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{"created":"2022-01-31T12:40:20.170004+00:00","id":"lit798","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 16: 61-70","fulltext":[{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\nZweiter Artikel\nvon\nW. Wundt.\nIn Band 22 der \u00bbZeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane\u00ab (S. 241 ff.) findet sich ein Artikel yon B. Erdmann und R. Dodge mit der Ueherschrift \u00bbZur Erl\u00e4uterung unserer tachi-stoskopischen Versuche\u00ab, in welchem die Verff. meine im vorigen Bande dieser Studien erhobenen Einw\u00e4nde wider die von ihnen benutzte tachistoskopische Methode zu widerlegen, sowie die in ihrem Werke \u00bb\u00fcber das Lesen\u00ab ge\u00fcbte Kritik fr\u00fcherer Versuche aufrecht zu halten suchen. Ich kann nicht umhin, gegen\u00fcber den haupts\u00e4chlichsten dieser neuen Ausf\u00fchrungen nochmals in aller K\u00fcrze meinen Standpunkt zu wahren. Zuvor muss ich jedoch einen Vorwurf zur\u00fcckweisen, den die Verff. im Eingang und am Schl\u00fcsse ihrer Antikritik gegen mich erheben. Sie wenden sich gegen den \u00bbTon\u00ab und die \u00bbForm\u00ab meiner Polemik, sie reden von einer \u00bbebenso ungeh\u00f6rigen wie ungerechtfertigten Insinuation\u00ab, um f\u00fcr sich selbst die strengste Sachlichkeit in der Darstellung wie Kritik fremder Meinungen in Anspruch zu nehmen. Ich muss dagegen bemerken, dass ich unter Sachlichkeit etwas anderes verstehe, als die Verff. zu thun scheinen. Sachlich nenne ich vor allen Dingen eine Darstellung, die den That-sachen entspricht, nicht eine solche, die irgend welche aus dem Zusammenh\u00e4nge gerissene Ausspr\u00fcche in einer Weise deutet, wie sie nicht gemeint waren, nicht eine solche, die zwar gelegentlich erw\u00e4hnt, dass die mitgetheilten Ergebnisse von fr\u00fcheren Beobachtern schon gefunden worden sind, zugleich aber durch die Art, wie diese Er-","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nW. Wundt.\nw\u00e4hnung mit kritischen Bemerkungen umgeben wird, den Anschein erweckt, als sei das Wesentliche der Erscheinungen eine eigene neue Entdeckung. In diesem Sinne muss ich dem Werke der Verff. \u00bb\u00fcber das Lesen\u00ab die Sachlichkeit absprechen. Ich bin in meinem letzten Aufsatze nicht auf einzelne Beispiele ihres Verfahrens eingegangen, und namentlich nicht auf solche, die mich selbst betreffen. Die Beschuldigung der Verff. n\u00f6thigt mich nun aber doch, wenigstens ein Beispiel zum Belege dieser ger\u00fchmten Sachlichkeit beizubringen. Auf S. 268, Bd. II meiner \u00bbPhysiologischen Psychologie\u00ab (4. Aufl.j habe ich die Erscheinungen geschildert, die sich darbieten, wenn man bei instantaner Erleuchtung ein Sehobject, z. B. eine Druckschrift, auf das Bewusstsein einwirken l\u00e4sst. Die Schilderung bildet, wie ich zum besseren Verst\u00e4ndniss bemerken will, den Bestandtheil einer Er\u00f6rterung \u00fcber \u00bbAufmerksamkeit und Apperception\u00ab, und es sind auf der unmittelbar vorangehenden Seite die Ausdr\u00fccke \u00bbBlickfeld des Bewusstseins\u00ab und \u00bbBlickpunkt des Bewusstseins\u00ab als abk\u00fcrzende bildliche Bezeichnungen definirt: der erstere f\u00fcr die G-esammtheit der in einem gegebenen Moment vorhandenen