 594.","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nW. Wundt.\nYon diesen allgemeinen Gesichtspunkten aus sucht die empiristische Theorie der Gesichtswahrnehmungen die speciellen Erfahrungsmotive aufzufinden, die der r\u00e4umlichen Ordnung der Lichteindr\u00fccke zu Grunde hegen. Diese Motive m\u00fcssen nach ihr, wie aus dem Verh\u00e4ltniss der Au\u00dfendinge zu ihren Netzhautbildern und zu der Lage unseres K\u00f6rpers nnd Kopfes hervorgehe, von dreierlei Art sein. Sie m\u00fcssen bestehen: 1) aus Empfindungen, welche uns eine richtige Kenntniss der Stellung unseres K\u00f6rpers und Kopfes gegen eine beliebig gew\u00e4hlte \u00e4u\u00dfere Grundlage, z. B. den Fu\u00dfboden, gehen, 2) aus Empfindungen, welche uns ein Urtheil \u00fcber die Stellung unserer Augen im Kopfe verschaffen, 3) aus Momenten der Empfindung, sogenannten Localzeichen, durch welche wir die Beizung einer bestimmten Netzhautstelle von der Beizung aller andern Netzhautstellen unterscheiden1). Unter diesen drei Erfahrungsmotiven ist uns das erste in den Tastempfindungen gegeben, das zweite in \u00bbInnervationsgef\u00fchlen\u00ab, welche theils die wirklichen Bewegungen und Stellungen, theils aber die blo\u00df intendirten Bewegungen des Auges begleiten. Das dritte ist hypothetisch. Wie die Localzeichen beschaffen sind, wissen wir nicht, und es ist gleichg\u00fcltig, ob wir eine regelm\u00e4\u00dfige oder eine beliebig unregelm\u00e4\u00dfige Vertheilung derselben \u00fcber die Netzhautfl\u00e4che annehmen. Da die Wahrnehmung der Stellungen unseres K\u00f6rpers dem Gebiet des Tastsinnes zuf\u00e4llt, so kommen f\u00fcr die Gesichtswahrnehmungen als solche haupts\u00e4chlich das zweite und dritte Motiv in Betracht. Dabei vermitteln die Localzeichen die Wahrnehmung der r\u00e4umlichen Ordnung der Objectpunkte, wie sie im Netzhautbilde sich darstellt; die Innervationsgef\u00fchle der Augenmuskelnerven aber vermitteln die Wahrnehmung der Stellung der Objecte zu unserem K\u00f6rper, wobei die in Folge der Augenbewegungen eintretenden Verschiebungen der Bilder controllirend mitwirken2). Beim binocularen Sehen verbinden sich dann die Innervationsgef\u00fchle beider Augen zur mittleren Sehrichtung, und wirken die durchg\u00e4ngig verschiedenen Localzeichen beider Augen zur Bildung stereoskopischer Wahrnehmungen zusammen, woran sich endlich die weiteren Erfahrungsmotive, wie sie in der zeichnerischen und malerischen Perspective nachzuweisen sind, anschlie\u00dfen. Die Sinnest\u00e4uschungen sind nach\n1) a. a. 0. 2. Aufl. S. 670.\n2) Ebenda, S. 951.","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n91\ndieser Auffassung, so weit sie nicht auf directer Ver\u00e4nderung des Netzhautbildes beruhen, wie beim Sehen durch Linsen, Prismen und dergl., als \u00bbUrtheilst\u00e4uschungen\u00ab zu betrachten, die durch einen ungew\u00f6hnlichen, der normalen Erfahrung nicht entsprechenden Gebrauch unserer Sinnesorgane entstehen1).\nBei der Kritik dieser Theorie darf zun\u00e4chst nicht \u00fcbersehen werden, dass die methodologische Kegel, von der sie ausgeht, keineswegs als ein unbestreitbarer Satz gelten kann. Die Annahme, dass etwas, was durch Erfahrungseinfl\u00fcsse ver\u00e4ndert oder sogar in sein Gegentheil verkehrt wird, seihst erst durch Erfahrung entstanden sei, ist m\u00f6glich, aber nicht logisch nothwendig. In der That haben wir gesehen, dass die nativistische Theorie ein urspr\u00fcngliches Kaumbild voraussetzt, welches gleichwohl durch nachherige Erfahrungseinfl\u00fcsse mancherlei Ver\u00e4nderungen erfahren k\u00f6nne. Mag diese Annahme durchf\u00fchrbar sein oder nicht, ein logischer Widerspruch liegt in ihr nicht. Man wird also h\u00f6chstens die angegebene Kegel als eine vorl\u00e4ufige heuristische Maxime gelten lassen k\u00f6nnen, die ihre Berechtigung erst durch ihre Brauchbarkeit zu erweisen hat. Nun zeigt sich aber, wenn man sich die drei oben angef\u00fchrten Erfahrungsmotive vergegenw\u00e4rtigt und ihrer Anwendung auf die speciellen Probleme nachgeht, dass in ihnen allen in der That schon irgend etwas R\u00e4umliches vorausgesetzt ist, das immer nur durch Erfahrungseinfl\u00fcsse irgendwie modificirt werden kann. Von dem ersten Motiv, den Tastempfindungen, die uns eine Kennt-niss der Stellung unseres K\u00f6rpers verschaffen sollen, m\u00fcssen wir hier ahsehen; denn, wenn auch nicht angegeben ist, wie diese Kenntniss urspr\u00fcnglich entsteht, so kann man doch sagen, dies n\u00e4her nachzuweisen sei ein Problem der Physiologie des Tastsinns, nicht des Gesichtssinnes. Aber das zweite und dritte Motiv, die sogenannten Innervationsgef\u00fchle der Augenmuskeln und die Localzeichen, geh\u00f6ren jedenfalls speciell in optisches Gebiet. Nun wollen wir auf die Erage, ob \u00bbInnervationsgef\u00fchle\u00ab von der hier vorausgesetzten Beschaffenheit \u00fcberhaupt existiren, nicht n\u00e4her eingehen. Aber setzen wir voraus, sie existirten als Empfindungen von irgend welcher Qualit\u00e4t, so ist nicht einzusehen, wie sich mit dieser Qualit\u00e4t die Vorstellung von\n1) Ebenda, S. 948.","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nW. Wundt.\neiner bestimmten Stellung des Auges verbinden soll, wenn sie nicht urspr\u00fcnglich schon mit ihr verbunden war. M\u00f6gen sich die Innervationsgef\u00fchle noch so oft wiederholen, wir werden nie durch Erfahrung dazu kommen, sie auf die Stellung unserer Augen im Raum zu beziehen, wenn sie nicht selbst eben das, worin sie uns orientiren sollen, den Kaum, schon enthalten. Gienau ebenso verh\u00e4lt es sich aber mit den Localzeichen. Zugegeben, jeder Netzhautpunkt sei mit einer solchen hypothetischen Qualit\u00e4t ausgestattet, durch die sich seine Keizung unterscheide von der Reizung jedes andern Punktes : so lange diese Qualit\u00e4t, wie vorausgesetzt wird, eine \u00bbreine Empfindung\u00ab ist, bleibt gar nicht abzusehen, wie durch noch so h\u00e4ufige \"Wiederholung und Vergleichung die r\u00e4umliche Eigenschaft in sie hineinkommen soll. Wo dieser Vorgang an Beispielen deutlich gemacht wird, da ist deshalb auch jener Anfang, der eigentlich erst die M\u00f6glichkeit zu allen folgenden Erfahrungen enth\u00e4lt, immer schon vorausgesetzt. \u00bbWenn wir Erregung in denjenigen Nervenapparaten gef\u00fchlt haben, deren peripherische Enden an der rechten Seite beider Netzh\u00e4ute liegen, so haben wir in millionenfach wiederholten Erfahrungen unseres ganzen Lebens gefunden, dass ein leuchtender Gegenstand nach unserer linken Seite hin vor uns lag. Wir mussten die Hand nach links hin erheben, um das Licht zu verdecken oder das leuchtende Object zu ergreifen, oder uns nach links hin bewegen, um uns ihm zu n\u00e4hern\u00ab1). Das ist gewiss richtig; aber wie ist es gekommen, dass wir den Gegenstand \u00fcberhaupt links sehen, oder dass wir nach links nach ihm griffen? Man k\u00f6nnte sagen: die erste dieser Thatsachen ist eben die Folge der zweiten; und es scheint das auch der Sinn der obigen Stelle zu sein. Man k\u00f6nnte sich denken, wir h\u00e4tten erst ganz zuf\u00e4llig nach den allerverschiedensten Richtungen unsere Hand ausgestreckt, und dabei sei dann allm\u00e4hlich die wahre Richtung und Lage des Lichtes von uns entdeckt worden: Dabei w\u00fcrde sich aber doch h\u00f6chstens eine Association zwischen einer bestimmten intensiven Tastempfindung und einer ebensolchen Lichtempfindung herstellen k\u00f6nnen. Dass wir die zuvor unr\u00e4umliche Lichtempfindung nun an einen bestimmten Ort im Raum verlegten, w\u00fcrde nur dann m\u00f6glich sein, wenn die Tastempfindungen die r\u00e4umliche Eigenschaft schon urspr\u00fcnglich\n1) Helmholtz, a. a. O. S. 582.","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\t93\nenthielten. In der That scheint das auch die Ansicht von Helmholtz zu sein, denn er bemerkt: \u00bbdie Anschauung der Raumverh\u00e4ltnisse und der Bewegung sind nicht nothwendig aus den Gesichts-wahrnehmungen oder wenigstens nicht aus diesen allein herzul\u00e7iten, da sie hei Blindgeborenen ganz genau und vollst\u00e4ndig auch unter Vermittlung des Tastsinns gewonnen werden, sie k\u00f6nnen also f\u00fcr unseren Zweck als gegeben vorausgesetzt werden\u00ab1). Dass die in diesen Worten angedeutete M\u00f6glichkeit, es k\u00f6nne etwa die r\u00e4umliche Wahrnehmung irgendwie ein gemeinsames Product des Gesichts- und des Tastsinnes sein, uns hier nicht weiterhelfen w\u00fcrde, geht aus den obigen Er\u00f6rterungen hervor: eine Vergleichung der Empfindungen beider Sinne w\u00fcrde immer erst dann zu einem r\u00e4umlichen Resultat f\u00fchren k\u00f6nnen, wenn einer von ihnen die r\u00e4umliche Anschauung schon bes\u00e4\u00dfe. Dass der Tastsinn sie allein schon besitzt, wird \u00fcbrigens ja auch ausdr\u00fccklich unter Berufung auf die Blindgeborenen zugestanden. Es bleibt also nur die Annahme \u00fcbrig, dass zuerst der Tastsinn r\u00e4umliche Vorstellungen bilde, und dass dann der Gesichtssinn, durch empirische Motive veranlasst, seine Empfindungen gem\u00e4\u00df diesen Vorstellungen ordne. Dieser Voraussetzung w\u00fcrde jedoch schon der Umstand im Wege stehen, dass wenigstens heim sehenden Menschen ein solcher Primat des Tastsinns nicht nachgewiesen werden kann. Hier scheinen sich beide Sinne gleichzeitig zu entwickeln und der Gesichtssinn sogar einen gewissen Vorsprung zu behaupten, da die Localisation der Tasteindr\u00fccke heim Sehenden und seihst noch heim Erblindeten zumeist unter Mitwirkung der Gesichtsvorstellungen zu Stande kommt2). Aber seihst wenn man die Functionen des Tastsinns allgemein als die urspr\u00fcnglicheren anerkennen wollte, so w\u00fcrde doch durch diese Berufung auf den Tastsinn das Problem eben nur weiter hinausgeschoben, aber nicht gel\u00f6st sein. Entweder verf\u00fcgt der Tastsinn \u00fcber ihm eigenth\u00fcmliche Mittel, um seine Eindr\u00fccke r\u00e4umlich zu ordnen: dann m\u00fcssen diese Mittel nachgewiesen werden, um so mehr, da sie bei den die Wahrnehmung der Stellungen des K\u00f6rpers und des Auges vermittelnden Tastempfindungen und \u00bbInnervationsgef\u00fchlen\u00ab sehr wesentlich auch in die\n1)\ta. a. O. S. 947.