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{"created":"2022-01-31T12:48:04.588114+00:00","id":"lit795","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 15: 149-182","fulltext":[{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\nVon\nW. Wundt.\nMit 6 Figuren im Text.\nIn einem Aufsatze \u00bbZur Kritik der Wundt\u2019sehen Gef\u00fchlslehre\u00ab in der Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. XIX, S. 321 ff., bespricht E. B. Titchener die in meinem \u00bbGrundriss der Psychologie\u00ab sowie in der 3. Auflage der \u00bbVorlesungen \u00fcber die Menschen- und Thierseele\u00ab vertretene Auffassung, nach welcher die Mannigfaltigkeit der einfachen Gef\u00fchle nicht, wie in der Regel angenommen wird, auf die Gegens\u00e4tze der Lust und Unlust allein zur\u00fcckgef\u00fchrt werden kann, sondern mehrere, und zwar muth-ma\u00dflich drei zwischen Gegens\u00e4tzen sich erstreckende Gef\u00fchlsdimensionen' anzunehmen sind, die ich als die der Lust und Unlust, der Erregung und Hemmung (Depression), der Spannung und L\u00f6sung bezeichnet habe. Die Einw\u00e4nde, die Titchener gegen diese Auffassung vorbringt, bed\u00fcrfen, wie ich glaube, in dreifacher Beziehung der Richtigstellung. Erstens beruhen sie auf einer irrigen Vorstellung r\u00fccksichtlich der Gr\u00fcnde, die mich zur Annahme jener Dreidimensionalit\u00e4t des Gef\u00fchlssystems gef\u00fchrt haben. Zweitens ist die Wiedergabe meiner Anschauungen nicht frei von Irrth\u00fcmern und Missverst\u00e4ndnissen, und drittens gibt die Pr\u00fcfung, die der Verf. selbst dem Gegenstand auf dem Wege der \u00bbSelbstbeobachtung\u00ab zu Theil werden lie\u00df, zu erheblichen Bedenken Anlass. .\nI.\nTitchener bemerkt, er sei bei seinen gegen meine Annahme gerichteten Argumenten gen\u00f6thigt, aber wohl auch berechtigt, sich\nWundt, Philos. Studien. XY.\t11","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nW. Wundt.\n\u00bbbei dem jetzigen Mangel an Experimenten im Gebiet der Gem\u00fcths-vorg\u00e4nge lediglich auf dem Boden der inneren \"Wahrnehmung und des allgemeinen Raisonnements zu halten, ein anderes Terrain sei auch von mir selbst nicht betreten worden\u00ab (S. 321). Diese Bemerkung ist, so weit sie mich betrifft, eine irrth\u00fcmliche, und wenn auch die Darstellungen des \u00bbGrundrisses\u00ab und der \u00bbVorlesungen\u00ab begreiflicher Weise zu einer eingehenderen Schilderung des Weges, auf dem ich zur Aufstellung eines mehrdimensionalen Gef\u00fchlssystems gelangt bin, keinen zureichenden Raum boten, so waren doch die Gr\u00fcnde selbst, wie ich meine, hinreichend deutlich zu erkennen, um ein Missverst\u00e4nd-niss wie dies, dass es sich hier blo\u00df um \u00bballgemeine Raisonnements\u00ab, das hei\u00dft, deutlicher ausgedr\u00fcckt, um g\u00e4nzlich in die Luft gebaute Hypothesen handle, fern zu halten. Wenn, wie Titchener im Eingang seines Aufsatzes bemerkt, das Ungen\u00fcgende der hergebrachten Lust-Unlusttheorie bereits mehrfach in der psychologischen Literatur hervorgehoben wurde, so ist das sicherlich nicht blo\u00df auf Grund unbestimmter innerer Wahrnehmungen oder logischer Ueberlegungen geschehen, sondern weil schon die einfachsten und n\u00e4chstliegenden Experimente, die man auf diesem Gebiete machen kann, und die in der willk\u00fcrlichen Einwirkung verschiedenartiger Sinnesreize bestehen, zur Beobachtung einfacher Gef\u00fchle Anlass geben, die sich nicht dem Schema der Lust und Unlust und ihrer Ueberg\u00e4nge unterordnen lassen. Ich selbst habe in dieser Beziehung in den verschiedenen Auflagen meiner \u00bbGrundz\u00fcge der physiologischen Psychologie\u00ab darauf hingewiesen, dass, sobald man \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit der einfachen Gef\u00fchle von der Qualit\u00e4t der Empfindungen Rechenschaft zu geben suche, nur f\u00fcr gewisse mit dem sogenannten Gemeingef\u00fchl in unmittelbarer Beziehung stehende Empfindungen die Reduction auf Lust und Unlust einigerma\u00dfen ausreiche, dass man sich aber namentlich bei den Farben und T\u00f6nen gen\u00f6thigt sehe, zu Ausdr\u00fccken wie \u00bbenergischer\u00ab und \u00bbsanfter\u00ab Gef\u00fchlston der Kl\u00e4nge, \u00bberregende\u00ab und \u00bbdeprimirende\u00ab Wirkung der Farben zu greifen, Ausdr\u00fccken, in denen sich Gef\u00fchlsrichtungen spiegeln, die mit Lust und Unlust nichts gemein haben, die sich aber, ebenso wie diese, zwischen Gegens\u00e4tzen bewegen (Grundz\u00fcge4, I, S. 563 ff.).\nDiese Beobachtungen \u00fcber die Klang- und Farbengef\u00fchle, mochten sie auch zureichend sein, um den Glauben an die Zul\u00e4nglichkeit","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n151\nder Lust-Unlusttheorie zu ersch\u00fcttern, w\u00fcrden mich jedoch kaum veranlasst haben, mit dem Versuch einer Zur\u00fcckf\u00fchrung der verschiedenen Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten auf ein zusammenh\u00e4ngendes, mehrfach ausgedehntes Gef\u00fchlscontinuum hervorzutreten, w\u00e4re nicht noch ein weiteres Moment experimenteller Beobachtungen hinzugekommen, das merkw\u00fcrdiger Weise von Titchener ganz mit Stillschweigen \u00fcbergangen wird, obgleich ich dasselbe an den beiden von ihm angef\u00fchrten Stellen verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig eingehend er\u00f6rtert habe: ich meine die Beobachtungen \u00fcber die physischen Begleiterscheinungen der Gef\u00fchle. Ich halte es in der That f\u00fcr einen der wichtigsten Fortschritte, den die psychologische Symptomatik in neuerer Zeit gemacht hat, dass sie namentlich in den Ver\u00e4nderungen der Herz-, der Gef\u00e4\u00df- und der Athmungsinnervation ein \u00fcberaus feines Reagens auf die leisesten Aenderungen der St\u00e4rke wie Richtung der Gef\u00fchle auffand. Ich meine damit nat\u00fcrlich nicht, dass diese physiologische Symptomatik irgendwie die von der experimentellen Variation der Bedingungen begleitete subjective Beobachtung ersetzen k\u00f6nne. Das ist allerdings unm\u00f6glich ? Gef\u00fchle und Affecte lassen sich so gut wie alle andern psychischen Vorg\u00e4nge und Zust\u00e4nde immer nur in der unmittelbaren inneren Wahrnehmung constatiren. Aber je regelm\u00e4\u00dfigere Begleiter psychischer Vorg\u00e4nge gewisse physische Erscheinungen sind, um so leichter kann es doch geschehen, dass sie uns zuerst auf psychische Regungen aufmerksam machen, die dann auch bei geeigneter Anwendung der \u00bbEindrucksmethode\u00ab in der Selbstbeobachtung nachzuweisen sind. Gerade bei den in ihren mannigfachen Nuancen so schwierig subjectiv zu analysirenden, aber so eng mit Ver\u00e4nderungen der vasomotorischen und respiratorischen Erregung zusammenh\u00e4ngenden Gef\u00fchlen bilden diese Symptome, wie ich glaube, ein au\u00dferordentlich werthvolles H\u00fclfsmittel, ohne das eine irgend zuverl\u00e4ssige Analyse gewisser zusammengesetzter Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge kaum m\u00f6glich w\u00e4re. Ein Beispiel mag das erl\u00e4utern. Unter allen Gem\u00fcthsvorg\u00e4ngen sind es die Affecte, die, wie schon die alten Psychologen gewusst haben, der Selbstbeobachtung die allergr\u00f6\u00dften Schwierigkeiten bereiten. Begreiflich, gerade der Affect beraubt uns ja am meisten der F\u00e4higkeit, uns seihst zu beobachten. Einen gewissen Ersatz und eine M\u00f6glichkeit, den Affect,verlauf in das Gebiet experimenteller Beeinflussung zu erheben, bietet nun hier ein Verfahren, das meines Wissens zuerst\nll*","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nW. Wundt.\nMentz angewandt hat, dessen Werth aber wesentlich an die gleichzeitige Kegistrirung der physischen Affectsymptome gekn\u00fcpft ist. Dieses Verfahren besteht darin, dass man sich die Phantasievorstellung irgend eines affecterregenden Erlebnisses wachruft, wodurch dann bekanntlich der Affect selbst in einem gewissen Grade erweckt zu werden pflegt1). Indem aber dieser eine geringere Intensit\u00e4t erreicht als bei einem wirklichen Erlebnisse, und indem doch anderseits die absichtliche Herbeif\u00fchrung einigerma\u00dfen eine willk\u00fcrliche Variation der subjectiven Zust\u00e4nde erlaubt, gestalten sich begreiflicher Weise die Chancen f\u00fcr die innere Wahrnehmung der Affectvorg\u00e4nge wesentlich g\u00fcnstiger. Der Mangel des Verfahrens besteht nur darin, dass man kein rechtes Ma\u00df f\u00fcr den wirklichen Eintritt des Affectes sowie f\u00fcr sein Verh\u00e4ltnis zu den nat\u00fcrlichen, nicht k\u00fcnstlich hervorgerufenen Gem\u00fcthsbewegungen gleicher Art hat. Diesem Mangel hilft nun die gleichzeitig angewandte Registrirung der objectiven Symptome in einer sehr gl\u00fccklichen Weise ab. Denn da diese Symptome an sich g\u00e4nzlich der directen willk\u00fcrlichen Beeinflussung entzogen sind, so wird man sich im allgemeinen darauf verlassen k\u00f6nnen, dass sich der wirkliche Eintritt bestimmter Affecte in dem Eintritt der entsprechenden objectiven Symptome zu erkennen gibt.