Bewusstseinsinhalte, der letztere f\u00fcr diejenigen unter diesen Inhalten, denen die Aufmerksamkeit zugewandt ist. Nachdem dann noch darauf hingewiesen ist, dass diese Bezeichnungen ebenso auf eine Mehrheit simultan gegebener Schalleindr\u00fccke, wie auf Sehobjecte anzuwenden seien, wird hinzugesetzt, im letzteren Ealle werde die Stelle des deutlichsten Sehens oder der \u00bbBlickpunkt des Sehfeldes\u00ab vorzugsweise auch zum \u00bbBlickpunkt des Bewusstseins\u00ab gew\u00e4hlt; doch lasse sich dabei leicht \u00bbdie abwechselnde Verengerung und Erweiterung des letzteren\u00ab bemerken. \u00bbVon einer Druckschrift z. B. kann man, wenn es sich nur darum handelt dieselbe zu lesen, mehrere W\u00f6rter auf einmal erkennen. Will man dagegen die genaue Form eines einzelnen Buchstaben bestimmen, so treten schon die \u00fcbrigen Buchstaben desselben Wortes in ein Halbdunkel.\u00ab Wie verwenden nun die Verff. diese nach dem Vorangegangenen absolut nicht misszuverstehenden Angaben \u00fcber die Wechselbeziehungen zwischen Concentration und Umfang der Aufmerksamkeit? Auf S. 4Iff. ihres Werkes wird offenbar zun\u00e4chst der \u00bbBlickpunkt des Bewusstseins\u00ab in den \u00bbBlickpunkt des Sehfeldes\u00ab, die Stelle des deutlichsten Sehens auf der Netzhaut umgedeutet. Meine Aeu\u00dferung wird daher zur Bekr\u00e4ftigung der nach den Verff. allgemein","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n63\nherrschenden Meinung verwendet, dass beim Lesen \u00bbder Blickpunkt fortw\u00e4hrend seine Lage \u00e4ndert\u00ab. Zu diesem Zwecke lassen sie alles das weg, woraus hervorgeht, dass an der betreffenden Stelle nicht Bewegungen des Auges, sondern Aenderungen in der Concentration der Aufmerksamkeit gemeint sind. Sie begn\u00fcgen sich daher, den letzten Satz der obigen Ausf\u00fchrung unter Hinweglassung der verbindenden G-egensatzartikel anzuf\u00fchren: \u00bbWill man die genaue Form eines einzelnen Buchstaben bestimmen, so treten schon die \u00fcbrigen Buchstaben desselben Wortes in ein Halbdunkel.\u00ab Sie citiren also diesen Satz abgesehen von dem oben erw\u00e4hnten absichtlichen oder absichtslosen Missverst\u00e4ndnisse so, als wenn er in allgemeing\u00fcltigem Sinne gemeint w\u00e4re, und nicht vielmehr einen G-renzfall concentrirter Aufmerksamkeit ausdr\u00fccke, gegen\u00fcber dem gew\u00f6hnlichen Verhalten, das voransteht. Aber damit nicht genug: die Verff. scheuen sich nicht hinzuzuf\u00fcgen, dieser Satz sei, \u00bbwie schon die etwas unbestimmte Fassung wahrscheinlich macht, nicht sowohl das Ergehniss einer Beobachtung als vielmehr die Consequenz einer Hypothese\u00ab. Nun, was die \u00bbUnbestimmtheit\u00ab betrifft, so denke ich, der Satz ist als zusammenfassender Ausdruck wechselnder Erscheinungen so bestimmt, wie er sein kann ; auch folgen ihm wenige Seiten sp\u00e4ter (S. 287 f.) durchaus bestimmte numerische Angaben, \u00fcber die unverbundenen oder zu W\u00f6rtern verbundenen Buchstaben, die man hei den tachistoskopischen Versuchen gleichzeitig zu appercipiren vermag. Im \u00fcbrigen aber enth\u00e4lt die Bemerkung der Verff. die schlecht verh\u00fcllte Insinuation, dass ich die Beobachtungen, \u00fcber die ich berichte, nicht wirklich gemacht, sondern erfunden habe.