\n2)\tYergl. meinen Grundriss der Psychologie, 2. Aufl. S. 123 ff.","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nW. Wundt.\nFunctionen des Sehens her\u00fcbergreifen. Oder er verf\u00fcgt \u00fcber solche Mittel nicht, f\u00fcr den Tastsinn ist also die empiristische Theorie nicht zul\u00e4ssig. Dann ist sie offenbar auch f\u00fcr den Gesichtssinn in Frage gestellt, da man die Annahme, beide unserer Raumanschauung dienenden Sinne verhielten sich v\u00f6llig abweichend hei der Bildung ihrer \"Wahrnehmungen, kaum wahrscheinh'ch finden wird.\nDas Resultat ist also, dass die empiristische Theorie die in ihrer methodologischen Regel gestellte Aufgabe nicht gel\u00f6st hat. Sie hat trotz der Beih\u00fclfe verschiedener hypothetischer Elemente, wie der Innervationsgef\u00fchle und der Localzeichen, nicht im mindesten begreiflich gemacht, wie ein System an sich unr\u00e4umlicher Empfindungen \u00fcberhaupt r\u00e4umliche Wahrnehmungen hervorbringen kann. Dieser Misserfolg ist, wie man wohl sagen darf, im letzten Grunde dadurch verschuldet, dass diese Theorie den der alten englischen Erfahrungsphilosophie entnommenen Satz, alles Wissen stamme aus der Erfahrung, unmittelbar auf die diesem Satze v\u00f6llig unzug\u00e4nglichen, weil in jenen Begriff der Erfahrung \u00fcberhaupt nicht eingeschlossenen Thatsachen der Sinneswahrnehmung anzuwenden sucht. Freilich aber hat die neuere empiristische Theorie damit nur folgerichtig weiter gef\u00fchrt, was sich in der aus dem englischen Empirismus hervorgegangenen Psychologie bereits angehahnt hatte. Sie ist der letzte Schritt, in dem sich die von lange her vorbereitete Selbstaufl\u00f6sung dieser Entwicklung vollzieht.\nAls John Locke den an sich freilich nicht neuen, aber von ihm doch mit eindringlicheren Argumenten gest\u00fctzten Satz aufstellte, dass alles Wissen aus der Erfahrung komme, wandte er diesen Satz ebenso gut auf einfache Empfindungen wie auf zusammengesetzte Wahrnehmungen an. Aber er wandte ihn nicht oder doch nur in beschr\u00e4nktem Umfange auf das an, was zwischen beiden liegt: auf die Processe, durch die sich einfache Empfindungen zu zusammengesetzten Wahrnehmungen verbinden; und zwar deshalb, weil hier \u00fcberhaupt die Probleme, welche die heutige Sinneslehre bewegen, f\u00fcr ihn noch nicht existirten, da ihm eine Menge von Vorstellungen, die wir heute als zusammengesetzte betrachten, noch f\u00fcr einfache Empfindungen galten. Insbesondere geh\u00f6rten dazu die Raumvorstellungen. Sie sind ihm, wie die Empfindungen \u00fcberhaupt, das Material, dessen sich die Erfahrung bem\u00e4chtigt, und aus dem sie unsere Kennt-","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n95\nniss der Dinge bildet; sie selbst sind aber gerade darum ein urspr\u00fcnglicher Inhalt der Erfahrungserkenntniss. Schon in der Psychologie des 18. Jahrhunderts \u00e4nderte sich einigerma\u00dfen diese Sachlage. Die Ver\u00e4nderlichkeit der Wahmehmungsinhalte unter wechselnden objec-tiven wie subjectiven Verh\u00e4ltnissen f\u00fchrte zu der Ueberzeugung, dass manche Eigenschaften, wie z. B. die Vorstellung der Entfernung und der Gr\u00f6\u00dfe der Objecte, keineswegs zum unver\u00e4nderlichen Bestand der Empfindungen geh\u00f6ren. Da man aber neben diesem nur jene durch ged\u00e4chtnissm\u00e4\u00dfiges Anh\u00e4ufen und logisches Vergleichen entstandene Beurtheilung des Wahrgenommenen kannte, die man eben \u00bbErfahrungserkenntniss\u00ab nannte, so wurden nun solche besondere Bestandtheile der Wahrnehmung als Producte dieser Erfahrungserkenntniss oder, wie man jetzt, das Wort in einer engeren Bedeutung gebrauchend, auch sagte, der \u00bbErfahrung\u00ab betrachtet. So bildete sich allm\u00e4hlich diejenige Anschauung aus, die in der deutschen Sinnesphysiologie dieses Jahrhunderts die herrschende wurde, und nach der die r\u00e4umlichen \u00bbEl\u00e4chenwahmehmungen\u00ab zum urspr\u00fcnglichen Empfindungsinhalt geh\u00f6ren, die \u00bbTiefenwahrnehmungen\u00ab aber durch Erfahrung entstehen sollten. Diese zwiesp\u00e4ltige Interpretation der Erscheinungen musste jedoch mit innerer Vothwendigkeit schlie\u00dflich das Streben nach einer einheitlichen Auffassung erwecken. Ihr lagen dann zwei entgegengesetzte Wege offen: entweder konnte man versuchen, die ganze Raumanschauung nach Fl\u00e4che wie Tiefe wieder dem Thatbestand urspr\u00fcnglicher Empfindungen einzuverleiben; oder man konnte nicht blo\u00df einzelne Factoren der Raumanschauung, sondern diese in allen ihren Bestandtheilen aus der Erfahrung abzuleiten suchen. So entstanden, als die geschichtlich nothwendigen Endglieder dieser Entwickung, die nativistische und die empiristische Theorie.\nBei beiden Theorien ist nun aber ein Gesichtspunkt \u00fcbersehen, der freilich auf dem Wege vorwiegend physiologischer Untersuchungen, aus denen jene Theorien hervorgegangen waren, nicht gefunden werden konnte, der jedoch bei der psychologischen Behandlung der Wahrnehmungsprobleme um so mehr in den Vordergrund treten musste, je mehr sich indessen der dem alten englischen Empirismus entstammende Begriff der \u00bbErfahrung\u00ab, mit dem beide Theorien arbeiteten, auch von erkenntnisstheoretischer Seite als ungen\u00fcgend, \u00fcberall der genaueren Bestimmungen und Abgrenzungen bed\u00fcrftig erwiesen hatte.","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nW. Wundt.\nDieser Gesichtspunkt besteht darin, dass ein psychologischer Vorgang, der auf einem Zusammenwirken von Empfindungen beruht, und hei dem diese die Componenten neuer und eigent\u00fcmlicher psychischer Producte bilden, nicht notwendig ein Process sogenannter \u00bbErfahrung\u00ab zu sein braucht, ja sogar nur selten durch diesen Ausdruck auch nur notd\u00fcrftig nach seiner wirklichen Beschaffenheit angedeutet wird. Jede Sinneswahmehmung bietet in jener Assimilation des Eindrucks durch eine meist unbestimmt gro\u00dfe Anzahl reproductiver Elemente, wie sie uns bei den Sinnest\u00e4uschungen begegnet ist1), einen psychologischen Vorgang dar, welcher das entstehende Product als ein nicht urspr\u00fcngliches, sondern gewordenes, aber keineswegs als ein auf dem Wege der \u00bbErfahrung\u00ab gewordenes erscheinen l\u00e4sst. Es gibt eben zwischen der angeborenen und der durch Erfahrung vermittelten Beschaffenheit unserer Vorstellungen ein Mittleres: dieses Mittlere besteht in den ebensowohl in der physischen Organisation unserer peripheren und centralen Sinnesapparate wie in den allgemeinsten Eigenschaften unseres Bewusstseins begr\u00fcndeten Verschmelzungs- und Associationsvorg\u00e4ngen. Die Producte, die aus ihnen hervorgehen, k\u00f6nnen nicht angeborene Thatsachen genannt werden, weil sie eben \u00fcberall auf solche Vorg\u00e4nge und die ver\u00e4nderlichen Einfl\u00fcsse, unter denen sie stehen, hinweisen. Sie k\u00f6nnen aber auch nicht Erfahrungsproducte genannt werden, weil die Erfahrung im eigentlichen Sinne \u00fcberall bereits diese Producte voraussetzt.