\nGerade bei dem Studium der in meinem Laboratorium ausgef\u00fchrten Versuche von Mentz \u00bb\u00fcber die Wirkung akustischer Sinnesreize auf Puls und Athmung\u00ab glaubte ich nun zuerst gewisse einfache Beziehungen zwischen den physiologischen Symptomen der verschiedenen Gef\u00fchle wahrzunehmen, die den psychologischen Eigent\u00fcmlichkeiten dieser Gef\u00fchle parallel zu gehen schienen. Wenn Mentz selbst seine Ergebnisse zum Theil anders beurteilte, so erkl\u00e4rt sich das wohl hinreichend aus dem Umstande, dass dieser Beobachter bei der Bearbeitung seines Materials sichtlich unter der Herrschaft der einseitigen Lust-Unlusttheorie stand. Dies gibt sich in den Er\u00f6rterungen, die er seinen Versuchen folgen l\u00e4sst, namentlich in zwei Thatsachen zu erkennen: erstens darin, dass er der Auffassung der Empfindung als solcher, namentlich aber der unwillk\u00fcrlichen und der willk\u00fcrlichen Aufmerksamkeit, eine Beeinflussung von Puls und Athmung zuschreibt, die nach ihm g\u00e4nzlich unabh\u00e4ngig von allen\n1) Mentz, Philos. Studien, XI, S. 384 ff.","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n153\nGef\u00fchlsregungen stattfinden soll, da er die betreffenden Zust\u00e4nde \u00fcberhaupt als gef\u00fchlsfreie auffasst; und zweitens darin, dass er die Gef\u00fchle, die in Folge der Einwirkung rhythmischer Eindr\u00fccke zur Beobachtung kamen, lediglich als \u00bbLust- und Unlustgef\u00fchle\u00ab bezeichnet, dass er also auch das eigenth\u00fcmliche Gef\u00fchl, das bei der Erwartung eines Eindrucks entsteht, ein Unlustgef\u00fchl, dasjenige, das die L\u00f6sung dieser Erwartung begleitet, ein Lustgef\u00fchl nennt. Nun sind wir nat\u00fcrlich in der Verwerthung der Resultate eines gewissenhaften Beobachters an die von ihm gewonnenen positiven Data gebunden. Aber mit den Namen, die er den von ihm wahrgenommenen subjectiven Zust\u00e4nden beilegt, verh\u00e4lt es sich nicht ebenso, sondern hier sind wir berechtigt, ja gewisserma\u00dfen verpflichtet, die Voraussetzungen, unter denen seine Terminologie entstanden ist, mit in Rechnung zu ziehen. Wenn also beispielsweise Mentz bei \u00bbunwillk\u00fcrlicher\u00ab und hei \u00bbwillk\u00fcrlicher Aufmerksamkeit\u00ab Pulsver\u00e4nderungen beobachtet, die, unabh\u00e4ngig von Gef\u00fchlen, blo\u00df durch die betreffenden Zust\u00e4nde der Aufmerksamkeit verursacht sein sollen, so werde ich, wenn ich auf Grund anderweitiger Beobachtungen zu der Ueber-zeugung gelangt bin, dass solche Aufmerksamkeitsschwankungen stets nur mit bestimmten Gef\u00fchlsschwankungen Vorkommen, ja nach ihrer subjectiven Seite betrachtet eigentlich in diesen bestehen, annehmen m\u00fcssen, dass es eben diese von dem Autor \u00fcbersehenen oder falsch gedeuteten Gef\u00fchlsmomente sind, denen die vasomotorischen Innervations\u00e4nderungen parallel gehen. Und ebenso, wenn der Beobachter das Gef\u00fchl, das bei langsamer Folge von Taktschl\u00e4gen die Erwartung eines kommenden Eindrucks begleitet, ein Unlustgef\u00fchl, das dem Eintritt des erwarteten Taktschlages selbst folgende ein Lustgef\u00fchl nennt, so kann ich wiederum an diese Namen nicht gebunden sein, wenn mich eigene Beobachtungen zur Ueberzeugung gef\u00fchrt haben, dass die unter diesen Bedingungen vorkommenden Gef\u00fchle in Wirklichkeit eine eigenth\u00fcmliche, von der Lust-Unlustrichtung abweichende Beschaffenheit besitzen, und dass daher jene nicht ad\u00e4quaten Benennungen offenbar nur in der herrschenden Meinung, alle Gef\u00fchle m\u00fcssten auf Lust oder Unlust zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, ihren Grund haben. Indem ich diese Gesichtspunkte auf die Kritik der Mentz\u2019sehen Versuche anwandte, kam ich zu dem in \u00a7 11a (3. Aufl. S. 104) meines \u00bbGrundrisses\u00ab aufgestellten Schema, das ich","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nW. Wundt.\n\u00fcbrigens mit aller Reserve als ein in mancher Beziehung vorl\u00e4ufig noch hypothetisches bezeichnet habe, insofern es \u00bbzumeist aus com-plicirten Affectwirkungen abstrahirt sei und daher der Best\u00e4tigung durch Versuche bed\u00fcrfe, bei denen auf Isolirung der Hauptrichtungen der Gef\u00fchle Bedacht genommen werde.\u00ab\nDie in diesen Worten ausgesprochene Forderung ist nun freilich auch heute noch nicht vollkommen erf\u00fcllt, und bei manchen Gef\u00fchlen ist eine Isolirung der Elemente vielleicht \u00fcberhaupt kaum zu erreichen. Dennoch sind wir, wie ich glaube, diesem Ziel durch die vor Kurzem erschienene ausgezeichnete Arbeit von Alfr. Lehmann um einen guten Schritt n\u00e4her ger\u00fcckt* 1). Diese Arbeit bietet zugleich durch den ihr beigegebenen Atlas vorz\u00fcglicher Curventafeln und durch die gro\u00dfe Pr\u00e4gnanz, mit der die von dem Verf. angewandte Form der plethysmographischen Methode die Pulsschwankungen in vergr\u00f6\u00dfertem Ma\u00dfstabe wiedergibt, ein au\u00dferordentlich g\u00fcnstiges Material zur Be-urtheilung der unter den verschiedensten Einwirkungen stattfindenden vasomotorischen Innervations\u00e4nderungen. Auch hier wird man sich aber nat\u00fcrlich gestatten d\u00fcrfen, die von dem Verf. gewonnenen ob-jectiven Resultate, so weit die psychologische Seite in Frage kommt, durch eigene Beobachtungen zu erg\u00e4nzen und eventuell zu interpre-tiren. In der That ist es ja nicht schwer, die Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die durch die verschiedenen von Lehmann angewandten Geschmacks-, Geruchs-, Geh\u00f6rs- und andere Reize hervorgerufen werden, sowie diejenigen, die im Zustand der Schl\u00e4frigkeit, der beginnenden Hypnose, der Depression, der gespannten Aufmerksamkeit u. s. w. vorhanden sind, an sich selbst, auch ohne begleitende plethysmographische Versuche, zu beobachten, und man darf annehmen, dass die unter Anwendung solcher symptomatischer Methoden erzeugten Zust\u00e4nde mit jenen aus eigener Wahrnehmung bekannten im wesentlichen identisch sein werden. Die Lehmann\u2019schen Curven bieten nun zun\u00e4chst zahlreiche Beispiele der Wirkung von Lust und Unlust sowie solcher Reize, die nach ihrem Gef\u00fchlscharakter als erregende und deprimi-rende oder auch als Verbindungen dieser mit Lust oder Unlust\n1) Alfr. Lehmann, Die k\u00f6rperlichen Aeu\u00dferungen psychischer Zust\u00e4nde.\nI. Plethysmographische Untersuchungen. Leipzig, 1899. Dazu ein Atlas von 68 Tafeln. Kopenhagen, 1898.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n155\nbetrachtet werden k\u00f6nnen. Ich verweise in Bezug auf die Symptome der Lust auf Taf. XXVII A, B (Wirkung eines angenehmen Tones), Taf. XLIV A (Wirkung von Menthol), XLV A (angenehmer Geruch von Safran) u. a. : in allen diesen Curven ist Verl\u00e4ngerung, in einigen auch Erh\u00f6hung der Pulswelle zu erkennen. Lehmann bemerkt aber ausdr\u00fccklich, dass diese Lustsymptome verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig schwer nachzuweisen seien, weil sie leicht durch andere Erscheinungen, wie die der Spannung der Aufmerksamkeit, \u00fcbert\u00f6nt w\u00fcrden1). Weit ausgepr\u00e4gter und regelm\u00e4\u00dfiger sind die Unlustsymptome, wie dies auch schon von fr\u00fcheren Beobachtern, besonders von Mentz und Kiesow2), gefunden wurde. Lehmann\u2019s Tafeln enthalten eine gro\u00dfe Zahl von Beispielen, welche die hier stets vorhandene Verk\u00fcrzung und Erniedrigung der Pulswelle in den allerverschiedensten Gradabstufungen darbieten. Ich verweise auf Taf. XXXI 0 und D und XXXII A (Chinin), XXXH B und O, XXXIII und XXXIV (Oitronens\u00e4ure), XXXIV D (Asa foetida), XXXIV C (Schwefelkohlenstoff) u. s. w. Dazu kommen noch \u00fcberall sehr ausgepr\u00e4gte Athmungssymptome, zun\u00e4chst Stocken, dann starke Unregelm\u00e4\u00dfigkeiten der Athembewegun-gen. Etwas schwieriger sind wieder die Erscheinungen der Erregung und Depression aus Lehmann\u2019s Curven herauszulesen, wohl weniger deshalb weil sie fehlen, als weil auch Lehmann im allgemeinen die Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf Lust und Unlust beschr\u00e4nkt und daher namentlich die \u00bbdeprimirten\u00ab Stimmungen durchaus der Unlust zurechnet, zu der sie zwar, wie ich nach eigenen Beobachtungen annehme, theilweise, aber doch keineswegs ganz geh\u00f6ren, da vielmehr bei manchen Depressionszust\u00e4nden der Unlustfactor gegen\u00fcber dem specifi-schen Gef\u00fchl des Gedr\u00fccktseins sehr zur\u00fccktreten kann, ebenso wie umgekehrt Unlustgef\u00fchle Vorkommen, die nicht im geringsten mit Depression verbunden sind: dahin geh\u00f6ren z. B. die gew\u00f6hnlichen unlusterregenden Geschmacksreize, wie Chinin, die eher in einzelnen E\u00e4llen von einer aufregenden Gef\u00fchlswirkung begleitet sind. Als Beispiele erregender, von sonstigen, namentlich Lust- und Unlust-componenten verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig freier Wirkungen glaube ich die Curven der Tafeln XXTT und XXTTI ansehen zu d\u00fcrfen. Lehmann scheint \u00fcber ihre Deutung einigerma\u00dfen unsicher zu sein. Jedenfalls\n1) Lehmann a. a. 0. S. 128 ff. 2) Kiesow, Philos. Studien, XI, S. 41 ff.","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nW. Wundt.\ngeht aber aus seinen Bemerkungen hervor, dass hier eigentliche Lustoder Unlustsymptome nicht vorliegen. Es handelt sich um die Wirkungen einzelner unerwarteter T\u00f6ne und Ger\u00e4usche. Ich glaube nach eigenen subjectiven Beobachtungen sagen zu d\u00fcrfen, dass sich die n\u00e4chste psychische Wirkung solcher Beize, so lange sie nicht den eigentlichen Affect des Schrecks hervorrufen \u2014 was wenigstens in der Mehrzahl der gezeichneten Curven nicht geschah \u2014 nur als eine indifferent erregende bezeichnen l\u00e4sst, eine Gef\u00fchlswirkung, die vielleicht mehr als irgend eine andere dem \u00fcblichen Schema der Lust-Unlustreactionen widerstrebt. Die Ver\u00e4nderung der Curven besteht in einer rasch vor\u00fcbergehenden Zunahme des Blutvolums und der Pulsst\u00e4rke, ohne merkliche weitere Ver\u00e4nderungen im zeitlichen Verlauf der Pulse. Es scheint nun aber frei\u00fcch auch, dass solche rein erregende Gef\u00fchlssymptome verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig selten rein Vorkommen, wogegen sie sich h\u00e4ufig mit andern Gef\u00fchlsmomenten verbinden k\u00f6nnen. Auf diese Complicationen hat auch Lehmann an vielen Stellen seiner Arbeit hingewiesen. Sie dr\u00e4ngen sich eben von seihst hei dem Studium der Pulssymptome einerseits und der subjectiven Thatsachen anderseits auf. Aber indem Lehmann an der Lust-Unlusttheorie der Gef\u00fchle festh\u00e4lt, fasst er diese Complicationen nicht als solche von Gef\u00fchlen verschiedener Qualit\u00e4t, sondern als Verbindungen von Lust oder Unlust mit verschiedenen, von ihm, wie es scheint, rein physiologisch gedeuteten \u00bbSpannungszust\u00e4nden\u00ab sowie mit wechselnden Graden der \u00bbConcentration der Aufmerksamkeit\u00ab auf, wobei er die Aufmerksamkeitsph\u00e2nomen\u00e8 offenbar ebenfalls als Vorg\u00e4nge betrachtet, die ganz au\u00dferhalb des Gef\u00fchlslebens liegen1). Das sind Auffassungen und Deutungen der begleitenden psychischen Zust\u00e4nde, die selbstverst\u00e4ndlich von den beobachteten Thatsachen als solchen unabh\u00e4ngig sind, und wer auf Grund eigener Beobachtung zu dem Ergehniss gelangt ist, dass alle jene Bedingungen bestimmte Gef\u00fchls-componenten mit sich f\u00fchren, dem wird daher auch gestattet sein, die entsprechenden plethysmographischen Erscheinungen als Gef\u00fchlssymptome zu deuten. Wenn ich in diesem Sinne die Lehmann-schen Curven interpretire, so l\u00e4sst sich nun in der That, wie ich glaube, eine ganze Keihe solcher Curven auf, wie sich Lehmann\n1) Lehmann a. a. O. S. 128, 136 u. a.