\nDoch den Verff. ist das noch nicht genug. Auf S. 97 kommen sie in einem anderen Zusammenh\u00e4nge auf die gleiche Stelle der \u00bbPhysiologischen Psychologie\u00ab zur\u00fcck. Keiner der bisherigen tachistoskopischen Apparate entspricht, so meinen sie hier, den Bedingungen des normalen Erkennens heim Lesen. Denn die \u00bbunbestimmte Einsicht, dass 'man von einer Druckschrift, wenn es sich nur darum handelt, dieselbe zu lesen, mehrere W\u00f6rter auf einmal zu erkennen im Stande ist3\u00ab, habe keinen \u00bbma\u00dfgebenden Einfluss\u00ab auf die Construction der Apparate ausge\u00fcbt. Hier f\u00e4llt also den Verff. ein, dass sie an der fr\u00fcheren Stelle den Vordersatz meiner Ausf\u00fchrungen hinweggelassen haben, und sie holen ihn jetzt nach. Aber beileibe","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nW. Wundt.\nnicht, um nun auch zu sagen, dass er mit jenen zusammen ein Ganzes bildet, in welchem die Umfangs\u00e4nderungen der Aufmerksamkeit geschildert werden sollen! Sondern im Gegentheil: in einer Fu\u00dfnote wird bemerkt: \u00bbdie citirten \"Worte stehen unmittelbar vor der oben S. 42 angef\u00fchrten \u2018Beobachtung\u2019.\u00ab Diese Fu\u00dfnote kann nur zweierlei bezwecken : erstens in dem Leser die Meinung zu erwecken, dass ich auf der gleichen Seite Dinge vortrage, die sich in der sinnlosesten Weise widersprechen; und zweitens durch die Einschlie\u00dfung des Wortes \u00bbBeobachtung\u00ab in G\u00e4nsef\u00fc\u00dfchen noch einmal eindringlich anzudeuten, dass ich diese Beobachtungen nicht gemacht, sondern erfunden habe. Wenn das die Verff. \u00bbsachgem\u00e4\u00df\u00ab nennen, so bin ich meinerseits geneigt, auf derartige theils entstellende theils herabsetzende Aeu\u00dferungen im litterarischen Verkehr genau die n\u00e4mlichen Pr\u00e4dicate anzuwenden, die ich auch im gew\u00f6hnlichen Leben auf sie anwenden w\u00fcrde. Es mag darum sein, dass mich diese Art der Darstellung, deren sich die Verff. beflei\u00dfigen, gelegentlich veranlasst hat, in der Kritik ihrer eigenen Leistungen eine etwas sch\u00e4rfere Tonart anzuschlagen, als es sonst wahrscheinlich geschehen w\u00e4re. Aber ich bin mir bewusst, dabei stets sachgem\u00e4\u00df in jenem haupts\u00e4chlichsten Sinne des Wortes gewesen zu sein, dass ich mich vor allen Dingen wahr zu sein bem\u00fchte. Ich habe daher an den Apparaten und Versuchen der Verff. keine anderen Ausstellungen gemacht, als solche, die ich mit gutem Gewissen vertreten konnte und noch vertrete.\nGegen\u00fcber den sonstigen Erwiderungen kann ich mich auf folgende Bemerkungen beschr\u00e4nken:\n1) Bereits in meinem fr\u00fcheren Aufsatze habe ich (S. 316) als das Verdienst der Arbeit von Erdmann und Dodge anerkannt \u2014 allerdings auch als das einzige, was sie nach meiner Meinung besitzt, \u2014 dass sie den w\u00e4hrend des Lesens stattfindenden Fixationspausen ihre Aufmerksamkeit zugewandt hat. Ich muss aber dabei stehen bleiben, dass sich die Verf. bei der W\u00fcrdigung ihrer eigenen Ergebnisse in einem doppelten Irrthume befinden. Erstens irren sie, wenn sie glauben, es sei jemals die Meinung physiologischer Beobachter gewesen, man k\u00f6nne \u00fcberhaupt genaue Wahrnehmungen, wie sie zum Lesen erforderlich sind, bei bewegtem Auge vollziehen. Immer sind solche Wahrnehmungen