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{"created":"2022-01-31T12:47:48.224991+00:00","id":"lit796","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 15: 287-317","fulltext":[{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche1 2).\nVon\nW. Wundt.\nDas \u00bbTachistoskop\u00ab, eine Vorrichtung zu kurz dauernder Einwirkung von Sehobjecten auf das Auge, ist, seit es zuerst Volk-mann*) unter diesem Namen beschrieb und f\u00fcr momentane stereoskopische Beobachtungen vorschlug, noch mehrmals zu psychologischen Zwecken verwerthet worden. Doch hat es der Apparat bis jetzt kaum zu einer gr\u00f6\u00dferen Verbreitung gebracht. Die Versuche Volk-mann\u2019s, einige Beobachtungen von Baxt mit einem von Helmholtz construirten Apparate und die Experimente Cattell\u2019s3), der hei seinem Fall-Tachistoskop die horizontale Bewegung der Volkmann\u2019schen Vorrichtung durch eine verticale ersetzte sowie zur Ausl\u00f6sung der Bewegung den Elektromagneten einf\u00fchrte, sind wohl das wesentlichste, was in dieser Richtung vorliegt. Das ist wenig, wenn man bedenkt, wie sehr namentlich die Probleme der Aufmerksamkeit zur Anwendung einer Methode herausfordern, die geeignet scheint, einen momentanen Bewusstseinszustand aus dem continuirlichen, f\u00fcr unsere gew\u00f6hnliche Wahrnehmung schwer zu sondernden Verlauf der psychischen Processe auszuscheiden und so viel als m\u00f6glich in seiner momentanen Beschaffenheit festzuhalten. Mit R\u00fccksicht hierauf ist es daher gewiss dankenswerth, dass Erdmann und Dodge in ihrem Buch \u00bbHeber\n1)\tMit R\u00fccksicht auf B. Erdmann und R. Dodge, \u00bbPsychologische Untersuchungen \u00fcber das Lesen auf experimenteller Grundlage\u00ab. Halle a. S. 1898, 360 S.\n2)\tVolkmann, \u00bbDas Tachistoskop, ein Instrument, welches bei Untersuchung des momentanen Sehens den Gebrauch des elektrischen Funkens ersetzt\u00ab. Sitzungsber. der kgl. s\u00e4chs. Ges. der Wiss. zu Leipzig, math.-phys. CL, 1859, S. 90ff.\n3)\tCattell, \u00bbUeber die Tr\u00e4gheit der Netzhaut und des Sehcentrums\u00ab. Philos. Studien IH, 1886, S. 94 ff.\nWundt, Philos. Studien. XV.\n20","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"238\nW. Wundt.\ndas Lesen\u00ab wieder auf die tachistoskopischen Versuche die Aufmerksamkeit gelenkt haben. Bei den Er\u00f6rterungen dieser Autoren scheint mir jedoch ein Umstand, der wohl auch sonst manchmal in psychologischen Arbeiten eine gewisse Rolle spielt, das unbefangene Urtheil \u00fcber Werth und Unwerth der Methoden zu tr\u00fcben. Die Verfasser der \u00bbUntersuchungen \u00fcber das Lesen\u00ab sind Philosophen und Psychologen. Sie haben ihre Arbeit im psychologischen Interesse unternommen. Dabei haben sie selbstverst\u00e4ndlich auch die physikalische Seite der Apparatentechnik ber\u00fccksichtigt. Aber was zwischen dem Physikalischen und dem Psychologischen in der Mitte liegt, das Physiologische, ist in ihrer Er\u00f6rterung durchweg zu kurz gekommen. Das macht sich, wie ich glaube, sowohl in der Untersch\u00e4tzung der Leistungen bisheriger Apparate, namentlich des Eall-Tachistoskops, wie in einer auffallenden Vernachl\u00e4ssigung gewisser M\u00e4ngel, an denen der von ihnen seihst construirte Apparat leidet, geltend. Sicherlich w\u00fcrde es ja in vielen F\u00e4llen erw\u00fcnscht sein, wenn wir von den nicht selten r\u00f6cht unbequemen Eigenschaften unserer Sehnervensubstanz abstrahiren k\u00f6nnten. Leider ist das aber nun einmal nicht m\u00f6glich, und wir sind darum auch hei unseren f\u00fcr Sehversuche eingerichteten Instrumenten gezwungen, auf jene Eigenschaften R\u00fccksicht zu nehmen. Es scheint mir deshalb nicht ganz unn\u00fctz, die Kritik, welche die Verff. den tachistoskopischen Methoden gewidmet haben, einer Revision zu unterziehen und sie, wo es von dem von ihnen vernachl\u00e4ssigten physiologischen Standpunkte aus n\u00f6thig erscheint, richtig zu stellen. Ich darf hierbei wohl versichern, dass ich von vornherein weder eine besondere Zuneigung zu den bisher angewandten noch eine besondere Abneigung gegen etwa neu vorzuschlagende Apparate und Methoden versp\u00fcre. Apparate sind ja nicht Personen, die man manchmal trotz ihrer M\u00e4ngel liebt, sondern H\u00fclfsmittel, die man, wenn sie nichts taugen, gern mit besseren vertauscht, wo diese zur Hand sind. Eine wirkliche Verbesserung der tachistoskopischen Methoden w\u00fcrde ich daher mit aufrichtiger Freude begr\u00fc\u00dfen.\nAls unerl\u00e4ssliche Forderungen, die ein tachistoskopischer Apparat erf\u00fcllen muss, d\u00fcrften im wesentlichen die folgenden anzusehen sein : 1) Die Einwirkungsdauer des Lichtreizes muss kurz genug sein, um","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n289\nAugenbewegungen auszuschlie\u00dfen. 2) Sie muss r\u00e4umlich so beschr\u00e4nkt und zugleich durch die Anbringung eines geeigneten Fixationspunktes schon vor der Exposition so bestimmt sein, dass alle Objecte ann\u00e4hernd gleich scharf gesehen werden k\u00f6nnen, dass also das Bild im wesentlichen in das Gebiet des directen Sehens f\u00e4llt, eine Bedingung, zu der mit Biicksicht auf die psychologischen Zwecke dieser Versuche in der Regel noch die andere hinzutreten wird, dass die Zahl der dem directen Sehen darzubietenden Gesichtsobjecte gr\u00f6\u00dfer sei als der Umfang derer, die simultan appercipirt werden k\u00f6nnen. 3) Die Einwirkungsdauer muss gleichzeitig sich auf alle Theile des Gesichtsobjectes erstrecken, oder es sollen wenigstens in der Erleuchtung der einzelnen Theile desselben keine irgend merklichen Unterschiede bestehen. 4) Der Zustand der Netzhautadaptation muss ein m\u00f6glichst g\u00fcnstiger sein; namentlich pl\u00f6tzliche Ueberg\u00e4nge von dunkel zu hell d\u00fcrfen nicht Vorkommen. 5) Ein l\u00e4nger dauerndes Nachbild des gesehenen Objectes muss vermieden werden. 6) Die Zeit der Bildwirkung muss kurz genug sein, um ein Wandern der Aufmerksamkeit von einem Theil des Objectes zum andern unm\u00f6glich zu machen. Dem kann endlich als eine Forderung, die nicht sowohl den Apparat als die Ausf\u00fchrungsweise der Versuche angeht, beigef\u00fcgt werden, dass die Beobachtungen selbst mit zureichend vorbereiteter Aufmerksamkeit ausgef\u00fchrt werden. Es muss also z. B. in zweckm\u00e4\u00dfigem Zeitintervall der Einwirkung des Sehobjectes ein Signal vorausgehen.\nIch habe diese Forderungen nicht in streng logischer Ordnung, sondern in der Reihenfolge hier aufgez\u00e4hlt, in der sie sich demjenigen, der an die Versuche herantritt, ungef\u00e4hr auf dr\u00e4ngen. Die Ausschlie\u00dfung der Augenbewegungen ist der urspr\u00fcngliche Zweck gewesen, den man bei der Construction des Tachistoskops im Auge hatte. Ihn hat schon Volkmann in den Vordergrund gestellt. Nebenbei hat er allerdings auch die Adaptation der Netzhaut beachtet, insofern er es als einen wesentlichen Vorzug seines Apparates ansah, dass die Versuche bei Tageslicht angestellt werden k\u00f6nnten. Doch hat er, nach dem Stand der damaligen Kenntnisse, die St\u00f6rungen, die hei der Beobachtung im Finstern eintreten, mehr auf die unsichere Accommodation als auf die ung\u00fcnstigen Bedingungen f\u00fcr die Netzhautadaptation bezogen. Von Erdmann und Dodge sind unter den oben aufgez\u00e4hlten sechs Erfordernissen beinahe ausschlie\u00dflich die\n20*","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nW. Wundt.\ndrei ersten ber\u00fccksichtigt worden, und dies hat sie mit einer gewissen Consequenz zur Construction ihres Apparates gef\u00fchrt. Freilich w\u00fcrde es dann einfacher gewesen sein, zur Beleuchtung mit dem elektrischen Funken zur\u00fcckzukehren, wie sie zuerst Dove f\u00fcr stereoskopische Versuche benutzte. Wie es scheint, hat die kurze Dauer des elektrischen Funkens sie davon abgehalten. Ihr Plan war daher darauf gerichtet, eine den elektrischen Funken an Dauer \u00fcbertreffende und zwischen weiten Grenzen in ihrer Dauer zu variirende k\u00fcnstliche Beleuchtung anzuwenden. Den drei \u00fcbrigen oben angef\u00fchrten Forderungen haben die Verff. nicht Rechnung getragen und nur beil\u00e4ufig, aber ohne n\u00e4here Begr\u00fcndung bemerkt, dass sich bei ihren Versuchen die Adaptation nicht st\u00f6rend geltend gemacht habe. Den gleichen Ma\u00dfstab der Beurtheilung haben sie dann auch an die andern tachistoskopi-schen Methoden, namentlich an das Fall-Tachistoskop, angelegt. Sie weisen darauf hin, dass namentlich in Bezug auf die Gleichzeitigkeit der Exposition das Fall-Tachistoskop theoretische M\u00e4ngel habe, die bei den Apparaten mit k\u00fcnstlicher Beleuchtung nicht existiren. Sie machen ferner auf einige M\u00e4ngel in Catteil\u2019s Ausf\u00fchrung der Versuche aufmerksam, wie das Fehlen eines constant bleibenden Fixationszeichens, unzureichende Angaben \u00fcber Entfernung des Auges, \u00fcber Vorausgehen eines Signals u. dergl., M\u00e4ngel, die zum Theil als solche anzuerkennen sind, die aber mit der Frage der Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit des Apparates nichts zu thun haben. Es wird daher im Interesse k\u00fcnftiger Versuche n\u00fctzlich sein, die durch die verschiedenen Apparate gegebenen Bedingungen, abgesehen von solchen zuf\u00e4lligen Nebenumst\u00e4nden, die die Resultate mehr oder weniger beeintr\u00e4chtigen m\u00f6gen, einer kurzen Pr\u00fcfung zu unterziehen.