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n157\nselbst ausdr\u00fcckt, \u00bbresultirende\u00ab Wirkungen aus mehreren Com-ponenten zur\u00fcckf\u00fchren. Als solche Componenten glaube ich aber nicht Lust- und Unlustgef\u00fchle einerseits und andere, von Gef\u00fchlszust\u00e4nden verschiedene Momente anderseits, sondern Gef\u00fchlscompo-nenten verschiedener Qualit\u00e4t und Wirkung betrachten zu d\u00fcrfen. Hierher geh\u00f6rt z. B. auf Taf. XLIY 0 der \u00bb\u00fcberraschende, angenehme Geruch\u00ab des Patschuli. Ich meine, dass man schon aus diesen Worten, in denen der Verf. den psychischen Eindruck charakterisirt, die Verbindung eines erregenden Gef\u00fchls und eines Lustgef\u00fchls herauslesen kann. Ebenso geh\u00f6rt dahin Taf. XLV A (erkannter, angenehmer Geruch des Safran) u. a. Da die Pulssymptome der Lust und der Erregung einander sehr \u00e4hnlich sind, abgesehen von der bei den reinen Lustgef\u00fchlen deutlich ausgepr\u00e4gten Verlangsamung des Pulses, so sind \u00fcbrigens die zusammengesetzten Wirkungen in diesem Fall h\u00f6chstens dadurch verschieden, dass, bei bestimmt vorhandener Zunahme der Pulsst\u00e4rke und der Blutf\u00fclle, eher eine Beschleunigung als eine Verlangsamung der Pulswellen beobachtet wird: so z. B. besonders auffallend in der zuletzt erw\u00e4hnten Curve (Taf. XLV A). Viel entschiedener l\u00e4sst sich bei der ebenfalls nicht selten vorkommenden Mischung von Erregung und Unlust die Gegenwirkung verschiedener Symptome erkennen. Hierher geh\u00f6ren unter den Curven Lehmann\u2019s besonders diejenigen, die w\u00e4hrend der L\u00f6sung mehr oder minder complieirter Rechenaufgaben geschrieben sind. Jedermann kennt ja aus eigener Beobachtung die beim Kopfrechnen sich einstellende steigende Unruhe, meist combinirt mit steigender Unlust, wenn es nicht mehr gelingen will die einzelnen Zahlenresultate geh\u00f6rig zusammenzuhalten. Curven, wie sie auf Taf. XV, XVI, XVII u. s. w. gezeichnet sind, bieten daf\u00fcr sprechende Belege. In der Regel zeigen sie die f\u00fcr die Unlust charakteristische Abnahme, zuweilen auch Beschleunigung der Pulse, dabei aber nicht Abnahme, sondern Zunahme des Armvolums. Manchmal folgen auch diese verschiedenen Symptome auf einander: zuerst sinkt das Armvolum bei steigender Pulszahl, dann steigt es, entsprechend der zunehmenden Unruhe, die sich mit der Erschwerung der Rechenarbeit einstellt.\nAm schwierigsten sind wohl die physischen Begleiterscheinungen jener Gef\u00fchle festzustellen, welche die Spannung der Aufmerksamkeit, die gespannte Erwartung sowie die pl\u00f6tzliche L\u00f6sung einer","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nW. Wundt.\nsolchen Spannung, den Eintritt des erwarteten Ereignisses, begleiten. Ich glaube in dieser Beziehung die Aeu\u00dferungen Lehmann\u2019s \u00fcber \u00bbSpannungszust\u00e4nde\u00ab, obgleich sie von diesem Autor selbst als rein physiologische oder doch h\u00f6chstens nebenbei als blo\u00dfe Empfindungszust\u00e4nde betrachtet werden, durchaus einer eigenartigen Classe von Gef\u00fchlen zurechnen zu sollen, f\u00fcr die mir der Name der \u00bbSpannungsund L\u00f6sungsgef\u00fchle\u00ab der geeignetste zu sein scheint. Wenn Lehmann den Gef\u00fchlscharakter dieser eigenth\u00fcmlichen Zust\u00e4nde nicht anerkennt, so mag dies, abgesehen von seinem Festhalten an der Lust-Unlusttheorie, wesentlich dadurch bedingt sein, dass er sich hier meist auf die im Lauf der Versuche von selbst gelegentlich eintretenden Zust\u00e4nde der Erwartungsspannung beschr\u00e4nkt und dagegen von denjenigen Reizeinwirkungen keinen Gebrauch gemacht hat, die nach meiner Meinung den eigenth\u00fcmlichen Verlauf und den Wechsel der Erwartungs- und L\u00f6sungsgef\u00fchle in besonders auff\u00e4lliger Weise hervorbringen, n\u00e4mlich von der Einwirkung langsam auf einander folgender Taktschl\u00e4ge. Die Gef\u00fchle sowohl wie die begleitenden Spannungsempfindungen in bestimmten Muskelgebieten sind bei diesen Taktversuchen so scharf ausgepr\u00e4gt und zugleich f\u00fcr jeden in der subjectiven Analyse Ge\u00fcbten so deutlich zu unterscheiden, dass man derartige Versuche Solchen, die sich von der Verschiedenheit der Empfindungs- und Gef\u00fchlscomponenten gewisser Zust\u00e4nde noch nicht \u00fcberzeugt haben, geradezu als einfachste Fundamentalversuche f\u00fcr die Ein\u00fcbung in dieser Analyse empfehlen k\u00f6nnte. Lehmann bemerkt, \u00bbw\u00e4hrend der Spannung, der gespannten Erwartung sei das Armvolum stets vermindert mit geringer Pulsh\u00f6he\u00ab, und diese Symptome seien insbesondere auch in der Zusammenwirkung mit andern Bedingungen von abweichender Wirkung, z. B. mit Lust- oder Unlustreizen, zu beobachten1). An den mitgetheilten Curven sieht man \u00fcberdies \u2014 und dies bildet, wie mir scheint, einen besonders charakteristischen Gegensatz gegen die Unlustsymptome \u2014 in der Regel eine Verlangsamung, also Verl\u00e4ngerung oder mindestens trotz bedeutender Herabsetzung der Pulsh\u00f6he eine unver\u00e4nderte Gr\u00f6\u00dfe der Pulsl\u00e4nge, \u2014 eine Oombination von Symptomen, die bei der Regelm\u00e4\u00dfigkeit, mit der sonst H\u00f6he- und L\u00e4ngeabnahme des Pulses sich\n1) Lehmann a. a. O. S. 89.","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n159\nzu begleiten pflegen, einer relativen Pulsverl\u00e4ngerung gleichkommt. Man vergleiche z. B. Taf. XXVI 0 und D, Taf. XXXV u. a. Als Gegenwirkung bei eintretender L\u00f6sung der Spannung macht sich dann bei allen diesen Curven die entgegengesetzte Ver\u00e4nderung geltend, also Zunahme des Armvolums und wachsende H\u00f6he der Pulse, zuweilen auch relative Beschleunigung derselben. Bei den oben erw\u00e4hnten Taktversuchen bemerkt man als ganz besonders auffallende Innervationswirkungen der Spannungsgef\u00fchle schon ohne pneumo-graphische Registrirung au\u00dferdem eine bedeutende Ver\u00e4nderung des Athmungsrhythmus, n\u00e4mlich Verlangsamung und Abnahme der Ath-mungen w\u00e4hrend der gespannten Erwartung, und dann im Moment der L\u00f6sung der Spannung eine pl\u00f6tzliche Ver\u00e4nderung in entgegengesetzter Richtung: Zunahme der H\u00f6he und Abnahme der L\u00e4nge der Athmungen. Mit dem plethysmographischen Theil der Ergebnisse Lehmann\u2019s d\u00fcrften \u00fcbrigens im wesentlichen diejenigen Beobachtungen zusammenfallen, die Mentz mit dem Sphygmometer als Pulswirkungen der \u00bbunwillk\u00fcrlichen\u00ab und der \u00bbwillk\u00fcrlichen\u00ab Aufmerksamkeit mitgetheilt hat. Denn nat\u00fcrlich sind auch hier wieder die Namen, die der Beobachter den von ihm geschilderten Zust\u00e4nden beilegt, weniger ma\u00dfgebend als die Schilderungen der Zust\u00e4nde selbst1). Nach diesen darf man aber annehmen, dass Mentz bei seiner \u00bbunwillk\u00fcrlichen Aufmerksamkeit\u00ab nichts anderes als die Lehmann\u2019schen \u00bbSpannungszust\u00e4nde\u00ab vor Augen gehabt hat, w\u00e4hrend bei dem, was er \u00bbwillk\u00fcrliche Aufmerksamkeit\u00ab nennt, theils die im Moment des Eintritts eines erwarteten Eindrucks auftretenden L\u00f6sungsgef\u00fchle, theils erregende Gef\u00fchle wirksam gewesen sind. Ist diese Voraussetzung, wie man nach den sonst bei den Mentz\u2019schen Taktirver-suchen getroffenen Anordnungen annehmen darf, richtig, so steht aber das Ergebniss, dass bei \u00bbunwillk\u00fcrlicher Aufmerksamkeit\u00ab eine Verl\u00e4ngerung des Pulses und meist auch der Athmung eintrete, w\u00e4hrend die \u00bbwillk\u00fcrliche Aufmerksamkeit\u00ab von den entgegengesetzten Wirkungen gefolgt sei, im allgemeinen in Uebereinstimmung mit den von Lehmann bei Spannungs-, L\u00f6sungs- und Erregungszust\u00e4nden beobachteten Erscheinungen. Doch liegen die Mentz\u2019schen Versuche leider blo\u00df in den numerischen Messungsergebnissen vor, in denen\n1) Vgl. Mentz a. a. O. S. 563 ff.","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nW. Wundt.\ndieser Beobachter ausschlie\u00dflich der Pulsl\u00e4nge seine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Nur wenn die Originalcurven erhalten w\u00e4ren, w\u00fcrde daher ein abschlie\u00dfendes Urtheil \u00fcber das Verh\u00e4ltniss derselben zu denjenigen Lehmann\u2019s m\u00f6glich sein.\nUm dem Leser, dem die Lehmann\u2019sehen Tafeln nicht zur Hand sind, die Thatsachen selbst an einigen Beispielen vor Augen zu f\u00fchren, sei es mir gestattet, in Pig. 1\u20146 ein paar Ausschnitte aus den Curven der Tafeln mitzutheilen, wobei ich mich auf solche Beispiele beschr\u00e4nke, bei denen die beigegebene Schilderung der stattgehabten Beizeinwirkung oder des beobachteten subjectiven Zustandes \u00fcber die vorhandene Gem\u00fcthslage nach meiner Meinung keinen Zweifel l\u00e4sst. Ich w\u00e4hle die Curven m\u00f6glichst so, dass die Grundformen der Gef\u00fchle rein zur Beobachtung kommen. Zugleich beschr\u00e4nke ich mich auf die Mittheilung plethysmographischer Curven, weil diese neben den Aenderungen der Pulsh\u00f6he und Pulsl\u00e4nge auch die Schwankungen der Blutf\u00fclle der Gef\u00e4\u00dfe in ihrem Gesammtanstieg und -abfall erkennen lassen, und weil bei ihnen wegen der eintretenden Vergr\u00f6\u00dferung der Pulsschwankungen die angegebenen Haupteigenschaften der Pulswelle deutlicher hervortreten als an sphygmometrischen Curven. Allerdings ist nicht zu \u00fcbersehen, dass die letzteren ihrerseits wieder gewisse feinere Nuancen der Pulsform, namentlich die secund\u00e4ren Elevationen, die verschieden starke Auspr\u00e4gung des Dicrotismus u.s.w. deutlicher hervortreten lassen. Bis jetzt l\u00e4sst sich jedoch mit diesen Unterschieden der sphygmometrischen Curven, die f\u00fcr die Zukunft vielleicht noch einmal wichtig werden, wenig anfangen; namentlich ist ihre symptomatische Deutung in Bezug auf die begleitenden Gef\u00fchle und Affecte noch zweifelhaft, wie dies z. B. die mannigfachen Versuche ihrer diagnostischen Verwerthung bei Geisteskranken lehren1). Auch von den Athmungscurven Lehmann\u2019s, die gleichzeitig mit den plethysmographischen gezeichnet worden sind, habe ich hier\n1) Vgl. Ziehen, Sphygmometrische Untersuchungen hei Geisteskranken. Jena 1886. Hinsichtlich der symptomatischen Bedeutung der Pulsformen kommt \u00fcbrigens Ziehen zu dem Ergebniss, dass bei Geisteskrankheiten sowie bei Zust\u00e4nden der geistigen Arbeit u. s. w. nicht die intellectuellen Zust\u00e4nde als solche, sondern die begleitenden Affecte von bestimmten vasomotorischen Symptomen begleitet sind (S. 38) \u2014 ein Ergebniss, das, wie man sieht, mit dem von mir gewonnenen und der Beurtheilung der Lehmann\u2019schen und Mentz\u2019schen Curven zu Grunde gelegten durchaus \u00fcbereinBtimmt.","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n161\nabstrahirt. Sie zeigen in der Regel keine hinreichend deutlich ausgepr\u00e4gten Ver\u00e4nderungen. Offenbar erfordert die Beeinflussung der Athmungsinnervation eine ihr eigens zugewandte Untersuchung, an der es bis jetzt noch fehlt.