\nJener Hauptmangel der empiristischen Theorie, dass sie zwischen urspr\u00fcnglichem und erfahrungsm\u00e4\u00dfig erworbenem Inhalt des Bewusstseins kein Mittleres kennt, verschuldet nun auch den eigent\u00fcmlichen erkenntnisstheoretischen Nativismus, dem die empiristische Theorie, so sehr sie den Nativismus auf dem Gebiet der sinnlichen Anschauung zur\u00fcckweist, anheimf\u00e4llt. Wie und wo wir die Dinge sehen, das soll auf Erfahrungen beruhen. Aber wir w\u00fcrden nach der empiristischen Theorie solche Erfahrungen nicht machen k\u00f6nnen, wenn wir nicht das logische Denken und das Causalgesetz, aus dem jenes in allen seinen Anwendungen entspringt, von Anfang an in uns tr\u00fcgen. Diese Ansicht h\u00e4lt in den drei Behauptungen, die sie einschlie\u00dft, einer unbefangenen Pr\u00fcfung nicht Stand. Erstens sind unsere Wahrnehmungen\n1) Yergl. oben S. 51 ff.","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n97\nkeine logischen Denkacte: weder bewusste noch unbewusste. Zu den letzteren werden sie erst, wenn wir unsere nachtr\u00e4gliche Reflexion \u00fcber die Dinge in diese selber hineintragen. Zweitens ist das Causal-gesetz kein Princip, auf das sich das logische Denken als solches zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4sst, die Induction so wenig wie die Deduction; sondern es ist ein Princip, das sich \u00fcberall auf Erfahrungsinhalte bezieht. Drittens ist es eben darum unm\u00f6glich, das Causalgesetz ein Princip a priori zu nennen, es sei denn dass man entweder Begriffe ohne Anschauungen f\u00fcr m\u00f6glich h\u00e4lt, oder dass man wenigstens im Anschl\u00fcsse an Kant die urspr\u00fcnglichen Anschauungsformen, Raum und Zeit, gleichzeitig mit dem Oausalbegriff f\u00fcr a priori gegeben h\u00e4lt. Das letztere wird aber ja gerade von der empiristischen Theorie wenigstens in Bezug auf den Raum geleugnet.\nDer Gegensatz der 'nativistischen und der empiristischen Theorie beruht, wie wir sahen, auf der Alternative: entweder sind uns die Gesichtswahmehmungen in ihren fundamentalen Eigenschaften angeboren, oder sie entstehen aus der Erfahrung. L\u00e4sst sich keine dieser Theorien widerspruchslos durchf\u00fchren, und ist jene Alternative unhaltbar, weil sie eine dritte M\u00f6glichkeit \u00fcbersieht, die M\u00f6glichkeit n\u00e4mlich einer Entwicklung unserer Wahrnehmungen, die der eigentlichen Erfahrung vorausgeht, so werden nun von vornherein eben in dieser dritten Richtung die Grundlagen einer haltbaren Theorie zu suchen sein. Eine solche Theorie werden wir im allgemeinen als eine genetische bezeichnen k\u00f6nnen, weil sie jede Wahrnehmung als ein Gewordenes, nicht als ein urspr\u00fcnglich Gegebenes ansieht. Indem sie an diesem Werden ebensowohl die generelle wie die individuelle Entwicklung theilnehmen l\u00e4sst, tr\u00e4gt sie den urspr\u00fcnglichen Organisationsbedingungen Rechnung, w\u00e4hrend sie zugleich den absoluten Gegensatz zwischen diesen und den individuellen Lebenseinfl\u00fcssen beseitigt. Die Begriffe des Nativismus und des Empirismus aber, innerhalb der diese Anschauungen vertretenden Theorien selbst schon durch die empiristischen Zugest\u00e4ndnisse der einen und durch die apriori-stischen H\u00fclfsbegriffe der andern zweifelhaft geworden, werden wir vom Standpunkte einer solchen genetischen Theorie aus besser g\u00e4nzlich vermeiden. Sie werden ja in der That in ihrer einstigen Bedeutung in dem Augenblick von selbst hinf\u00e4llig, wo die Alternative, auf der ihr Gegensatz beruht, nicht mehr aufrecht erhalten wird.\nWundt, Philos. Studien. XIV.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nW. Wundt.\nDa \u00fcbrigens keine Theorie, die genetische so wenig wie die nativistische oder empiristische, hypothetischer Elemente entrathen kann, und da eben deshalb eine genetische Theorie -vielleicht in verschiedener Form m\u00f6glich ist, so scheint es mir am zweckm\u00e4\u00dfigsten, gerade diesen nicht zu vermeidenden hypothetischen Elementen die Bezeichnung der im Nachfolgenden zu er\u00f6rternden Theorie zu entnehmen. Ich nenne sie daher die \u00bbTheorie der complexen Localzeichen\u00ab.\nVI. Die Theorie der complexen Localzeichen.\n1. Allgemeine Formen des Localzeichenbegriffs.\nDer Begriff des \u00bbLocalzeichens\u00ab hat, wenn man ihm nicht absichtlich einen engeren Sinn unterschiebt, der nicht im Worte liegt, eine sehr allgemeine, von jeder besonderen Theorie unabh\u00e4ngige Bedeutung. Denn er weist nur auf irgend ein Datum f\u00fcr unser Bewusstsein hin, das f\u00fcr die Localisation eines Eindrucks bestimmend sei, gleichg\u00fcltig ob ein solches Datum ein urspr\u00fcngliches oder ein erworbenes, ob es empirisch nachweisbar oder blo\u00df hypothetisch angenommen ist. In diesem allgemeinsten Sinne, in welchem auch im Folgenden der Begriff \u00bbLocalzeichen\u00ab benutzt werden soll, arbeitet eigentlich jede Theorie, mag sie nun nativistisch, empiristisch oder genetisch geartet sein, mit diesem Begriff. So k\u00f6nnte z. B. bei der nativistischen Theorie Hering\u2019s die Disparation der Doppelbilder das Localzeichen der Tiefe, der Wille zu einer bestimmten Sehrichtung das Localzeichen des Fixationspunktes genannt werden u. s. w. Auch ist unter jedem Gesichtspunkte das Localzeichen eben deshalb ein n\u00fctzlicher H\u00fclfsbegriff, weil es die Bedeutung irgend eines beobachteten oder angenommenen Datums f\u00fcr die r\u00e4umliche Ordnung der Empfindungen so kurz und zugleich so allgemein wie m\u00f6glich bezeichnet. Hierin besteht ohne Frage das Verdienst, das sich Lotze durch die Einf\u00fchrung dieses Ausdrucks erworben hat. Gerade wegen der gro\u00dfen Allgemeinheit seiner Bedeutung ist es jedoch erforderlich, die verschiedenen Anwendungen, die der Begriff gefunden hat, sorgf\u00e4ltig aus einander zu halten. Thut man dies, so bieten dann auch die verschiedenen Definitionen und die abweichenden Begr\u00fcndungen","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n99\ndes Begriffs das einfachste H\u00fclfsmittel dar, um die charakteristischen Unterschiede der Theorien und ihrer Motive hervorzuheben.\nSuchen wir zun\u00e4chst nach rein \u00e4u\u00dferen und formalen Merkmalen die verschiedenen Gestaltungen des Localzeichenbegriffs zu sondern, so lassen sich zwei solcher Gestaltungen einander gegen\u00fcberstellen: der Begriff des \u00bbeinfachen\u00ab und der des \u00bbcomplexen Localzeichens\u00ab. Der Begriff des einfachen Localzeichens ist wieder in zwei Formen aufgetreten: in einer von allgemeinen metaphysischen Forderungen aus entwickelten hei Lotze, und. in einer auf gewisse psychologische Voraussetzungen gegr\u00fcndeten in der empiristischen Theorie. Zu dem Begriff des \u00bbcomplexen Localzeichens\u00ab wird man dann gef\u00fchrt, wenn man anerkennt, dass jede Gesichtswahrnehmung das Product mehrerer, von einander verschiedener, jedoch in gesetzm\u00e4\u00dfiger Weise mit einander verbundener Empfindungsfactoren sei, da es in der That kaum eine Gesichtswahrnehmung gibt, bei deren Entstehung nicht mindestens der optische Apparat und der Bewegungsapparat des Auges verm\u00f6ge der Beziehungen der sensorischen und motorischen Innervation Zusammenwirken.\nHiernach k\u00f6nnen es wesentlich verschiedene Fragestellungen sein, die zu einer \u00bbLocalzeichentheorie\u00ab Anlass geben. Die Frage, durch die Lotze zu der seinigen gef\u00fchrt wurde, war wesentlich eine metaphysische. Sie lautete: Ist es denkbar, dass ein hypothetisches Seelenwesen in uns unmittelbar und ohne weitere H\u00fclfsmittel die Bilder auf der Netzhaut extensiv wahrnehme? Oder ist dies nicht denkbar, und muss ich deshalb der Seele H\u00fclfsmittel zur Verf\u00fcgung stellen, mittelst deren sie das Intensive in ein Extensives verwandle? Da er die erste dieser Fragen im allgemeinen verneinte, so ergab sich ihm ein \u00bbSystem von Localzeichen\u00ab als dasjenige hypothetische H\u00fclfsmittel, welches zur Umwandlung der intensiven Empfindung in eine extensive Vorstellung verhelfe. Die L\u00f6sung des Problems der Eaum-anschauung wurde dabei ausdr\u00fccklich abgelehnt. Dass die Seele den Localzeichen eine extensive Bedeutung beilegt, geschieht verm\u00f6ge einer ihr eingeborenen F\u00e4higkeit. Die Localzeichen selbst sind Nervenprocesse, specifisch verschieden f\u00fcr die verschiedenen Punkte einer mit r\u00e4umlicher Wahrnehmung begabten Sinnesfl\u00e4che. An und f\u00fcr sich k\u00f6nnen aber diese Nervenprocesse auch nur intensive Empfindungen hervorbringen. Dass die Seele sie trotzdem nicht blo\u00df\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nW. Wundt.\nintensiv verschmilzt wie einen Zusammenhang von T\u00f6nen, sondern extensiv ordnet, haben wir als eine nicht weiter zu erkl\u00e4rende That-sache hinzunehmen1).\nDie Frage, die vom empirischen Standpunkte aus zur Aufstellung von Localzeichentheorien gef\u00fchrt hat, lautet dagegen: Steht die Annahme extensiver Netzhautempfindungen mit der Erfahrung im Einklang? \u2014 und, wenn dies nicht der Pall ist, welche weiteren Fac-toren m\u00fcssen gem\u00e4\u00df der Beobachtung zu den Netzhautempfindungen hinzutreten, damit diese auf bestimmte Punkte im Baum bezogen werden? Hier bleibt also die hypothetische \u00bbSeele\u00ab vollst\u00e4ndig aus dem Spiel, und ob es denkbar sei oder nicht, dass unsere Haut- und Netzhautempfindungen neben ihrer Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t unmittelbar auch noch die Extensit\u00e4t als eine dritte Eigenschaft besitzen, bleibt vorerst ganz dahingestellt.\n2. Die Muskelempfindungen des Auges als Localzeichen.