\nDass nun das Fall-Tachistoskop die erste der sechs obigen Forderungen erf\u00fcllt, wird wohl nicht bestritten. Um Augenbewegungen auszuschlie\u00dfen, bedarf man, wie schon Volkmann richtig erkannte, nicht des elektrischen Funkens. W\u00e4hlt man, wie es Cattell that, eine Expositionsdauer von 0,0.1\", so ist an eine Augenbewegung w\u00e4hrend dieser Zeit l\u00e4ngst nicht mehr zu denken, und man kann sogar, wenn es sich blo\u00df um diese Bedingung handelt, noch erheblich weiter gehen. F\u00fcr Demonstrationsversuche bediene ich mich eines gro\u00dfen, 2 m hohen Tachistoskops mit 6 cm gro\u00dfen, auf weite Entfernungen sichtbaren Buchstaben als Gesichtsobjecten (der Apparat ist Bd. H,","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n291\nS. 291 meiner Physiol. Psychol.4 abgebildet), bei welchem die mittlere Expositionsdauer einer Zeile 0,08\" betr\u00e4gt. Selbst bei dieser Zeik-gro\u00dfe kann man, wie ich glaube, in Anbetracht des Umstandes, dass dem Auge von vornherein willk\u00fcrlich eine bestimmte Fixationsstellung gegeben wird, ziemlich sicher sein, dass Augenbewegungen ausgeschlossen sind. F\u00fcr Demonstrationsversuche sind aber Apparate mit sehr kurzer Expositionsdauer nicht brauchbar, weil diese eine gr\u00f6\u00dfere Uebung der Beobachter und mehrfache Wiederholung der Versuche erfordern. Um z. B. einem Auditorium zu zeigen, dass ein ganzes Wort simultan appercipirt, und dass es rascher gelesen wird als einzelne Buchstaben, auch wenn deren Anzahl erheblich unter der im Wort enthaltenen bleibt, muss man sich gr\u00f6\u00dferer Apparate mit etwas l\u00e4ngerer Expositionszeit bedienen. Der f\u00fcr exactere Versuche anzuwendende kleine Apparat, wie ihn Cattell beschrieben hat, verlangt eine ganz andere Methode der Beobachtung. Bei der Exposition einer Anzahl von Buchstaben oder W\u00f6rtern sieht man hier heim ersten Fallversuch, wenn der Eindruck ein nicht erwarteter ist, h\u00f6chstens 2\u20143 Buchstaben, und erst wenn man \u00f6fter nach einander mit demselben Object den Versuch wiederholt, gewinnt man die f\u00fcr die Auffassung eines momentanen Eindrucks \u00fcberhaupt erreichbare Grenze, die dann aber in weiteren Versuchen mit dem gleichen Object nicht mehr \u00fcberschritten wird. Auf diese Weise hat Cattell hei Anwendung seiner Expositionszeit von 10 a (1 a \u2014 0,001 Sec.) in der Pegel f\u00fcnfmal nach einander einen und denselben Versuch wiederholt, und seine Ergebnisse beziehen sich daher nur auf das so gewonnene Schlussergebniss. Diese Cumulation der Versuche, zu der man hei sehr kurzer Einwirkungszeit gen\u00f6thigt ist, zeigt zugleich den auch sonst hei diesen Beobachtungen so augenf\u00e4lligen Einfluss bereit liegender Vorstellungsresiduen. Denn es ist zu beachten, dass die hei dem letzten Versuch einer\u2019 Beobachtungsgruppe hervortretende Vorstellung gerade so als durchaus simultan gegeben erscheint wie das beim ersten Versuch wahrgenommene Fragment derselben. Zugleich ersieht man aber hieraus, dass die Wiederholung der instan-tanen Eindr\u00fccke den gleichen Erfolg hat wie die Verl\u00e4ngerung ihrer einmaligen Einwirkungsdauer, vorausgesetzt, dass man mit dieser Dauer nicht \u00fcber eine bestimmte Grenze hinausgeht, von der an eine successive Auffassung der Theile des Eindrucks durch W anderung","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nW. Wundt.\nder Aufmerksamkeit \u00fcber das Object, sei es mit sei es ohne begleitende Augenbewegungen, m\u00f6glich ist. Ich bemerke schon hier, dass dieser Umstand einerseits die Uebereinstimmung gewisser Resultate Oattell\u2019s mit denen von Erdmann und Dodge trotz der viel l\u00e4ngeren Expositionszeit von 0,1\", die diese angewandt haben, anderseits aber auch die wohl noch gr\u00f6\u00dferen Unterschiede in den Resultaten wenigstens zum Theil begreiflich macht.\nErf\u00fcllt in den angegebenen Beziehungen das Eall-Tachistoskop im allgemeinen die an ein Instrument dieser 'Art zu stellenden Anforderungen, so hat es aber daneben unleugbar einige Nachtheile, die man bei Anwendung des Apparates in irgend einer Weise, wenn nicht beseitigen, so doch jedenfalls unter die Grenze merklich werdender Eehler herabzumindern bem\u00fcht sein muss. Erdmann und Dodge verwerfen, wie es scheint, wegen dieser Nachtheile den Apparat ganz und gar. Ich glaube, dass sich dieses abf\u00e4llige Urtheil bei unbefangener Abw\u00e4gung der Bedingungen keineswegs aufrecht erhalten l\u00e4sst, und dass es zu einem sehr wesentlichen Theile durch die oben bemerkte Nichtbeachtung der physiologischen Bedingungen der tacliistoskopischen Versuche mitverschuldet ist. Jene M\u00e4ngel bestehen 1) darin, dass man \u00fcber die Berechnungsweise der absoluten Expositionsdauer der Sehobjecte im Zweifel sein kann, und dass sich 2) die Objecte in Wirklichkeit nicht vollkommen simultan, sondern in dem Sinne successiv dem Auge darbieten, dass die oberen Theile eines Objectes schon sichtbar werden, w\u00e4hrend die unteren noch verdeckt sind, und dass ebenso die oberen schon wieder verdeckt werden, w\u00e4hrend die unteren noch kurze Zeit sichtbar bleiben, so dass also nur die zwischen diesen beiden Stadien liegende Zeit diejenige ist, bei der wirklich eine simultane Einwirkung stattfindet. Das erste dieser Bedenken d\u00fcrfte nun allerdings nicht allzu schwer wiegen. Da die obere H\u00e4lfte einer gedruckten Zeile die wesentlichsten Merkmale der Buchstaben enth\u00e4lt, und man also ein Wort meist schon zu erkennen vermag, wenn nur diese obere H\u00e4lfte sichtbar ist, so w\u00fcrde es vielleicht am rationellsten sein, als Zeit des Vor\u00fcberganges diejenige Zeit zu nehmen, die von der eben erreichten Sichtbarkeit der oberen Zeilenh\u00e4lfte bis zu dem Moment ihres Verschwindens reicht. Nat\u00fcrlich wird man aber auch kein von diesem merklich verschiedenes Ergebniss gewinnen, wenn man etwa die Zeit von der eben erreichten","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n293\nvollen Sichtbarkeit der Zeile bis zu ihrem totalen Verschwinden berechnet. Der Unterschied in beiden F\u00e4llen muss, da es sich dabei nicht um Gr\u00f6\u00dfenwerthe des in Rechnung zu bringenden Fallraumes, sondern hei gew\u00f6hnlicher mittlerer Druckschrift nur um eine Verschiebung dieses Fallraumes nach oben oder unten um ^ \u2014 1 mm handelt, sogar im Verh\u00e4ltniss zu der kleinen Expositionszeit von 0,01\", von v\u00f6llig verschwindender Gr\u00f6\u00dfe sein. Etwas anders verh\u00e4lt es sich mit der verschiedenen Expositionszeit f\u00fcr die verschiedenen Theile des Sehobjects. Auch ist die Dauer dieser Zeit f\u00fcr die oberen Theile einer Figur etwas gr\u00f6\u00dfer als f\u00fcr die unteren. Je nach der Gestalt des Sehobjectes k\u00f6nnen nat\u00fcrlich diese Unterschiede mehr oder minder bedeutend sein. Am g\u00fcnstigsten sind auch hier wieder solche Objecte, die, wie eine gedruckte Zeile, eine relativ geringe H\u00f6he und betr\u00e4chtliche Breite haben. Bei diesen von Oattell sowie von Erdmann und Dodge zu ihren Versuchen angewandten Objecten sind selbst bei dem oben erw\u00e4hnten Demonstrationstachistoskop mit verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig langer Expositionszeit die gedachten Unterschiede so klein, dass sie wenig ins Gewicht fallen. Hoch mehr gilt das nat\u00fcrlich von der kleinen, von Catteil beschriebenen Form des Apparats, die f\u00fcr exacte Versuche allein in Betracht kommt. Hier ist bei der Versuchsanordnung Cattell\u2019s bei 10 mm Spalt- und 1-|\u20142 mm Buchstabenh\u00f6he) der Unterschied auf 1\u20142 a zu veranschlagen '). Sollen Objecte von gr\u00f6\u00dferer Ausdehnung in der Verticalrichtung verwendet werden, so ist es aber allerdings r\u00e4thlich, diesem Umstande dadurch Rechnung zu tragen, dass man dem Tachi-stoskop eine gr\u00f6\u00dfere Fallh\u00f6he gibt, also durch gr\u00f6\u00dfere Geschwindigkeit die erw\u00e4hnten Zeitunterschiede verringert, wobei dann, um dennoch eine zureichend lange Expositionszeit zu gewinnen, der Ausschnitt des Fallschirms vergr\u00f6\u00dfert werden kann. Dem entsprechend ist dem seit Jahren im hiesigen psychologischen Institut ben\u00fctzten Apparat eine H\u00f6he von 50 cm gegeben werden, w\u00e4hrend die des Cattell-\n1 ) Streng genommen ist \u00fcbrigens hierbei nicht die ganze H\u00f6he der Zeile in Rechnung zu ziehen, da die obersten Punkte eines Buchstabens noch keinen Erkennungswerth besitzen und die unteren f\u00fcr die Auffassung nicht mehr in Betracht kommen, weil diese schon vorher beendet ist. Da es sich aber hier, wie sich aus den unten folgenden Er\u00f6rterungen ergeben wird, unter allen Umst\u00e4nden um verschwindende Unterschiede handelt, so kann dies au\u00dfer Betracht bleiben.","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nW. Wundt.\nsehen Apparats nur 30 cm betrug, zugleich kann der zur Pesthaltung des Pallschirms bestimmte Elektromagnet durch Schrauben an den S\u00e4ulen des Gestells auf und ah bewegt werden, um eventuell bei geringerer Fallh\u00f6he arbeiten zu k\u00f6nnen1).\nNun k\u00f6nnte man freilich immer noch sagen, ein Zeitunterschied von 1 \u2014 2 a sei zwar klein, aber gegen\u00fcber einer so kleinen Zeitgr\u00f6\u00dfe wie 10 a Expositionsdauer sei er nicht verschwindend klein ; der Apparat sei also mit einem nicht eliminirbaren Fehler behaftet, der, weil er am sichersten bei der Anwendung k\u00fcnstlicher Lichtquellen zu vermeiden ist, entweder eine R\u00fcckkehr zur \u00e4lteren Methode elektrischer Punkenerleuchtung oder irgend eine andere Anwendung k\u00fcnstlicher Beleuchtung r\u00e4thlich mache. Diese Argumentation w\u00fcrde in der That vom rein physikalischen Standpunkte aus berechtigt sein, wenn nicht das Auge, abgesehen davon dass es ein optischer Apparat ist, noch die Eigenschaften eines nerv\u00f6sen Apparates bes\u00e4\u00dfe, die wir selbstverst\u00e4ndlich niemals eliminiren k\u00f6nnen. Trotzdem gehen Erdmann und Dodge bei ihren Er\u00f6rterungen \u00fcber Expositionszeit und \u00e4hnliches fortw\u00e4hrend, wie es scheint, von der Voraussetzung aus, Reizdauer und Bildzeit im Auge (diese als Zeit des empfundenen Bildes verstanden) fielen zusammen, und beide gingen einander derart proportional, dass sich mit der Verl\u00e4ngerung der Expositionszeit immer auch die Bildzeit verl\u00e4ngern m\u00fcsse und umgekehrt. Das ist aber so wenig der Pall, dass bei einer kurzen Expositionszeit die Bilddauer sehr viel l\u00e4nger sein kann als bei einer l\u00e4ngeren Expositionszeit. Eine Reizdauer von ca. 0,00004\", wie sie nach den Ermittelungen Feddersen\u2019s \u00fcber die Zeit des elektrischen Funkens bei der Beobachtung der im Dunkeln bei Funkenentladung beobachteten Objecte vorhanden sein mag, w\u00fcrde, wenn die Bilddauer mit ihr identisch w\u00e4re, \u00fcberhaupt nichts erkennen lassen. Objecte beim Licht eines einzelnen elektrischen Funkens\n1) Vgl. die Abbildung und Beschreibung des Apparates bei Catteil, Phil. Stud. Ill, S. 97 f. Zweckm\u00e4\u00dfiger als das von Catteil benutzte Pixirzeichen (F der Fig.), welches sich mit dem fallenden Schirm entfernt, ist es \u00fcberdies, ein fest bleibendes Pixirzeichen anzubringen, das klein genug sein muss, um keinen Theil des Sehobjectes merklich zu verdecken. Um den Apparat eventuell auch als Demonstrationsapparat mit etwas verminderter Geschwindigkeit verwendbar zu machen, ist ihm endlich eine Atwood\u2019sche Vorrichtung beigegeben, mittelst deren die Fallgeschwindigkeit durch ein Gegengewicht erm\u00e4\u00dfigt werden kann.","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik taehistoskopiseher Versuche.