auf einen raschen Wechsel zwi-","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n65\nsehen verschiedenen Fixationsstellungen zur\u00fcckgef\u00fchrt worden (vgl. die in meinem vorigen Aufsatze S. 315 beigebrachten Belege). Zweitens irren die Yerff., wenn sie glauben, dass durch ihre Versuche etwas anderes gewonnen worden sei, als ein Anhaltspunkt f\u00fcr die Bestimmung der Zahl der Fixationspausen w\u00e4hrend einer bestimmten Leseperiode. Ihre Berechnungen \u00fcber die Dauer der Fixirpausen sind v\u00f6llig illusorisch. Denn erstens ist die von Lamansky angewandte subjective Methode zur Messung der Geschwindigkeit der Augenbewegungen ziemlich unsicher, wie auch der erhebliche Unterschied der von Lamansky und D odge gewonnenen Ergebnisse zeigt, ein Unterschied, dessen Erkl\u00e4rung aus individuellen Unterschieden der Augenbewegungen (S. 360) unwahrscheinlich ist. Zweitens aber ist es selbstverst\u00e4ndlich nicht m\u00f6glich, aus der Geschwindigkeit, mit der eine Strecke in continuirlicher Bewegung durchlaufen wird, auf die Geschwindigkeitsverh\u00e4ltnisse einer durch mehrere Pausen unterbrochenen Bewegung und auf die Dauer dieser Ruhepausen zu schlie\u00dfen. Man k\u00f6nnte ebenso gut aus dem Zeitunterschied f\u00fcr einen Schnellzug und einen gew\u00f6hnlichen Zug die Aufenthaltsdauer an den verschiedenen Haltestellen des letzteren berechnen wollen. Das Problem selbst wird also nicht auf diesem Wege mehr oder minder unsicherer Muthma\u00dfungen, sondern, wie ich S. 316 meines ersten Aufsatzes angedeutet habe, nur durch objective graphische Versuche gel\u00f6st werden k\u00f6nnen.\n2) Wenn die Verff. hervorheben, ich m\u00fcsse \u00bbanerkennen\u00ab, dass in dem Falltachistoskop \u00bbdie oberen Theile des Objects schon sichtbar werden, w\u00e4hrend die unteren noch verdeckt sind\u00ab, so versteht sich diese Anerkennung f\u00fcr die physikalische Seite des Vorganges nat\u00fcrlich von selbst. Sie bezieht sich aber nicht auf die psychophysische Seite desselben, wie die Verff. andeuten zu wollen scheinen. Hier kann verm\u00f6ge der Tr\u00e4gheit der Netzhautvorg\u00e4nge ein Zeitunterschied beim Vor\u00fcbergang von 1\u20142 <j mit demselben Rechte als nicht existirend betrachtet werden, wie die Verff. hei ihrem eigenen Apparate das An- und Abschwellen der Lichtst\u00e4rke heim Durchfallen des Schirmes durch den Lichtkegel vernachl\u00e4ssigen. Der thats\u00e4chliche Unterschied der Apparate liegt also nicht in der Frage, oh die Beleuchtung simultan oder successiv sei \u2014 f\u00fcr die Empfindung ist sie in beiden F\u00e4llen simultan \u2014, sondern darin, ob es zweckm\u00e4\u00dfiger sei, bei k\u00fcnstlicher Beleuchtung oder bei Tageslicht zu beobachten.\nWundt, Philos. Studien. XVI.\t5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nW. Wundt.\nDass hier ein ganz unvergleichlicher Vorzug gerade bei tachistosko-pischen Versuchen auf der letzteren Seite hegt, ist einleuchtend. Abgesehen von anderen f\u00fcr sie sprechenden Momenten, der geringeren Erm\u00fcdbarkeit der Netzhaut, der vollkommneren Sehsch\u00e4rfe, habe ich vornehmlich zwei hervorgehoben: die Adaptationsst\u00f6rungen in den Dunkelversuchen und die l\u00e4ngere Dauer der Nachbilder.