\nPig. 1. Lust. (Bei a b Einwirkung eines sehr angenehmen Geruchs, Menthol,\nLehmann Taf. XLIV B.)\nPig. 2. Unlust. (Schwefels. Chinin, Einwirkung bei 1, Anfang der Geschmacksempfindung bei 2, Lehmann Taf. XXXI C.)\nPig. 3. Erregung, nach vorausgehender Unlust und Depression. (Erschreckender Reiz bei 1, Unlust und Depression von a bis b, Erregungscurve von b bis e,\nLehmann Taf. XIX C.)","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nW. Wundt.\n\nFig. 4. Depression. (Stark deprimirte Stimmung in Folge eines unangenehmen Ereignisses ; darunter einige normale Curven des gleichen Beobachters, von einem andern Tage, Lehmann Taf. X A.)\nFig. 5. Spannung. (Nachwirkung eines schwachen Tones, dessen Wiederholung erwartet wird, Spannungscurve von a bis b, Lehmann Taf. XXIX A.)\nFig. 6. L\u00f6sung. (Unmittelbare Fortsetzung des Versuchs von Fig. 5, von 1 bis 2 Einwirkung des erwarteten Tones, von e bis d L\u00f6sungscurve, Lehmann\nTaf. XXIX B.)\nGesteht man die oben gegebene, durch die mitgetbeilten graphischen Beispiele veranschaulichte Gef\u00fchlsinterpretation der Versuche als berechtigt zu, so ergibt sich nun, wenn wir hier zun\u00e4chst von den Volumschwankungen und Athmungs\u00e4nderungen absehen, f\u00fcr die Puls\u00e4nderungen das folgende Schema:","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle. Puls\n163\ngeschw\u00e4cht\nverlangsamt\nbeschleunigt\nSpannung Depression Unlust\nverst\u00e4rkt\nverlangsamt\nbeschleunigt\nLust Erregung L\u00f6sung\nDieses Schema ist identisch mit demjenigen, das ich in meinem \u00bbGrundriss\u00ab (3. Aufl. S. 104) mitgetheilt habe. Als ich es aufstellte, hatte ich nur die Versuche von Mentz sowie die \u00e4lteren von Mosso, Kiesow und einige eigene Beobachtungen vor Augen. Wenn daher, wie ich oben gezeigt habe, die um so Vieles vollst\u00e4ndigeren Curven Lehmann\u2019s im Gro\u00dfen und Ganzen zu den gleichen Ergebnissen f\u00fchren, so darf ich das wohl um so mehr als ein Zeugniss daf\u00fcr ansehen, dass jenes Schema nicht auf Grund eines blo\u00dfen \u00bblogischen Raisonnements\u00ab gewonnen, sondern dass es aus der Beobachtung ab-strahirt war, wobei ich mich freilich in Bezug auf die den einzelnen Symptomen zuzuordnenden subjectiven Zust\u00e4nde auf eigene Beobachtungen mehr als auf die Angaben Anderer verlassen zu d\u00fcrfen glaubte. Die Punkte, wo dieses Schema noch einigerma\u00dfen unsicher ist, lassen sich zugleich nach den bis jetzt vorliegenden Versuchen sehr bestimmt bezeichnen. Zun\u00e4chst kann wohl gesagt werden, dass die Lust- und Unlustwirkungen in der in dem Schema angegebenen Weise absolut sicher stehen: in diesem Punkte stimmen alle Beobachtungen ausnahmslos \u00fcberein. Ebenso herrscht dar\u00fcber eigentlich kein Zweifel mehr, dass solche Wirkungen, denen wir einen \u00bberregenden\u00ab Charakter zusckreiben, in einer Verst\u00e4rkung der Pulse, j und umgekehrt Depressionszust\u00e4nde in einer Abnahme der Pulsh\u00f6he sich \u00e4u\u00dfern. Oh aber damit nicht noch andere Ver\u00e4nderungen, im ersten Fall n\u00e4mlich Beschleunigung, im zweiten Verlangsamung der Pulswellen, verbunden sind, steht dahin. Die h\u00e4ufige Complication dieser Zust\u00e4nde mit andern, z. B. mit Lust und Unlust, l\u00e4sst eine abschlie\u00dfende Antwort bis jetzt nicht zu. Einstweilen habe ich, da eben alle solche weiteren Symptome auf derartige Complicationen bezogen werden k\u00f6nnen, blo\u00df die eine, wie ich meinte, sicher festgestellte Wirkung in das Schema aufgenommen. Endlich bedarf die Symptomatik der Spannungs- und L\u00f6sungsgef\u00fchle noch der n\u00e4heren Pr\u00fcfung, da, wie namentlich auch Lehmann hervorgehohen hat,","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nW. Wundt.\ngerade die \u00bbSpannungszust\u00e4nde\u00ab au\u00dferordentlich h\u00e4ufige ungewollte Begleiter anderer Gef\u00fchle sind. Ich glaube aber, dass die Abnahme des Pulses bei eintretender Spannung und die Zunahme desselben bei deren L\u00f6sung nach den Ergebnissen Lehmann\u2019s nicht bezweifelt werden kann, w\u00e4hrend einzelne Curven au\u00dferdem auf eine Verlangsamung des Pulses hinweisen, die bei der L\u00f6sung der Spannung einer Beschleunigung Platz macht \u2014 Ver\u00e4nderungen, die in diesem Fall ganz besonders auch von entsprechenden Ver\u00e4nderungen der Ath-mungsinnervation begleitet sind, so dass, wegen des bekannten Zusammenhangs von Puls und Athmung, dahingestellt bleibt, ob eine dieser Ver\u00e4nderungen als die prim\u00e4re anzusehen sei.\nUebrigens darf hier wohl noch darauf hingewiesen werden, dass die vasomotorischen und respiratorischen Innervationswirkungen in der Hegel nicht die einzigen physischen Symptome der verschiedenen Gef\u00fchlsrichtungen sind, sondern dass sich diese nicht minder theils bei den unmittelbaren Beizwirkungen, theils bei den Ausdrucksbewegungen der Affecte mit bestimmten mimischen und pantomimischen Bewegungen verbinden. F\u00fcr Lust und Unlust ist es in dieser Beziehung charakteristisch, dass sie sich ganz ausschlie\u00dflich in den mimischen Bewegungen des Mundes, mit geringer Unterst\u00fctzung solcher der Nase und der \u00e4u\u00dferen Augenmuskeln (Erhebung und Senkung der Nasenfl\u00fcgel, Erweiterung und Verengerung der Augenlidspalte) zu erkennen geben. Im Unterschiede hiervon sind die Aeu\u00dferungen der Spannung, z. B. der gespannten Erwartung, und ihrer L\u00f6sung an die gesammte mimische Muskulatur, vorzugsweise aber an die Wangen- und Stirnmuskeln, gebunden, indem tonische Erregung dieser Muskeln den Zustand der Spannung, pl\u00f6tzlich erfolgender Nachlass dieses Tonus die eintretende L\u00f6sung bezeichnet. Endlich die Wirkung erregender Gef\u00fchle, wie sie z. B. in den Affecten der lebhaften Freude oder des Zorns, dort combinirt mit Lust-, hier mit Unlustgef\u00fchlen vorkommt, gibt sich in rasch wechselnden, sogenannten \u00bbklonischen\u00ab Bewegungen der verschiedensten Muskeln des K\u00f6rpers, pantomimischer wie mimischer, zu erkennen, w\u00e4hrend die Depression in allgemeiner Muskelerschlaffung sich ausspricht. Gerade diese mimischen und pantomimischen Symptome lassen die Bestandtheile der Affecte deutlich als Gef\u00fchle verschiedener Qualit\u00e4t unterscheiden. Dass z. B. der Zorn seinem Gef\u00fchlsinhalte nach nichts","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n165\nanderes sei als eine gesteigerte oder protrahirte Unlust, werden wir doch schwerlich weder auf Grund der subjectiven Eigenschaften dieses Affectes noch seiner objectiven Symptome annehmen k\u00f6nnen. Vielmehr macht sich hier wie dort eine sehr lebhafte Erregung als ein nicht minder wesentlicher Factor geltend, welche Erregung zwar von allerlei Muskelempfindungen begleitet, aber doch sicherlich nicht durch diese allein in ihrem subjectiven Charakter bestimmt ist, da \u00e4hnliche lebhafte Muskelempfindungen auch unter Umst\u00e4nden ein-treten k\u00f6nnen, z. B. bei gewissen turnerischen Leistungen, bei denen sie durchaus nicht von Gef\u00fchlen begleitet werden, und wo dann eben auch die entsprechenden mimischen und pantomimischen Gef\u00fchls\u00e4u\u00dferungen fehlen. Die Beziehungen freilich, die zwischen allen diesen mannigfachen Innervationswirkungen und den subjectiven Gef\u00fchlen selbst stattfinden, sind uns im wesentlichen noch unbekannt. Niemand wei\u00df anzugeben, warum die Unlust den Puls klein und \\ schnell, die Lust gro\u00df und langsamer macht u. s. w. Diese physischen Erscheinungen bleiben f\u00fcr uns vorl\u00e4ufig noch \u00e4u\u00dfere Symptome, nichts weiter, die an sich weder unzweideutige Zeichen der begleitenden Gem\u00fcthszust\u00e4nde sind, noch im allgemeinen auf die subjective Natur derselben Licht werfen. Aber als Symptome, die, so weit ihre Deutung nicht durch die Interferenz verschiedener Wirkungen gest\u00f6rt wird, regelm\u00e4\u00dfige Begleiterscheinungen der verschiedenen Gef\u00fchle sind, besitzen sie einen hohen diagnostischen Werth: sie verm\u00f6gen uns auf subjective Unterschiede aufmerksam zu machen, die sonst vielleicht unserer Beobachtung entgehen w\u00fcrden. Denn bei der Regelm\u00e4\u00dfigkeit, mit der im allgemeinen die physischen den psychischen Ver\u00e4nderungen parallel gehen, werden wir, wo die ersteren irgend welche Abweichungen darbieten, von vornherein auch auf Verschiedenheiten der letzteren zur\u00fcckschlie\u00dfen d\u00fcrfen.\nEben deshalb w\u00fcrde nun aber auch eine Unterscheidung verschiedener Gef\u00fchlsdimensionen, wie sie in dem oben mitgetheilten Schema versucht worden ist, so lange in der Luft schweben, als sie nicht direct in der subjectiven Beobachtung der Gef\u00fchle seihst ihre St\u00fctze f\u00e4nde. So ist denn in der That, wie ich schon angedeutet habe, die urspr\u00fcngliche Grundlage dieser Unterscheidung die subjective Beobachtung gewesen, und das Studium der objectiven Symptome hat nur insofern eingegriffen, als diese auf eine immerhin\nWundt, Philos. Stadien. XV.\t12","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nW. Wundt.