\n295\nk\u00f6nnen wir nur darum sehen, weil die Bilddauer in der Netzhaut wegen der enorm langen Nachdauer der Erregung so viel l\u00e4nger ist als die Dauer eines elektrischen Funkens, dass diese im Vergleich mit jener \u00fcberhaupt verschwindend klein wird. Nicht von der Expositionszeit, sondern von der Bildzeit, das hei\u00dft von der Zeit, w\u00e4hrend deren die Erregung in nicht merklich ver\u00e4ndertem Grade in der Netzhaut andauert, ist aber nat\u00fcrlich die M\u00f6glichkeit Objecte bei kurz dauernder Lichteinwirkung aufzufassen abh\u00e4ngig. Zugleich ist es eine bekannte Sache, dass diese Nachdauer nicht blo\u00df je nach der Dauer der Lichtreizung, sondern wohl in viel h\u00f6herem Grade je nach dem Adaptationszustande der Netzhaut variirt. Diese letztere Abh\u00e4ngigkeit bringt es z. B. mit sich, dass das im Dunkeln erzeugte Funkenbild sehr viel l\u00e4nger dauert als der hei Tageslicht erzeugte Eindruck eines Sehobjectes. Wenn man darum ein Object im Dunkeln durch den elektrischen Funken, also in einer Zeitdauer von ca. 0,00\u00dc04\" erleuchtet, und dann das gleiche Object im Tachistoskop bei Tageslicht w\u00e4hrend 0,01\" sichtbar macht, so ist nicht das Tachi-stoskopbild, sondern das Funkenhild das l\u00e4nger dauernde. In beiden F\u00e4llen sind eben Expositionsdauer und Bilddauer ganz verschiedene Dinge, und unter allen Umst\u00e4nden betr\u00e4gt bei solchen Versuchen mit kurz dauernder Reizung die Expositionsdauer immer nur einen verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig kleinen Bruchtheil der Bilddauer. Darum ist es auch nicht zu verwundern, dass Erdmann und Dodge bei ihrem im wesentlichen auf Dunkeladaptation eingerichteten Apparat hei sehr kurzen Expositionszeiten von 0^00025\" niemals \u00bbein Bewusstsein davon constatiren konnten, dass die Dauer der Exposition eine sehr kurze sei\u00ab. Eher ist es zu verwundern, dass sie diese Thatsache, wie es scheint, auf die Gew\u00f6hnung an kurze Expositionszeiten zur\u00fcckf\u00fchren/ (S. 136). Zwar ist die Macht der Gewohnheit gro\u00df, aber kurz) dauernde Netzhautbilder in lang dauernde zu verwandeln, das vermag' sie doch nicht.\nAngesichts dieser bekannten physiologischen Verh\u00e4ltnisse hat es nun, wie man sieht, sehr wenig Zweck, sich in umsichtigen Er\u00f6rterungen dar\u00fcber zu ergehen, wie gro\u00df in Tausendtheilen einer Secunde ausgedr\u00fcckt die Expositionszeit eines Eindrucks gewesen sei, oder die H\u00fclfsmittel zu er\u00f6rtern, die angewandt werden k\u00f6nnen, um ganz kleine Ungleichheiten dieser Zeit, die sich in der dritten oder vierten","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nW. Wundt.\nD\u00e9cimale der Secunde bewegen, zu vermeiden. Solche scharfsinnige Ueherlegungen erinnern an die Bem\u00fchungen eines Mannes, der die kleinen Risse eines leck gewordenen Fasses vorsichtig verkittet, dabei aber vergisst, dass das Spundloch offen gehliehen ist. Ich m\u00f6chte damit gewiss nicht einer Methode das Wort reden, welche die w\u00fcn-schenswerthe physikalische Genauigkeit au\u00dfer Acht l\u00e4sst ; ich m\u00f6chte nur auf die Unfruchtbarkeit aller physikalischen Vorsichtsma\u00dfregeln auf diesem Gebiete hinweisen, bei denen man die physiologischen Eigenschaften des Sehorgans ignorirt.\nDamit kommen wir auf diejenigen Eigenschaften des Fall-Tachistoskops, die den bisher besprochenen Nachtheilen gegen\u00fcber seine Vorz\u00fcge ausmachen, und die \u00fcberdies zur Ausgleichung jener Nachtheile direct beitragen, indem sie die verm\u00f6ge der physikalischen Bedingungen vorhandenen Fehler in ihrer relativen Gr\u00f6\u00dfe betr\u00e4chtlich vermindern. Diese Eigenschaften bestehen in der Erf\u00fcllung der oben an f\u00fcnfter und sechster Stelle erhobenen Forderungen der m\u00f6glichst vollkommenen Adaptation und der m\u00f6glichst kurzen Nachdauer der Netzhauterregung. Die vollkommenste Adaptation ist unter allen Umst\u00e4nden die Tagesadaptation: wir k\u00f6nnen das Sehorgan in keine g\u00fcnstigere Lage bringen, auf \u00e4u\u00dfere Reize prompt und sicher zu reagiren, als wenn wir diese Reize bei dauernder Tagesbeleuchtung einwirken lassen. Bei Versuchen im Dunkeln ist im Moment, wo der Lichtreiz eintritt, das Auge nicht auf ihn adaptirt. Der Adaptationsvorgang bewirkt aber eine St\u00f6rung des Sehactes, die vor allem bei psychologischen Versuchen verh\u00e4ngnissvoll wirkt, weil sie eine sichere subjective Beobachtung unm\u00f6glich macht. Dieser Vortheil der vollkommensten Adaptation, der den Versuchen mit Tageslicht zukommt, verbindet sich aber zugleich mit dem weiteren der k\u00fcrzesten Nachbildwirkung. F\u00fcr die tachistoskopischen Versuche kommt nat\u00fcrlich nur jene Phase des positiven Nachbildes in Betracht, wo dieses in nicht merklich vermindertem Grade den objectiven Reiz \u00fcberdauert. Wir besitzen \u00fcber diesen Punkt numerische Daten, die den wesentlichen Unterschied der Hell- und Dunkeladaptation in dieser Beziehung ermessen lassen, und die auch ihren absoluten Werthen nach im allgemeinen auf die vorliegenden Versuche \u00fcbertragbar sein d\u00fcrften, in den Versuchen von E. M. Weyer \u00bb\u00fcber die Zeitschwellen gleichartiger und disparater Sinneseindr\u00fccke\u00ab,","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik taehistoskopischer Versuche.\n297\nspeciell in den von ihm \u00fcber die Zeitschwellen des Gesichtssinnes gewonnenen Ergebnissen \u2019). Hiernach werden zwei elektrische Funken bei Tagesadaptation noch als ein Funke wahrgenommen, wenn sie in einem Intervall von etwa 40 a auf einander folgen, \u00fcber diese Grenze bis zu 50 o werden sie in der Mehrzahl der F\u00e4lle, und \u00fcber 50 u werden sie so gut wie in allen F\u00e4llen als zeitlich getrennt unterschieden. Das verh\u00e4lt sich wesentlich anders hei Dunkeladaptation. Hier werden bis zu einem Intervall von etwa 80 a die auf einander folgenden Funken in einer gr\u00f6\u00dferen Anzahl von Beobachtungen beinahe ausnahmslos in einen verschmolzen, zwischen 80 und 100 ff treten Schwankungen auf: die Funken werden bald verschmolzen bald getrennt gesehen, erst \u00fcber 100 ff wird die Unterscheidung eine ziemlich constante. Der ganze Verlauf zeigt zugleich bei der Tagesadaptation einen sehr viel rascheren Uehergang der Einheits- in die Zweilieitsurtheile, als hei der Dunkeladaptation, ein Umstand, der mit Sicherheit darauf hinweist, dass im letzteren Fall die Nachbilddauer nicht blo\u00df l\u00e4nger, sondern dass sie auch viel schwankender ist, so dass bei objectiv gleich bleibender Beizdauer die Bilddauer in der Netzhaut erhebliche Unterschiede darbieten kann, offenbar theils wegen der viel gr\u00f6\u00dferen absoluten Zeitwerthe, theils auch wegen der Modificationen der Erregbarkeit, die durch vorangegangene Erregungen sowie durch sonstige Bedingungen herbeigef\u00fchrt werden, und die bei der Dunkeladaptation bedeutend wechselnder sind als bei Tageslicht1 2). Diese Umst\u00e4nde treten so entschieden f\u00fcr eine Versuchsanordnung ein, bei der ausschlie\u00dflich mit Tagesadaptation gearbeitet wird, dass es sich nicht lohnt, dar\u00fcber noch ein Wort zu verlieren. Zugleich zeigen aber die Ergebnisse \u00fcber die Nachwirkung der Netzhautreizung sehr deutlich, wie falsch es ist, wenn man aus der Expositionsdauer auf die Bilddauer, und wenn man aus der zeitlichen Constanz der Versuchsanordnung auf die zeitliche Constanz der Bildeinwirkung schlie\u00dfen will. Wenn man beim Fall-Tachistoskop in Tagesbeleuchtung die Expositionsdauer zu 0,01 \" w\u00e4hlt, so kann man unter Anrechnung einer Nachwirkung von 40\u201450 a die wirkliche Dauer des empfundenen Bildes,. die f\u00fcr die psychologische Seite der Frage\n1)\tPhilos. Studien, XV, S. 68 ff.\n2)\tMan vergl. die diese Verh\u00e4ltnisse veranschaulichenden Curven in Weyer\u2019s Abhandlung Pig. 3 und 4, S. 84.","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nW. Wundt.