\n3) Der Einwand, dass bei dem von ihnen benutzten Apparate die wechselnde Netzhautadaptation in st\u00f6render Weise sich geltend machen m\u00fcsse, weisen die Verff. durch folgende Deduction zur\u00fcck. Bei ihren Versuchen werde die Helligkeit des belichteten Feldes im Verh\u00e4ltnis 1:12 gesteigert; bei dem Fall- und dem \u00bbetwas anspruchsvollen\u00ab Pendeltachistoskop (Phys. Psych. H, S. 335) sei aber \u00bbdas prim\u00e4re Gesichtsfeld schwarz\u00ab, es werde also die Helligkeit mindestens im Verh\u00e4ltniss 1:25 gesteigert, folglich m\u00fcsste die Adaptationsst\u00f6rung hei den im Tageslicht ausgef\u00fchrten Tachistoskopver-suchen noch einmal so gro\u00df sein als hei ihren Dunkelversuchen! Aus diesen Ausf\u00fchrungen ergibt sich mit erschreckender Deutlichkeit, dass die Verff. von dem, was \u00bbAdaptation der Netzhaut\u00ab ist, \u00fcberhaupt keine Ahnung besitzen. Die Adaptation ist ein Gesammt-zustand der Netzhaut: sie ist von dem Beleuchtungszustand der ganzen Netzhaut abh\u00e4ngig, so jedoch, dass daran die peripheren St\u00e4bchenapparate vorzugsweise (nach der Meinung einiger Physiologen sogar ausschlie\u00dflich) betheiligt sind. Wenn man sich l\u00e4ngere Zeit im Dunkeln aufh\u00e4lt, so befindet sich daher die Netzhaut im Zustand der Dunkeladaptation, und dieser Zustand wird nur unwesentlich dadurch gemildert, dass man eine kleine, schwach von reflectirtem Lampenlicht beleuchtete Fl\u00e4che betrachtet. Umgekehrt, wenn man in diffusem Tageslicht arbeitet, befindet sich die Netzhaut im Zustand der Tagesadaptation; und an diesem Zustand wird dadurch gar nichts ge\u00e4ndert, dass sich in unserer Umgehung gelegentlich dunklere Gegenst\u00e4nde befinden. Ebensowenig tritt nat\u00fcrlich Dunkeladaptation ein, wenn man hei tachistoskopischen Versuchen im Tageslicht die wei\u00dfe Marke des kleinen schwarzen Schildes fixirt, welche das Object verdeckt. Nun gestattete der Apparat den Verff. nur im Dunkeln zu arbeiten, da sie auf die Benutzung des Beflexlichtes einer Lampe zur Beleuchtung ihrer Mattglasplatte angewiesen waren. Ferner w\u00fcrde eine pl\u00f6tzliche Steigerung der Beleuchtung des Sehobjectes,","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n67\nwie sie bei ihren Versuchen stattfand, bei Tageslicht verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig weniger zu bedeuten haben als bei relativer Dunkeladaptation, da nach den bekannten Adaptationsgesetzen die Netzhaut gegen Helligkeits\u00e4nderungen um so empfindlicher ist, je mehr sich ihr Zustand dem der Dunkeladaptation n\u00e4hert. Vollends verwunderlich ist aber, dass die Verff. ihre Versuchseinrichtung gerade deshalb gew\u00e4hlt haben, weil dadurch die Bedingungen denen des normalen Lesens m\u00f6glichst nahe gebracht werden sollen, bei dem ebenfalls wegen der Helligkeitsdifferenzen der schwarzen Schriftzeichen gegen\u00fcber dem wei\u00dfen Untergrund fortw\u00e4hrend Erregungsdifferenzen vork\u00e4men (S. 248). Dem gegen\u00fcber ist erstens zu bemerken, dass die n\u00e4chste Bedingung eines normalen Lesens die Tagesadaptation ist; und dass zweitens die Verff. im Irrthum sind, wenn sie meinen, es sei f\u00fcr das Auge ganz dasselbe, ob es bei der Bewegung mit seinem Fixirpunkt zwischen den dunkeln oder hellen Stellen einer Schrift wechselt, oder