\nbeschr\u00e4nkte Dimensionszahl hinzuweisen schienen. Auch m\u00f6chte ich heute noch glauben, dass es jener ohjectiven Symptome und ihrer Unterschiede eigentlich gar nicht bedarf, um sich diejenigen Grundformen der Gef\u00fchle, die nicht auf einander zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, sondern h\u00f6chstens mannigfache Verbindungen mit einander eingehen, \u00fcberzeugend zu vergegenw\u00e4rtigen. Dazu gen\u00fcgt, wie ich meine, die aufmerksame Beobachtung der die verschiedenen experimentellen Reizeinwirkungen begleitenden subjectiven Zust\u00e4nde \u2014 vorausgesetzt nat\u00fcrlich, dass man sich zuvor von gewissen dogmatischen Voraussetzungen, wie sie die heutige Gef\u00fchlslehre zu ihrem Nachtheil vielfach beherrschen, frei gemacht hat. Die erforderliche Variirung der zur Hervorbringung verschiedener Gef\u00fchlsformen geeigneten experimentellen Einwirkungen ist aber in diesem Fall um so einfacher, weil diese Formen geradezu eine Art Affinit\u00e4t zu bestimmten Sinnesgebieten und zu bestimmten Arten der Reizeinwirkung zu besitzen scheinen. So gibt es kaum eine g\u00fcnstigere Bedingung, um reine Lust- oder Unlustgef\u00fchle hervorzurufen, als bestimmte Einwirkungen auf den Geschmackssinn, was sich ja auch in der engen Beziehung der Ausdrucksbewegungen der Mundmuskeln zu dieser Gef\u00fchlsform zu erkennen gibt. Nicht als ob nicht auch andere Sinneseindr\u00fccke Lust oder Unlust, und zwar zum Theil sehr intensive Grade derselben hervorbringen k\u00f6nnten. Aber die Geschmacksempfindungen sind, wie ich glaube, allen andern, selbst den Gemeinempfindungen, durch die Reinheit des Gef\u00fchlstones, das hei\u00dft durch die in der Regel g\u00e4nzlich fehlende Vermischung mit andern Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten \u00fcberlegen. Chinin, Zucker verschaffen uns die Gef\u00fchle der Unlust und der Lust am meisten in unverf\u00e4lschter, weil unvermischter Form. Das ist schon wesentlich anders bei den Geruchseindr\u00fccken, die zwar ebenfalls in vielen F\u00e4llen heftige Lust oder Unlust erregen, dabei aber doch zugleich h\u00e4ufig von erregenden oder, in Reaction hiergegen, wohl auch von deprimirenden Wirkungen begleitet sind: man denke z. B. an Campher, Moschus, Asa foetida und \u00e4hnliche Substanzen. Bieten die Geruchseindr\u00fccke wohl meistens Mischungen dieser beiden Gef\u00fchlsdimensionen, so meine ich aber, dass man sich bei den reinen Farbeneindr\u00fccken der Wahrnehmung nicht entziehen kann, hier handle es sich, so lange nicht Complicationen mit andern Empfindungen oder mit associativen Bestandtheilen stattfinden,","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n167\n\u00fcberhaupt nur um Gef\u00fchle, die man in ihren allgemeinen Richtungen als erregende und beruhigende oder deprimirende bezeichnen kann. Ich w\u00fcsste in der That nicht, wie man etwa auf Grund der unbefangenen subjectiven Wahrnehmung die Behauptung rechtfertigen wollte, Roth sei lust- und Blau unlusterregend. Wenn ich sie als reine Spektralfarben im Dunkelzimmer vor mir habe, so kann ich mich an ihrer beider Anblick erfreuen, und in ihrer gew\u00f6hnlichen Beschaffenheit als Pigmentfarben erregen sie mir im allgemeinen weder ein angenehmes noch ein unangenehmes Gef\u00fchl. Der Gegensatz, der sie auszeichnet, und der mir gerade so gut ein Gef\u00fchlsgegensatz zu sein scheint wie Lust und Unlust, besteht vielmehr in allen F\u00e4llen darin, dass das Roth eine erregende, das Blau eine deprimirende Wirkung hat, Wirkungen, die \u00fcbrigens nat\u00fcrlich mit diesen W\u00f6rtern nur angedeutet, \u2018an sich aber, ebenso wie Lust und Unlust oder wie eine einfache Emplindungsqualit\u00e4t, nicht n\u00e4her definirt werden k\u00f6nnen. Ein analoger Gef\u00fchlsgegensatz scheint mir bei den hohen und tiefen T\u00f6nen obzuwalten. Aber vielleicht mischt sich hier dem erregenden Gef\u00fchl der hohen T\u00f6ne noch ein Lust-, dem herabstimmenden der tiefen ein Unlustfactor bei, wobei ich es dahingestellt lassen m\u00f6chte, ob diese Mischung der Gef\u00fchle urspr\u00fcnglich, oder ob sie erst durch die bei den musikalischen Eindr\u00fccken \u00fcberaus mannigfaltigen associativen Beziehungen entstanden ist. Die dritte und letzte Kategorie der Gef\u00fchle endlich, die der Spannung und L\u00f6sung, ist an sich vielleicht verbreiteter als alle andern. Aber sie kommt, wie es mir scheint, meist in so enger Verbindung mit andern Gef\u00fchlsformen vor, dass ihre isolirte Nachweisung am schwierigsten ist. Namentlich liefert sie wohl die haupts\u00e4chlichsten Elemente der die verschiedenen dauernden Gem\u00fcthsStimmungen, die Zust\u00e4nde der Aufmerksamkeit und die Willensvorg\u00e4nge begleitenden Gef\u00fchlscom-plexe. Mir ist, wie schon bemerkt, nur eine Form experimenteller Einwirkung bekannt, welche die Gef\u00fchle der Spannung und L\u00f6sung in einer verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig sehr reinen, bei g\u00fcnstiger Wahl der Einwirkung nur unerheblich mit Lust- oder Unlustmomenten vermischten Form hervorzurufen gestattet : sie besteht in der Einwirkung einfacher Taktschl\u00e4ge, wenn sie mit einer gewissen mittleren Geschwindigkeit auf einander folgen. W\u00e4hlt man die Schlagfolge zu rasch, so \u00fcber-t\u00e4uben die durch das vergebliche Streben der Zusammenfassung der\n12*","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nW. Wundt.\nEindr\u00fccke entstehenden Unlustgef\u00fchle fortdauernd alle andern Wirkungen. W\u00e4hlt man sie zu langsam, so wechseln zwar deutlich Spannungs- und L\u00f6sungsgef\u00fchle mit einander, diese sind aber in 'einem gewissen Stadium des Verlaufs, w\u00e4hrend der gespanntesten Erwartung, mit deutlichem Unlustgef\u00fchl, und w\u00e4hrend eines andern, im Moment des Eintritts des neuen Taktschlages, mit intensivem Lustgef\u00fchl verbunden. Dagegen gelingt es bei einer zwischen diesen Extremen gelegenen Geschwindigkeit nicht selten, diese Unlust- und Lustgef\u00fchle ganz oder fast ganz zum Verschwinden zu bringen, und was dann \u00fcbrig bleibt, sind allm\u00e4hlich ansteigende Gef\u00fchle einer \u2014 ich m\u00f6chte sagen \u2014 neutralen Erwartungsspannung, der hierauf m rascherem Verlauf ein den neuen Eindruck begleitendes Gef\u00fchl folgt, das ich nicht besser als durch den Ausdruck \u00bbL\u00f6sung\u00ab der Spannung zu bezeichnen wei\u00df.\nDies sind im wesentlichen die Beobachtungen, die der Aufstellung des in meinem \u00bbGrundrisse\u00ab mitgetheilten und in den \u00bbVorlesungen\u00ab namentlich mit R\u00fccksicht auf die Zusammensetzung der verwinkelteren Gem\u00fcthsbewegungen etwas weiter verfolgten Schemas zu Grunde hegen. Dass sie in vieler Beziehung noch der Erg\u00e4nzung, dass namentlich die zusammengesetzteren Gef\u00fchle und Gem\u00fcthsbewegungen in Bezug auf ihre Zerlegung in Gef\u00fchlselemente noch der n\u00e4heren experimentellen Bearbeitung bed\u00fcrfen, bei der sich wiederum, \u00e4hnlich wie es bei den einfachen Gef\u00fchlsreactionen bereits geschehen ist, die \u00bbEindrucks\u00ab- und die \u00bbAusdrucksmethode\u00ab werden in die H\u00e4nde arbeiten m\u00fcssen, das verkenne ich nicht, und ich habe oft genug auf diese L\u00fccken hingewiesen. Aber dass darum das oben gegebene Schema der Hauptrichtungen der Gef\u00fchle eine in der Luft stehende, auf Grund irgend welcher \u00bblogischer Raisonnements\u00ab erfundene Hypothese sei \u2014 diese Behauptung muss ich als eine irrige und leichtfertige Annahme zur\u00fcckweisen.\nDass das erw\u00e4hnte Schema mindestens in gewissem Ma\u00dfe den Forderungen der Erfahrung entspricht, das darf man \u00fcbrigens wohl auch aus Ergebnissen anderer Beobachtungen entnehmen. In seinen Studien \u00fcber die \u00bbdirecte psychologische Experimentalmethode in hypnotischen Bewusstseinszust\u00e4nden\u00ab hat 0. Vogt nach der von ihm angewandten Methode der \u00bbDissociation\u00ab der psychischen Elemente in Zust\u00e4nden der Hypnose auch Beispiele f\u00fcr die Analyse der durch","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n169\nSinneseindr\u00fccke, namentlich T\u00f6ne, hervorgebrachten Gef\u00fchle mitge-theilt. Das von Yogt angewandte experimentelle Verfahren ist demnach von dem von mir benutzten und oben geschilderten im wesentlichen nur dadurch verschieden, dass sich Yogt ausschlie\u00dflich der directen, suhjectiven Analyse bedient, und dass er als Substrat der Beobachtung nicht das gew\u00f6hnliche, normale, sondern das hypnotische Bewusstsein in einem jener hei der gewohnheitsm\u00e4\u00dfigen Hypnose vorkommenden Zust\u00e4nde gew\u00e4hlt hat, in welchem eine Selbstbeobachtung und eine Mittheilung des Beobachteten m\u00f6glich ist, w\u00e4hrend zugleich durch die stattfindende Einengung des Bewusstseins die Analyse der auf die Beizeinwirkung folgenden Zust\u00e4nde beg\u00fcnstigt wird1). Herr Dr. Yogt hatte die G\u00fcte, mir seihst diese Versuche hei einem Aufenthalt in Leipzig vorzuf\u00fchren, und ich habe mich hei dieser Gelegenheit \u00fcberzeugt, dass in der That auf dem von ihm eingeschlagenen Wege eine subjective Analyse der auf \u00e4u\u00dfere Beize folgenden Gef\u00fchls-reactionen m\u00f6glich ist. Ich glaube, dass seine Methode namentlich in so fern eine dankenswerthe Erweiterung der gew\u00f6hnlichen psychologischen Experimentalmethode ist, als sie gerade auf dem schwierigen Gebiet der Gef\u00fchle Individuen, die sonst kaum zur Selbstbeobachtung subjectiver Zust\u00e4nde sich eignen w\u00fcrden, zu einer solchen zu erziehen vermag. Dagegen habe ich mich allerdings nicht davon \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, dass w\u00e4hrend der Hypnose die analytische Leistungsf\u00e4higkeit \u00fcberhaupt eine gr\u00f6\u00dfere sei, als sie es bei einem ge\u00fcbten und durch Experimente geschulten Beobachter \u00fcberhaupt ist. Wenn ich demnach jedem dieser Verfahren an seiner Stelle seinen Werth zugestehen m\u00f6chte, so darf man es wohl um so mehr als ein Zeugniss daf\u00fcr ansehen, dass in der That die Unterscheidungen meines Schemas nicht willk\u00fcrliche Eictionen sind, wenn Yogt nach seiner Methode ganz unabh\u00e4ngig zu Besultaten gelangt ist, die im gro\u00dfen und ganzen sehr nahe mit den meinigen \u00fchereinstimmen. Eine wesentliche Ueber-einstimmung hegt namentlich darin, dass er neben die Lust und Unlust einerseits erregende oder, wie er sie nennt, \u00bbhebende\u00ab und de-primirende, anderseits Spannungs- und L\u00f6sungsgef\u00fchle stellt. Ein Unterschied besteht, so viel ich sehen kann, haupts\u00e4chlich in zwei\n1) 0. Yogt, Die directe psychologische Experimentalmethode in hypnotischen Bewusstseinszust\u00e4nden. Zeitschrift f\u00fcr Hypnotismus, Y. Ygl. bes. S. 211 ff.","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nW. Wundt.