\n/\nf\nallein in Betracht kommt, zu 0,05\u20140,06\" ansetzen, und man darf zugleich annehmen, dass diese Dauer in den einzelnen Versuchen in hohem Grade constant bleibt. Damit verbindet sich nun jene Unsicherheit in den objectiven Bedingungen wegen der ungleichen Expositionszeit der verschiedenen Theile des Objectes, die wir auf 1\u20142 a veranschlagt haben. Dass diese Zeit im Verh\u00e4ltniss zur ganzen Bilddauer von 0,05\u20140,06\" verschwindet, und dass sie innerhalb der Grenzen liegt, in denen sich selbst bei Tagesheleuchtung die Schwankungen der Erregungsdauer bei gleicher Expositionszeit bewegen, ist einleuchtend. Dem entspricht nun auch ganz die subjective Wahrnehmung w\u00e4hrend der Versuche: die Bewegung des Fallschirms \u00fcber das Sehobject bei 0,01\" Expositionszeit nimmt man \u00fcberhaupt gar nicht mehr als Bewegung wahr, sondern man hat den Eindruck, dass momentan und in allen seinen Theilen gleichzeitig das Object zuerst sichtbar gemacht werde und dann ebenso pl\u00f6tzlich wieder verschwinde. Dem gegen\u00fcber ist es auch bei den Beobachtungen im Dunkeln freilich unzweifelhaft, dass die Dauer eines elektrischen Funkens, auch wenn sie, wie aus den physikalischen Versuchen hervorgeht, etwas variabel sein sollte, doch bei diesen physiologischen Versuchen als absolut constant angesehen werden kann, weil sie unter allen Umst\u00e4nden eine gegen die psycho-physischen Zeitr\u00e4ume verschwindende Gr\u00f6\u00dfe bleibt. Aber nicht diese physikalische Gr\u00f6\u00dfe ist es ja, die hei unsern Versuchen in Betracht kommt, sondern die Reaction, die sie in der Netzhaut ausl\u00f6st. Diese ist hier auf mindestens 90\u2014100 a zu veranschlagen: die Bilddauer ist also nicht kleiner, sondern nahezu doppelt so gross als bei den Tagesversuchen mit 0,01\" Expositionszeit. Nebenbei ist sie aber auch noch sehr viel inconstanter, so dass die Schwankungen der Einwirkung des Bildes auf das Bewusstsein alle jene Unsicherheiten, die bei den Fallversuchen wegen der verschiedenen Dauer der Sichtbarkeit obwalten, um das vielfache \u00fcbertreffen. Daneben muss man endlich, nicht als das geringste Uebel, die durch den raschen Adaptationswechsel von dunkel auf hell und wieder von hell auf dunkel bewirkten St\u00f6rungen der Aufmerksamkeit mit in den Kauf nehmen.\nDer Gedanke liegt nahe, dieser durch das Nachbild bewirkten Unsicherheit \u00fcber die Zeit der Bildwirkung dadurch zu steuern, dass man unter allen Umst\u00e4nden, ob man nun hei Tagesheleuchtung","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n299\noder im Dunkeln arbeiten mag, den Eindruck durch einen andern st\u00e4rkeren Reiz nach einer bestimmten Zeit ausl\u00f6scht. Dieser Versuch ist in der That von Baxt1) mittelst eines von Helmholtz angegebenen und zu Versuchen anderer Art auch von 8. Exner angewandten Apparates gemacht worden2). Dabei werden aber, auch wenn man annimmt, dass die Ausl\u00f6schung des Nachbildes mit hinreichender Ann\u00e4herung eine momentane sei, was immerhin zweifelhaft ist, zugleich psychologische Complicationen herbeigef\u00fchrt, deren Wirkungen sich nicht \u00fcbersehen lassen. Die Aufeinanderfolge zweier verschiedener Reize bedeutet n\u00e4mlich f\u00fcr das Bewusstsein nicht dasselbe wie ein einziger Reiz von bestimmt abgegrenzter Dauer. Inwieweit bei diesen Versuchen der folgende Reiz eine St\u00f6rung in der Auffassung des vorangegangenen bewirkt haben mag, l\u00e4sst sich daher nicht ermessen. Eine solche gewaltsame St\u00f6rung der Nachbildwirkungen ist aber unbedingt zu vermeiden. Bei dem Eall-Tachistoskop geschieht das dadurch, dass die Stelle des Eindrucks vor wie nach der Exposition als indifferenter dunkler Fleck erscheint, der wegen seiner Kleinheit die Tagesadaptation des Auges nicht st\u00f6rt und dagegen die Nachwirkung des Reizes, die f\u00fcr die Auffassung desselben nicht entbehrt werden kann, ungest\u00f6rt l\u00e4sst.\nDie Bilddauer in der Netzhaut selbst l\u00e4sst sich demnach in Anbetracht der physiologischen Eigenschaften des Sehorgans bei allen zur Anwendung geeigneten Formen des Tachistoskops immer nur ann\u00e4herungsweise bestimmen. Das ist ein Uebelstand, den man vielleicht bedauern mag, der aber doch nur dazu auffordern kann, die Methode so zu gestalten, dass die Nachwirkung des Eindrucks m\u00f6glichst kurz und m\u00f6glichst gleichm\u00e4\u00dfig sei, damit man wenigstens sicher ist, unter den f\u00fcr die psychologische Beobachtung g\u00fcnstigsten Verh\u00e4ltnissen zu arbeiten.\nDiese Bedingung k\u00f6nnte nun nat\u00fcrlich auch bei dem von Baxt ben\u00fctzten Helmholtz\u2019schen Apparate ohne Schwierigkeit erf\u00fcllt werden. Bei ihm kommt n\u00e4mlich die Exposition dadurch zu Stande, dass in angemessener Entfernung von einander zwei Scheiben mit\n1)\tBaxt, Pfl\u00fcger\u2019s Archiv, IV, 1871, S. 325 ff.\n2)\tSiehe dessen Beschreibung in Helmholtz\u2019 Phys. Optik2, S. 514. Eine ausf\u00fchrlichere Beschreibung gibt Exner, Sitzungsberichte der Wiener Akademie, LVIH, 2, 1868, S. 601 ff.","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nW. Wundt.\nverschiedener Geschwindigkeit rotiren. Zwischen ihnen ist ein \u00bbnicht vergr\u00f6\u00dferndes Fernrohr\u00ab (ein System zweier Convexlinsen von gleicher Brennweite, die um die Summe ihrer Brennweiten von einander entfernt sind) angebracht. Der Beobachter blickt durch einen vor der vorderen Scheibe befindlichen kleinen Spalt, und die vordere Scheibe selbst hat einen Ausschnitt, der einen bestimmten Bruchtheil ihres Umfangs ausmacht. An der hinteren Scheibe wird auf einem Sector das Sehobject befestigt, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen Sectoren je nach dem Plan des Versuchs wei\u00df oder schwarz gew\u00e4hlt werden k\u00f6nnen. Dabei wird innerhalb einer l\u00e4ngeren Beihe von Umdrehungen das Sehobject jedesmal w\u00e4hrend der Zeit sichtbar, w\u00e4hrend deren der betreffende Sector der hinteren Scheibe zugleich mit dem Ausschnitt der vorderen an dem Spalt vor\u00fchergeht. Der Apparat kann also auch ohne die von Baxt bewirkte Ausl\u00f6schung des Bildes durch einen st\u00e4rkeren Beiz angewandt werden, wenn man au\u00dfer dem Sector mit dem Sehobject lauter schwarze oder graue Sectoren an der zweiten Scheibe anhringt. Dann entspricht er, bei Tageslicht verwendet, im wesentlichen dem Fall-Tachistoskop, abgesehen davon, dass die Bewegung des Schirms, der das Object enth\u00fcllt, nicht mit beschleunigter, sondern, da die Drehung durch einen mit Selbstregulirung versehenen elektromagnetischen Botationsapparat bewirkt wird, mit gleichf\u00f6rmiger Geschwindigkeit geschieht. Dieser Unterschied ist nat\u00fcrlich gleichg\u00fcltig. Dagegen hat der Helmholtz\u2019sehe Apparat neben der gr\u00f6\u00dferen Complication, die seine Anwendung erschwert, zwei Nachtheile. Erstens kann die Exposition nicht in jedem Augenblick von dem Beobachter nach Willk\u00fcr und nach einem vorangegangenen Aufmerksamkeitssignal vorgenommen werden, sondern sie tritt unvorhergesehen, also in einer die psychologische Beobachtung betr\u00e4chtlich beeintr\u00e4chtigenden Weise ein. Zweitens wiederholt sie sich ohne Zuthun des Beobachters in bestimmten von diesem abzuwartenden Pausen, die immer nur mittelst ziemlich umst\u00e4ndlicher Aenderungen der Versuchsanordnung variirt werden k\u00f6nnen. So werthvoll daher der Apparat f\u00fcr andere Zwecke ist, z. B. f\u00fcr solche Versuche, wie sie Exner ausgef\u00fchrt hat, als Tachistoskop f\u00fcr psychologische'Zwecke ist er wegen der angedeuteten Uebelst\u00e4nde kaum verwendbar1).\n1) Der Titel der Exner\u2019schen Arbeit (\u00bblieber die zu einer Gfesichtswahr-nehxnung n\u00f6thige Zeit\u00ab) k\u00f6nnte leicht zu dem Irrthum verf\u00fchren, als habe es sich","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n30 t\nSind die Tachistoskope, die der Beobachtung bei Tageslicht dienen, im allgemeinen darauf angewiesen, eine Expositionsweise zu verwenden, die nicht f\u00fcr alle Theile des Objectes streng simultan ist, wenn auch leicht der hierdurch bedingte Fehler wegen der physiologischen Eigenschaften des Auges auf eine verschwindende Gr\u00f6\u00dfe herabgedr\u00fcckt wrerden kann, so l\u00e4sst sich der Tachistoskopie mit k\u00fcnstlichem Licht von vornherein der Vortheil nicht absprechen, dass hei ihr dieser Fehler, so weit er die physikalische Seite der Einrichtung betrifft, ohne Schwierigkeit ganz zu vermeiden ist. Am vollkommensten geschieht das bei der Beleuchtung mit dem momentanen elektrischen Funken. Dennoch werden wir uns hei ihr nach dem oben Bemerkten nicht weiter aufzuhalten brauchen. Diese Methode, die nach Dove noch von Zoeliner, Helmholtz u. A. zu \u00e4hnlichen Zwecken angewandt wurde, ist heute thats\u00e4chlich verlassen. Das hat nat\u00fcrlich, in Anbetracht ihrer sonstigen Einfachheit, seine guten Gr\u00fcnde: die Adaptationsst\u00f6rungen, die in diesem Falle bei dem pl\u00f6tzlichen Uebergang von dunkel zu hell auftreten, sind allzu gro\u00df; und zwar wird durch sie nicht nur die objective Auffassung des Bildes beeintr\u00e4chtigt, sondern es wird namentlich auch die subjective Beobachtung der WahrnehmungsVorg\u00e4nge sehr erschwert.\nZu den Tachistoskopen mit k\u00fcnstlicher Beleuchtung geh\u00f6rt nun auch der von Erdmann und Dodge construirte Apparat. Man k\u00f6nnte sagen : er hat von der elektrischen Funkenbeleuchtung die k\u00fcnstliche Lichtquelle und den simultanen Eintritt der Exposition her\u00fcbergenommen, w\u00e4hrend er die M\u00f6glichkeit einer l\u00e4ngeren, beliebig abzustufenden Dauer der Exposition von den bisher angewandten Tages-Tachistoskopen entlehnt. Er sucht also die Vortheile beider Methoden zu vereinigen und ihre Nachtheile zu vermeiden. Dies geschieht dadurch, dass durch den Projectionsapparat einer Camera ohscura, \u00e4hnlich wie bei der Photographie, das objective Bild des zu exponi-renden Sehobjectes auf einer Mattglasplatte entworfen wird. Die Zeit der Entwertung dieses Bildes kann aber genau auf eine ganz bestimmte Dauer eingeschr\u00e4nkt werden, indem das Licht eines\nauch in ihr um psychologische Zeitbestimmungen gehandelt. Das ist aber nicht der Fall, sondern es wurde der zeitliche Verlauf einer durch constante Beleuchtung erzeugten Netzhauterregung, also ein rein physiologischer Vorgang, untersucht.","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nW. Wundt.