ob man ein bei ruhendem Auge fixirtes Object abwechselnd momentan erhellt und wieder verdunkelt. Wie es scheint, sind die Verff. so gl\u00fccklich gewesen, niemals von den unangenehmen Wirkungen eines flackernden Lichtes bel\u00e4stigt worden zu sein. Nach dieser Probe merkw\u00fcrdiger Unempfindlichkeit f\u00fcr Adaptationsst\u00f6rungen muss ich freilich meinerseits bekennen, dass ich ihrer Versicherung, bei ihren eigenen Versuchen niemals solche St\u00f6rungen bemerkt zu haben, einen besonderen Werth nicht heizulegen vermag.\n4) Das Bedenken, dass bei solchen Dunkelversuchen die Dauer der Nachbilder eine erheblich gr\u00f6\u00dfere sei wie bei Tageslicht, suchen die Verff. nunmehr durch fr\u00fcher nicht publicirte Versuche zu entkr\u00e4ften, in denen die Verschmelzung der theils offenen theils geschlossenen Sectoren einer rotirenden Scheibe beobachtet wurde, die vor den Expositionsspalt gestellt war. Sie sch\u00e4tzen demnach die wirkliche Nachbilddauer auf die H\u00e4lfte der Gr\u00f6\u00dfe, die ich nach den mir vorliegenden Versuchsdaten angenommen hatte, wobei freilich zu bemerken ist, dass sie nur bei einer Expositionsdauer von 0,01 o diese Bestimmungen vomahmen, nicht bei der von ihnen gew\u00e4hlten Versuchsdauer von 0,1 a, und dass mit der Dauer der Lichteinwirkung auch die Nachbilddauer zunimmt. F\u00fcr die vorliegende Frage ist es aber ziemlich gleichg\u00fcltig, ob die Einwirkungszeit 0,25 a, oder ob sie blo\u00df 0,15 a betragen hat. Auf alle F\u00e4lle sind diese Zeiten zu lang, um","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\nW. Wundt.\nden Verdacht eines Aufmerksamkeitsweehsels oder einer w\u00e4hrend der Exposition stattfindenden Ausdehnung des Feldes der Aufmerksamkeit, und vielleicht seihst den von Augenbewegungen auszuschlie\u00dfen. Dieser Verdacht kann, namentlich soweit er sich auf die Aenderungen der Aufmerksamkeit bezieht, nat\u00fcrlich nicht durch allgemeine Erw\u00e4gungen, sondern nur durch Versuche mit verschiedener, besonders auch mit wesentlich k\u00fcrzerer Expositionsdauer beseitigt werden. Uebrigens erl\u00e4utern die Verff. jetzt ihre Versuche \u00fcber das Lesen von W\u00f6rtern mit 19\u201422 Buchstaben in einer Weise, durch welche die Bedingungen dieser Versuche, freilich kaum zu ihren Gr\u00fcnsten, modificirt erscheinen. Sie heben n\u00e4mlich hervor, es habe sich dabei um ganz gel\u00e4ufige W\u00f6rter gehandelt, so dass meine Bemerkung, es sei jede Vorbereitung durch vorangegangene Einwirkung des gleichen Wortbildes ausgeschlossen gewesen, die Sachlage nicht erl\u00e4utere, sondern geeignet sei, \u00bbsie zu verdunkeln\u00ab (S. 259). Ich hatte mit jenem Ausdruck den Sachverhalt richtig darzustellen geglaubt, weil die Verff. ausdr\u00fccklich hervorheben, jedes Wort sei nur einmal exponirt, und es sei, um ein Errathen auszuschlie\u00dfen, sorgf\u00e4ltig darauf geachtet worden, dass der Beobachter das Wort nicht vorher zu Gesicht bekam (Ueber das Lesen S. 138). Die andere Bemerkung, es seien der Umgangssprache und der gel\u00e4ufigen wissenschaftlichen Terminologie entnommene Substantiva gewesen, hatte ich hiernach in dem Sinne verstanden, dass die W\u00f6rter zwar dem gel\u00e4ufigen Wortsch\u00e4tze angeh\u00f6rten, dass sie aber doch f\u00fcr den