\nAlle Thatsachen, die wir bei der Analyse der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen kennen lernten, vereinigen sich nun zu dem Schl\u00fcsse, dass das Netzhautbild allein nicht gen\u00fcgt, um die Beschaffenheit unserer r\u00e4umlichen 'Wahrnehmungen daraus abzuleiten. In der That sieht sich aber auch schon die nativistische Theorie gen\u00f6thigt, neben den binocularen Netzhautbildem noch andere Motive herbeizuziehen2). Da, wie bemerkt, das Auge ebensowohl Bewegungsorgan wie optischer Apparat ist, so w\u00fcrde es demnach offenbar, wenn man auf die Baumempfindung der Netzhaut verzichtet, das n\u00e4chsthegende sein, dieselbe an die Bewegungen des Auges oder, um der K\u00fcrze halber den hierf\u00fcr oft gebrauchten Ausdruck beizubehalten, an die \u00bbMuskelempfindungen\u00ab gebunden zu denken. Dies, in Verbindung mit dem\n1)\tLotze, Medicinische Psychologie. 1852. S. 325ff. Eine belehrende Darlegung der philosophischen Motive der Theorie enth\u00e4lt namentlich Lotze\u2019s letzte Abhandlung \u00fcber den Gegenstand, Revue philosophique, TV. 1877. S. 345. Eine kritische, im franz\u00f6sischen Texte leider durch zahlreiche Druckfehler entstellte Besprechung dieser Abhandlung habe ich in derselben Zeitschrift \"VT, 1878. S. 217, ver\u00f6ffentlicht. Die obigen Ausf\u00fchrungen schlie\u00dfen sich zum Theil an diese Kritik an.\n2)\tSiehe oben S. 83.","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n101\nStreben, eine Beziehung zu den analogen Functionen des Tastorgans herzustellen, ist der Gedankengang, der zu den Hypothesen von Steinbuch, A. Bain u. A. gef\u00fchrt hat. Dass diese Hypothesen in ihrer urspr\u00fcnglichen Gestalt nicht mehr aufrecht erhalten werden k\u00f6nnen, ist jedoch augenf\u00e4llig, da wir, wie die Sehversuche beim elektrischen Funken oder am Tachistoskop lehren, auch bei ruhendem Auge r\u00e4umliche Wahrnehmungen vollziehen k\u00f6nnen. Man musste sich also mit der blo\u00dfen \u00bbTendenz zur Bewegung\u00ab begn\u00fcgen. Nun darf man ja annehmen, dass irgend ein auf die Seitentheile der Netzhaut einwirkender Reiz einen Bewegungsantrieb erzeugt, der dahin gerichtet ist, den Reiz auf den Centralpunkt des Sehens \u00fcberzuf\u00fchren. Eine derartige Tendenz k\u00f6nnte, auch wenn sie, compensirt durch andere, in entgegengesetzter Richtung wirkende Energien, nicht zur actuellen Bewegung f\u00fchrt, doch m\u00f6glicherweise von einer Empfindung begleitet sein, der unser Bewusstsein einen extensiven Werth beilegte. Damit ist man hinsichtlich der n\u00e4heren Beschaffenheit der Localzeichen bei derjenigen Hypothese angelangt, die Lotze f\u00fcr das Localzeichensystem des Auges angedeutet hat1).\nAber sobald man diese Hypothese als eine solche betrachtet, welche die in der Beobachtung sich darbietenden Einfl\u00fcsse zur Geltung bringen soll, so treten ihr mannigfache Schwierigkeiten entgegen. Zun\u00e4chst ist es misslich, \u00fcber die Eigenschaften der \u00bbMuskelempfindungen\u00ab an und f\u00fcr sich, wie sie unabh\u00e4ngig von irgend welchen begleitenden Sinnesempfindungen sind, eine Aussage zu machen. Mag uns auch vielleicht die Beobachtung zu lehren scheinen, dass sie von einf\u00f6rmiger Qualit\u00e4t und nur nach ihrer Intensit\u00e4t einer gewissen Gradabstufung f\u00e4hig seien, \u2014 davon, ob sie au\u00dferdem die extensive Eigenschaft besitzen, kann uns die Erfahrung niemals unterrichten, weil sie niemals isolirt Vorkommen. Die Vergleichung activer und passiver Bewegungen hilft in dieser Beziehung nichts, da es durch sie nur m\u00f6glich wird, den Einfluss des Willens zu eliminiren. Denn daraus, dass bei den passiven Bewegungen die r\u00e4umliche Auffassung der Lage\u00e4nderung erhalten bleibt, darf man wohl schlie\u00dfen, dass der Wille den ihm manchmal zugeschriebenen Einfluss auf die Localisation vermuthlich nicht hat2). Weiteres zu folgern w\u00fcrde aber kaum\n1) Lotze, Med. Psychologie. S. 355 ff.\n2) Yergl. oben S. 23, 48.","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nW. Wundt.\nzul\u00e4ssig sein. Denn was uns in Wahrheit die Beobachtung) allein lehrt, ist eben dieses, dass die Verbindung der Bewegung der Sinnesorgane mit den eigenth\u00fcmlichen Sinnesempfindungen der letzteren, also der Bewegungen des Auges mit den Netzhautempfindungen, die extensive Vorstellung vermittelt.\nImmerhin m\u00f6chte man jene Hypothese von der Localzeichennatur der Bewegungsantriebe des Auges noch gelten lassen, wenn sie nicht gen\u00f6thigt w\u00e4re, sich mit einer H\u00fclfshyp\u00f6these zu verbinden, die dem Verst\u00e4ndniss ernstliche Schwierigkeiten bereitet. Nicht blo\u00df an die Bewegung, sondern schon an das blo\u00dfe Streben sie auszuf\u00fchren sollen die extensiven Werthe gebunden sein. Dieses Streben, irgend einen seitlichen Punkt auf die Mitte der Netzhaut einzustellen, soll sich aber f\u00fcr einen solchen Punkt als eine extensive Empfindung bezogen auf den Mittelpunkt geltend machen. Irgend ein fl\u00e4chenhaftes Bild w\u00fcrde also von einer ungeheueren Summe von Bewegungstendenzen begleitet sein, durch deren Gesammtheit erst die subjective Recon-struction des Bildes erm\u00f6glicht w\u00fcrde. Nun macht es allerdings, wie wir sahen, die Beobachtung durchaus wahrscheinlich, dass ein Reflexmechanismus existire, durch den eine Einstellung der Centralgrube auf intensivere Lichteindr\u00fccke, die im Sehhereich auftreten, erfolgt1). Dass aber das Auge nicht blo\u00df auf relativ starke Lichteindr\u00fccke, f\u00fcr die allein der Nachweis zu f\u00fchren ist, sondern selbst auf dunkle Punkte und hei v\u00f6llig gleichf\u00f6rmigem Sehfelde, wie nach dieser Theorie angenommen werden m\u00fcsste, sich einzustellen strebe, und dass endlich eine ungeheuere Summe solcher in extensive Empfindungen umgesetzter Bewegungstriebe in unserem Bewusstsein vorhanden sei, \u2014 alles dies sind unbewiesene und unbeweisbare Hypothesen. Auch hat der Vorgang, der hier postulirt wird, in dem ganzen Gebiet psychologischer Erfahrungen kaum eine ihn irgendwie unterst\u00fctzende Analogie.\n3. Die Netzhautempfindungen als Localzeichen.\nVersagen auf diese Weise die Bewegungsempfindungen und Bewegungstendenzen ihre Dienste, so liegt es nun aber nahe genug, den Localzeichen da ihre Stelle anzuweisen, wo die Physiologie des Sehens\n1) Vergl. oben S. 25 f.","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\t103\nl\u00e4ngst die Entstehung der Gesichtswahrnehmungen gesucht hat: in der Netzhaut selbst. Wenn jedem Netzhautpunkt ein Localzeichen beigegehen ist, das f\u00fcr alle Punkte, seihst f\u00fcr correspondirende beider Augen, verschieden angenommen wird, so wird sich das Netzhauthild unmittelbar mittelst dieser Localzeichen in seiner r\u00e4umlichen Beschaffenheit zu erkennen geben. Nur die Auffassung der Sehrichtung ist dadurch noch nicht bestimmt. Es wird also nothwendig, f\u00fcr sie noch Muskelempfindungen in Anspruch zu nehmen, welche demnach, da sie ebenfalls die Bedeutung von Zeichen haben, die auf r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse hinweisen, als eine zweite Classe von Localzeichen angesehen werden k\u00f6nnen, wenn sie auch nicht so genannt werden. Damit sind wir hei demjenigen \u00bbLocalzeichensystem\u00ab angelangt, dessen sich die empiristische Theorie in der ihr von Helmholtz gegebenen Gestalt bedient.\nDiese Hypothese leidet jedoch nicht blo\u00df an dem Uebelstand, dass sie zwei eng an einander gebundene Factoren der Baumanschauung, extensive Ordnung und Bichtungsbestimmung, wie zwei v\u00f6llig getrennte Functionen behandelt, sie bleibt auch hei den zwei Classen von Localzeichen, die sie annimmt, den Nachweis f\u00fcr ihre Behauptung schuldig, dass jedes Localzeichen urspr\u00fcnglich eine blo\u00dfe Qualit\u00e4t sei und erst durch Erfahrung seine r\u00e4umliche Bedeutung empfange. So ger\u00e4th die Theorie in eine unhaltbare Lage. Entweder muss sie beiden Arten von Localzeichen einen urspr\u00fcnglichen r\u00e4umlichen Werth zuschreiben: dann tritt sie seihst zu der von ihr bek\u00e4mpften nativistischen Theorie \u00fcber, und die von dieser nicht \u00fcberwundenen Schwierigkeiten, aus den angenommenen urspr\u00fcnglichen Baumempfindungen die empirische Wahrnehmung abzuleiten, die alle jene Empfindungen zu variaheln, fortw\u00e4hrend von wechselnden Erfahrungseinfl\u00fcssen bestimmbaren Gr\u00f6\u00dfen macht, erneuern sich auch bei ihr. Oder sie muss auf den Tastsinn zur\u00fcckgreifen, dessen zuvor ausgehildete Wahrnehmungen die Localisation der Lichtempfindungen vermitteln sollen, eine Ausflucht die nicht nur das Problem als solches ungel\u00f6st l\u00e4sst, sondern auch, f\u00fcr den Menschen wenigstens, der Erfahrung widerspricht1).\n1) Vergl. oben S. 93.","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nW. Wundt.\n4. Allgemeine Voraussetzungen der Theorie der complexen\nLocalzeichen.