\ndurch eine elektrische Lampe erhellten Reflectors zu dem Linsen-system der Camera durch einen Spalt gelangt, der w\u00e4hrend einer genau messbaren Zeit ge\u00f6ffnet und wieder verdeckt werden kann. Die Abgrenzung der Expositionszeit geschieht bei den kleinsten Zeiten von 0,01\"\u20140,00025\" mittelst einer mit einem offenen Sector versehenen rasch rotirenden Umdrehungsscheibe, bei allen gr\u00f6\u00dferen Zeiten blo\u00df durch einen Eallspalt. In Wirklichkeit wurde nur die letztere einfachere Vorrichtung angewandt, so dass hier die bei der ersteren erforderlichen H\u00fclfsvorrichtungen, die eine Wiederholung der einmal eingetretenen Expositionen durch nochmaligen Vorbeigang des offenen Sectors zu verh\u00fcten bestimmt waren, au\u00dfer Betracht bleiben k\u00f6nnen. Der Beobachter sah auf die in einer Dunkelkammer befindliche Expositionsfl\u00e4che, w\u00e4hrend sein Kopf von einem schwarzen Tuch bedeckt war. Die Bedingungen der Dunkeladaptation waren also sorgf\u00e4ltig gewahrt. Nur die Expositionsfl\u00e4che wurde in den Pausen zwischen den Expositionen durch das von einer besonderen Lampe ausgehende und von einer wei\u00dfen Fl\u00e4che gegen sie reflectirte Licht erleuchtet. Die Einrichtung war so getroffen, dass dieses Licht im seihen Moment verschwand, wo die starke Beleuchtung des Gesichtsfeldes eintrat, und dass es im Moment wieder zugelassen wurde, wo die letztere aufh\u00f6rte. Die Helligkeit, welche das Expositionslicht der 2,38 qcm gro\u00dfen Fl\u00e4che am Ort des Auges erzeugte, betrug nach einer von Dr. Dittenberger vorgenommenen photometrischen Bestimmung das 0,0325fache einer Hefner-Lampe in ein Meter Entfernung, und diese Helligkeit verhielt sich zu der des constanten Gesichtsfeldes w\u00e4hrend der Versuchspausen wie 12,38 zu 1. Die Verff. r\u00fchmen es als einen besonderen Vorzug ihres Apparates, dass er die binoculare Beobachtung gestatte, eine Eigenschaft, die ihm \u00fcbrigens, wie kaum bemerkt zu werden braucht, nicht eigenth\u00fcmlich ist, da hei dem Fall-Tachistoskop ebenfalls eine binoculare Beobachtung m\u00f6glich ist (Volkmann hat es urspr\u00fcnglich sogar ausdr\u00fccklich f\u00fcr diese construirt), w\u00e4hrend der Helmholtz\u2019sehe Apparat eine solche allerdings ausschlie\u00dft. Die Verff. suchten endlich weiterhin durch Vorversuche mit Beobachtung von Ortsver\u00e4nderungen der Bilder auf dem blinden Fleck die Dauer zu bestimmen, bis zu der eventuell die Exposition verl\u00e4ngert werden d\u00fcrfe, ohne Augenbewegungen bef\u00fcrchten zu m\u00fcssen. Sie fanden, dass eine solche Bewegung noch","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopiseher Versuche.\n303\nbei 0,188\" vollst\u00e4ndig ausgeschlossen sei. Ich halte die Methode, mittelst deren sie diesen Werth gefunden haben, nicht f\u00fcr einwandsfrei. Aber ich glaube aus andern Gr\u00fcnden, dass in der That bei derartigen auf absichtliche Fixation angelegten Versuchen (die Fixation war auch hier durch ein Gesichtszeichen gesichert) die Augenbewegung als beseitigt gelten darf. Um darin noch sicherer zu gehen, w\u00e4hlten die Verff. \u00fcbrigens die etwas k\u00fcrzere Zeit von 0,1\".\nUnleugbar bietet dieser Apparat vor den Tachistoskopen bei Tagesbeleuchtung den Vorzug einer mit gro\u00dfer Ann\u00e4herung herstellbaren Gleichzeitigkeit der Exposition. Diese ist freilich auch hier keine absolute: der Fallspalt braucht ja eine gewisse Zeit, um den Lichtkegel zu durchschneiden, und dies wird sich zwar nicht in einer ungleichzeitigen Exposition der verschiedenen Theile des Objectes, wohl aber in einem An- und Abschwellen der Lichtst\u00e4rke zu erkennen geben. Die Verff. berichten jedoch, dass sie ein solches An- und Abschwellen nie bemerken konnten, und damit wird man sich in der That ebenso beruhigen k\u00f6nnen wie bei der Benutzung des Fall-Tachistoskops mit der Beobachtung, dass das Gesichtfeld f\u00fcr die Wahrnehmung simultan, nicht successiv erscheint und wieder verschwindet. Als ein zweiter Vorzug des neuen Apparates lie\u00dfe sich vielleicht die principiell vorhandene M\u00f6glichkeit anf\u00fchren, hei sehr verschiedener Expositionsdauer zu beobachten. Dazu kommt endlich als dritter gegen\u00fcber der Funkenbeleuchtung im v\u00f6llig Finstern die zwar geringe, aber immerhin vorhandene Belichtung des Expositionsfeldes w\u00e4hrend der Versuchspausen. Es wird n\u00fctzlich sein, zun\u00e4chst den Werth dieser Vorz\u00fcge des Apparates etwas n\u00e4her zu pr\u00fcfen, ehe wir auf seine Nachtheile eingehen.\nWas nun den ersten Punkt, die simultane Erhellung und Wiederverdunkelung der Objecte betrifft, so werden wir nach dem oben hier\u00fcber Bemerkten diesem Umstand allerdings den eminenten Werth nicht beilegen k\u00f6nnen, den ihm augenscheinlich die Verff. zuerkennen. Die Uebersch\u00e4tzung dieser Eigenschaft ihres Apparates, die wohl zugleich die wesentliche Ursache der Construction desselben gewesen ist, beruht auf der schon ber\u00fchrten auffallenden Thatsache, dass die Verff. von den Eigenschaften unserer Netzhaut, hier speciell von der enorm langen Nachdauer der Erregung gerade bei kurz dauernden Reizen, ganz abstrahiren. In Wahrheit ist es ja f\u00fcr die Netzhaut\nWundt, Philos. Studien. XY.\t21","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nW. Wundt.\ngleichg\u00fcltig, oh einzelne Theile ihres Gesichtsfeldes um 1\u20142 a, oder ob sie blo\u00df um 0,0t a oder um noch weniger fr\u00fcher oder sp\u00e4ter erleuchtet werden als andere. Der erste Werth kommt gegen\u00fcber der Nachdauer des Netzhautbildes und gegen\u00fcber den betr\u00e4chtlichen Schwankungen, die diese Bilddauer namentlich bei Versuchen im Dunkeln hat, gar nicht in Betracht. Ehen deshalb wird es aber auch hei der sehr viel gr\u00f6\u00dferen Dauer der physiologischen im Vergleich mit den physikalischen Zeiten unter allen Umst\u00e4nden r\u00e4thlicher sein, wo es irgend geschehen kann, eine gr\u00f6\u00dfere physiologische Constanz durch eine etwas kleinere physikalische zu erkaufen, als umgekehrt. Die Verff. haben nun gerade diesen umgekehrten Weg eingeschlagen. Sie haben vor allem gesucht, sich eine eventuell bis auf Zehntausend-theile einer Secunde genaue Gleichzeitigkeit der Erleuchtung ihres Gesichtsfeldes zu sichern: sie haben daf\u00fcr, wie die Vergleichung der Schwankungen der Bilddauer bei Tagesadaptation und hei Dunkeladaptation lehrt, eine physiologische Unsicherheit eingetauscht, die innerhalb der Hunderttheile der Secunde ungef\u00e4hr das Doppelte der hei der Tagesmethode vorhandenen erreicht.\nEtwas anders steht es mit dem zweiten Vorzug, mit der beliebigen Variirung der Expositionsdauer. Hier muss wirklich anerkannt werden, dass die k\u00fcnstliche Beleuchtung eine etwas gr\u00f6\u00dfere Variation der Zeiten zul\u00e4sst. Nun ist es aber auffallend, dass die Verff. von diesem Vorzug ihres Apparates gar keinen Gebrauch gemacht, sondern dass sie immer mit derselben Dauer von 0,1\" gearbeitet haben. Die Erkl\u00e4rung hierf\u00fcr muss man wohl darin finden, dass das Gesichtsfeld, wie die Verff. selbst angeben, bei sehr kurzen Beleuchtungszeiten zu dunkel wurde, so dass das Lesen der Buchstaben und W\u00f6rter Schwierigkeiten bereitete. Aus dieser Thatsache muss man aber nicht nur schlie\u00dfen, dass der Apparat bei sehr kurzen Zeiten, bei denen man das Tages-Tachistoskop noch sehr gut verwenden kann, versagt, sondern dass bei ihm auch, was \u00fcbrigens selbstverst\u00e4ndlich ist, eine Variation der Expositionszeit unterhalb einer gewissen Grenze stets mit einer betr\u00e4chtlichen Ver\u00e4nderung der Beleuchtungsst\u00e4rke verbunden ist. Nach oben hin haben nat\u00fcrlich auch die Verff. gefunden, dass sich die Beobachtungen mit dem Tachistoskop, sobald man eine gewisse Grenze \u00fcberschreitet, gar nicht mehr wesentlich von der gew\u00f6hnlichen, ohne alle H\u00fclfsmittel ausge-","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n305\nf\u00fchrten Betrachtung der Sehobjecte unterscheidet. Damit stellt sich nun aber doch auch dieser zweite Vorzug als ein illusorischer, ja als ein solcher heraus, der sich wegen der Unverwendbarkeit sehr kleiner Zeiten in Wahrheit, ebenso wie der erste, in einen gr\u00f6\u00dferen Nachtheil verwandelt.\nDen dritten Vorzug endlich, der allerdings nur gegen\u00fcber der Funkenbeleuchtung im Finstern in Frage kommt, wird man wirklich in diesem freilich sehr relativen Sinne als einen solchen anerkennen m\u00fcssen: gewiss ist es vortheilhafter, dass sich der Beobachter in den Expositionspausen nicht ganz im Finstern befindet, sondern wenigstens das schwach beleuchtete Expositionsfeld wahrnimmt. Leider ist aber dieser Vorzug pur ein h\u00f6chst beschr\u00e4nkter: ist das Gesichtsfeld des Beobachters bei der Versuchsanordnung der Verff. auch nicht absolut dunkel, so ist der Helligkeitsunterschied doch immer noch gro\u00df genug, um, namentlich auch in Anbetracht der Dunkelheit des ganzen \u00fcbrigen Gesichtsfeldes, betr\u00e4chtliche Adaptationsst\u00f6rungen im Moment der Erleuchtung mit Sicherheit erwarten zu lassen. Dies f\u00fchrt uns zugleich zu der Erw\u00e4gung der Nachtheile des Apparates, die neben seinen wirklichen oder vermeintlichen Vorz\u00fcgen nicht \u00fcbersehen werden d\u00fcrfen.\nSolcher Nachtheile bietet das Tachistoskop von Erdmann und Dodge namentlich zwei: der eine besteht in den nothwendig bei dem raschen Beleuchtungswechsel eintretenden Adaptationsst\u00f6rungen, der zweite in der enorm langen Dauer des Netzhautbildes.\nDie Verff. sind der Meinung, Adaptationsst\u00f6rungen dadurch vermieden zu haben, dass sie auch in der Zwischenzeit zwischen zwei Expositionen eine schwache Erleuchtung des Gesichtsfeldes andauem lie\u00dfen. Diese Meinung wird jeder, der mit den Erscheinungen der Adaptation aus eigener Erfahrung einigerma\u00dfen vertraut ist, als eine optimistische Blusion bezeichnen m\u00fcssen. Wenn man eine sehr geringe Helligkeit, wie es bei diesen Versuchen geschah, pl\u00f6tzlich um das 12,38 fache ihrer Gr\u00f6\u00dfe steigert, so sind die so erzeugten Adaptationsst\u00f6rungen zwar ohne Zweifel etwas geringer als bei pl\u00f6tzlicher Erleuchtung im absolut Finstern, aber sie sind jedenfalls noch gro\u00df genug. Bei rein physiologischen Versuchen w\u00fcrde das unter Umst\u00e4nden vielleicht nicht so viel auf sich haben. Geradezu verheerend wirken aber Adaptationsst\u00f6rungen, wo es sich im Moment des\n21*","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nW. Wundt.\nSichtbarwerdens eines Objectes um psychologische Beobachtungen handelt. Nat\u00fcrlich kann man auch unter diesen Umst\u00e4nden noch ein Object erkennen, Buchstaben oder Worte lesen, aber von der Art und Weise, wie dies geschieht, wei\u00df man in der Regel nichts.