\nPunkten: erstens nimmt Yogt ein specifisches \u00bbActivit\u00e4tsgef\u00fchl\u00ab an, das die Willensregungen begleite; und zweitens glaubt er, dass jede Grundform der Gef\u00fchle nicht blo\u00df eine Richtung bezeichne, in der viele qualitativ verschiedene Gef\u00fchle hegen, sondern dass sie selbst ein einfaches und untlieilbares Gef\u00fchl sei, dass es also nur ein einziges Lust- oder Unlust- oder Erregungsgef\u00fchl u. s. w. gebe. Was den ersteren Punkt betrifft, so vermuthe ich, dass das von Yogt angenommene Activit\u00e4tsgef\u00fchl mit dem Erregungsgef\u00fchl identisch und wahrscheinlich eine Mischung desselben mit Spannungs- und L\u00f6sungsgef\u00fchlen ist, die in den verschiedenen Stadien den Willensvorgang begleiten. Die zweite Differenz m\u00f6chte ich auf den relativ geringen Umkreis der Reizeinwirkungen zur\u00fcckf\u00fchren, deren sich Yogt bediente. Wenn ich zwischen dem erregenden Gef\u00fchl, das die W\u00e4rmeempfindung der Haut, und demjenigen, das den Lichteindruck roth, und endlich demjenigen, das einen lauten und eindringenden Geh\u00f6rsreiz begleitet, eine allgemeine Verwandtschaft auch anerkenne, so kann ich doch nicht finden, dass die specifische Qualit\u00e4t der Gef\u00fchle in diesen drei F\u00e4llen absolut identisch, und dass der zu beobachtende Unterschied etwa blo\u00df auf die begleitenden Empfindungen zu beziehen sei. Noch in h\u00f6herem Grade scheint mir das zuzutreffen, wenn ich mir die Gef\u00fchle, die als elementare Componenten in gewisse Affecte eingehen, vergegenw\u00e4rtige, z. B. das erregende Gef\u00fchl im Zorn, in der lebhaften Freude, oder dasjenige, das der ersten Depression des Erschreckens und der Ueberraschung zu folgen pflegt. Auch abgesehen davon, dass in allen diesen F\u00e4llen die Erregung von verschiedenen Lust- oder Unlustgef\u00fchlen begleitet ist, scheint sie mir in ihrer eigenen Qualit\u00e4t je nach den besonderen Bedingungen zu wechseln, so zwar dass jedem eigenartigen Vorstellungsbestandtheil auch ein besonders gef\u00e4rbtes Gef\u00fchl zukommt. Ich denke mir also jede Ge-, f\u00fchlsclasse, wie Lust oder Unlust u. s. w., nicht etwa einer einzigen Empfindungsqualit\u00e4t, z. B. einer bestimmten Farbe roth oder blau, sondern vielmehr einem ganzen Empfindungssystem analog. Nur unter dieser Voraussetzung scheinen mir insbesondere auch die eigenth\u00fcm-lichen Gef\u00fchle, die den Vorstellungsverlauf, den Eintritt von Vorstellungen in das Bewusstsein und die Wirkung der dunkler bewussten Vorstellungen, wie sie bei den Vorg\u00e4ngen des Wiedererkennens, des Besinnens, der mittelbaren Association u. s. w. zur Beobachtung","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n171\nkommen, in einen Zusammenhang mit den die einfachen, einzelne Sinnesreize begleitenden Gef\u00fchlen gebracht werden zu k\u00f6nnen. Wenn concrete Begriffe und Urtheile von Gef\u00fchlen begleitet sind, die sich schon da, wo die Yorstellungsbestandtheile solcher Begriffe und Urtheile noch gar nicht klar im Bewusstsein sind, doch sehr deutlich ank\u00fcndigen, so richten sich diese eigenartigen Gef\u00fchle, obgleich sie nach ihrer allgemeinen Beschaffenheit irgend welchen unter den oben erw\u00e4hnten Hauptformen und wohl meistens einer Mischung derselben zugerechnet werden k\u00f6nnen, doch sichtlich so sehr nach der concreten Beschaffenheit der betreffenden intellectuellen Bewusstseinsinhalte, dass man ohne die Annahme einer der Vielheit der Empfindungselemente und der Vorstellungsgebilde parallel gehenden Mannigfaltigkeit con-creter Gef\u00fchlsf\u00e4rbungen nicht auskommt. Auch hier wirkt aber, wie ich glaube, noch immer der Umstand, dass die Sprache zwar an der Benennung und Unterscheidung der Objecte, jedoch nur in geringem Ma\u00dfe an der Unterscheidung der die Einwirkungen der Objecte begleitenden suhjectiven Zust\u00e4nde ein Interesse hat, sch\u00e4digend auch auf die psychologische Beobachtung ein. Denn man gibt sich in Folge dessen nur zu leicht der T\u00e4uschung hin, in der d\u00fcrftigen Nomenclatur, die wir in den gel\u00e4ufigen Bezeichnungen unseres Wortschatzes vorfinden, sei im wesentlichen alles ersch\u00f6pft, was in dem Seelenleben seihst anzutreffen sei.\nLL\t\\\nUnter den positiven Gr\u00fcnden, die Titchener gegen die Unterscheidung mehrerer Gef\u00fchlsdimensionen anf\u00fchrt, steht in erster Linie die Behauptung, dass diese Unterscheidung auf einer falschen Analogie beruhe. Da sich alle Gef\u00fchle zwischen Gegens\u00e4tzen bewegten, so seien umgekehrt auch nur solche subjective Zust\u00e4nde als Gef\u00fchle anzuerkennen, die diesem Princip des Gegensatzes gehorchen. Dies aber sei nur f\u00fcr Lust und Unlust zutreffend. Die L\u00f6sung dagegen sei kein positiver Gegensatz, sondern nur eine bis zu Null Verminderte Spannung ; ebenso bezeichne die Depression, Beruhigung oder wie wir sonst diese Gef\u00fchlsform nennen m\u00f6gen, keinen Gegensatz zur Erregung, sondern den Nullpunkt, die Aufhebung der Erregung.\nMir ist diese Argumentation nur verst\u00e4ndlich, wenn ich annehme, dass sich der Verf., als er sie niederschrieb, nicht die Gef\u00fchlex, die","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nW, Wundt.\nwir,..so gut es geht, mit diesen Namen bezeichnen, zu vergegenw\u00e4rtigen gesucht, sondern dass er blo\u00df \u00fcber die Namen selbst und ihre in abstracto etwa denkbare logische Bedeutung reflectirt hat. In der That, wenn man einen Etymologen fragen w\u00fcrde, was die Worte L\u00f6sung und Beruhigung bedeuten, so k\u00f6nnte er ja vielleicht auf die Definitionen verfallen, die L\u00f6sung sei das Aufh\u00f6ren einer Spannung, und die Beruhigung sei der Nachlass einer Erregung. Aber die Aufgabe des Psychologen besteht doch, wie ich meine, nicht darin, Worte zu definiren, sondern, wenn es sich um die subjective Natur gewisser Zust\u00e4nde handelt, sich vor allem diese Zust\u00e4nde seihst, wo m\u00f6glich mit den H\u00fclfsmitteln der experimentellen Erzeugung und Variation der Bedingungen, ins Bewusstsein zu rufen. H\u00e4tte der Verf. das gethan, h\u00e4tte er z. B. die alte Anweisung Goethe\u2019s befolgt, man solle sich, um die Gef\u00fchlswirkungen der verschiedenen Farben zu untersuchen, successiv ganz mit denselben umgeben, damit sich \u00bbAuge und Geist unisono stimmen\u00ab, so glaube ich kaum, dass er sich zu einer Behauptung verstiegen h\u00e4tte, nach welcher z. B. der Gef\u00fchlston des Blau blo\u00df in der Nichtexistenz der Gef\u00fchlswirkung des Both bestehen m\u00fcsste, oder nach welcher die Gef\u00fchlswirkung tiefer T\u00f6ne wahrscheinlich nur darauf beruhte, dass diejenige der hohen T\u00f6ne nicht vorhanden ist, u. s. w. Ich meine, f\u00fcr jeden, der nicht in dem Dogma der Lust-Unlusttheorie befangen ist, und der die Aufgabe einer psychologischen Untersuchung nicht darin sieht, dass man sich nach dem Vorbild der Verm\u00f6gensth^orie in Wortdefinitionen ergeht, statt sich die concreten Thatsachen selbst zu vergegenw\u00e4rtigen, kann, es nicht zweifelhaft sein, dass f\u00fcr das Gef\u00fchl gerade so gut wie f\u00fcr die Empfindung die Farben Blau und Both, die tiefen und die hohen T\u00f6ne gleicher Weise einen positiven Inhalt haben, und da,ss man in beiden F\u00e4llen den beobachteten Gef\u00fchlszust\u00e4nden einen ganz unangemessenen Zwang anthut, wenn man sie ausschlie\u00dflich auf die Gegens\u00e4tze von Lust und Unlust zur\u00fcckf\u00fchren will. Ich w\u00fcsste wenigstens f\u00fcr meinen Theil, wenn ich vor die Wahl gestellt w\u00e4re, irgend einen dieser Eindr\u00fccke dem andern vorzuziehen, absolut,nicht zu sagen, oh mir das reine spektrale Blau oder das Both, ob mir der tiefe oder der hohe Ton angenehmer sei. Ich w\u00fcrde eben einem solchen Verlangen immer nur die Aussage gegen-\u00fcbersstellen k\u00f6nnen, dass diese Eindr\u00fccke an sich mit Lust und Unlust","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n173\nnichts zu thun haben, sondern dass es andere Gef\u00fchlsgegens\u00e4tze sind, die durch sie erregt werden. Gegen\u00fcber der Behauptung, das Wort L\u00f6sung bedeute nichts anderes als das Aufh\u00f6ren einer Spannung, m\u00f6chte ich endlich wiederum empfehlen, sich die Bedingungen zu vergegenw\u00e4rtigen, die ich wiederholt als die f\u00fcr die Erzeugung der Spannungs- und L\u00f6sungsgef\u00fchle g\u00fcnstigsten bezeichnet habe. Wer je einmal den Wechsel der suhjectiven Zust\u00e4nde beobachtet hat, wie er das aufmerksame Hinh\u00f6ren auf langsam sich folgende Taktschl\u00e4ge begleitet, oder wer \u00fcberhaupt die Gef\u00fchle hei stark gespannter Erwartung und dann die bei pl\u00f6tzlich eintretender Erf\u00fcllung des erwarteten Ereignisses verfolgt hat, und dann immer noch behauptet, die L\u00f6sung der Erwartung sei kein positiver Zustand, sondern nur ein Aufh\u00f6ren der Spannung selbst \u2014 dem gegen\u00fcber muss ich freilich auf weitere Argumente verzichten. Thatsachen lassen sich eben nicht beweisen, sondern nur wahrnehmen oder auch nicht wahrnehmen. Wenn aber Titchener meint, die Verlegenheit, hei diesen Gef\u00fchlsrichtungen einen wirklichen \u00bbdynamischen Gegensatz\u00ab aufzufinden, verrathe sich in dem gelegentlichen Gebrauch mehrerer Ausdr\u00fccke f\u00fcr einen und denselben Gegensatz, wie z. B. der W\u00f6rter Beruhigung, Hemmung, Depression, in im wesentlichen \u00fcbereinstimmendem Sinne, so scheint mir dieses Missverst\u00e4ndniss f\u00fcr den Standpunkt blo\u00dfer Wortdistinctionen, der hier der psychologischen Beobachtung substituirt wird, besonders kennzeichnend. Ich glaubte wahrlich zur Gen\u00fcge betont zu haben, dass, wenn meine subjective Beobachtung nicht tr\u00fcgt, innerhalb jeder jener Hauptrichtungen der Gef\u00fchle mannigfache qualitative Nuancen Vorkommen, daher denn auch selbstverst\u00e4ndlich die verschiedenen Bezeichnungen, die wir w\u00e4hlen k\u00f6nnen, bald mehr die eine bald mehr eine andere dieser qualitativen und intensiven Nuancen zum Ausdruck bringen. Wenn ich z. B. die Gef\u00fchlswirkung der blauen Farbe eine \u00bbberuhigende\u00ab und anderseits die Gef\u00fchlslage des Melancholikers eine \u00bbdeprimirte\u00ab nenne, so sollen diese verschiedenen Ausdr\u00fccke allerdings eine verschiedene Qualit\u00e4t des den Gegensatz zur Erregung bildenden Gef\u00fchls aus-dr\u00fccken, ohne dass aber damit die Annahme einer, abgesehen von der Beimengung anderer Gef\u00fchle, im allgemeinen \u00fcbereinstimmenden Gef\u00fchlsrichtung aufgegeben wird.\nWie in diesem Fall eine Wortunterscheidung zu einem sachlichen","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nW. Wundt.