\nDiesen Schwierigkeiten entgeht die \u00bbTheorie der complexen Localzeichen\u00ab von vornherein dadurch, dass sie zun\u00e4chst die Frage, ob angeboren oder empirisch erworben, v\u00f6llig auf sich beruhen l\u00e4sst, oder, wenn man will, gleichzeitig gegen den Nativismus und gegen den Empirismus entscheidet. Denn indem sie jede r\u00e4umliche Wahrnehmung auf Associationsvorg\u00e4nge zur\u00fcckf\u00fchrt, die durch Empfindungseindr\u00fccke entstehen, betrachtet sie die Wahrnehmung einerseits als ein Entwicklungsproduct, nicht als ein angeborenes Besitzthum, anderseits aber zugleich als einen Inhalt des Bewusstseins, der dem, was wir dem gel\u00e4ufigen Begriffe nach Erfahrung nennen, vorausgeht, weil er \u00fcberhaupt erst Erfahrung m\u00f6glich macht.\nSodann bringt die Theorie der complexen Localzeichen unmittelbar die Thatsache zum Ausdruck, dass das Sehorgan Empfindungs- und Bewegungsorgan zugleich ist, indem sie die Gesichtswahrnehmung durchaus als ein gemeinsames Product dieser beiden Functionsrichtungen betrachtet. Indem sie aber das thut, wird sie zugleich der schlimmen Alternative der empiristischen Theorie enthoben, entweder die Localzeichen selbst als Raumempfindungen zu deuten, oder ihre Leistung hypothetisch der eines andern, mit seiner ganzen Anschauungsform bereits als gegeben vorausgesetzten Sinnes aufb\u00fcrden zu m\u00fcssen.\nIndem die Theorie der complexen Localzeichen einerseits qualitative Unterschiede der Netzhautempfindungen, die vom Ort des Eindrucks abh\u00e4ngen, und anderseits intensive Gradabstufungen der die Bewegungen und Stellungen des Auges begleitenden Spannungsempfindungen voraussetzt, die beide in Folge der Reflexbeziehungen zum Netzhautcentrum in gesetzm\u00e4\u00dfigen Verbindungen mit einander stehen, kann sie endlich ohne Schwierigkeit \u00fcber die Thatsache Rechenschaft geben, dass die urspr\u00fcnglich mittelst des bewegten Auges erworbenen Vorstellungen auch f\u00fcr das ruhende bestehen bleiben, und dass, wie zahlreiche Erfahrungen lehren, die Wirkungen des Bewegungsmechanismus auch noch bei starr fixirendem B\u00fcck zu erkennen sind. Denn auch hier ordnen sich die Verbindungen der Netzhautlocalzeichen und der Spannungsempfindungen unter die bekannten","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n105\nF\u00e4lle psychologischer Association. Der Reflexverbindung zwischen Netzhautreizung und Augenbewegung bedarf man aber in nicht weiterem Umfange, als sie wirklich in der Beobachtung nachweisbar ist, da sich die auf diesem Reflexmechanismus beruhende Beziehung zum Netzhautcentrum, nachdem sie erst einmal durch einzelne Reflexwirkungen entstanden ist, durch Association befestigen und so vor allen andern m\u00f6glichen Beziehungen zwischen den Gliedern beider Localzeichensysteme den Vorrang gewinnen muss.\nAuf diese Weise bringt die Theorie der complexen Localzeichen im allgemeinen nur die Erfahrung, dass extensive Wahrnehmungen stets durch das Zusammenwirken von Bewegungen mit Sinnesempfindungen entstehen, zu einem theoretischen Ausdruck, w\u00e4hrend sie zugleich der in die mannigfachsten Schwierigkeiten und Widerspr\u00fcche verwickelnden Nothwendigkeit entgeht, irgend einem jener Factoren allein, sei es den Sinnesempfindungen, sei es den Spannungsempfindungen, schon die extensive Eigenschaft zuschreiben zu m\u00fcssen.\n5. Empirische Grundlagen f\u00fcr die Annahme complexer Localzeichen.\nDagegen erhebt sich die Frage, ob die in dieser Theorie vorausgesetzten verschiedenen Localzeichen wirklich als qualitative Empfindungsinhalte nachzuweisen, oder ob sie blo\u00df hypothetisch angenommen seien. Hinsichtlich der \u00bbSpannungs-\u00ab oder \u00bbinneren Tastempfindungen\u00ab des Augapfels ist die Frage bereits hei Gelegenheit der \u00bbConvergenzversuche\u00ab er\u00f6rtert worden1). Als Resultat der dort angestellten Erw\u00e4gungen ergab sich, dass die bei starker Ablenkung der Gesichtslinie unmittelbar subjectiv wahrzunehmenden Empfindungen nach dem Ergehniss der Oonvergenzversuche in geringer Intensit\u00e4t hei sehr kleinen Bewegungen schon vorauszusetzen seien. Dass es sich aber hierbei nicht um eine blo\u00dfe Wahrnehmung von Willensimpulsen, sondern um eine solche von Empfindungen handle, wurde schon durch die Ergebnisse der Versuche \u00fcber passive Gelenkbewegungen wahrscheinlich gemacht und sodann vor allem durch die\n1) Vergl. oben S. 22 ff.","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nW. Wundt.\nBeobachtungen bei den \u00bbumkehrbaren geometrisch-optischen T\u00e4uschungen\u00ab auch f\u00fcr den Gesichtssinn zur Gewissheit erhoben1).\nUnsicherer steht es mit den angenommenen qualitativen Localzeichen der Netzhaut. Zwar sind bekanntlich in gr\u00f6\u00dferen Abst\u00e4nden locale Unterschiede der Netzhautempfindungen nachzuweisen. Aber da sich in diesem Fall R\u00fcckschl\u00fcsse aus anderweitigen Erfahrungen auf minimale Unterschiede nicht machen lassen, so kann man zweifeln, ob jene Unterschiede im Sinne unserer Hypothese zu verwerten seien. Immerhin kann die Verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfige Geringf\u00fcgigkeit dieser localen Unterschiede, sowie der Umstand, dass sie nur bei der Einwirkung gewisser Farbeneindr\u00fccke nachweisbar sind, an und f\u00fcr sich keinen Einwand gegen eine solche Verwertung begr\u00fcnden. Denn wir m\u00fcssen ja offenbar auch hier, \u00e4hnlich wie bei der Unterscheidung sehr kleiner Bewegungen, die Thatsache mit in Rechnung bringen, dass kleine Unterschiede der Empfindung nicht unmittelbar als solche, sondern erst durch die an sie gebundenen Beziehungen der Wahrnehmung einen Werth f\u00fcr unser Bewusstsein gewinnen. Eine derartige weitere Beziehung ist aber in diesem Falle die der Localisation. Darum entgehen uns gew\u00f6hnlich selbst solche qualitative Unterschiede, die verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig bedeutend und leicht nachzuweisen sind. Wenn wir eine gleichf\u00f6rmig gef\u00e4rbte Fl\u00e4che betrachten, so erscheint sie uns bekanntlich in allen ihren Theilen gleichf\u00f6rmig gef\u00e4rbt; erst wenn wir getrennte Objecte von gleicher Beschaffenheit im directen und indirecten Sehen sorgf\u00e4ltig vergleichen, \u00fcberzeugen wir uns von der verschiedenen qualitativen F\u00e4rbung der Empfindungen.\nWenn nach allem dem die Annahme, welche die extensive Vorstellung erst aus dem Zusammenwirken der Spannungsempfindungen des Auges und der Sinnesempfindungen der Netzhaut hervorgehen l\u00e4sst, sich nicht nur am unmittelbarsten an die Erfahrung anschlie\u00dft, sondern auch keine absolut unerweisbaren H\u00fclfsannahmen n\u00f6thig macht, so tritt nun dazu noch als ein wesentliches Moment, dass auch im Einzelnen Widerspr\u00fcche, in die sich die Systeme der einfachen Localzeichen fortw\u00e4hrend verwickeln, hier nicht vorhanden sind.\n1) Vergl. oben S. 47 ff.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\t107\nW\u00e4ren es z. B., wie Lotze annimmt, die \u00bbBewegungstendenzen\u00ab, durch die sich auch f\u00fcr das ruhende Auge die Verh\u00e4ltnisse des Sehfeldes befestigen, so k\u00f6nnten zwischen den Wahrnehmungen, die wir bei bewegtem, und jenen, die wir bei festgehaltenem Blick bilden, niemals Unterschiede eintreten. In Wahrheit sind aber solche, wie wir sahen, bei zahlreichen T\u00e4uschungen des Augenma\u00dfes deutlich nachzuweisen, indem entweder gewisse T\u00e4uschungen nur bei starrer Fixation auftreten, wie die constante T\u00e4uschung \u00fcber die Richtungs-linien im indirecten Sehen, oder indem umgekehrt die bei der Bewegung des Auges hervortretenden Strecken- und Richtungst\u00e4uschungen bei der Fixation sich vermindern, weil sie durch die perspectivische Anpassung an die Verh\u00e4ltnisse des Netzhautbildes compensirt werden, wie wir dies allgemein bei den variabeln T\u00e4uschungen beobachtet habenl). Da ein Streben nach Bewegung doch immer nur ein Streben nach einer solchen Bewegung sein kann, wie sie wirklich ausgef\u00fchrt wird, so bleibt es f\u00fcr diejenige Hypothese, die der Bewegungstendenz selbst schon die extensive Eigenschaft beilegt, vollkommen unverst\u00e4ndlich, wie sich \u00fcberhaupt solche Unterschiede zwischen den Auffassungen des bewegten und des ruhenden Auges bilden k\u00f6nnen. Dagegen werden alle diese Erscheinungen leicht erkl\u00e4rlich, wenn wir annehmen, dass sich die extensiven Vorstellungen f\u00fcr das ruhende Auge durch Localzeichen fixiren, die an die Netzhautempfindungen selber gebunden sind. Unter dieser Voraussetzung muss n\u00e4mlich in Folge der Uebung des Sinnesorgans das unmittelbare Lageverh\u00e4ltniss der Netzhautpunkte seihst einen Einfluss gewinnen, der sich nun namentlich hei starr fixirendem Blick wegen der genaueren simultanen Vergleichung gleicher Netzhautstrecken geltend macht, so dass bei dieser das \u00bbNetzhautbild\u00ab und das, was wir oben das \u00bbBewegungsbild\u00ab des Auges genannt haben, auf das genaueste mit einander in Einklang gebracht sind.\nEbenso sind diese Thatsachen mit der von der empiristischen Theorie vertretenen Ansicht unvereinbar, dass sowohl die Bewegungen wie die in der Netzhaut fixirten Localzeichen unabh\u00e4ngig von einander extensive Vorstellungen vermitteln k\u00f6nnten. Denn w\u00e4re dies richtig, so m\u00fcsste man erwarten, dass diejenigen T\u00e4uschungen, die\n1) Vergl. oben S. 61 ff.","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nW. Wundt.