\nMit den Adaptationsst\u00f6rungen ist nun weiterhin der zweite der oben erw\u00e4hnten Nachtheile, die \u00fcberm\u00e4\u00dfig lange Dauer des Bildes, auf das engste verbunden. Dunkeladaptation und lange Dauer des Nachbildes, Tagesadaptation und kurze Dauer desselben sind in der That zwei Zwillingsgeschwister, von denen man jedes Paar ganz in den Kauf nehmen muss. Hier liegt zugleich der schw\u00e4chste Punkt der theoretischen Ueberlegungen, von denen sich die Verff. bei der Beurtheilung der tachistoskopischen Versuche leiten lassen. Ich habe schon oben genugsam er\u00f6rtert, dass es nat\u00fcrlich falsch ist, wenn wir als diejenige Zeit, w\u00e4hrend deren ein Sehohject auf das Bewusstsein einwirken kann, seine \u00bbExpositionszeit\u00ab ansehen. Wir k\u00f6nnen zwar \u2014 hei der Kleinheit der betreffenden Zeit ist das erlaubt \u2014 in diesem Fall annehmen, in dem Moment, wo der Lichteindruck entsteht, beginne auch die Einwirkung auf das Bewusstsein. Streng genommen ist das allerdings nicht ganz richtig, aber im Verh\u00e4ltniss zu der sonstigen Genauigkeit dieser Versuche in Bezug auf Zeitbestimmungen mag man diesen Fehler au\u00dfer Betracht lassen. Was man aber ganz gewiss nicht au\u00dfer Betracht lassen darf, das ist die Nachdauer der Erregung in der Netzhaut, denn diese dauert hei solchen kurz dauernden Reizen im allgemeinen viel l\u00e4nger als die Expositionszeit selbst. So lange das positive Nachbild nicht merklich an Intensit\u00e4t abgenommen hat, und vielleicht noch etwas \u00fcber diese Grenze hinaus, wird es unmittelbar als eine Fortexistenz des Sehobjectes seihst empfunden. Hierbei zeigt sich zugleich, dass, wenn in Bezug auf die Adaptationsst\u00f6rungen der Apparat der Verff. vielleicht eine kleine Verbesserung gegen\u00fcber der elektrischen Funkenheleuchtung ist, dies in Bezug auf die Dauer des Nachbildes durchaus nicht zutrifft. Denn erstens ist die Funkendauer verschwindend klein, w\u00e4hrend bei den Verff. die Reizdauer die betr\u00e4chtliche Gr\u00f6\u00dfe von 0,1\" erreicht: l\u00e4nger dauernde Reizung bewirkt aber, besonders innerhalb solch kleiner Zeitgrenzen, immer auch ein l\u00e4nger dauerndes Nachbild. Sodann ist die sehr schwache Beleuchtung, die der Exposition folgt, keineswegs als g\u00fcnstig f\u00fcr das Verschwinden des Nachbildes auf zu-","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n307\nfassen, sondern eher im Gegentheil als ein H\u00fclfsmittel, die Dauer desselben zu verl\u00e4ngern. Das wei\u00df jeder Physiologe, der m\u00f6glichst dauernde Nachbilder demonstriren will. Er w\u00e4hlt dazu am zweckm\u00e4\u00dfigsten keine absolute Verdunkelung des Raumes, sondern hur eine starke Herabsetzung der Helligkeit, bei der das schwache vorhandene Licht die Eigenschaft hat, die Entwicklung des Nachbildes zu beg\u00fcnstigen, w\u00e4hrend eine hellere Beleuchtung dasselbe ausl\u00f6scht. Der Unstern hat es demnach gewollt, dass die Verff. hei ihrer Methode die Einrichtungen gerade so getroffen hatten, dass die durch das Nachbild bewirkte Verl\u00e4ngerung der Bildzeit so gro\u00df wie m\u00f6glich wurde. Bedenkt man, dass, wie oben bemerkt, bei Dunkeladaptation die Nachwirkung eines elektrischen Funkens, w\u00e4hrend deren er mit einem ihm folgenden zeitlich untrennbar verschmilzt, durchschnittlich 0,1\" betr\u00e4gt, so wird man in Anbetracht der Reizdauer von 0,1\" und der sonstigen f\u00fcr das Nachbild g\u00fcnstigeren Bedingungen die wirkliche Bildzeit, das hei\u00dft diejenige die Reizdauer und die unmittelbare Nachwirkung des Reizes umfassende Zeit, w\u00e4hrend deren das Object auf das Bewusstsein wirkte, in diesem Fall m\u00e4\u00dfig gerechnet zu 0,25\" annehmen d\u00fcrfen.\nNun bin ich geneigt zu glauben, dass, wenn es den Verff. blo\u00df um Verh\u00fctung der Augenbewegungen zu thun war, sie selbst iei diesen enormen Zeiten ziemlich beruhigt sein konnten. Wenn man die Absicht hat zu fhriren, wie es doch bei diesen Versuchen der Fall ist, so dauert die Fixation, falls nicht zuf\u00e4llige Ablenkungen hinzukommen, auch wohl noch l\u00e4nger als i/i Sec. Ueberdies w\u00fcrde man, da sich ja das Nachbild mit dem Auge bewegt, hier wirklich von den in die zweite H\u00e4lfte der Bildzeit fallenden Bewegungen ab-strahiren k\u00f6nnen. Sie w\u00fcrden m\u00f6glicher Weise die Beobachtung des Bildes st\u00f6ren und also den einzelnen Versuch unbrauchbar machen; eine weitere sch\u00e4dliche Wirkung w\u00fcrde man ihnen schwerlich zuschreiben k\u00f6nnen.\nAnders verh\u00e4lt es sich dagegen mit einem andern mit dieser enormen Verl\u00e4ngerung der Bilddauer unvermeidlich vermachten Fehler: er besteht in den w\u00e4hrend einer so langen Zeit sehr wohl m\u00f6glichen, ja bei irgend umfangreicheren Objecten zweifellos immer eintretenden Wanderungen der Aufmerksamkeit. Dass die Verff. diese \u00fcbersahen, w\u00e4hrend sie sich \u00fcber die nothwendige Vermeidung der","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nW. Wundt.\nAugenbewegungen sehr ausf\u00fchrlich verbreitet haben, ist sehr auffallend, um so auffallender, da es sich doch hier um ein psychologisches Ph\u00e4nomen handelt, dessen Beachtung den Verff., wie man erwarten m\u00fcsste, n\u00e4her liegen sollte als die Nachbildwirkung, um ein Ph\u00e4nomen zugleich, das sogar den Physiologen l\u00e4ngst bekannt ist, und auf das auch Catteil hei der Beschreibung seiner Versuche ausdr\u00fccklich hingewiesen hat. Nicht blo\u00df um die Blickbewegungen zu eliminiren, die bei absichtlichen Fixationsversuchen wahrscheinlich schon bei m\u00e4\u00dfigerer Geschwindigkeit au\u00dfer Betracht bleiben w\u00fcrden, sondern haupts\u00e4chlich um die Wanderungen der Aufmerksamkeit zu verh\u00fcten und die Apperception des Eindrucks mit Sicherheit auf einen einzigen Act zu beschr\u00e4nken, hat man bisher bei den tachistoskopi-schen Versuchen so kurze Zeiten wie 0,01\" gew\u00e4hlt. Dass aber solche Wanderungen der Aufmerksamkeit nicht blo\u00df bei Blickbewegungen, sondern auch bei fixirendem Blick stattfinden k\u00f6nnen, haben schon M\u00e4nner wie Purkinje und Johannes M\u00fcller gewusst. Nachdem dieser auseinandergesetzt hat, dass wir bei der Betrachtung eines Bildes bald diesen bald jenen Theil lebhafter sehen, f\u00fcgt er hinzu: \u00bbdies geschieht nicht blo\u00df, indem wir durch Bewegungen der Augen mit den Sehachsen diese Figuren verfolgen und gleichsam beschreiben, sondern bei unverwandtem Blick pr\u00e4gt die Intention, die Aufmerksamkeit bald diesen, bald jenen Theil der Figur der Anschauung lebhafter ein, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen zwar empfunden werden, aber unbeachtet bleiben\u00ab1). Und \u00e4hnliche Bemerkungen findet man bis in die neueste Zeit bei den meisten Schriftstellern, die sich mit physiologischer Optik besch\u00e4ftigt haben, abgesehen von der Bolle, die das Ph\u00e4nomen speciell hei den tachistoskopischen Versuchen und ihrer psychologischen Verwerthung gespielt hat. Es handelt sich also gar nicht um einen entlegenen, leicht zu \u00fcbersehenden Gegenstand, sondern eigentlich um einen Punkt, auf den sich die Aufmerksamkeit des Psychologen, der sich mit solchen Versuchen abgibt, zu allererst richten muss. Auch war es ja von vom herein nach den Angaben der fr\u00fcheren Beobachter wahrscheinlich, dass die Wanderungen der Aufmerksamkeit eventuell schneller vor sich gehen als diejenigen des Fixationspunktes.\n11 Joh. M\u00fcller, Handbuch der Physiologie, H, 1840, S. 95.","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n309\nNun k\u00f6nnte man vielleicht noch denken, hier liege zwar ein gewisser Mangel in der Ausf\u00fchrung der Versuche hinsichtlich der Aus-, Schlie\u00dfung m\u00f6glicher Fehlerquellen vor, aber nicht jeder m\u00f6gliche Fehler sei ja auch nothwendig ein wirklicher Fehler, und so werde vielleicht doch bei den zur Verh\u00fctung der Blickbewegungen geeigneten Expositionszeiten von 0,1\" auch das Wandern der Aufmerksamkeit vermieden gewesen sein. Dass aber diese tr\u00f6stliche Zuversicht durchaus ungerechtfertigt w\u00e4re, das lehren schlagend die Resultate der Verff. selbst, aus denen man mit dem bei solchen Dingen \u00fcberhaupt nur erreichbaren Grad von Gewissheit schlie\u00dfen kann, dass bei ihnen die Wanderungen der Aufmerksamkeit eine sehr gro\u00dfe Rolle gespielt haben. Ich verweise auf S. 139 Tabelle XI. Da finden sich Versuche an drei Beobachtern \u00fcber das Lesen mehr oder minder einfacher oder zusammengesetzter W\u00f6rter, alle bei einer Expositionszeit von 0,1\" ausgef\u00fchrt. Die Zahl der das Wort zusammensetzenden Buchstaben (L) ist in der ersten, die Zahl der W\u00f6rter gleicher L\u00e4nge A) in der zweiten Columne aufgef\u00fchrt, die Zahlen der F\u00e4lle richtigen und falschen Lesens sind dann in einer dritten und vierten Oolumne mit r und f bezeichnet. Wir greifen die l\u00e4ngsten W\u00f6rter heraus, die nat\u00fcrlich f\u00fcr die vorliegende Frage allein ein entscheidendes Interesse haben. Da finden sich nun z. B. folgende Zahlen\nL = 19,\tA=1,\tr= 1,\t/\u2022=();\tL=19, J =2, r= 2, f= 0;\nf\u00fcr Di.: L=20,\tA=2,\tr= 1,\tf=i;\tf\u00fcrE.:\tL=20, A=2, r = 2, f= 0;\nL=21,\tA\u2014 1,\tr=0,\tf=\\;\tL=22, A= 1, r= 1, f=0.\nDas\thei\u00dft, der\teine der beiden Beobachter (Di.) der weniger im Lesen\nbei kurzer Beleuchtung ge\u00fcbt war, konnte W\u00f6rter mit 19 bis 21 Buchstaben ungef\u00e4hr ebenso oft fehlerlos lesen, als er dazu nicht im Stande war; der andere, E., las W\u00f6rter von 19 bis 22 Buchstaben L\u00e4nge ausnahmslos richtig. Dabei ist wohl zu beachten, dass jedes Wort nur einmal dargeboten wurde, dass also jede Vorbereitung durch vorangegangene Einwirkungen des gleichen Wortbildes ausgeschlossen war. Nun erkennt Jedermann, der in Versuchen dieser Art einige Erfahrung hat, ohne weiteres, dass eine derartige Leistung, das Lesen eines Wortungeheuers von 19 bis 22 Buchstaben, ohne Wanderungen der Aufmerksamkeit absolut ein Ding der Unm\u00f6glichkeit ist. Ja f\u00fcr ein Wort von solcher L\u00e4nge gen\u00fcgt schwerlich eine einmalige","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nW. Wundt.