Beobachter unerwartet waren. Nach den jetzt gegebenen Erl\u00e4uterungen vermuthe ich, dass ich mich in dieser Interpretation ihrer Worte get\u00e4uscht habe, und dass es sich hei jenen Expositionen um solche optische Wortbilder handelte, die dem Beobachter specieller bekannt waren, die er etwa seihst vorher des \u00f6fteren gesehen und zu Versuchen ausgew\u00e4hlt hatte. Hierdurch werden dann allerdings die Bedingungen nicht nur darin ver\u00e4ndert, dass der Aufmerksamkeitswechsel in Folge der Erleichterung der Assimilationen kein so bedeutender zu sein braucht, sondern auch insofern, als nun diese Wanderungen der Aufmerksamkeit w\u00e4hrend der Exposition bei ung\u00fcnstigen Versuchseinrichtungen dem Beobachter leichter entgehen k\u00f6nnen. Dass W\u00f6rter von der angegebenen L\u00e4nge ohne jede Wanderung der Aufmerksamkeit mit einem Mal \u00bbals Ganze\u00ab gelesen worden seien, halte ich aber nach wie vor f\u00fcr","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"69\nZur Kritik tachistoskopischer Versuche.\n\u00e4u\u00dferst unwahrscheinlich. Unter allen Umst\u00e4nden mussten bei der Beschr\u00e4nkung der Versuche auf so lange Bxpositionszeiten die \u00e4u\u00dferen Erscheinungen, die der Apperception des Wortganzen vorausgehen, und die nur bei sehr kurzen Expositionszeiten hervortreten, den Beobachtern verborgen bleiben. Ich kann daher in dieser Beziehung nur hei meiner Bemerkung stehen bleiben, dass die Versuche der Verff. gew\u00f6hnlichen Leseversuchen ohne irgend welche H\u00fclfs-mittel im wesentlichen \u00e4quivalent sind, und dass sie sich statt ihres complicirten Apparates genau mit gleichem Erfolge des nat\u00fcrlichen H\u00fclfsmittels der abwechselnd ge\u00f6ffneten und wieder geschlossenen Augenlider h\u00e4tten bedienen k\u00f6nnen.\n5)\tIn meinem ersten Artikel habe ich bemerkt, die Wanderungen der Aufmerksamkeit bei ruhendem Auge seien eine den Physiologen l\u00e4ngst bekannte Erscheinung, und ich habe als den \u00e4ltesten mir bekannten zuverl\u00e4ssigen Zeugen dieser Erscheinung Johannes M\u00fcller citirt. Die Verff. bemerken, auf Joh. M\u00fcller w\u00fcrden sie sich nicht berufen haben, denn seine Darstellung lasse nicht erkennen, \u00bbdass bei seinen Beobachtungen Blickhewegungen in der That ausgeschlossen waren\u00ab. Joh. M\u00fcller sagt (a. a. O. II, S. 95), nachdem er hervorgehoben, dass wir von einer complicirten Figur bald diese bald jene Theile deutlich sehen, w\u00f6rtlich: \u00bbdas geschieht nicht blo\u00df, indem wir durch Bewegungen der Augen diese Figuren verfolgen, sondern hei unverwandtem Blick pr\u00e4gt die Intention, die Aufmerksamkeit bald diesen, bald jenen Theil der Figur der Anschauung lebhafter ein, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen zwar empfunden werden, aber unbeachtet bleiben\u00ab. Zweideutig oder dunkel ist diese Schilderung, wie man sieht, nicht. Man kann nur entweder annehmen, dass Joh. M\u00fcller beobachtet habe, was er schildert, oder dass er sich geirrt habe. Die Verff. scheinen das letztere zu glauben; ich bekenne meinerseits, dass ich, wo es sich um die Beobachtung subjectiver Sehvorg\u00e4nge handelt, dem Verfasser der \u00bbvergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes\u00ab und der \u00bbphantastischen Gesichtserscheinungen\u00ab volles Zutrauen schenke, und dass ich mich bedenken w\u00fcrde, ihm anders als auf Grund \u00fcberzeugender Beweise zu widersprechen. Solche Beweise existiren aber im vorliegenden Falle gar nicht, sondern Sp\u00e4tere vermochten lediglich zu best\u00e4tigen, was schon Joh. M\u00fcller beobachtet hat.