\nWiderspruch aufgebauscht wird, so sollen nun aber auch weiterhin die von mir hervorgehohenen Beziehungen der verschiedenen Gef\u00fchlsdimensionen theils zu den Bestandtheilen, in die sich die Gem\u00fcths-hewegungen zerlegen lassen, theils zu den verschiedenen Entstehungsbedingungen, die der Verlauf der Affecte mit sich f\u00fchrt, einen Widerspruch in sich schlie\u00dfen. In ersterer Beziehung habe ich bemerkt, dass in der Lust-Unlustdimension vorzugsweise die qualitative Seite der psychischen Vorg\u00e4nge, deren Bestandtheile die Gef\u00fchle bilden, dass dagegen in Erregung und Hemmung der intensive, in Spannung und L\u00f6sung der zeitliche Charakter derselben zum Ausdruck komme. Dass hier unter den psychischen Vorg\u00e4ngen, zu denen die Gef\u00fchle in Beziehung gebracht sind, nur die Affecte gemeint sein konnten, ist einleuchtend, da sich ja nur die Affecte in Gef\u00fchle zerlegen lassen. Die vermuthete Beziehung der drei Gef\u00fchlsdimensionen auf die drei allgemeinen Richtungen der Affecte st\u00fctzt sich aber zun\u00e4chst auf die eigenth\u00fcmlichen Unterschiede der Ausdrucksbewegungen, wo sich Lust und Unlust in qualitativ verschiedenen mimischen Bewegungen, Erregung und Depression in einer allgemeinen, von besonderen qualitativen Ausdrucksformen unabh\u00e4ngigen Steigerung und Hemmung der Muskelinnervation, Spannung und L\u00f6sung in tonischen, w\u00e4hrend einer gewissen Zeit andauernden Muskelerregungen und ihrer pl\u00f6tzlichen oder allm\u00e4hlichen L\u00f6sung zu erkennen geben. Au\u00dferdem scheint mir jedoch die subjective Beobachtung der verschiedenen in eine Gem\u00fcthsbewegung eingehenden Gef\u00fchle Beziehungen derselben zu den Eigenschaften des Affectes darzubieten, die jenen verschiedenen Ausdrucksformen analog sind, insofern Lust und Unlust mehr das qualitative, Erregung und Depression das intensive und Spannung und L\u00f6sung das zeitliche Verhalten des Affectes charakterisiren. So wird man z. B. den Zorn nach seiner qualitativen Seite als einen Unlustaffect bezeichnen k\u00f6nnen, dessen qualitative Unterschiede, abgesehen von den begleitenden Vorstellungen, in verschieden nuancirten Unlustgef\u00fchlen bestehen, w\u00e4hrend die dem Affect eigenen erregenden Gef\u00fchle haupts\u00e4chlich die Affectst\u00e4rke, die wechselnden Spannungs- und L\u00f6sungsgef\u00fchle den zeitlichen Affectverlauf kennzeichnen. Nun kann man nat\u00fcrlich die Richtigkeit dieser Beobachtungen, sowohl nach ihrer objectiven, die Ausdrucksbewegungen angehenden, wie nach ihrer subjectiven, die","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n175\nEigent\u00fcmlichkeiten der Gef\u00fchle selbst betreffenden Eichtung bestreiten, und es l\u00e4sst sieb dagegen ebenso wenig etwas einwenden wie etwa gegen die Behauptung, dass T\u00f6ne und Farben \u00fcberhaupt keine Gef\u00fchlswirkungen hervorbringen. Unverst\u00e4ndlich ist mir aber die von Titcbener aufgeworfene Frage, warum denn bei dieser Beziehung die \u00bbEaumverh\u00e4ltnisse unserer Erfahrung\u00ab ganz aus dem Spiele gebbeben seien. Ich kann darauf nur antworten : sie sind aus dem Spiele gebbeben, weil sich mir Beziehungen derselben zu bestimmten Gef\u00fcblsricbtungen weder in der unmittelbaren subjectiven Beobachtung noch bei der Analyse der Ausdrucksbewegungen darboten, und weil es mir scheint, dass man sehr wohl bei jedem Affect qualitative, intensive und zeitliche Eigenschaften unterscheiden kann, w\u00e4hrend ich mit dem Ausdruck, der Zorn oder die Freude habe irgend eine r\u00e4umbebe Ausdehnung, keinen rechten Sinn zu verbinden wei\u00df. Auch muss ich binzuf\u00fcgen, dass ich vom Standpunkte der Beobachtung der concreten Tbatsacben aus, auch abgesehen von dieser Beziehung zu den Hauptrichtungen der Affecte, dieses Fehlen r\u00e4umbcher Beziehungen bei den einfachen Gef\u00fchlen nicht so verwunderlich finden kann, wie es auf dem Standpunkte eines blo\u00df logischen Eaisonnements vielleicht erscheinen mag. Wenn zuerst ein beschr\u00e4nkter Theil meines Sehfeldes mit irgend einem Farheneindruck, z. B. Eoth, ausgef\u00fcllt ist, und wenn sich dann dieser Eindruck \u00fcber eine gr\u00f6\u00dfere Fl\u00e4che ausbreitet, oder wenn ich zuerst an einer beschr\u00e4nkten Stelle der Haut Schmerz empfinde, und sich dann der schmerzerregende Eeiz \u00fcber einen weiteren Eaum erstreckt, so glaube ich in beiden F\u00e4llen zwar eine Zunahme in der St\u00e4rke, aber keinerlei Ver\u00e4nderung in der Eichtung der Gef\u00fchle wahrzunehmen, und ich vermuthe, dass mit dieser Erfahrung auch diejenige anderer Beobachter \u00fcbereinstimmen wird. Wenn sich dagegen statt eines einfachen Gesichtseindrucks ein zusammengesetzter, aus verschiedenen r\u00e4umbchen Theilen bestehender darbietet, der bestimmte r\u00e4umbche Ma\u00dfverh\u00e4ltnisse erkennen l\u00e4sst, dann treten allerdings erhebbehe Ver\u00e4nderungen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde ein. Aber ich glaube, dass diese wegen der verwickelter en Bedingungen, unter denen sie stehen, nicht mehr zu den einfachen Gef\u00fchlen gerechnet werden k\u00f6nnen; ich habe sie daher, als Grundformen \u00bb\u00e4sthetischer\u00ab Gef\u00fchle, ebenso gut wie die an Harmonie und Melodie gebundenen, \u00fcberhaupt von der Analyse der","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nW. Wundt.\neinfachen Gef\u00fchle ausgeschieden, und ich glaube, dass man dieses Verfahren schon aus methodologischen Gr\u00fcnden billigen muss, wenn auch selbstverst\u00e4ndlich nicht geleugnet werden soll, dass sich die \u00e4sthetischen, ebenso wie die sonstigen zusammengesetzteren Gef\u00fchle, in der Regel mit einfachen Gef\u00fchlen verbinden, und dass wohl auch ihre Hauptformen Beziehungen zu den Grundformen der letzteren darbieten.\nNeben dieser Beziehung zu den durch psychologische Analyse und Abstraction zu unterscheidenden Eigenschaften der Gem\u00fcthsbe-wegungen und ihrer Aeu\u00dferung in mimischen und pantomimischen Bewegungen ergibt sich nun aber, wie ich meine, noch eine weitere Beziehung, wenn man lediglich das Verh\u00e4ltniss der verschiedenen Gef\u00fchlsformen zu dem zeitlichen Verlauf der Affecte, in die sie eingehen, ins Auge fasst. Unter diesem Gesichtspunkte erscheinen n\u00e4mlich Lust und Unlust oder die Gef\u00fchlsformen, in denen, wie oben bemerkt, haupts\u00e4chlich die qualitativen Eigenschaften der Affecte ihren Ausdruck finden, zugleich als diejenigen, die am meisten als Gegenwartsgef\u00fchle bezeichnet werden k\u00f6nnen: sie vor allem machen in jedem Moment die unmittelbare Qualit\u00e4t des Affectes aus, ohne dass zur Charakterisirung dieser Qualit\u00e4t eine Beziehung zu vorausgegangenen oder nachfolgenden Zeitmomenten nothwendig geh\u00f6rte. Dies ist anders bei den erregenden und deprimirenden und ebenso bei den spannenden und l\u00f6senden Gef\u00fchlen, bei beiden aber wieder in verschiedener Weise. Erregung wie Depression sind ihrer Natur nach in der Zeit sich ver\u00e4ndernde Gef\u00fchle. Sie kommen nicht als Zust\u00e4nde vor, die in constanter Gr\u00f6\u00dfe andauern, sondern sie wogen auf und ab, aber in diesem Wechsel ist es der in einem gegebenen Moment vorhandene Zustand der Erregung oder Depression, der f\u00fcr den unmittelbar nachfolgenden Zeitpunkt und f\u00fcr die in ihm eintretenden Ausdrucksbewegungen und Triebhandlungen bestimmend ist. In diesem Sinne ist diese Gef\u00fchlsrichtung des Affectes der Zukunft zugewandt : der Zorn, die Freude, der Schreck, bei ihnen allen bestimmt die momentan vorhandene Erregung oder Depression den unmittelbar nachfolgenden Gem\u00fcthszustand und seine Aeu\u00dferungen. Eine andere Beziehung zum zeitlichen Verlauf scheint mir dagegen hei den Spannungs- und L\u00f6sungsgef\u00fchlen vorhanden zu sein. Bei der gespannten Erwartung ist der Grad der Spannung in jedem","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n177\nMoment von dem vorangegangenen Verlauf der Gef\u00fchle, und die eintretende L\u00f6sung ist in ihrer Gef\u00fchlsst\u00e4rke von dem Grade der vorangegangenen Spannung abh\u00e4ngig. Deutlich zeigt sich auch das wieder in den aus verschiedenen Gef\u00fchlsformen zusammengesetzten Affecten, wie im Zorn, in der Freude, wo das Spannungs- oder L\u00f6sungsgef\u00fchl der momentanen Affectlage ebenso als Folge der vorangegangenen Spannungen, wie das erregende Gef\u00fchl als treibendes Moment der nachfolgenden Affectzust\u00e4nde und ihrer Wirkungen subjectiv empfunden wird. In diesem Sinne ist z. B. in einer zornigen Aufwallung die Gem\u00fcthshewegung in jedem Augenblick in dreifacher Weise bestimmt: als Unluststimmung empfinden wir den gegenw\u00e4rtigen Augenblick, als Erregung oder Depression den Trieb zur weiteren Affectsteigerung oder nach \u00fcberschrittenem Maximum den Nachlass des Affectes, endlich als Spannung oder L\u00f6sung die den vorangegangenen Gef\u00fchlsverlauf fortsetzende Gef\u00fchlslage oder ihren Wechsel.\nGewiss sind alle diese Unterscheidungen relativ, und es kann ja schon im Hinblick auf die fortw\u00e4hrenden Verbindungen der Gef\u00fchle hier immer nur von ann\u00e4hernden Abstractionen die Rede sein. Aber dass die verschiedenen Gef\u00fchlsformen verschieden nuancirte Beziehungen zum Zeitverlauf des psychischen Geschehens darhieten, das scheint mir nach dem allgemeinen Charakter dieser Formen zweifellos, wenn ich auch gerne zugebe, dass die flie\u00dfende Natur der Gem\u00fcthsbewegun-gen eine exacte Feststellung der hier vorliegenden Beziehungen ausnehmend erschwert. Dass jedoch dieser Versuch, die verschiedenen Dimensionen der Gef\u00fchle zu den zeitlichen Eigenschaften der Affecte in Beziehung zu bringen, im Widerspruch st\u00fcnde mit der oben angedeuteten Beziehung zu den Grundeigenschaften der Gem\u00fcthsbewegun-gen, wie Titchener behauptet, das ist, wie nach dem Gesagten wohl kaum noch besonders betont zu werden braucht, eine irrige, auf einem g\u00e4nzlichen Missverst\u00e4ndnis der Sache beruhende Meinung. Denn nat\u00fcrlich k\u00f6nnen beide Beziehungen um so mehr neben einander bestehen, da es sich hier um Momente handelt, die selbst wieder mit einander Zusammenh\u00e4ngen, und da \u00fcbrigens hier \u00fcberall nicht ein Verh\u00e4ltniss von Ursachen und Wirkungen, sondern lediglich ein solches von Beziehungen und Bedingungen in Frage kommt, die sich wenigstens vorl\u00e4ufig durch eine vollst\u00e4ndige Analyse aus der Gesammt-heit der complexen Bedingungen nicht isoliren lassen. Die verwickelte","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nVV. Wundt.