\nWanderung, sondern es ist wahrscheinlich ein zweimaliger Wechsel der Aufmerksamkeit erforderlich gewesen. Ein solcher ist aber auch sehr wohl m\u00f6glich; denn die wirkliche Bilddauer betrug ja nicht, wie die Yerff. meinen, blo\u00df 0,1\", sondern wegen der enorm langen Dauer des Nachbildes bei ihrer Versuchsanordnung allermindestens 0,25\". Eine sehr gute Illustration zu diesen Versuchen geben Reactions-versuche, die schon vor langer Zeit Dr. Max Friedrich in meinem Laboratorium \u00fcber die Erkennung k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer Zahlen ausgef\u00fchrt hat. Die Einrichtung war so getroffen, dass im Moment, wo heim Sehen in einen dunkeln Kasten das Object erleuchtet wurde, auch der Zeiger des Ohronoskops in Bewegung kam, und dass dieser in dem Augenblick Stillstand und gleichzeitig die Beleuchtung sistirt wurde, wo der Beobachter durch eine Reactionsbewegung die Erkennung des Objects registrirte. Bei diesen Versuchen wurden 1-, 2-, 3- und in der Regel selbst 4-stellige Zahlen sofort mit gr\u00f6\u00dfter Deutlichkeit aufgefasst, und die Reactionszeit war bei diesen kleineren Zahlen ann\u00e4hernd gleich lang, namentlich die 1- bis 3-stelligen unterschieden sich nicht. Sobald man dagegen zu 5- bis 6-stelligen Zahlen \u00fcberging, so bemerkte man auf das deutlichste, dass diese nur durch Zerlegung in zwei H\u00e4lften gelesen werden konnten, d. h. die Aufmerksamkeit wanderte von der einen Zahlgruppe zur andern, und demgem\u00e4\u00df wurde denn auch hier die Reactionszeit betr\u00e4chtlich verl\u00e4ngert gefunden1). Vermuth-lich kann man ein Wort aus 20 Buchstaben noch viel weniger in einem einzigen Acte der Aufmerksamkeit auffassen, als eine 5- oder 6-stellige Zahl. Dass den Verff. diese Wanderungen der Aufmerksamkeit entgangen sind, ist allerdings auffallend. Aber es erkl\u00e4rt sich doch wohl einerseits daraus, dass sie mit dem Fall-Tachistoskop, so eingehend sie sich mit den theoretischen M\u00e4ngeln desselben besch\u00e4ftigen, schwerlich Versuche gemacht haben. H\u00e4tten sie wirklich einmal sehr kurze, die Wanderungen der Aufmerksamkeit ausschlie\u00dfende Bildeinwirkungen vor Augen gehabt (bei ihrem Apparat waren ja solche wegen der langen Nachbilddauer unm\u00f6glich), so w\u00fcrden ihnen sicherlich die Wanderungen der Aufmerksamkeit hei ihren Versuchen nicht entgangen sein. Anderseits unterst\u00fctzen in\n1) Max Friedrich, ^lieber die Apperceptionsdauer bei einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen\u00ab. Philos. Stud. I, 1883. S. 39 ff.","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n311\nsolchen F\u00e4llen verschiedene Fehler einander wechselseitig. Die Adaptationsst\u00f6rung heim Eintritt der Erleuchtung lie\u00df wohl die Beobachter Erscheinungen \u00fcbersehen, die ihnen sonst vielleicht doch nicht entgangen w\u00e4ren.\nAus dem Umstand, dass die Auffassung der gr\u00f6\u00dferen Wortgebilde unter Vermittelung von Wanderungen der Aufmerksamkeit stattfand, erkl\u00e4ren sich nun auch vollkommen befriedigend die Unterschiede zwischen den Ergebnissen der fr\u00fcheren Versuche Cattell\u2019s und denen der Verff. Cattell fand, dass man von sinnlos verbundenen Buchstaben 4 \u2014 5 in einem einmaligen Acte auffassen kann, dagegen, wenn sie W\u00f6rter bilden, das Dreifache dieser Zahl, so dass im Maximum 2\u20143 kurze einsilbige W\u00f6rter auf einmal gelesen werden k\u00f6nnen. Dabei ist aber zu beachten, dass Cattell\u2019s Ergebnisse Schlussergebnisse sind, die erst nach mehrmaliger Exposition der gleichen Buchstaben oder W\u00f6rter erreicht wurden, und dass die angegebenen Zahlen diejenige Grenze bezeichnen, die bei weiterer Wiederholung der Versuche nicht \u00fcberschritten wurde, so dass diese Zahlen wohl wirklich einigerma\u00dfen den Maximalumfang der Aufmerksamkeit f\u00fcr einen gegebenen Moment messen, da bei der K\u00fcrze der Bildzeit Wanderungen der Aufmerksamkeit sicher ausgeschlossen waren. Erdmann und Dodge finden, dass fast ausnahmslos 4, in der Mehrzahl der F\u00e4lle aber 5 ohne Wortzusammenhang exponirte Buchstaben, im Wortzusammenhang aber vier- bis f\u00fcnfmal so viel gelesen werden k\u00f6nnen. Die obere Grenze liegt also bei ihnen f\u00fcr einzelne Buchstaben kaum merklich, f\u00fcr W\u00f6rter aber erheblich h\u00f6her. Dabei ist jedoch sehr zu beachten, dass sich dieses Resultat sofort bei der ersten Exposition der Buchstaben oder W\u00f6rter herausstellte, wodurch das Uebergewicht des Leseumfangs f\u00fcr sie ein ganz enormes wird. Unter den gleichen Bedingungen kann man mit dem Fall-Tachistoskop h\u00f6chstens 2 \u2014 3 Buchstaben und h\u00f6chstens ein einzelnes ganz kurzes und wohlbekanntes Wort, ein gr\u00f6\u00dferes aber gar nicht auffassen. Dieser Unterschied erkl\u00e4rt sich hinl\u00e4nglich, wenn man bedenkt, dass die Bilddauer bei den Verff., sobald man in beiden F\u00e4llen die wahrscheinlichen Nachbildwirkungen in Rechnung bringt, mindestens das vier- bis f\u00fcnffache der in den Cattell\u2019sehen Versuchen angewandten Zeiten betr\u00e4gt. Ebenso erkl\u00e4rt sich aus diesem Unterschied der Bedingungen die Ansicht, die sich die Verff. von der","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nW. Wundt,\nUrs\u00e4che der Erscheinung, dass isolirte Buchstaben in so viel kleinerer Zahl aufgefasst werden, gebildet haben. Sie f\u00fchren dies n\u00e4mlich darauf zur\u00fcck, dass von den isolirten Buchstaben ein gro\u00dfer Theil rasch wieder vergessen werde. Ich glaube, dass das f\u00fcr ihre eigenen Versuche in der That zutrifft. Dass man eine beliebige Reihe suc-cessiv gelesener Buchstaben viel leichter wieder vergisst als eine Reihe von W\u00f6rtern, davon kann man sich auch ohne tachistoskopische Versuche \u00fcberzeugen. Dies verh\u00e4lt sich aber wesentlich anders, wenn die Wanderungen der Aufmerksamkeit ausgeschlossen sind: hier h\u00e4lt man den in einem einzigen Act erfassten Buchstabencomplex f\u00fcr die ersten Momente ebenso gut fest wie das Wort, denn er bildet ebenso wie dieses ein einziges simultanes Bild. Man kann daher auch umgekehrt schon daraus, dass die Verff. diesen deutlichen Eindruck des Vergessens gehabt haben, mit Sicherheit schlie\u00dfen, dass hei ihnen das Bild kein simultanes, sondern ein successives gewesen ist. Als Resultat ergibt sich demnach, dass \u00fcberall, wo Wanderungen der Aufmerksamkeit nicht in Betracht kommen \u2014 das ist nat\u00fcrlich hei kleinen Buchstabengruppen und kurzen W\u00f6rtern der Fall \u2014 ihre Versuche die Cattell\u2019schen Ergebnisse best\u00e4tigen, dass aber da, wo sich ein Widerspruch herausstellt \u2014 hei den gro\u00dfen Buchstabengruppen und W\u00f6rtern \u2014\u2022 dies lediglich in der langen Dauer der Bildzeiten und den Wanderungen der Aufmerksamkeit seinen Grund hat1).\nAus allem dem ergibt sich, dass die Versuche der Verff. im eigentlichen Sinne \u00bbtachistoskopische\u00ab Versuche gar nicht gewesen sind, in dem Sinne n\u00e4mlich, in dem man diese bisher immer verstanden hat, insofern dabei nicht nur Ausschlie\u00dfung der Augenbewegungen, sondern auch Ausschlie\u00dfung der Wanderungen der Aufmerksamkeit ausdr\u00fcckliche Bedingungen waren. Die Versuche der\n1) In einer Recension des Buches yon Erdmann und Dodge wird die Thatsache, dass wir W\u00f6rter als Ganze lesen und daher zu W\u00f6rtern vereinigte Buchstaben in viel gr\u00f6\u00dferer Zahl auffassen als isolirte W\u00f6rter, als eine Entdeckung von Erdmann und Dodge behandelt. Eine andere Recension r\u00fchmt ihnen sogar das Verdienst nach, dass sie im Gegensatz zur Mehrzahl ihrer Vorg\u00e4nger in tachistoskopischen Versuchen darauf bedacht gewesen seien, die Augenbewegungen auszuschlie\u00dfen. Direct f\u00e4llt das den Verff. nicht zur Last. Aber diese Missverst\u00e4ndnisse sind immerhin bezeichnend f\u00fcr die Art, wie sie in der Kritik ihrer eigenen und fr\u00fcherer Versuche verfahren, und wie sie diejenigen Resultate ihrer Vorg\u00e4nger besprechen, die sie lediglich zu best\u00e4tigen vermocht haben.","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n313\nVerff. sind einfach Leseversuche mit verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig kurzer Lesezeit gewesen, hei denen zwar die Fixation festgehalten wurde, aber dem Beobachter ein Wandern mit der Aufmerksamkeit bis zu einem gewissen Grade gestattet, und zwar, wie man aus den Leseergehnissen schlie\u00dfen darf, im Maximum wohl bis zu einem zweimaligen Wechsel derselben gestattet war. Um das zu erreichen, braucht man nun allerdings kein Tachistoskop, sondern die Verff. wurden ungef\u00e4hr das n\u00e4mliche erzielt haben, wenn der Experimentator dem Beobachter, w\u00e4hrend dieser das Auge geschlossen hielt, das Object vorgehalten und dann ihn gebeten h\u00e4tte, die Augen f\u00fcr einen ganz kurzen Augenblick aufzuschlagen und sofort wieder zu schlie\u00dfen. Ein solcher \u00bbAugenblick\u00ab d\u00fcrfte ebenfalls ungef\u00e4hr '/4 Sec. betragen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass bei der Construction eines Apparates viel Erfindungskraft von Seiten dessen, der ihn erdacht, und des Mechanikers, der ihn ausgef\u00fchrt hat, angewandt worden ist, und dass man schlie\u00dflich doch denselben Zweck auf eine viel einfachere Weise oder ohne alle Apparate h\u00e4tte erreichen k\u00f6nnen. Dennoch haben auch solche Missgriffe ihre guten Seiten, und es l\u00e4sst sich ihnen ein gewisses negatives Verdienst nicht ahsprechen: sie weisen auf die Vorsichtsma\u00dfregeln hin, die man bisher vielleicht doch nicht immer zureichend beachtet, und auf Fehler, die man in Zukunft zu vermeiden hat.