\nvon den Bewegungsgesetzen herr\u00fchren, regelm\u00e4\u00dfig verschw\u00e4nden, wenn die Bewegung ausgeschlossen ist, und dass sie bei momentaner Beleuchtung ebenso leicht verschw\u00e4nden, wie hei lange anhaltender Fixation. Der Umstand, dass dies nicht zutrifft, sondern dass im Gegentheil gerade bei starr fixirendem Blick die Einfl\u00fcsse des Netzhautbildes und der Bewegungen des Auges in ihrer combinirten Wirkung am deutlichsten zu erkennen sind, scheint mir zwingend darauf hinzuweisen, dass die extensive Vorstellung eine Function ist, welche aus der associativen Synthese von Spannungsempfindungen und Localzeichen hervorgeht, wobei f\u00fcr das ruhende Auge die Spannungsempfindungen blo\u00df als reproducirte Elemente in das Product eingehen. Die M\u00f6glichkeit, dass hei starrer Fixation perspectivische Ver\u00e4nderungen gegen\u00fcber den Auffassungen des bewegten Auges, wenn auch nur dem Grade nach, eintreten, erkl\u00e4rt sich dann aus der hinzutretenden Association mit den Elementen fr\u00fcherer Vorstellungen, die durch den Eindruck wachgerufen werden.\nNicht alle geometrisch-optischen T\u00e4uschungen, die in den Bewegungsgesetzen des Auges ihren Grund haben, werden jedoch hei starrer Fixation durch perspectivische Vorstellungen compensirt. In diesen F\u00e4llen zeigt es sich nun regelm\u00e4\u00dfig, dass verm\u00f6ge der obwaltenden Bedingungen die Bewegungsgesetze des Auges seihst an der festen Ordnung der Localzeichen betheiligt sein m\u00fcssen. Ehen deshalb lie\u00dfen sich gerade diese T\u00e4uschungen von den variabeln als constante T\u00e4uschungen unterscheiden. Die Bedingung zur Entstehung der letzteren ist offenbar die, dass das \u00bbBewegungsbild\u00ab und das \u00bbNetzhautbild\u00ab niemals mit einander in Widerstreit gerathen k\u00f6nnen. So ist es z. B. eine constante T\u00e4uschung, wenn wir bei monocularer Beobachtung die Lage einer verticalen Linie unrichtig bestimmen. Diese Abweichung entspricht aber, wie wir fr\u00fcher (S. 71) gesehen haben, der ungezwungenen Bewegungsrichtung des Auges hei der Auf- und Abw\u00e4rtsbewegung. In allen Wahrnehmungen, die das bewegte Auge ausf\u00fchrt, sind nun in Folge dieser Abweichung seiner Bewegungsrichtung von der Verticalen die Localzeichen b', c', d'\n. . ., die in einem zur Verticalen geneigten Netzhautmeridian liegen, auf die verticale Richtung bezogen worden: es liegt daher kein Grund vor, warum bei festgehaltenem Auge an die Stelle jener Reihe eine andere a, b, c, d . . . treten sollte, welche Punkten der wirklichen","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahmehmungen.\n109\nVerticalen entspricht. Aus fr\u00fcheren Wahrnehmungen wird hier immer nur die erste Reihe als diejenige der verticalen Bewegungsrichtung reproducirt: es sind also alle Bedingungen zur Entstehung einer constanten T\u00e4uschung gegeben. Aehnlich verh\u00e4lt es sich hei den andern constanten T\u00e4uschungen.\n6. Psychologischer Charakter der r\u00e4umlichen Wahrnehmungsassociationen.\nD\u00fcrfen wir hiernach die Hypothese der complexen Localzeichen als diejenige betrachten, die am unmittelbarsten \u00fcber die Erscheinungen Rechenschaft gibt, so erhebt sich aber nun eine weitere Frage. L\u00e4sst es sich irgendwie verst\u00e4ndlich machen, dass aus einer Verbindung verschiedenartiger Empfindungselemente eine Vorstellung hervorgeht, die in jedem der Elemente, so lange es isolirt bleibt, noch nicht enthalten ist? Auf den zuweilen gemachten Einwand, was in der Verbindung der Elemente enthalten sei, das m\u00fcsse noth-wendig auch in irgend einem derselben schon Vorkommen, ist hier vom empirischen Standpunkte aus offenbar gar kein Gewicht zu legen; denn dar\u00fcber, ob dies wirklich zutrifft, kann nicht ein a priori gef\u00e4lltes Verdict, sondern nur die Erfahrung selber entscheiden. Diese lehrt uns aber gerade, dass 1) extensive Vorstellungen immer nur Vorkommen, wo Sinnesempfindungen und Bewegungen zusammengewirkt haben, und dass 2) speciell beim Auge der Versuch, einem dieser Elemente allein die extensive Eigenschaft zuzuschreiben, in Widerspr\u00fcche mit der Erfahrung verwickelt. Auf das Gleichniss, dass man aus lauter Nullen keine reelle Gr\u00f6\u00dfe gewinnen k\u00f6nne, l\u00e4sst sich hier mit dem andern Gleichniss antworten, dass solchen Functionen, deren einzelne Elemente lauter Nullen sind, z. B. # oder 0\u00b0, gleichwohl reelle Werthe entsprechen k\u00f6nnen. Uebrigens handelt es sich auch gar nicht darum, den Raum aus dem Nichts hervorgehen zu lassen, sondern einzig und allein darum, ob in dem Zusammenwirken von inneren Tastempfindungen des Auges und Localzeichen der Netzhaut Motive einer extensiven Ordnung enthalten sind, die in jedem dieser Elemente f\u00fcr sich noch nicht Vorkommen. Die Grundvoraussetzung ist also hier keine andere, als hei den Theorien, die sich des Begriffs der einfachen Localzeichen bedienen. In beiden","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nW. Wundt.\nF\u00e4llen sucht man nach Motiven f\u00fcr die extensive Ordnung der Empfindungen. Die Theorie der einfachen Localzeichen in ihren beiden Gestaltungen, der metaphysischen und der empiristischen, findet hierzu ein einziges System von Empfindungen gen\u00fcgend. Denn bei der metaphysischen Form dieser Theorie sollen die Localzeichen \u00fcberhaupt nur Symbole sein, die der an sich unr\u00e4umlichen Seele eine extensive r\u00e4umliche Ordnung vorstellbar machen; hier gen\u00fcgt es nat\u00fcrlich, irgend einer einzelnen Art von Empfindungen diese symbolische Bedeutung zuzuweisen. Die empiristische Form der Theorie dagegen setzt r\u00e4umliche Vorstellungen ausdr\u00fccklich oder stillschweigend als gegeben voraus, das erstere, wenn sie eine urspr\u00fcnglichere Localisation durch den Tastsinn annimmt; das letztere, wenn sie von dem Begriff einer a priori in uns liegenden Causalbeziehung zwischen der Empfindung und ihrem \u00e4u\u00dferen Gegenst\u00e4nde ausgeht. Auch in diesen beiden F\u00e4llen entspricht das einfache Localzeichensystem den gemachten Voraussetzungen. Wo etwa die Erfahrung auf verschiedene Empfindungssubstrate hinweist, da betrachtet man daher diese nicht als irgendwie innerlich verbundene, sondern als \u00e4u\u00dferlich und zuf\u00e4llig coexistirende H\u00fclfsmittel.\nDie Theorie der complexen Localzeichen nimmt, einen hiervon wesentlich verschiedenen Standpunkt ein. Ob die Seele selbst unr\u00e4umlich oder r\u00e4umlich sei, l\u00e4sst sie v\u00f6llig dahingestellt: von einer symbolischen Bedeutung der Localzeichen kann sie daher keinen Gebrauch machen. Anderseits muss sie es aber aus Gr\u00fcnden der Erfahrung ablehnen, den Ursprung der r\u00e4umlichen Ordnung dem Tastsinn oder einer angeborenen Causalfunction zuzuweisen. Vielmehr betrachtet sie es lediglich als ihre Aufgabe, die empirisch nachweisbaren Motive der Localisationen des Gesichtssinns in ihre Empfindungselemente zu zerlegen und \u00fcber die gesetzm\u00e4\u00dfigen Beziehungen und Verbindungen dieser Elemente diejenigen Voraussetzungen zu machen, die theils durch die thats\u00e4chlich nachweisbaren Functionsverh\u00e4ltnisse des Sehorgans, theils durch die sonstigen Erscheinungen associativer Verbindungen und Verschmelzungen nahe gelegt werden. Demnach benutzt diese Theorie die zwei Empfindungssysteme, deren gleichzeitiger Einfluss auf die r\u00e4umlichen Ge-sichtswahmehmungen aus zahlreichen Erscheinungen hervorgeht, und sie sucht diese Erscheinungen theils den allgemeinen Associations-","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Ill\nZur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahruehmungen.\ngesetzen unterzuordnen, theils aber auch das psychologische Studium dieser Gesetze durch diese unter ihrer F\u00fchrung unternommene Analyse der Wahrnehmungsprocesse zu erg\u00e4nzen.\n7. N\u00e4here Ausf\u00fchrung der Theorie der complexen Localzeichen.\nWenn wir uns den Einfluss, den die Componenten einer extensiven Vorstellung auf einander aus\u00fchen, dadurch zu verdeutlichen suchen, dass wir zun\u00e4chst f\u00fcr jede dieser Componenten und dann f\u00fcr die resultirende Vorstellung seihst ihren allgemeinen mathematischen Begriff einf\u00fchren, so wird dadurch hoffentlich nicht das Missverst\u00e4ndnis erweckt werden, als solle in den psychologischen Vorgang ein Operiren mit ahstracten Begriffen verlegt werden. Wir bedienen uns hier vielmehr der n\u00e4mlichen geometrischen Versinnlichungsweise, wie man sie, ohne auf Widerspruch zu sto\u00dfen, anwendet, um z. B. das System der Farben- und Lichtempfindungen oder der Tonempfindungen darzustellen. Wenn es gestattet ist, ein einzelnes Empfindungssystem in eine geometrische Form oder, allgemeiner ausgedr\u00fcckt, in die Form einer extensiven Mannigfaltigkeit zu \u00fcbertragen, so muss es offenbar auch erlaubt sein, zu erw\u00e4gen, wie sich zwei Empfindungssysteme, beziehungsweise deren extensive Mannigfaltigkeiten, die, wie uns die Erfahrung lehrt, bei einem bestimmten Vorgang in gesetzm\u00e4\u00dfiger Weise Zusammenwirken, zu einander verhalten, falls wir sie uns in eine geometrische Form \u00fcbertragen denken.