\n6)\tZur Illustration der hei Leseversuchen mit l\u00e4ngerer Exposi-","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nVV. Wundt. Zur Kritik tachistoskopischer Versuche.\nsionszeit m\u00f6glicher Weise leicht zu \u00fcbersehenden Combination zweier rasch auf einander folgenden Apperceptionsacte habe ich auf die Versuche von Friedrich verwiesen, in denen hei der Exposition 5- bis 6-stelliger Zahlen eine Zerlegung des Zahlganzen in zwei successiv aufgefasste H\u00e4lften bemerkt werden konnte; und ich vermuthete, dass ein unerwartetes, zum ersten Male dargehotenes Wort von 20 und mehr Buchstaben noch weniger leicht in einem einzigen Acte der Aufmerksamkeit aufzufassen sei, als eine 5- bis 6-stellige Zahl. Die Verff. stellen das so dar, als wenn ich Lesen von W\u00f6rtern und Lesen von Zahlen hei gleicher Stellenzahl f\u00fcr gleich schwierige Dinge hielte. Das ist nat\u00fcrlich nicht der Fall. Ich habe nicht behauptet, dass das Wort Philosophie und die Zahl 58327471839, wohl aber, dass z. B. das Wort Successionsrecht und die Zahl 58327 mit einander vergleichbare Dinge seien; und ich habe die Zahlversuche gerade deshalb angef\u00fchrt, weil sie ein rasches Wandern der Aufmerksamkeit noch deutlich erkennen lassen, wo dieses bei W\u00f6rtern leicht \u00fcbersehen werden kann, namentlich wenn man eine l\u00e4ngere Expositionszeit anwendet, welche die einzelnen Apperceptionsacte, ebenso wie heim gew\u00f6hnlichen Lesen, zum Theil in einander flie\u00dfen l\u00e4sst.\n7) Die Verff. r\u00fchmen sich wiederholt, durch ihre tachistosko-pischen Versuche wesentlich weiter gelangt zu sein als ihre Vorg\u00e4nger, um daraufhin \u00bbeine speciellere Analyse, wie des Erkenntnissinhaltes, so der Erkenntnissbedingungen heim Lesen vorzunehmen\u00ab (S. 248). Diese Werthsch\u00e4tzung kann ich nicht theilen. Ich leugne, dass die Verff. an sicherstehenden Thatsachen in irgend einem wesentlichen Punkte \u00fcber Oattell hinausgekommen seien. Inwieweit hei dem Lesen l\u00e4ngerer W\u00f6rter, dem einzigen Punkte, den sie vor Oattell voraushahen, die l\u00e4ngere Expositionszeit oder die specielleren Bedingungen der vorausgegangenen Ein\u00fcbung ma\u00dfgebend waren, bleibt vorl\u00e4ufig zweifelhaft. Nicht um Thatsachen haben die Verff. das Gebiet der tachistoskopischen Versuche bereichert, sondern um eine psychologische oder, besser ausgedr\u00fcckt, um eine erkenntnisstheore-tische Interpretation. Ich halte diese Interpretation f\u00fcr falsch, zum Theil deshalb, weil sie auf unzul\u00e4nglichen, durch Versuchs- und Apparatfehler getr\u00fcbten Beobachtungen beruht. Zuk\u00fcnftige Versuche werden entscheiden, wer Recht hat.","page":70}],"identifier":"lit798","issued":"1900","language":"de","pages":"61-70","startpages":"61","title":"Zur Kritik tachistoskopischer Versuche, 2. Artikel","type":"Journal Article","volume":"16"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:40:20.170009+00:00"}