\nUeber diejenigen Theile des Buches von Erdmann und Dodge, die au\u00dferhalb des Gebiets der tachistoskopischen Versuche liegen, m\u00f6chte ich hier ohne weitere kritische Er\u00f6rterungen hinweggehen, obgleich namentlich die Beactionsversuchc von den Verff. seihst in eine nahe Beziehung zu jenen gebracht werden. Eeactionsversuche geh\u00f6ren , wenn sie brauchbare Ergebnisse und nicht blo\u00df nutzlose Zahlenanh\u00e4ufungen liefern sollen, zu den schwierigsten Aufgaben der experimentellen Psychologie. Vor allem muss hei ihnen ganz genau dar\u00fcber Rechenschaft abgelegt werden, unter welchen physiologischen und psycho-physischen Vorbedingungen reagirt worden ist, oh von Anfang an auf die auszuf\u00fchrende Bewegung oder auf den zu erfassenden Sinneseindruck die Aufmerksamkeit gerichtet war u. s. w. Versuche, bei denen auf diese wesentlichen Vorbedingungen gar keine R\u00fccksicht genommen wird, haben ungef\u00e4hr einen \u00e4hnlichen Werth, wie ihn die geographischen Entdeckungen eines Reisenden haben","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nW. Wundt.\nw\u00fcrden, der nicht wei\u00df, unter welchem L\u00e4nge- und Breitegrad er sich befindet. Dem entsprechend haben denn auch die Schl\u00fcsse, die auf solche Yersuche gegr\u00fcndet werden, im allgemeinen den Werth subjectiver Meinungen, die man sich ebenso gut vor wie nach der Anstellung der Yersuche bilden k\u00f6nnte, wie denn in der That das letztere nicht ganz selten zu geschehen pflegt. Nicht minder unterlasse ich es, auf die von den Yerff. entwickelten allgemeinen psychologischen Anschauungen einzugehen, die mir nicht hinreichend deutlich geworden sind, um sie beurtheilen zu k\u00f6nnen1).\nEine kleine Berichtigung m\u00f6chte ich jedoch nicht unterdr\u00fccken, wenn sie auch nur indirect mit den tachistoskopischen Methoden zusammenh\u00e4ngt, um so mehr, als es sich dabei um eine Art Ehrenrettung der Physiologie handelt. Die Yerff. bezeichnen es als eine \u00bbtraditionelle Annahme\u00ab der Physiologen, dass wir nur einen einzigen Punkt, n\u00e4mlich den fixirten, deutlich sehen, und dass sich unsere Augen bei der Wahrnehmung ausgedehnter Objecte unaufh\u00f6rlich bewegen. Dass man aus verschiedenen physiologischen Autoren Stellen sammeln kann, aus denen sich allenfalls eine solche Annahme con-struiren heile, will ich nicht leugnen. Aber dass man sich gleichwohl im Irrthum befindet, wenn man diese Anhahme der Physiologie als solcher oder auch nur den einzelnen Forschern zutraut, die von dem \u00bbPunkt des deutlichsten Sehens\u00ab oder von den fortw\u00e4hrenden Augenbewegungen bei der Auffassung der Objecte reden, das scheint mir\n1) Doch darf ich bei dieser Gelegenheit wohl darauf hinweisen, dass sich die Verff. ihrerseits im Irrthum befinden, wenn sie der Meinung sind, ich hielte Ausdr\u00fccke wie \u00bbErkennung\u00ab, \u00bbUnterscheidung\u00ab u. dergl. f\u00fcr Erkl\u00e4rungen und nicht vielmehr blo\u00df f\u00fcr kurze Bezeichnungen, die jedesmal eine sorgf\u00e4ltige Analyse der psychischen Vorg\u00e4nge fordern, die wir unter ihnen zusammenfassen. Jeder in meinen psychologischen Arbeiten einigerma\u00dfen orientirte Leser wei\u00df, dass ich, so weit ich es vermochte, eine solche Analyse der Vorg\u00e4nge des \u00bbsinnlichen Er-kennens und Wiedererkennens\u00ab auf Grund unserer experimentellen Erfahrungen \u00fcber die simultanen und successiven Associationen an verschiedenen Stellen zu geben versucht habe. Ebenso halte ich es f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig, auf die Aeu\u00dferungen der Verff. \u00fcber \u00bbAssimilation\u00ab oder \u00fcber das, was ich nach ihrer Meinung darunter verstehen k\u00f6nnte, einzugehen. Ich nehme es ja den Verff. durchaus nicht \u00fcbel, wenn sie es nicht f\u00fcr der M\u00fche werth gehalten haben, sich mit meinen psychologischen Arbeiten eingehender zu besch\u00e4ftigen. Mir geht es mit manchen psychologischen und philosophischen Arbeiten nicht anders. Aber ich ziehe es vor, \u00fcber das was ich nicht kenne zu schweigen.","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n315\nso unbestreitbar, dass es kaum n\u00f6thig w\u00e4re sich dabei aufzuhalten, wenn das Buch nur Physiologen und nicht wohl haupts\u00e4chlich Psychologen, P\u00e4dagogen und anderen in die H\u00e4nde k\u00e4me, die von dem, was in der Physiologie als wahr oder falsch gilt, keine sehr deutliche Vorstellung haben. Vom \u00bbPunkt des deutlichsten Sehens\u00ab zu reden, ist \u00fcblich geworden, weil wir das Auge \u00fcberall nach dem Fixirpunkt und der Gesichtslinie orientirt denken. Aber kein Physiologe hat dabei daran gedacht, dass unser deutliches Sehen \u00fcberhaupt nur ein punktf\u00f6rmiges sei. Im Gegentheil, es existirt eine Menge von Versuchen, die z. B. \u00fcber den Umfang Bechenschaft geben, in dem um den Fixirpunkt herum noch Buchstaben erkannt werden k\u00f6nnen. Zum Ueberfluss sind seit Dove und Volk mann die Tachistoskop versuche da, die jedem Physiologen bekannt sind. Nicht anders verh\u00e4lt es sich mit den immerw\u00e4hrenden Augenbewegungen. Br\u00fccke, der den Augenbewegungen einen gr\u00f6\u00dferen Einfluss auf die Baumwahrnehmung zuschrieb, als man es jetzt zu thun pflegt, indem er z. B. die stereoskopischen Erscheinungen aus fortw\u00e4hrenden sehr schnellen Augenbewegungen ableitete, erl\u00e4utert dies ausdr\u00fccklich so, dass ein fortw\u00e4hrender Wechsel zwischen verschiedenen, jedesmal nur sehr kurze Zeit festgehaltenen Fixirstellungen stattfinde1). Sicherlich ist letzteres auch heute noch die Meinung aller Physiologen. Wenn Hering an einer von den Verff. angef\u00fchrten Stelle davon spricht, dass unsere Fixationsversuche immer unnat\u00fcrliche Bedingungen schaffen, weil sich unsere Augen beim nat\u00fcrlichen Sehen fortw\u00e4hrend bewegen, so will er damit schwerlich der extravaganten Vorstellung das Wort reden, unsere Augen seien in einem ununterbrochenen, keinen Augenblick stillstehenden Wirbeltanz begriffen, sondern er will nur die wohlbekannte Thatsache ausdr\u00fccken, dass die Buhepausen zwischen, den einzelnen Bewegungen meist \u00e4u\u00dferst kurz sind. Die sogenannte \u00bbtraditionelle Annahme\u00ab der Physiologen ist'also ein unzweifelhaftes Missverst\u00e4ndniss, das aus der \u00fcbertriebenen Deutung einzelner Aeu\u00dfe-rungen und dem Uebersehen anderer entsprungen ist.\nIch m\u00f6chte \u00fcbrigens diese Besprechung nicht beenden, ohne schlie\u00dflich auch noch den einzigen Punkt hervorzuheben, wo die\n1) Br\u00fccke, Vorlesungen \u00fcber Physiologie, II, S. 199.","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nW. Wundt.\nArbeit der Verff. wirklich eine in gewissem Sinne neue Thatsache enth\u00e4lt. Sie haben es unternommen, beim Lesen die kurzen Ruhepausen zu beobachten, die zwischen den Bewegungen stattfinden, indem sie die Augen des Lesenden im Spiegelbilde verfolgten. Es muss freilich hinzugef\u00fcgt werden, dass die Versuche nicht geeignet waren, mehr als dieses qualitative Resultat festzustellen. Ihre Berechnungen \u00fcber die Dauer der Ruhepausen, gegr\u00fcndet auf eine ungef\u00e4hre Feststellung der Lesedauer f\u00fcr eine gedruckte Zeile und auf \u00e4ltere Versuche \u00fcber die Geschwindigkeit der Augenbewegungen, die unter wesentlich andern Bedingungen ausgef\u00fchrt waren, k\u00f6nnen im g\u00fcnstigsten Falle nur sehr approximative Ergebnisse \u00fcber jene nat\u00fcrlich an sich nach individuellen Bedingungen \u00e4u\u00dferst ver\u00e4nderlichen Werthe liefern. Die einzige Methode, die es gestattet, Bewegungen von der Geschwindigkeit der Augenbewegungen mit einiger Sicherheit in ihrem Verlauf zu verfolgen, ist die Methode der Selbstregistrirung, wie wir sie ja auch zur Untersuchung des Verlaufs einer Muskelzuckung verwenden. F\u00fcr die Augenbewegungen ist diese Aufgabe noch nicht gel\u00f6st, dass sie nicht unl\u00f6sbar ist, l\u00e4sst sich aber aus den vorl\u00e4ufigen Versuchen von Hue^1) und aus den in etwas vollkommenerer Weise ausgef\u00fchrten von Orchansky2) entnehmen. Einstweilen, solange objective ophthal-mographische Versuche nicht existiren, k\u00f6nnen aber gerade beim Auge in gewissem Ma\u00dfe auch subjective Beobachtungen \u00fcber die Bewegung der Nachbilder als Ersatz dienen. Die blo\u00dfe Spiegelbeobachtung l\u00e4sst h\u00f6chstens den Wechsel von Bewegungen und Ruhepausen wahrnehmen. Die Beobachtung der Nachbilder dagegen, die von den w\u00e4hrend der kurzen Ruhepausen fixirten Theilen des Objectes entstehen, l\u00e4sst die von der Gesichtslinie beim Lesen beschriebene Bahn sowie die Punkte der Zeile, die diese Bahn trifft, erkennen. In dieser Beziehung haben die den Verff. offenbar unbekannt gebliebenen Beobachtungen von Javal schon vor langer Zeit das Ergebniss geliefert, dass die Gesichtslinie die Zeile entlang einen vollkommen horizontalen Weg beschreibt, um dann am Ende der Zeile im Bogen zur n\u00e4chsten \u00fcberzugehen, und dass diese Bewegung regelm\u00e4\u00dfig im oberen Drittheil der Buchstaben verl\u00e4uft. Die unteren Theile der Zeile\n1)\tHue*, American Journal of Psychology, IX, p. 475.\n2)\tOrchansky, Centralblatt f\u00fcr Physiologie, XII, Nr. 24, 1899.","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n317\nwerden daher niemals vom Blickpunkt ber\u00fchrt, und hei gr\u00f6\u00dferen Typen fallen sie fortw\u00e4hrend ganz in die Region des indirecten Sehens '). Dieses Resultat, das interessanteste, das wohl bis jetzt die \u00bbPhysiologie des Lesens\u00ab zu Tage gef\u00f6rdert hat, illustrirt deutlich die \u00fcberaus vollkommene Anpassung der Bewegungen des Auges an die durch die Beschaffenheit der Sehdinge gestellten Bedingungen.\n1) Javal, Revue scientifique, 3m\u00bb S\u00e9r., I, 1881, p. 803.","page":317}],"identifier":"lit796","issued":"1900","language":"de","pages":"287-317","startpages":"287","title":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche","type":"Journal Article","volume":"15"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:47:48.224996+00:00"}