\nNatur aller dieser Beziehungen und die Unm\u00f6glichkeit, sie auf ein einfaches causales Verh\u00e4ltnis zuriickzufUhren, ergibt sich ja auch schon daraus, dass jede der oben unterschiedenen Gef\u00fchlsformen subjectiv die Bedeutung einer specifischen Qualit\u00e4tsform hat, ungeachtet der besonderen Beziehungen, welche die erregenden und de-primirenden Gef\u00fchle zur Intensit\u00e4t, und die Spannungs- und L\u00f6sungsgef\u00fchle zum zeitlichen Verlauf der Affecte darbieten, und obgleich sich anderseits, wie l\u00e4ngst bekannt ist, Lust und Unlust unter gewissen Bedingungen geradezu in ein functionelles Verh\u00e4ltniss zur Intensit\u00e4t der Gef\u00fchlsreize bringen lassen1). Aus allen diesen Gr\u00fcnden bleiben die Versuche, \u00fcber die Beziehungen der durch die experimentelle Variirung der Gef\u00fchlsreize gewonnenen Gef\u00fchlsformen zu den Hauptrichtungen der Affecte Rechenschaft zu geben, wie ich gerne anerkenne, bis zu einem gewissen Grade hypothetisch. Sie werden aber, sobald man die oben angenommene Dreiheit der Gef\u00fchlsformen zugibt, durch die dann sich auf dr\u00e4ngende Frage, mit welchen allgemeinen Bedingungen des Gef\u00fchlslebens diese Dreiheit Zusammenh\u00e4ngen m\u00f6ge, immerhin nahe gelegt. Uebrigens gilt nat\u00fcrlich auch hier: demjenigen, der jene Beziehungen der Gef\u00fchle zu den fundamentalen Eigenschaften der Affecte einerseits und zu dem zeitlichen Verlauf der Gem\u00fcthsbewegungen anderseits aus eigener Wahrnehmung nicht zu constatiren vermag, dem lassen sie sich, so wenig wie die Gef\u00fchle selbst, demonstriren; denn sie geh\u00f6ren eben wesentlich mit zu den Eigenschaften der Gef\u00fchle selbst. Auch kann der Mangel eigener Beobachtungen hier so wenig wie anderw\u00e4rts durch logisches Raisonnement ersetzt werden. Mit einem solchen schlie\u00dft aber Titebener seine Ausf\u00fchrungen \u00fcber diesen Gegenstand. \u00bbSpiegelt sich\u00ab, so meint er, \u00bbin unserem Gef\u00fchlsleben die Welt der Zeitverh\u00e4ltnisse, die Welt der Intensit\u00e4ten und die Welt der Qualit\u00e4ten, so muss doch auch die Welt der Raumverh\u00e4ltnisse irgendwie zur Geltung kommen.\u00ab Es muss, wie er meint, eine Gef\u00fchlsrichtung \u00bbExpansion \u2014 Contraction\u00ab, eine andere \u00bbSichgehenlassen und Sich-in-sichzur\u00fcckziehen\u00ab u. s. w. erwartet werden. \u00bbVerrathen sich aber diese Raumrichtungen als erfundene Vorg\u00e4nge, so spricht das nicht allein gegen sie, sondern auch gegen das ganze Classificationsschema,\n1) Grundz\u00fcge der physiol. Psychol.4, I, S. 557 ff.","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n179\ninnerhalb dessen sie einen berechtigten Platz einnehmen\u00ab1). Nach dieser Methode, die auf den Rang einer neu erfundenen Art apago-gischer Beweisf\u00fchrung Anspruch erheben d\u00fcrfte, kann man, wie ich glaube, alles beweisen und alles widerlegen. Zu irgend welchen that-s\u00e4chlich gegebenen oder mit Wahrscheinlichkeit anzunehmenden Verh\u00e4ltnissen A, B und C l\u00e4sst sich immer ein weiteres Verh\u00e4ltnis D ersinnen, das eine blo\u00dfe Fiction ist. Nach der Logik Titchener\u2019s soll dann dadurch bewiesen sein, dass auch A, B und C blo\u00dfe Fictio-nen sind. Z. B. : Weil die Vorstellung, dass der Zorn eine r\u00e4umliche Gr\u00f6\u00dfe habe, sinnlos ist, deshalb k\u00f6nnen diesem Affect auch keine qualitativen, intensiven und zeitlichen Eigenschaften zugeschrieben werden.\nIII.\nEs bleibt mir schlie\u00dflich noch \u00fcbrig, der Beobachtungen zu gedenken, die Titchener selbst ausgef\u00fchrt hat, oder die er vielmehr hat ausf\u00fchren lassen, um die vorliegende Frage zu pr\u00fcfen. Er beauftragte einen \u00bbpsychologisch geschulten Studirenden der Cornell-Univ., w\u00e4hrend des Schuljahres 1897/98 seine gelegentlich vorhandenen Gem\u00fcthsbewegungen introspectiv zu beobachten und die Resultate seiner Analyse niederzuschreiben, um zu sehen, oh daraus irgend eine St\u00fctze f\u00fcr die Wundt\u2019sche Classification oder aber ein erneuter Beweis f\u00fcr die Richtigkeit der Lust-Unlusttheorie zu ziehen w\u00e4re. \u00ab Er f\u00fcgt hinzu, gerade dieses Jahr sei zu solchen Versuchen offenbar besonders g\u00fcnstig gewesen wegen der Affecte, die es in einem jungen patriotischen Amerikaner erregen musste. Das Ergebniss war, dass dieser Beobachter \u00bbau\u00dfer Lust und Unlust kein einziges Mal w\u00e4hrend des ganzen Jahres einen Affectinhalt fand, den er nicht genau in irgend einem k\u00f6rperlichen Organ localisiren konnte, d. h. der sich nicht als Empfindung bez. Empfindungscomplex deutlich ank\u00fcndigte\u00ab. Dieser Erfolg sei um so heachtenswerther, als der betreffende Student eigentlich f\u00fcr meine Theorie eingenommen gewesen sei \u00bbund ganz gerne eine Reihe von damit \u00fcbereinstimmenden Resultaten entdeckt h\u00e4tte\u00ab2).\n1)\tTitchener a. a. O. S. 324.\n2)\tTitchener a. a. O. S. 325 f.","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nW. Wundt.\nIch finde diese Beobachtungen ebenso merkw\u00fcrdig wegen der Methode, nach der sie ausgef\u00fchrt, wie wegen der Schl\u00fcsse, die auf sie gegr\u00fcndet worden sind. Die alte \u00bbintrospective Methode\u00ab bestand bekanntlich darin, dass sich der Psychologe, der sich ein Problem gestellt hatte, entweder auf zuf\u00e4llige Beobachtungen verlie\u00df, oder dass er sich in sein einsames K\u00e4mmerlein zur\u00fcckzog, um sich dort in sich selbst zu vertiefen. Die Unsicherheit dieser Methode ist heute wohl ziemlich allgemein anerkannt. Je angestrengter der Beobachter sein eigenes Bewusstsein betrachtet, um so sicherer wird er im allgemeinen sein k\u00f6nnen, dass er dabei nichts als eben diesen Thatbestand vermeintlicher Selbstbeobachtung vor sich hat, w\u00e4hrend der sonstige Verlauf der psychischen Vorg\u00e4nge zum Stillst\u00e4nde kommt, falls er nicht sachte dahin gelenkt wird, wohin ihn der introspective Beobachter gelenkt sehen m\u00f6chte. Von der Fehlerhaftigkeit dieser Methode ist denn auch Titchener wohl \u00fcberzeugt gewesen. Aber wie hat er sie zu verbessern gesucht ? Statt sich selbst ihrer zu bedienen, hat er einen Studirenden der Cornell-Univ. mit diesem Gesch\u00e4fte betraut. Nun mag es sein, dass dieser junge Mann von Anfang an dem was er finden sollte neutral oder selbst f\u00fcr das was er nachtr\u00e4glich nicht fand eingenommen gegen\u00fcberstand. Dass aber diese verfehlte Methode \u00fcberhaupt dadurch verbessert werden k\u00f6nne, wenn ein Psychologe sie nicht selber anwendet, sondern einen seiner Sch\u00fcler damit beauftragt, das wird Titchener wohl selber nicht glauben. Und wenn man unter den verschiedenen Thatsachengebieten der Psychologie wieder eines aussuchen wollte, das sich f\u00fcr die Anwendung dieser \u00bbintrospectiven Methode\u00ab wo m\u00f6glich schlechter eignet als irgend ein anderes, so ist das ganz gewiss das Gebiet der Affecte. Jemanden anzuweisen, er solle, sobald er einen Affect in sich aufsteigen f\u00fchlt, sein Notizbuch herausziehen, um was er wahmimmt aufzuschreiben \u2014 das mag ein ganz guter Rath sein, wenn man ihm die Affecte \u00fcberhaupt abgew\u00f6hnen will. Aber aus eben diesem Grunde ist nichts gewisser, als dass auf diesem Wege f\u00fcr die wirkliche Beobachtung der Affecte nichts ersprie\u00dfliches herauskommen kann. Ich will damit gewiss nicht sagen, dass eine subjective Beobachtung der Gef\u00fchle und sogar der Affecte absolut unm\u00f6glich sei. Aber ich meine doch, dass sie in einer einigerma\u00dfen exacten Weise nur ausf\u00fchrbar ist, wenn man sich einerseits, wie das oben","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\n181\nangedeutet wurde, der experimentellen Einwirkung und Variation der Bedingungen bedient, und wenn man anderseits zugleich die objectiven Symptome zu Bathe zieht, die sich als regelm\u00e4\u00dfige Begleiterscheinungen bestimmter subjectiver Zust\u00e4nde nachweisen lassen.\nWenn ich daher nicht umhin kann, mich \u00fcber die vorgeschlagene und angewandte Methode zu wundern, so finde ich doch den Schluss, den der Verf. aus dem nach dieser Methode gewonnenen Ergebnisse zieht, beinahe noch wunderbarer. Danach sollen \u00bbau\u00dfer bei Lust und Unlust die Affectinhalte stets in irgend einem k\u00f6rperlichen Organ localisirt, also reine Empfindungen, nicht Gef\u00fchle gewesen sein\u00ab. Demzufolge muss man annehmen, dass nach Titchener\u2019s Meinung nicht nur Lust und Unlust niemals mit localen Empfindungen verbunden sind, sondern dass sich \u00fcberhaupt Empfindungen und Gef\u00fchle wechselseitig ausschlie\u00dfen. Was nun das erstere betrifft, so kann ich meinerseits nur sagen: mir ist kein einziges Lust- oder Unlustgef\u00fchl bekannt, das nicht mit irgend welchen Empfindung\u00e8n, die in irgend welchen k\u00f6rperlichen Organen localisirt sind, verbunden w\u00e4re. Wenn ich Chinin schmecke, so habe ich eine Empfindung, die ich auf der Zunge localisire, daneben aber ein lebhaftes Unlustgef\u00fchl, das ich eigentlich, wenn mich meine Beobachtung nicht tr\u00fcgt, ebenfalls im Geschmacksorgan zu localisiren geneigt hin ; und bei manchen Gemeinempfindungen oder hei den Lust- und Unlustbestandtheilen von Affecten sind zwar die Empfindungen meist unbestimmter localisirt, aber sie sind immer vorhanden. Der Behauptung: irgend eine subjective Affection sei entweder eine Lust-Unlusterregung oder eine locale Empfindung, und wenn sie das erstere sei, so sei sie niemals das letztere, und ebenso umgekehrt, muss ich daher geradezu die gegentheilige Behauptung gegen\u00fcb erstellen. Ich kenne kein Lustoder Unlustgef\u00fchl, mit dem nicht zugleich irgend welche irgendwo localisirte Empfindungen verbunden w\u00e4ren ; und ich kann darum auch den Satz, dass eine Erregung deshalb, weil sie zun\u00e4chst als Empfindung gegeben ist, nicht zugleich von einer Gef\u00fchlsreaction begleitet sein k\u00f6nne, durchaus nicht als berechtigt anerkennen. Ich meine vielmehr, dass es Beispiele genug gibt, in denen wir die unmittelbare Verbindung von Empfindungen bald mit Lust-Unlust-, bald aber auch mit andern Gef\u00fchlen deutlich genug beobachten k\u00f6nnen. Die von Titchener zur Pr\u00fcfung und Unterst\u00fctzung der\nWundt, Philos. Studien. XV.\t13","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nW. Wundt. Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle.\nLust-Unlusttheorie ausgef\u00fchrten Versuche sind also, wie ich glaube, nicht blo\u00df in ihrer Methode verfehlt, so dass sie ein brauchbares Resultat \u00fcberhaupt nicht erwarten lie\u00dfen, sondern es sind \u00fcberdies auch noch die Schl\u00fcsse, die auf diese vermeintlichen Ergebnisse gegr\u00fcndet wurden, falsch, weil ihnen stillschweigend eine Voraussetzung zu Grunde liegt, die jeder psychologischen Beobachtung widerspricht, und die augenscheinlich auf einer rein logischen Gegen\u00fcberstellung von Empfindungen und Gef\u00fchlen beruht.","page":182}],"identifier":"lit795","issued":"1900","language":"de","pages":"149-182","startpages":"149","title":"Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle","type":"Journal Article","volume":"15"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:48:04.588119+00:00"}