\nNun m\u00fcssen die Localzeichen der Netzhaut als eine Mannigfaltigkeit von zwei Dimensionen, analog dem System der Farben, angesehen werden, wenn man sich \u00fcber die Fixirung der hei der Bewegung gewonnenen Wahrnehmungen mittelst derselben Rechenschaft gehen will. Dagegen lassen die Spannungsempfindungen des Auges nicht oder h\u00f6chstens in sehr unbestimmter Weise eine qualitative Mannigfaltigkeit unterscheiden; wohl aber gibt sich hei ihnen eine sehr genaue intensive Abstufung \u2014 je nach dem Umfang der Bewegung \u2014 zu erkennen. Wir werden sie hiernach als eine Mannigfaltigkeit von einer Dimension betrachten d\u00fcrfen. Jede fl\u00e4chenhafte Raumwahmehmung ist aber wiederum eine Mannigfaltigkeit von zwei Dimensionen, die sich jedoch von dem System der Localzeichen","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nW. Wundt.\ndadurch unterscheidet, dass die beiden Dimensionen einander qualitativ gleich oder mit einander vertauschbar sind. Folglich k\u00f6nnen wir uns das Zusammenwirken der Netzhautempfindungen und der Spannungsempfindungen folgenderma\u00dfen denken: die Localzeichen der Netzhaut werden, obgleich sie eine Mannigfaltigkeit von zwei ungleichartigen Dimensionen sind, dennoch geeignet, die Vorstellung einer Mannigfaltigkeit von zwei gleichartigen Dimensionen zu vermitteln, da sie sich mit dem gleichartigen Continuum der Spannungsempfindungen verbinden; und die Spannungsempfindungen werden, obgleich sie nur eine Mannigfaltigkeit von einer Dimension sind, bef\u00e4higt, die Vorstellung eines Continuums von zwei Dimensionen zu erzeugen, da sie mit dem zweidimensionalen Continuum der Localzeichen der Netzhaut verschmelzen. Nimmt man nun an, dass die Gesetze der associativen Verbindung und Verschmelzung, auf welche \u00fcberall die psychologische Erfahrung hinweist, auch f\u00fcr die urspr\u00fcngliche Ordnung der Empfindungen gelten, so l\u00e4sst sich jener doppelseitige Einfluss in die Formel fassen: indem die Spannungsempfindungen des Auges, ein Continuum von einer Dimension bildend, mit dem zweidimensionalen, aber ungleichartigen Continuum der Netzhautlocalzeichen associativ verschmelzen, erzeugen sie ein gleichartiges Continuum von zwei Dimensionen, das hei\u00dft eine Raum-oberfl\u00e4che.\nDass diese letztere Formel hypothetisch ist, soll nicht geleugnet werden. Sie ist aber nur insofern hypothetisch, als sie die Raumanschauung auf eine bestimmte Beziehung des Systems der Spannungsempfindungen zu dem der Localzeichen der Netzhaut zur\u00fcckf\u00fchrt; sie ist es nicht insofern, als sie voraussetzt, in jeder der beiden Componenten, auf die wir zur Erkl\u00e4rung der Gesichtsvorstellungen zur\u00fcckgreifen m\u00fcssen, sei an und f\u00fcr sich das Extensive noch nicht enthalten. Denn sobald wir das letztere annehmen, sobald wir also einer jener beiden Componenten allein schon die r\u00e4umliche Eigenschaft zuschreiben, so verwickeln wir uns in Widerspr\u00fcche mit der Erfahrung. Ich kann darum auch nicht zugeben, dass diese Hypothese in h\u00f6herem Grade einen speculativen Charakter an sich trage, als dies mit irgend einer andern Voraussetzung der Fall ist, zu der man veranlasst wird, um den Zusammenhang empirischer Thatsachen zu erkl\u00e4ren. Sobald man anerkennt, dass die Erfahrung einen","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n113\ngleichzeitigen Einfluss von fixen Localzeichen, die an die Netzhaut gebundeti sein m\u00fcssen, und der Bewegungen des Auges auf die extensive Ordnung der Gesichtseindr\u00fccke beweist, so ist die obige Hypothese oder eine ihr \u00e4hnliche, wie mir scheint, die einzige, die \u00fcber dieses Resultat Rechenschaft zu geben vermag. \u00bbDie Empfindungen k\u00f6nnen der Seele nicht zurufen\u00ab, meint Lotze, \u00bbwelches der Ort ihres Ursprungs sei\u00ab. Man k\u00f6nnte vielleicht mit dem n\u00e4mlichen Rechte sagen: \u00bbDie Seele kann den Empfindungen nicht zurufen, wo sie sich in der Au\u00dfenwelt zu localisiren haben\u00ab. Es handelt sich \u00fcberhaupt nicht darum, zu erw\u00e4gen, welche dieser M\u00f6glichkeiten m\u00f6glicher scheint oder nicht. Wie viel die Empfindungen mithelfen, oder wie viel die Seele mithilft bei der Raumanschauung, davon wissen wir a priori gar nichts, und es bleibt daher nur \u00fcbrig, zu untersuchen, welche Elemente uns die Erfahrung als wirksam nachweist, und dann zu erw\u00e4gen, wie wir diesen empirisch nachgewiesenen Einfl\u00fcssen theoretisch den einfachsten und angemessensten Ausdruck gehen.\nSuchen wir demnach f\u00fcr den Begriff des Systems der complexen Localzeichen einen m\u00f6glichst einfachen symbolischen Ausdruck, so werden wir von der Zerlegbarkeit desselben in zwei einfache Systeme ausgehen m\u00fcssen. Das erste dieser Oomponentensysteme setzen wir als ein in der Netzhaut festes voraus. Denken wir uns daher auf der Netzhaut um das Centrum derselben als Mittelpunkt con-centrische Kreise gezogen, so m\u00f6gen diese festen Localzeichen einer Reihe von Punkten auf einem ersten Kreise mit au a2, a3, \u00ab4 . . ., auf einem zweiten mit \u00dfu \u00df2, \u00df3, \u00df4 . . . bezeichnet werden, u. s. w. Hierbei wird eine stetige Ver\u00e4nderung sowohl von nach \u00dfu yx ... wie von ctx nach a2, a3 u. s. w. vorausgesetzt, so dass s\u00e4mmtliche Localzeichen ein Continuum von zwei Dimensionen bilden. Von dem zweiten System der Localzeichen nehmen wir an, dass es an die Bewegung gebunden, also stetig ver\u00e4nderlich mit der Bewegung sei und sich bei ruhendem Auge nur durch reproductive Elemente geltend mache. Es wird ferner vorausgesetzt, dass sich dieses System nur in einer Richtung ver\u00e4ndere, indem der Bewegung des Netzhautcentrums nach irgend einem Punkt, welcher der Reihe au a2, a3 .. . angeh\u00f6rt, ein Zeichen x,, ebenso der Reihe /?,, \u00df2, \u00dfs, ... ein solches x2 entspreche, u. s. w. Die Localzeichen des zweiten Systems bilden also\nWundt, Philos. Studien. XIV.\tg","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nW. Wundt.\nein Continuum von einer Dimension. Beide Systeme werden aber bezogen auf das Netzhautcentrum, welches die Localzeichen /.i und x besitzen m\u00f6ge, wobei man unter x diejenige Spannungsempfindung verstehen kann, die der jedesmal vorhandenen Stellung des Auges entspricht.\nFindet nun, w\u00e4hrend das Auge in irgend einer Stellung fixirt ist, ein gleichf\u00f6rmig \u00fcber die Netzhaut verbreiteter Lichteindruck r statt, so w\u00fcrde derselbe, wie wir voraussetzen, ohne das Vorhandensein des complexen Localzeichensystems eine gleichf\u00f6rmige Empfindung e verursachen, welche weder localisirt noch in extensiver Form vorgestellt w\u00fcrde. Verm\u00f6ge der Localzeichensysteme aber wird die Empfindung f\u00fcr jeden Punkt der Netzhaut ein complexes Product aus drei Elementen. Der Netzhautmitte entspricht das Product eux, und um die Netzhautmitte bilden die Producte\neaxxx,\tea2x t,\tea3x1,\tea4xx\t...\ne\u00dfxx*L,\te\u00df^x-i,\te\u00df3x2,\te\u00df4x2\t...\tu. s.\tw.\nEmpfindungsreihen, zwischen denen und deren einzelnen Gliedern eine stetige Abstufung der Empfindung stattfindet. Da das Auge fixirt gedacht ist, so wird x in dem Producte etix unmittelbar empfunden,\tw\u00e4hrend\txi, x2,\tx3 ...\tblo\u00df reproductiv in\tdie Producte\te \u00ab, xx,\te\u00dfx xx\t... eingehen.\tSollen\txt,\tx%,\tx3\t...\tun-\nmittelbar empfunden werden, so muss sich das Auge bewegen. Hierbei sind dann aber in ea1xl, e\u00df1(c2 ... die beiden Localzeichenelemente, so lange die Bewegung dauert, stetig ver\u00e4nderlich. Denn wenn der Blickpunkt des Auges am Ende der Bewegung auf denjenigen Punkt eingestellt ist, der vor dem Beginn derselben dem Localzeichen \u00ab, entsprach, so hat w\u00e4hrend der Bewegung das erste Localzeichen alle Werthe von ax bis /.i und das zweite alle Werthe von x bis xt durchlaufen, und in der neu gewonnenen Stellung des Auges entspricht nun der Erregung der Netzhautmitte nicht mehr die Empfindung e/.ix, sondern eiixx. Demnach unterscheiden sich die Localzeichen der Netzhautmitte dadurch, dass alle ihre Elemente, so lange das Auge fixirt bleibt, unmittelbar empfunden werden und dauernd sind, w\u00e4hrend von den \u00fcbrigen die der \u00e6-Beihe angeh\u00f6renden Elemente blo\u00df dann unmittelbar empfunden werden, wenn sich das Auge bewegt, wobei sie sich aber in diesem Falle zugleich stetig w\u00e4hrend der ganzen Dauer der Bewegung ver\u00e4ndern.","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n115\nHieraus ersieht man nun sofort, dass es streng genommen auch f\u00fcr das ruhende Auge ein ungenauer Ausdruck war, wenn wir die Empfindungen seitlich gelegener Netzhautpunkte als Producte aus drei Empfindungselementen hezeichneten. Vielmehr wird auch hier nur das Element e einen eindeutigen Werth haben; dagegen werden mit \u00f6d #1, y\\ \u25a0 \u25a0 \u25a0 und mit xu x2, x3 ... immer zugleich die stetigen Ueber-g\u00e4nge reproducirt werden, die zwischen u und at, \u00dft . . ., zwischen x und xl} x2 ... gelegen sind. Man darf wohl annehmen, dass hierin der psychologische Grund f\u00fcr die extensive r\u00e4umliche Ordnung der Empfindungen zu suchen sei. An jede Bewegung ist zun\u00e4chst eine zeitliche Empfindungsreihe gebunden, welche die stetigen Ueber-g\u00e4nge zwischen einer anf\u00e4nglichen Empfindung x und einer letzten xn des zweiten Systems enth\u00e4lt. Ebenso muss dann aber das mit xn verbundene Localzeichen <pn des ersten Systems alle zwischen p und rpn gelegenen F\u00e4rbungen an, \u00dfn, yn . .. durchlaufen. Nun wird, wenn das Auge eine feste Stellung angenommen hat, die Beihe p, an, \u00dfm yn . . . nicht blo\u00df durch ihr Endglied <pn reproducirt, sondern sie ist \u00fcberdies in den Localzeichen unx{, \u00dfnx2, ynx3 ... in unmittelbarer Empfindung gegeben. Nicht minder m\u00fcssen diese unmittelbar empfundenen Elemente die zweiten Localzeichen xx, x2, x3 . . ., mit denen sie die Complexe anxu \u00dfnx2 ... bilden, reproduciren. Die simultan reproducirte Beihe xu x2, x:t ... geht aber durch stetige Abstufungen in das Endglied xn \u00fcber.\nDie extensive Vorstellung haben wir uns hierbei zun\u00e4chst aus einer gro\u00dfen Zahl punktueller Empfindungen zusammengesetzt gedacht, deren jede durch ihren Localzeichencomplex von der andern unterschieden wird. W\u00e4hrend jede einzelne punktuelle Empfindung mathematisch als eine multiplicative Verbindung von Empfindungselementen zu denken ist, kann aber die Verbindung der einzelnen punktuellen Empfindungen mit einander als eine specielle Form additiver Verkn\u00fcpfung angesehen werden, welche dadurch ausgezeichnet ist, dass ihre einzelnen Glieder nach bestimmten Beihenfolgen geordnet sind, und dass stetige Ueberg\u00e4nge von einem Glied zum andern stattfinden. Aus dieser letzteren Bedingung geht jedoch zugleich hervor, dass sich diese additive Verbindung durch ein blo\u00dfes Addiren der bis dahin betrachteten Empfindungscomplexe noch nicht darstellen l\u00e4sst. Denn die Producte eux, ealx1, ea2xy u. s. w. haben","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nW. Wundt.\nwir als punktuelle Empfindungen betrachtet, die sich in gewissen Intervallen befinden sollten. Eine Summe solcher Producte w\u00fcrde immer nur eine Anzahl von Punkten bedeuten k\u00f6nnen. Nun l\u00e4sst sich eine stetige lineare Strecke von gleichf\u00f6rmiger Richtung nach einer von H. Grassmann eingef\u00fchrten Anschauung als das Product ihrer beiden Endpunkte auffassen1), \u00e4hnlich wie ein Rechteck als das Product der zwei dasselbe als Grundlinie und H\u00f6he begrenzenden geradlinigen Strecken dargestellt werden kann. Das Product e/.ix . e(pnxn ist also \u00e4quivalent der Punktreihe\nefj-x + eanx^ + e\u00dfnx2 + eynxz . . . + e(pnxn\nsammt allen Punkten, die zwischen zwei auf einander folgenden Gliedern dieser Reihe angenommen werden k\u00f6nnen, wenn wir uns alle diese Punkte additiv verbunden denken. Wird die nach einer dazu senkrechten Richtung vom Mittelpunkt des Sehfeldes aus gemessene lineare Strecke durch das Product eux . e<prxn bezeichnet, so stellt nun, wenn wir beide lineare Strecken als sehr klein voraussetzen, e/AX . ecpnxn . e<prxn ein El\u00e4chenelement dar, und eine ausgedehnte extensive Vorstellung wird stets durch eine Summe solcher Producte, also symbolisch durch\ne . ftx . <pnxn . cprxn\nausgedr\u00fcckt werden k\u00f6nnen, wobei das Summenzeichen die Bedeutung hat, dass eine stetige Reihe von Producten von der angegebenen allgemeinen Form additiv verbunden werden soll.\n8. Die Localzeichen der Tiefe und die absolute Orientirung\nim Raume.\nDas entwickelte Localzeichensystem ist zun\u00e4chst ein monocu-lares. Die durchweg aus qualitativ verschiedenen Elementen bestehenden Systeme der Netzhautlocalzeichen beider Augen einerseits und die Synergie der binocularen Augenbewegungen anderseits bewirken nun aber weiterhin, dass sich bei der Function des Doppelauges die monocularen complexen Localzeichenreihen zu noch zusammengesetzteren binocularen Complexreihen verbinden. Indem sich\n1) Yergl. H. Grassmann, Ausdehnungslehre von 1844, 2. Aufl. S. 19.","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\n117\ndiese um die beiden durch die Synergie der Augenbewegungen ebenso wie durch die Anordnung der zwei festen Localzeichensysteme der Netzh\u00e4ute einander zugeordneten Elemente f.ir und ^ der beiden Netzhautcentren gruppiren, bildet sich so ein complexes Localzeichensystem zweiter Ordnung, dessen einzelne Glieder die Bedeutung von Localzeichen der Tiefe gewinnen. Dabei ist f\u00fcr die letzteren das aus dem Gesetz der \u00fcbereinstimmenden H\u00f6henstellung bei den Augenbewegungen entspringende Princip ma\u00dfgebend, dass die Localzeichensysteme beider Augen f\u00fcr gleiche H\u00f6henabst\u00e4nde von der Netzhautmitte constant, f\u00fcr gleiche Breitenabst\u00e4nde aber variabel einander zugeordnet sind. Die Localzeichen der Tiefe lassen sich daher auch als die Producte der beiden monocu-laren Systeme in dem oben angegebenen Sinne geometrischer Multiplication definiren, wobei die Vorzeichen dieser Producte je nach der Richtung der zwischen den beiden monocularen Systemen vorhandenen Breiteverschiebung positiv oder negativ sein k\u00f6nnen. Die Producte selbst lassen jedoch eine einfache und allgemeing\u00fcltige symbolische Darstellung nicht mehr zu, weil sie von Punkt zu Punkt sowohl in Bezug auf ihre Gr\u00f6\u00dfe wie auf ihr Vorzeichen in unendlich mannigfaltiger Weise variiren k\u00f6nnen, aus welcher Variation dann alle die unz\u00e4hligen r\u00e4umlichen Oberfl\u00e4chen hervorgehen, zu deren unmittelbarer Auffassung uns das binoculare stereoskopische Sehen bef\u00e4higt.\nUnbestimmt bleibt bei dieser Betrachtung nur der dem Localzeichensystem der beiden Netzhautmitten m entsprechende Punkt im Raum, der, da alle Tiefenwahrnehmung in Beziehung auf ihn relativ ist, die Bedeutung eines absoluten Orientirungspunktes besitzt. Diese Bedeutung wird jedoch wesentlich eingeschr\u00e4nkt durch die Thatsache, dass innerhalb solcher Gesichtswahmehmungen, die nur den Convergenzpunkt der beiden Gesichtslinien selbst als Orien-tirungspunkt oder ein ganz beschr\u00e4nktes Sehfeld um denselben herum enthalten, die Tiefenlage dieses Orientirungspunktes zu einer v\u00f6llig unbestimmten wird und offenbar nur secund\u00e4r, durch reproductive Vorstellungen fr\u00fcher wahrgenommener Objecte, allm\u00e4hlich eine n\u00e4here Bestimmung gewinnen kann, wobei \u00fcbrigens die letztere immer noch h\u00f6chst unsicher bleibt.\nDiese Unsicherheit h\u00f6rt dann erst auf, wenn der Sehende selbst mit Theilen seines Leibes zu jenem Bestandtheil des Gesichts-","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\tW. Wundt. Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen.\nfeldes wird. Dann wird n\u00e4mlich die Tiefenlage des Orientirungs-punktes zu einer unmittelbar wahrgenommenen. Denn sie ergibt sich nun aus dem n\u00e4mlichen complexen Localzeichensystem der Tiefe, welches allen andern Punkten des Gesichtsfeldes ihre Lage zum Orientirungspunkt anweist. Dieser seihst ist daher jetzt durch seine Beziehung zum Sehenden orientirt. Der Ort des Sehenden, welcher \u00fcbrigens je nach den besonderen Bedingungen der Wahrnehmung wieder eine verschiedene Stelle im K\u00f6rper annehmen kann, ist auf diese Weise der letzte und eigentliche Orientirungspunkt f\u00fcr alle r\u00e4umlichen Vorstellungen, m\u00f6gen sie nun durch den Gesichtsoder Tastsinn oder durch beide zusammen entstehen. Ist es der Gesichtssinn allein, der die Wahrnehmung vermittelt, so bildet, so lange die normale hinoculare Synergie besteht, wie Hering nachgewiesen hat, der Mittelpunkt der die Drehpunkte beider Augen verbindenden Grundlinie den Orientirungspunkt. Bei ein\u00e4ugigem Sehen oder bei gest\u00f6rter Synergie kann er auf jener Grundlinie bis in die Gesichtslinie des dominirenden Auges her\u00fcberr\u00fccken. Wirkt der Tastsinn bei der Localisation mit, oder bestimmt er dieselbe ausschlie\u00dflich, so nimmt endlich der absolute Orientirungspunkt andere, von den besonderen Bedingungen abh\u00e4ngige Lagen an. Eine allgemeinere Untersuchung dieser Variationen, unter denen die beiden zuerst genannten Localisationen, die rein binoculare und die rein monoculare, nur bestimmte, durch die Alleinherrschaft des Gesichtssinns ausgezeichnete Grenzf\u00e4lle bilden, ist eine noch zu l\u00f6sende experimentelle Aufgabe.","page":118}],"identifier":"lit792","issued":"1898","language":"de","pages":"1-118","startpages":"1","title":"Zur Theorie der r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen","type":"Journal Article","volume":"14"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:48:03.074907+00:00"}